„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– Roger Liebi und das heutige Pharisäertum

 

Weil du (mit Überzeugung) sagst: Ich bin reich und bin reich geworden und an nichts habe ich Bedarf! – und du merkst nicht, dass du elendig*, erbärmlich, arm, blind und nackt bist!(Offb.3:17).

Der Schweizer Theologe und Bibelübersetzer Dr. Roger Liebi gilt heute unter den Evangelikalen als einer der beliebtesten Bibelausleger, was nicht zuletzt der Verbreitung seiner Vorträge im Internet geschuldet ist. Mit seiner brillanten Rhetorik und seinem umfangreichen Wissen gelingt es dem Bruder immer wieder, die Aufmerksamkeit seiner mitschreibenden Zuhörer über zwei bis drei Stunden zu binden. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines seiner jüngeren Fans auf Facebook: „Ich habe mir jetzt eine große Pizza warm gemacht, mir eine Flasche Cola und Chips bereitgestellt, lege mich jetzt gemütlich aufs Sofa und schaue mir den neuesten Vortrag von Roger Liebi an! – Kann es überhaupt etwas Schöneres geben auf Erden?“ (Amir. A.). Hier muss man wirklich fragen, wie es diesem Prediger gelingen konnte, eine solche Beliebtheit zu erlagen.

Allerdings hatte ich damals, als ich noch auf Facebook war, auch eine verstörende Erfahrung: Nachdem ich mich mit seinen Anhängern über eine Ansicht von Roger Liebis austauschte (es ging um die Vorentrückungslehre), rief mich auf einmal einer seiner Bewunderer an und sprach mir eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Der junge Anrufer mit Migrationshintergrund beschimpfte mich aufs Übelste und verwendete dabei auch Fäkalausdrücke, weil ich es gewagt hatte, die Lehre seines großen Meisters infrage zu stellen. Diese gottlose Ausdrucksweise irritierte mich und führte mich zu der Frage, wie es möglich sein könne, dass ein Christ, der unter regelmäßiger Verkündigung eines solch beliebten Predigers steht, bisher nicht gelernt hat, dass man sich als Kind Gottes nicht wie ein ungehobelter Weltmensch ausdrücken dürfe. Sicherlich kann man das nicht direkt dem Bruder Liebi anlasten, zumal er diesen Verehrer vielleicht nicht einmal persönlich kennt. Dennoch aber sagte der HErr doch, dass man falsche Propheten an ihren „Früchten“ erkennen könne (Mt.7:15). Die Frucht eines Lehrers ist sein Schüler. Daher begann ich, mich zu fragen, ob dieser ungezogene Anrufer nicht auch eine „Frucht“ von Roger Liebis Vorträgen war.


Wissensvermittlung statt Bußpredigt

Was mir bei den Videos von Dr. Roger Liebi (von nun an mit R. L. abgekürzt) von Anbeginn auffiel, war, dass es keine Predigten im typischen Sinn sind, sondern eher Vorträge wie an einer Uni. Er vermittelt systematisch zu jedem einzelnen Bibelvers eine ganze Menge an Hintergrundwissen, was besonders das Bedürfnis befriedigt, klug zu werden und mitreden zu können. Ohne Frage sind diese Vorträge also sehr informativ und kenntnisreich, und wenn man versucht, möglichst keinen Vortrag von R. L. zu verpassen, wird man reich und immer reicher an Wissen – allerdings nur für den Kopf! Das Herz hingegen bleibt unberührt. Und zur Buße von Sünde wird man auch nicht gedrängt. Es geht wirklich nur um eine reine Wissensvermittlung bzw. einen Wissensabgleich. Das erinnert mich daran, wie wir früher in der Schule Panini-Sammelbilder getauscht haben, damit unser Album am Ende möglichst vollständig werden würde. So vermittelt auch R. L. den Eindruck, dass es als Christ eigentlich nur darum gehe, sich ein möglichst umfangreiches Bibelwissen anzueignen, um immer das vermeintlich Richtige weiterzugeben. R. L. macht sozusagen aus dem Christenleben ein Campusleben ohne Diplom.

Nun könnte man ja einwenden, dass Bruder R. L. auch nie behauptet habe, dass seine Vorträge Predigten wären oder dass sie einen regulären Gottesdienst in einer Gemeinde ersetzen könnten, in welchem es „Ermahnung, Erbauung und Trost“ gäbe (1.Kor.14:3). Das Problem ist jedoch, dass immer weniger Christen heute noch regelmäßig in eine Gemeinde gehen, sondern stattdessen sich immer mehr mit der „Internet-Gemeinde“ und den berühmten YouTube-Predigern zufriedengeben. Im Informationszeitalter ist Wissen begehrt, weil es uns begehrlich für andere macht. R. L. ist ja in erster Linie nicht deshalb beliebt, weil er so einen nachahmenswerten Charakter oder ein besonders seelsorgerliches Einfühlungsvermögen hat, sondern weil er so schlau ist. Und heutzutage möchten viele gerne einmal kleine Roger Liebis werden.

Wissen ist wichtig und kann vor Verführung schützen (Hos.4:6). Aber der Wunsch, immer mehr wissen zu wollen, ist als solcher selbst schon eine Verführung, wie man bei Eva im Sündenfall sehen kann: „(Der Baum war) … begehrenswert, weil er weise macht“ (1.Mo.3:6). In der Endzeit ist Wissen zwar besonders wichtig, aber noch viel wichtiger ist es, ein heiliges Leben zu führen, denn „ohne Heiligung wird niemand den HErrn schauen“ (Hebr.12:14). Wissen ist nur ein Mittel zum Zweck der Heiligung. Wenn das Wissen aber nicht zur Heiligung führt, ist es ein völlig überflüssiges Wissen. Und nicht nur das: Wissen kann sogar sehr schädlich sein, wenn es an die Stelle eines heiligen Lebens gestellt wird. Es kann uns und andere blenden, indem es uns die Illusion gibt, besonders gute Christen zu sein, wie es die Gläubigen in Laodizea von sich dachten (Offb.3:14-20).

„Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber erbaut“ (1.Kor.8:1b). Es ist erschreckend, wie viele Gläubige heute zwar ein umfangreiches Wissen über die biblische Lehre und die Endzeitprophetie haben, aber ihr geistliches Leben dabei gänzlich unterentwickelt und verkrüppelt ist! Da dies aber den anderen verborgen ist („Ach wie gut, dass niemand weiß…“), kann man durch sein Wissen vor anderen Christen glänzen, während das verborgene Leben wie ein getünchtes Grab voller Totengebeine ist. „So scheint auch ihr von außen zwar gerecht vor den Menschen, von innen aber seid ihr voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit“ (Mt.23:27-28).

Roger Liebi – ein evangelikaler Papst?

Ein besonders begabter Bruder kann für das Volk Gottes ein großer Segen sein, wie etwa Paulus oder Johannes der Täufer. Paulus aber sagte von sich, dass er im Grunde „NICHTS“ sei (2.Kor.12:11), und Johannes sagte: „ER muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh.3:30). Ein geistlicher Christ betont immer wieder seine Unnützigkeit (Luk.17:10) und Bedeutungslosigkeit (1.Kor.15:9). Dies tut er dadurch, dass er gerne immer anderen den Vortritt lässt und sich freut, wenn niemand ihn bemerkt (1.Kor.4:8, 2.Kor.12:15). Dem Johannes hat es genügt, dass er nur die „Stimme eines Rufenden in der Wüste war“ (Mt.3:3). Um nicht aufzufallen, versteckt sich ein begabter Bruder gerne unter seinen Mitbrüdern und versucht, die Bruderschaft zu stärken, wie es etwa der Graf von Zinzendorf tat, der sogar auf seinen Grafentitel verzichtete. Und dies tat er sicher nicht, um mit seiner Demut zu prahlen, sondern weil der HErr sagte: „Ihr wisst, dass die Regenten der Nationen über dieselben herrschen… UNTER EUCH SOLL ES NICHT SO SEIN… Lasset euch nicht Lehrer nennen; denn Einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder“ (Mt.20:26, 23:8).

Von den Pharisäern und Schriftgelehrten zur Zeit Jesu heißt es indes, dass sie sich auf den Stuhl Mose gesetzt haben, die ersten Plätze in den Synagogen liebten und alles unternahmen, um von den Leuten möglichst viel gesehen zu werden (Mt.23:1-6). Diesen Geltungsdrang finden wir in der gesamten Kirchengeschichte und hat nicht zuletzt zur Entstehung des Papsttums geführt. Wir sollen nach dem Befehl des HErrn zwar alle gleich sein (2.Kor.8:13-14), „aber einige sind eben gleicher als die anderen“ (G. Orwell). Ursprünglich war es so, dass sich eigentlich alle am Gottesdienst beteiligen sollten durch eigene Beiträge: „Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder von euch etwas: einen Psalm, eine Lehre, eine Sprachenrede, eine Offenbarung, eine Auslegung; alles geschehe zur Erbauung“ (1.Kor.14:26). Dadurch war sichergestellt, dass niemand der Brüder eine herausragende Rolle in der Gemeinde spielen konnte, sondern sogar die Geringsten die größte Aufmerksamkeit erhielten (1.Kor.12:22-23). Doch schon zur Zeit der Apostel traten Brüder auf wie „Diotrephes, der gerne unter ihnen der erste sein wollte“ und deshalb seine Kritiker aus der Versammlung warf (3.Joh.9). Dort, wo es keine echte Bruderschaft, sondern einen Ein-Mann-Betrieb gibt, ist die Gefahr sehr groß, dass man sich nichts mehr sagen lässt und keine Korrektur von anderen annimmt.

Bei Br. R. L. besteht nicht die Gefahr, dass er zu einem evangelikalen Papst werden könne, schon allein deshalb, weil die meisten Evangelikalen in vielen Punkten nicht seine Lehransichten vertreten und sich deshalb ihm auch nicht fügen würden. Allerdings hört man auch nichts von namhaften Brüdern an seiner Seite, mit denen er im Team auftritt. Vielmehr scheint R. L. ein Tausendsassa zu sein, wenn man sieht, wie er nach einem zweistündigen Vortrag eine Pause ankündigt und sich dann an den Flügel setzt, um als großer Virtuose auch noch seine Klavierkünste zum Besten zu geben. Einmal hatte ein alter Bruder – ebenso ein Schriftgelehrter – es gewagt, den großen Meister vertraulich zu korrigieren, was die hebräische Bedeutung des Wortes oLaM angeht. Doch anstatt ihm Beachtung zu schenken, riss er sich los, stieg auf die Bühne und sprach ins Mikrophon: „Jemand wollte mich gerade eines Besseren belehren im Hebräischen, aber der hatte absolut keine Ahnung, denn…“ usw. Statt also das vertrauliche Gespräch zu suchen, zog R. L. es vor, seine Macht zu missbrauchen, um diesen alten Bruder vor allen abzuwatschen und bloßzustellen.

Wer gut reden kann wie R. L., dem gelingt es auch immer wieder geschickt, die eigene Auslegung gleichzusetzen mit dem Wort Gottes. Beispielsweise erklärt R. L. immer gerne in Vorträgen: „Entscheidend ist nicht, was der oder der sagt, sondern was der HErr sagt!“ Freilich ist gegen diese Feststellung nichts gegen einzuwenden; jedoch dürfte klar sein, dass er sich selbst nicht zu denen zählt, die er als „der oder der“ bezeichnet, sondern als alleinigen Boten des HErrn. Ebenso fällt dem Bruder in einem Vortrag über Laodizea mit keiner Silbe selbstkritisch ein, dass auch er selbst Laodizea vertrete, sondern er spricht in der „man“-Form von jenen, die heute mit weltlichen Mitteln die Leute in ihre Gemeinde locken („O Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie die übrigen…“ Luk.18:11). Dadurch macht er aber „den Ratschluss Gottes in Bezug auf sich selbst wirkungslos“ (Luk.7:30), obwohl der HErr sich doch gerade an jene wendet, die sich für etwas Besseres halten und der Fehleinschätzung erlegen sind, keiner Korrektur mehr zu bedürfen.


Ursachen für den Unfehlbarkeitswahn in der Brüderbewegung

In der spanischen Sprache kann man das Wort „Lehre“ auf zweierlei Weise übersetzen, und zwar mit „doctrina“ oder „enseñanza“. Mit doctrina ist die Lehre im Sinne eines Lehrbekenntnisses gemeint, wie z.B. die Lehre der Mormonen, die Lehre der Zeugen Jehovas oder die Lehre der Bibel. Im Unterschied dazu bedeutet das Wort enseñanza das Lehren im Sinne der Art des Unterweisens. Auch im Griechischen unterscheidet man zwischen der Belehrung DIDASKALIA und der Lehre DIDAChE. Letzteres wird eher als Gesamtinhalt eines geschlossenen Glaubenssystems verwendet, z.B. in der „Lehre der Apostel“ bzw. der „Lehre des Christus“ (Apg.2:42, 2.Joh.9-10). Das Wort DIDASKALIA hingegen meint eher das freie und ungezwungene Belehren, um Sachverhalte zu deuten oder zu erklären. Solche Deutungen eines Lehrers sind jedoch sehr fehleranfällig, wie schon Jakobus warnte: „Seid nicht viele Lehrer (griech. DIDASKALOS), da ihr wisset, dass wir ein größeres Urteil empfangen werden; denn wir alle straucheln oft (w. in Vielem)“ (Jak.3:1-2). 

Ferner unterscheidet der Heilige Geist zwischen der Lehre als BEkenntnis (DIDAChe) und einer ERkenntnis (GNOoSIS o. EPI´GNOoSIS) bzw. einer Überzeugung (PäISMONE o. PÄPOI´ThESIS). Charakteristisch für eine Erkenntnis ist, dass sie „nicht in allen ist“ (1.Kor.8:7). Diejenigen, denen der Heilige Geist z.B. irgendein Geheimnis Gottes noch nicht anvertrauen konnte (weil sie noch fleischlich sind), bezeichnen jene, die es schon erkennen durften, gerne als „Irrlehrer“, anstatt demütig einzusehen, dass im Grunde JEDER Christ demnach ein Irrlehrer wäre in den Augen dessen, der eine andere Erkenntnis hat. Ein geistlicher Christ würde deshalb nicht den herabwürdigen Begriff „Irrlehrer“ verwenden, sondern demütig einräumen, dass er sich in Fragen der Erkenntnis genauso irren kann wie der andere Bruder.

Man muss also Erkenntnis und Bekenntnis voneinander unterscheiden. Die Erkenntnis bezieht sich auf alle „Nebendinge“ (ADIA´PhORAS = „Meinungsverschiedenheiten“), während es in Dingen, die zu unserem christlichen Bekenntnis zählen, keine Unterschiede geben kann und darf. Wer zwischen diesen beiden Arten der Lehre nicht unterscheidet, der wird schnell zum Sektierer, der nur seine eigene Auffassung als absolut wahr und heilsentscheidend behauptet. Da aber schon in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte heftig darum gestritten wurde, welche biblischen Aussagen für den Glauben bindend sind und welche nicht, haben die Gemeindeväter sich 325 in Nicäa auf ein einheitliches Glaubensbekenntnis geeinigt, das im 5.Jh. als „Apostolisches Glaubensbekenntnis“ in etwas abgewandelter Form auch heute noch für alle wahren Christen als verbindlich gilt. Seither zählen alle Ansichten, die nicht Bestandteil des Apostolikums sind, als „Erkenntnisse“.

Diese Übereinkunft änderte sich jedoch im 19.Jh., als John Nelson DARBY (1800-1882) allmählich sämtliche Nebendinge zur „Lehre der Schrift“ erklärte. Alles begann damit, dass Benjamin W. NEWTON, einer der Mitbegründer der Brüderbewegung, leicht erhöht saß gegenüber den anderen Brüdern der Gemeinde in Plymouth. Darby hatte Anstoß daran genommen, da eine solche Erhöhung seiner Ansicht nach charakteristisch sei für die Staatskirchen, mit denen man doch schließlich nichts zu tun haben wolle. Zudem störte Darby, dass es immer dieselben Brüder waren, die sich den Predigtdienst teilten und dadurch das allgemeine Priestertum aller Gläubigen gefährdet sei. Da Newton die Vorwürfe nicht ernstnahm, trennte sich Darby zusammen mit 60 anderen Brüdern von der Gemeinde und gründete eine zweite Versammlung in Plymouth.

Doch damit nicht genug, verlangte Darby auch bald darauf, dass auch jede andere Versammlung ausgeschlossen werden solle, die Glieder aus der Gemeinde Newtons zum Abendmahl zulasse, besonders nachdem sich herausstellte, dass Newton auch verwirrende Ansichten über die sündlose Natur des HErrn Jesus vertrat. Dies führte zur Trennung mit vielen Gemeinden, angefangen mit jener von Georg Müller in Bristol, so dass die Brüderbewegung sich bis heute gespalten hat in die sog. „geschlossenen“ und den „offenen Brüdergemeinden“. Im Verlauf der letzten 150 Jahre haben sich die Geschlossenen dann immer weiter aufgesplittet in zahlreiche Gruppen und Grüppchen, von der jede einzelne von sich behauptet, frei von „bösen Lehren“ zu sein.

Diese ständige Spalterei innerhalb des Leibes Christi aufgrund geringster Lehrunterschiede wurde im 19. und 20. Jh. allmählich zur üblichen Praxis unter Gläubigen, so dass es heute Tausende verschiedener Sekten gibt, die alle von sich behaupten, allein die wahre biblische Lehre zu haben und damit die einzig wahre Gemeinde Jesu zu sein. Da es diese Gewohnheit in all den Jahrhunderten zuvor nicht gegeben hat, kann man tatsächlich Darby als Initiator dieser Sektiererei betrachten. Paradoxerweise vertrat Darby aber auch die Ansicht, dass die Kirche nach der Zeit der Apostel irreparabel verfallen sei und dieser Verfall bereits zur Zeit des Neuen Testaments begonnen habe. Obwohl er also einerseits eine einheitliche Erkenntnis für alle Christen verlangte (von ihm fälschlicherweise als „Lehre“ bezeichnet), kritisierte er jedoch den Versuch, die „Gemeinde nach dem Neuen Testament“ wiederherstellen zu wollen. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinde Jesu sei angeblich nicht mehr möglich, da Gott nie etwas wiederherstelle, was der Mensch verdorben habe. Für die gegenwärtige Gemeinde sei es nur noch möglich, sich im Namen Jesu zu versammeln. Am Brotbrechen dürfen nach Darby jedoch nur solche teilnehmen, die sich durch die vermeintlich richtige Lehre von den anderen unterscheiden, sowie durch die Trennung vom Bösen, zu dem Darby auch die kirchlichen Strukturen zählt.

Diese Art von Kirchenfeindlichkeit hat im Verlauf der letzten 150 Jahre die gesamte Christenheit geprägt; denn selbst wenn die vielen Gruppierungen sich untereinander noch so feindlich gegenüberstehen, so eint sie doch alle, dass sie mit den „Staatskirchen“ nichts zu tun haben wollen, weil diese ja angeblich ohnehin alle „Hure Babylon“ sind. Bestrebungen unter den Freikirchen, durch gemeinsame Projekte als Evangelische Allianz die Einheit des Leibes Christi darzustellen, werden sofort unter den Generalverdacht der Ökumene und Verwässerung des Wortes gestellt, von denen man sich absondern müsse. So lehrt auch R. L., dass das „Reinigen von den Gefäßen der Unehre“ sich nicht etwa auf Christen bezieht, die schamlos in Sünde leben, sondern auf jene, die ein anderes Lehrverständnis haben als man selbst (2.Tim.2:20) – schließlich gibt es ja nur EINE Lehre. In diesem Zusammenhang sei zu erwähnen, dass das Wort „Pharisäer“ übersetzt die „Abgesonderten“ bedeutet (herbr.  PaRuSiM = „Abgespaltene“ von PaRaS = „abspalten“, vergl. Spr.18:1).

 

„Biblische Lehre“?  oder Wunschdenken – die Lehren von Roger Liebi

  1. Die Vorentrückungslehre

Die Behauptung, es gäbe eine angeblich geheime Entrückung der Christen vor den letzten sieben Jahren der großen Drangsalzeit, ist eine Erfindung aus dem 19.Jh. Es wird vermutet, dass Darby sie 1830 von einer gewissen Charismatikerin namens Margaret McDonald übernommen hat, denn ein Jahr zuvor hatte er sie noch nicht. Aber auch in der gesamten Gemeindegeschichte war diese unbekannt. Roger Liebi behauptet, dass es schon vor Darby Brüder gab, die angeblich die Vorentrückungslehre vertreten hätten, und zwar Pseudo-Ephaem (373), Fra Dolcino (1307), Increase Mather (1685), John Gill (1847) und Morgan Edward (1788), Doch wenn man sich mal die Mühe macht, R. L.s englischsprachige Quelle nachzulesen, dann stellt man fest, dass keiner von diesen Brüdern eine Entrückung vor der siebenjährigen Drangsalzeit vertrat, sondern sie von einer Entrückung vor den letzten 3 ½ Jahren der antichristlichen Vollmachtszeit ausgingen (James F. Stitzinger, The Rapture in Twenty Centuries of Biblical Interpretation, S.157-163). Weil R. L. jedoch davon ausgehen kann, dass sich niemand seiner Hörer die Mühe macht, die einzelnen Zitate zu prüfen, kann er dreist behaupten, dass die Feststellung, die Vorentrückungslehre habe vor Darby nicht existiert, angeblich ein „Märchen“ sei.  In Wirklichkeit ist er selbst der Märchenerzähler.

R. L. geht davon aus, dass der HErr Jesus „jeden Moment“ kommen könnte, obwohl das nirgendwo in der Schrift steht. Das Gegenteil ist der Fall: Paulus erklärt den Thessalonichern, die wegen ihrer Naherwartung z.T. schon aufgehört hatten, zu arbeiten, dass „jener Tag (des Versammeltwerdens zu Ihm hin) NICHT kommt, es sei denn, dass ZUVOR der Abfall komme und geoffenbart werde der Mensch der Sünde, der Sohn des Verlorengehens“ (2.Thes.2:1-3). Der Antichrist ist es, der den Tag des HErrn „zurückhält, bis er aus der Mitte (des Volkermeeres) werde“ (so wörtlich in 2.Thes.2:7, vergl. Offb.13:1). Wenn der Zurückhaltende (männlich!) die Gemeinde wäre (oder der Heilige Geist, der dann mit der Gemeinde entrückt werde) – wovon absolut nichts im Text steht! – dann könnte sich niemand mehr auf der Erde bekehren, denn „wie werden sie hören ohne einen Prediger?“ (Röm.10:14). Darbysten wie R. L. glauben jedoch, dass sich in den letzten sieben Jahren der Drangsal neben den Juden auch noch eine unzählig große Volksmenge aus allen Völkern bekehren werde, „die niemand zählen kann“ (Offb.7:9), obwohl es in Offb.13:16 heißt, dass „ALLE, die Kleinen und die Großen und die Armen und die Reichen und die Freien und die Sklaven“ das Malzeichen des Tieres annehmen werden – wie passt das zusammen?! Dass die unzählig große Volksmenge aus Offb.7:9, die niemand zählen kann, sich angeblich erst in den sieben Jahren bekehrt habe, glauben die Darbysten auch nur deshalb, weil in Vers 14 von dieser bezeugt wird: „Diese sind es, die aus der großen Drangsal kommen…“ – Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.

Das Versammeltwerden der Auserwählten zur Entrückung findet nach den Worten des HErrn erst „NACH der Drangsal jener Tage“ statt (Mt.24:29-31), und zwar „bei der letzten Posaune“ (1.Kor.15:51). Anstatt hier an Offb.10:7 und das Fest des Posaunenhalls (Jom Teruah) zu denken, muss der Schriftgelehrte Dr.R.L. beschämenderweise den griechischen Geschichtsschreiber Polybios bemühen, um die „letzte Posaune“ als eine der römischen Armee zu deuten. Das aber würde bedeuten, dass es nach „der LETZTEN“ noch immer sieben weitere Posaunen geben würde, was völlig verwirrend wäre. R. L. vermag auch keinen Unterschied zu sehen zwischen „Drangsal“ und „Zorn“, da er diese Begriffe immer wieder nach Belieben verwechselt. Dabei sind diese Worte in der Schrift klar von einander unterschieden: Gott hat uns zwar „nicht zum Zorn gesetzt, sondern zur Erlangung der Seligkeit“ (1.Thes.5:9), jedoch heißt es im selben Brief zuvor: „Dass doch niemand wankend werde in diesen Drangsalen, da ihr wisset, dass wir dazu gesetzt sind“ (1.Thes.3:3). Wir werden zwar in die Drangsal kommen, aber noch vor der Ausgießung der Zornesschalen entrückt werden. Wir werden nicht „VOR der Stunde“, sondern „AUS der Stunde der Versuchung bewahrt“ (Offb.3:10). Genauso hat auch der HErr Jesus im Hohepriesterlichen Gebet den Vater nicht gebeten, dass Gott die Seinen „aus der Welt hinausnehme“ (Entrückung), sondern dass Er sie „bewahre aus dem Bösen heraus“ (Joh.17:15 – dieselbe Formulierung wie in Offb.3:10).

Bruder R.L. ist der Ansicht, dass die Erwartung einer Entrückung nach dem Erscheinen des Antichristen angeblich zu einer falschen Gelassenheit verleiten könnte wie in Mt.24:48 „Mein HErr verzieht zu kommen“. Dies ist jedoch Unsinn, denn zum einen kann der HErr einen Gläubigen jederzeit abberufen („Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern“ Luk.12:20), und zum anderen wird doch gerade ein Christ, der überhaupt keine Ahnung über die Ankunft des HErrn hat, gleichgültig werden, denn niemand wird wirklich permanent auf jemanden warten, wenn er nicht weiß, wann er kommt. Für die Ungläubigen kommt der HErr überraschend „wie ein Dieb in der Nacht“, aber wir Gläubigen achten auf die Zeichen der Zeit und die vielen Hinweise, die der HErr uns gegeben hat, „damit uns der Tag nicht wie ein Dieb ergreife“ (1.Thes.5:4). Sonst hätte der HErr sich doch die ganzen Hinweise im Buch der Offenbarung ersparen können, wenn sie uns nicht eine Orientierung geben sollen über Seine Wiederkunft.

  1. Die Lehre von der Unverlierbarkeit des Heils

Wie bei den Darbysten üblich, glaubt auch Bruder R. L. nicht daran, dass ein „echter Bekehrter“ wieder vom Glauben abfallen und sein Heil verlieren könne. All jenen, denen dies schon passierte, unterstellt er im Nachhinein, dass sie nie wirklich wiedergeboren waren, weil er ja andernfalls einräumen müsste, dass seine Bibelauslegung falsch sei. Er stützt sich dabei auf Matth.13, wo im Gleichnis vom Unkraut deutlich werde, dass es Scheinchristen gäbe, die man kaum von echten Christen unterscheiden könne. Dass aber auch von den „Söhnen des Reiches“ welche verloren gehen können, bezeugt der HErr Jesus in Mt.8:11-12. Auch im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld unterscheidet der HErr nicht zwischen „echten Wiedergeborenen“ und Scheinchristen, sondern zeigt auf, dass die Umstände, in denen wir Gläubige aufwachsen, einen starken Einfluss auf den Bestand unseres Glaubens haben. So kann es sein, dass ein Kind Gottes sogar schon Frucht gebracht hat, aber am Ende plötzlich durch Reichtum und Lebenssorgen seine Glaubenstreue wieder verliert, denn es heißt, dass diese erstickt und deshalb „unfruchtbar WIRD“ (Mt.13:22) d.h. sie brachte schon Frucht. Und wie viele „Nicht-Wiedergeborene“ es nach Liebis Auffassung gibt, die keine Wurzeln haben, wird sich noch in der Verfolgungszeit zeigen.

In seinem Vortrag aus dem Jahr 2009 sagt R. L.: „Gegner der Heilssicherheit sollten wenigstens eine einzige Bibelstelle vorweisen, wo unter Bezeichnung der Erlösten durch eindeutige Ausdrücke…also ‚Kinder Gottes‘, ‚Auserwählte‘, ‚Wiedergeborene‘ (bewiesen wird, dass solche noch verlorengehen können) – aber das können sie nicht!“ Tatsächlich gibt es weit mehr solcher Stellen, als dem Bruder Liebi lieb ist: In Joh.15:2+6 sagt der HErr Jesus z.B.: „Jede Rebe in mir, die nicht Frucht bringt, die nimmt er weg… Wenn jemand nicht IN MIR bleibt, so wird er hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen“. Nun wissen wir, dass jeder, der IN Christus IST, eine neue Schöpfung geworden – also wiedergeboren ist (2.Kor.5:17). In Psalm 82:6-7 lesen wir: „Ich sagte zwar: Ihr seid Götter, Söhne des Höchsten seid ihr alle!  Doch wie ein Mensch werdet ihr sterben, wie einer der Obersten werdet ihr fallen.“ Hier geht es zwar in erster Linie um Engel, die als „Söhne des Höchsten“ bezeichnet werden und wegen ihres Versagens degradiert wurden; aber auch wir sind ja durch die Wiedergeburt Söhne Gottes geworden, weshalb uns die gefallenen Engel als warnendes Beispiel genannt werden (Jud.5-6).

Ferner werden im Hebräer 3:1 die Gläubigen als „heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung“ bzw. „Teilhaber des Christus“ (Hebr.3:14) bezeichnet. Der Schreiber ging also davon aus, dass es sich um wirklich Wiedergeborene handelt, denn man kann nur Teilhabe an Christus haben, wenn man Ihm auch gehört (Joh.13:8). Gerade diese Hebräer werden aber immer wieder gewarnt vor der Gefahr des Abfalls: Hebr. 2:2-3, 3:6+12-14, 4:1+11, 6:4-6, 10:26+29+35, 12:25+29. Und dass auch „Auserwählte“ treulos werden und verlorengehen können, sehen wir z.B. beim Volk Israel (Ps.105:6), aber auch bei Judas Iskariot (Joh.6:70). Das „wenn möglich“ in Mt.24:24 ist so zu verstehen: wenn untreues oder unkluges Verhalten der Auserwählten es möglich macht, dann können auch sie irregeführt werden. Und das „Ausharren bis zum Ende“ in Mt.24:13 meint ein zielgerichtetes Bleiben unter dem Auferlegten. Bruder R. L. versucht, unsere Verpflichtung zum Ausharren zu entkräftigen, indem er immer wieder sagt: „Die wahren Wiedergeborenen haben die Gabe des Beharrens gemäß 1.Petr.1:5.“ Doch steht das wirklich dort? : „Die ihr in der Kraft Gottes bewacht werdet durch Glauben zur Rettung, die bereit steht, enthüllt zu werden in der letzten (bestimmten) Frist“. Wo steht hier etwas von „Gabe des Beharrens“? Selbstverständlich kümmert sich Gott um uns, damit wir in dieser Zeit bewahrt werden bis zur Zeit, da die eigentliche Rettung stattfindet wie bei der Hure Rahab: Ihr wurde von den Kundschaftern versprochen, dass man sie retten würde, wenn sie bis zum Ende treu bleibt (Jos.2:17-20). Gott hält uns fest an Seiner Hand (Joh.10:29), aber Er hält uns nicht als Sklaven gegen unseren Willen fest: Wer den Weg der Gerechtigkeit einmal erkannt hat und sich bewusst abwendet (2.Petr.2:21), der wird genauso von Gott behandelt wie jeder andere Gesetzlose, denn bei Ihm ist kein Ansehen der Person (Hes.18 +33, 1.Kor.10:1-6+11-12). Das gleiche gilt, wenn wir als „Salz der Erde“ kraftlos geworden sind (Mt.5:13).

Einen ähnlichen Unmöglichkeits-Automatismus postuliert R. L. auch bei der Frage des Überwindens in den Sendschreiben. All die Warnungen des HErrn vor dem Nicht-Überwinden, z.B. das Löschen aus dem Buch des Lebens in Offb.3:5), werden von R. L. einfach im Handstreich für bedeutungslos erklärt, indem er dreist behauptet, ein „wirklich Wiedergeborener“ überwindet immer automatisch, da ja in 1.Joh.5:4 steht, dass „jeder aus Gott Geborene die Welt überwinde“ durch den Glauben. Diese Absolutheit gilt aber in gleicher Weise auch für Kapitel 3:9 „Jeder, der aus Gott geboren ist, sündigt nicht… er KANN NICHT sündigen, weil er aus Gott geboren ist“. Und sie gilt für Gal.5:19-21, dass jeder, der noch die dort aufgezählten Werke des Fleisches praktiziert, nicht das Reich Gottes ererben wird, weil er eben NICHT überwunden hat. Wer z.B. noch seinen Bruder verachtet, der „hat das ewige Leben NICHT BLEIBEND IN SICH“ (1.Joh.3:15). Und auch der die Welt überwindende Glaube wäre tot, wenn er keine Werke hätte (Jak.2:14-24). „Kann etwa der Glaube ihn retten?“ fragt Jakobus, wo doch selbst die Dämonen glauben und zittern. Es ist also ganz fatal, wenn R. L. einen fleischlichen Gläubigen mit 1.Joh.5:4 zu beruhigen versucht, da er sich damit als falscher Prophet erweist: „Zu jedem, der in dem Starrsinn seines Herzens wandelt, sprechen sie: ‚Es wird kein Unglück über euch kommen‘“ (Jer.23:17). Statt die vielen törichten Jungfrauen und faulen Knechte Gottes zu warnen, damit sie nicht verloren gehen (Mt.25:1-30), so wie Paulus es in 2.Kor.11:2-4 tat, behauptet R. L., dass diese ja angeblich nie wiedergeboren waren und zerstört damit die Furcht vor den Warnungen Gottes. R. L. glaubt, dass der HErr Jesus Seine Güter derart verschwendet habe, dass Er angeblich sogar auch unechten Bekennerchristen Seine Gaben anvertraut habe (1 Talent = 40 kg Gold), um sie zu vermehren. Aber wie könnten sie das ohne die Wiedergeburt und Erneuerung durch den Heiligen Geist?! Ohne die Fähigkeit zur Vermehrung, kann der HErr aber keinen Ertrag erwarten.

  1. Die „Entscheidung-für-Jesus“-Lehre

Eine Ursache, warum viele Christen heute so kraftlos sind und ihre Beziehung zum HErrn gestört ist, mag auch daran liegen, dass viele keine echte Buße erfahren haben, also einen völligen Zusammenbruch und eine Bankrotterklärung vor Gott. Viele glauben, dass allein ihre Entscheidung für Jesus und ihr Verzicht auf grobe Sünden schon ausreichen würde, um sich als „echt bekehrt“ anzusehen und entsprechend sicher zu fühlen. Sie vergleichen sich mit anderen aus ihrer Gemeinde und denken: Schlechter als die bin ich auch nicht – eher besser. Deswegen heißt LAODI´KIA auch übersetzt „Volksgerechtigkeit“. Das Volk bildet sich ein, eigene Gerechtigkeits-Maßstäbe aufstellen zu dürfen, die mehrheitlich als ausreichend anerkannt werden. Der Maßstab sollte aber allein der HErr Jesus sein! Als der HErr in Luk.14 die Volksmengen sah, die Ihm alle folgten, wies der HErr sie darauf hin, welches der Preis der Nachfolge sei, damit man nicht einen Turm zu bauen anfängt, den man nicht zu vollenden vermag: „Wer nicht allem entsagt, was er hat, kann nicht mein Jünger sein“ (Luk.14:33 wörtl. „sich von allem verabschiedet“). Es reicht eben nicht aus, sich nur einmal zu bekehren und den HErrn zu bekennen, sondern wir müssen den HErrn jeden Tag unseres Lebens bekennen durch unsere Werke, da wir Ihn andernfalls verleugnen (Tit.1:16).

Dieses Elitebewusstsein, dass viele Christen sich über die Ungläubigen erheben, anstatt ihnen den HErrn vorzuleben, findet man besonders bei den Darbysten. Ich war schon zweimal auf Evangelisationen der Werde-Licht-Mission, wo sich kaum einer bekehrte, weil diese selbstgefälligen Einschüchterungen die Menschen eher abschreckten („Du wirst für ewig in der Hölle schmoren, wenn du nicht Jesus annimmst!“). Wo ist da die Liebe zu den Verlorenen? Will man sie wirklich dadurch gewinnen? Selbst jene, die noch nicht erkannt haben, dass Gott wirklich alle Menschen erretten will, müssen einräumen, dass solch eine Evangeliumsbotschaft die Menschen eher hindert, ins Reich Gottes einzugehen, weil sie sich sagen: „Ich lasse mich nicht mit einer ewigen Höllenqual erpressen oder einschüchtern – das ist doch absurd!“ Auch die Pharisäer unternahmen einige Anstrengungen, um neue Mitglieder zu werben, aber durch ihre großen Hürden erzogen sie ihre Anhänger zu Heuchlern, die sie auch selbst waren (Mt.23:4+13). Zu den Bürden, die die heutigen Pharisäer den Menschen auferlegen, zählt aus meiner Sicht der Glaube an einen unglaubwürdigen Gott, der irgendwann den Menschen, die Er doch eigentlich alle erretten wollte, auf einmal nicht mehr vergeben kann, sondern ihnen die Schuld in alle Ewigkeit nachträgt. R. L. begründet dieses irritierende Verhalten mit Markus 2:10, als ob der Sohn des Menschen nur auf Erden bevollmächtigt wurde, Sünde zu vergeben. In Mt.12:31-32 verspricht der HErr jedoch, dass einmal „jede Sünde und Lästerung den Menschen vergeben (w. erlassen) wird“, und zwar entweder „in diesem oder im nächsten Zeitalter“, mit Ausnahme der Lästerung des Geistes.    

Während sich also bei der Bekehrung die Menschen heute überwinden müssen, eine in sich widersprüchliche Evangeliumsbotschaft anzunehmen, wird ihnen das Christsein im Anschluss als ein entspanntes und gefahrloses Warten auf die Heimholung verkauft. Dabei ist es genau andersherum: Würde das Evangelium den Leuten heute biblisch richtig verkündigt, indem die Menschen durch die Verkündigung der Gebote Gottes ihre Sündenverlorenheit deutlich gemacht wird (Luk.18:20), dann würden sie nur zur Buße aufgerufen ohne irgendeine merkwürdige „Entscheidung für Jesus“ treffen zu müssen, wie wenn man einen Kaufvertrag unterschreiben müsse. Denn Paulus erklärt ganz klar, dass es eben NICHT um die Willenserklärung des Menschen gehe, sondern allein um den souveränen Rettungswillen Gottes (Röm.9:16). Und schon der HErr zerstörte jede Möglichkeit des menschlichen Rühmens, indem Er klarstellte: „IHR habt NICHT mich erwählt, sondern Ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt…“ (Joh.15:16). Hier betont der HErr zugleich den Sinn und Zweck der Errettung, nämlich dass wir dem HErrn Frucht und damit Nutzen bringen, wie es in Jes.53:11 heißt: „Von der Mühsal Seiner Seele wird Er Frucht sehen und sich sättigen“. Heute wird aber viel zu oft nur die schmale Pforte (Bekehrung), aber nicht der schmale Pfad (Heiligung) gepredigt. Dabei gehört die Heiligung zur Errettung dazu, denn „ohne Heiligung wird niemand den HErrn schauen“ (Hebr.12:14). Gott ist letztlich nur jenen, „die Ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils“ (Hebr.5:9).

Der HErr Jesus versicherte in Joh.6:44, dass niemand zu Ihm kommen kann, es sei denn, dass der Vater ihn ziehe (Letzten Endes wird Er nach Joh.12:32 sogar „alle“ zu sich ziehen). Es ist also wirklich allein Gottes Gnade und nicht die menschliche Klugheit, wenn sich jemand bekehrt. Gott ist immer der erste, der die Initiative ergreift, weshalb es heißt: „Bekehre mich, damit ich mich bekehre“ (Jer.31:18). Der Glaube ist eine Gabe Gottes (Eph.2:8), und das Wollen eines Menschen wird ebenfalls von Gott gewirkt (Phil.2:13). Diese Tatsache führt jedoch in ein theologisches Dilemma. Denn da es allein von Gott abhängt, wäre Gott auch für das Schicksal der Ungläubigen verantwortlich, was unweigerlich Gott zum eigentlichen Urheber für alles machen würde – auch des Bösen (Klag.3:40). Zurecht fragen die Atheisten: Wenn Gott laut Mt.19:26 grundsätzlich jeden Menschen retten kann – warum tut Er es dann nicht einfach? R. L. schlägt folgende Lösung vor: „Gott drängt den Menschen zur Buße, aber der Mensch muss sich selbst entscheiden.“ Dadurch nimmt er Gott die Verantwortung und verlagert sie auf das Geschöpf, das er allein verantwortlich macht für sein ewiges Schicksal. Gott müsse völlig ohnmächtig und hilflos dabei zusehen, wie der Teufel mit seinen Verführungskünsten Ihm nach und nach die Mehrzahl all Seiner Geschöpfe raubt, die Gott dann gezwungenermaßen für ewig in den Feuersee verdammen muss. Aus dem Sieg von Golgatha wird ein völlig überteuerter aber erfolgloser Pyrrhussieg. Aber wenigstens wäre dadurch Gott nicht mehr verantwortlich für die ewige Strafe, weil der Mensch diese ja selbst gewählt habe.

Das Problem ist jedoch, dass nirgendwo in der Bibel steht, dass man sich „für Jesus entscheiden müsse“. Zudem wird Gott durch dieses ideologische Konstrukt zu einem tragischen Versager degradiert, der zwar alle Menschen retten wollte, aber angeblich nicht wusste, wie man dies ohne Gesichtsverlust bewerkstelligen könne und sich deshalb mit einer drittklassigen Lösung abfinden musste. Im Grunde macht die evangelikale Entscheidungslehre Gott zu einem erbärmlichen und egoistischen Tyrannen, der wie Hitler unter dem Vorwand, für sein eigenes Volk zu sorgen, alle anderen Völker vernichten muss. Wie damals die Deutschen sagen sich auch heute viele Evangelikale: „Hauptsache, dass das Unglück nicht mich trifft; nach mir die Sintflut!“ (vergl. 2.Kön.20:19). Manche trösten sich mit der Vorstellung, dass gemäß Hiob 33:29 Gott ja schließlich „zwei bis dreimal“ zu jedem Menschen rede, sei es in Träumen, durch Menschen oder durch die Natur (Psalm 19), so dass sie „ohne Entschuldigung“ seien (Röm.1:20). Tatsache ist aber auch, dass Gott um die Unzulänglichkeiten der Menschen weiß, die „nicht einmal zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken zu unterscheiden vermögen“ und deshalb Mitleid mit ihnen hat (Jona 4:10-11). Entsprechend niederschwellig sind denn auch die Anforderungen, die Gott in Röm. 2 stellt, um Seinen Geschöpfen die Chance auf das ewige Leben zu geben. Laut Vers 7 reicht es sogar schon aus, wenn ein Mensch wenigstens sein Leben lang „mit Ausdauer in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unvergänglichkeit gesucht hat“, um das ewige Leben zu erlangen.

Fazit: Im Zeitalter allgemeinen Abfalls und rasant zunehmender Verflachung, Ökumenisierung und Verweltlichung scheinen die Darbysten eine Ausnahme darzustellen, indem sie sich größtenteils noch immer dem woken Zeitgeist und dem Feminismus entgegenstellen. R. L. und die Darbysten wären mit ihrem umfangreichen Bibelwissen zweifellos wertvoll und ein großer Segen für das ganze Volk Gottes, wenn sie nicht durch ihr exklusives (d.h. ausschließendes) und elitäres Pharisäertum und ihre Kirchenfeindlichkeit sich nur mit ihrem eigenen Gerettetsein zufriedengeben würden, anstatt auch ihre Verantwortung für die übrigen Christen glaubwürdig wahrnehmen würden, wie es die Philadelphia-Gemeinde im 17. und 18. Jh. tat. Allegorisch ruft der Heilige Geist heute all jenen hochbegabten Führern des Volkes Gottes zu, die das sinkende Schiff des heutigen Christentums verlassen wollen: „Wenn diese nicht im Boot bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden“ (Apg.27:31). Obwohl die Brüdergemeinden den alleinseligmachenden Anspruch der katholischen Kirche zurecht kritisieren und auch die Verwendung von Glaubensbekenntnissen und klerikalen Autoritäten ablehnen, haben sie sich durch ihre umfangreiche, verlagseigene Literatur und ihre Internetpräsenz einen eigenen Dogmenkatalog gefestigt, der ihren Anhängern auf jeder Bibelfreizeit eingetrichtert wird, damit sie auch ja nicht einen Millimeter davon abweichen. Wer durch ein eigenes Bibelstudium von der geltenden Norm abweicht, über den werden gnadenlos Bannsprüche verhängt wie es die Katholische Kirche im Mittelalter tat (Jes.47:9-12).

Die Angst vor staatlicher Repression hat im Nationalsozialismus aber auch in der Coronakrise dazu geführt, dass sich weite Teile der Brüderbewegung beugten und schwiegen, so dass die Gefahr besteht, dass sie auch beim unerwarteten Erscheinen des Antichristen ein laues Duckmäusertum üben werden, wodurch der HErr sie ausspeien wird aus Seinem Mund (Offb.3:14). Deshalb gilt ihnen genauso wie uns allen, dass wir möglichst schon vor dem Kommen der zwei Zeugen unser Denken durch Buße ändern müssen, damit der HErr „das Land nicht mit dem Banne schlage“ (Mal.3:24).

 

 

 

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