„‘Und nun lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und ich sie vernichte! Dich aber will ich zu einer großen Nation machen.‘ Mose jedoch flehte den HERRN: ‚…Lass ab von der Glut Deines Zornes und lass Dich das Unheil gereuen, das Du über Dein Volk bringen willst! Denke an Deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen Du bei Dir selbst geschworen…‘ Da gereute den HErrn das Unheil, von dem Er gesagt hatte, Er werde es Seinem Volk antun.“ (2.Mose 32:10-14)
Geliebte Geschwister im HErrn!
Als ich vor sechs Jahren mal im Gottesdienst bei Pastor Olaf Latzel saß, sagte dieser zum Ende seiner Predigt: „Die Bibel lehrt sowohl die Auserwählung als auch den freien Willen. Diese Konzepte widersprechen sich im Grunde, und dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Wir müssen ihn aushalten.“ Als dann der Gottesdienst zu Ende war, ging ich rüber zu meinem Freund Florian und sagte: „Das ist doch ungeheuerlich! Wie kann er sagen, dass sich dieser Widerspruch nicht auflösen lasse, nur weil ER ihn nicht auflösen kann! Es gibt keine Widersprüche in der Bibel!“ Florian entgegnete: „Wir müssen alle lernen, dass wir eben nicht alles verstehen können und dann einfach mal die Geheimnisse Gottes so stehen lassen. Wir müssen nicht alles wissen!“ – „Ja, aber das, was Gott uns geoffenbart hat, sollen wir doch wissen und uns nicht einfach mit unserer Unkenntnis abfinden. Ich sehe nämlich sehr wohl eine Auflösung dieses Widerspruchs!“ – „Und der wäre?“ fragte Florian. „Gott will, dass alle Menschen errettet werden, aber es sollen nicht alle während ihres Lebens errettet werden, sondern nur die Auserwählten. Trotzdem werden sie nicht besser behandelt, sondern alle müssen wir Leid erfahren. Wir Christen sind die Erstlingsfrucht Seiner Geschöpfe laut Jakobus. Aber am Ende der Zeit werden alle Menschen bei Gott sein.“
Sofern es den Heilsplan Gottes angeht, sehe ich das auch heute noch so. Aber neben den drei Positionen Auserwählung, freier Wille und Allversöhnung sehe ich heute noch eine vierte Variante des Handelns Gottes, über die sich nur sehr wenige Theologen sich bisher Gedanken gemacht haben. Es handelt sich um das Konzept des sog. „offenen Theismus“, d.h. die Lehre vom offenen Ausgang. Hierbei geht es um die Frage, ob die Zeitpunkte bei Gott schon alle bis ins Detail festgelegt sind wie bei einer Märklin-Eisenbahn, die immer ihre festgelegten Runden drehen muss, oder ob Gott entschieden hat, die Zukunft teilweise offen zu lassen, um auf das veränderte Verhalten des Menschen einzugehen bzw. zu reagieren. Mit anderen Worten: Gibt es bei Gott einen alternativen Plan, sozusagen einen „Plan B“? Auf diesen Gedanken kam ich lange bevor ich erfuhr, dass es dafür bereits ein ganzes Lehrsystem gibt, da längst auch andere auf diese Idee stießen. Heute bin ich davon überzeugt, dass diese Position biblisch gut belegt ist, was ich im Folgenden beweisen will:
- Das Reagieren Gottes auf Ungeplantes
Man könnte denken, dass es die Allwissenheit Gottes infrage stellen würde, wenn man annimmt, Gott könnte zulassen, dass ein von Ihm gefasster Plan vom Menschen vereitelt werden könnte. Tatsächlich aber begegnet uns dieses Reagieren Gottes auf Veränderungen in der ganzen Bibel, angefangen vom Sündenfall bis hin zum Handeln Gottes mit Israel. Dabei stellt sich z.B. die Frage, ob Gott nur geblufft hatte, als Er zweimal zu Mose sagte, dass Er das ganze Volk vernichten wolle und noch einmal ganz neu anfangen wolle mit Mose: „Siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun lass Mich, dass Ich sie vernichte; dich aber will ich zu einer großen Nation machen“ (2.Mo.32:9-10). „Wie lange mich dieses Volk verachten … Ich will es mit der Pest schlagen und es vertilgen; und Ich will dich zu einer Nation machen, größer und stärker als sie.“ Hat Gott Seinen Knecht hier angelogen? Nein, denn Gott kann nicht lügen (Tit.1:2). Demnach hat Gott es hier genau so gemeint, wie Er es sagte. Dass Er es am Ende doch nicht tat, war dem Eingreifen Moses zu verdanken, der ja ein „Freund Gottes“ war (Jak.2:23, 4.Mo.12:7-8). Uns mag der Gedanke Beängstigen, was passiert wäre, wenn Mose nicht versucht hätte, Gott umzustimmen. Aber für Gott ist dies überhaupt kein Problem gewesen, wie Er es ja auch in Jer.18:2-10 selbst bezeugt.
Menschen durchkreuzen ständig den Ratschluss Gottes, wie der HErr es z.B. in Luk.7:30 bezeugt: „Die Pharisäer aber… machten in Bezug auf sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos, indem sie nicht von Ihm getauft worden waren“. Trotzdem ist Gott kein scheiternder Gott, sondern eher wie ein Schachspieler, der alle möglichen Züge des Gegners im Voraus kennt und genau weiß, wie Er auf diese reagieren muss: Ein gutes Beispiel ist die Geschichte Jonas, wo wir gleich zweimal ein Reagieren Gottes auf Unerwartetes beobachten: Erst war es Jona, der versucht hatte, Gottes Plan zunichtezumachen, indem er statt nach Ninive einfach in die entgegengesetzte Richtung reiste, um Seine Weigerung zum Ausdruck zu bringen. Und später war es Ninive, dass sich mit dem Urteil Gottes nicht abfinden wollte, sondern als Ganzes Buße tat, um Gott umzustimmen. Gott ließ den Eigenwillen Jonas jedoch nicht durchgehen, war aber bereit, sich noch einmal der Stadt Ninive zu erbarmen. Hier können wir etwas Entscheidendes lernen: Gott ändert Seinen Plan nie zum Bösen, wohl aber zum Guten! Nirgendwo in der Bibel steht, dass wir die Gerichtsabsichten Gottes nicht verstehen können (Jes.26:8-9), sehr wohl aber wird bezeugt, dass wir die Liebe und das Erbarmen Gottes nicht fassen können (Eph.3:19). So bezieht sich auch Jes.55:9 nicht auf das Gericht Gottes, sondern auf Seine Vergebung (Vers 7), weil dessen Ursache unser Denken übersteigt.
- Die beste aller möglichen Welten
Der gläubige Universalgelehrte Gottfried W. Leibniz (1646-1716) postulierte 1710 in seinem Werk über die Theodizee („Gottesgerechtigkeit“), dass diese unsere Welt unter allen Abwägungen Gottes „die beste aller möglichen Welten“ sei, auch wenn sie Böses enthalte. Nach dieser Vorstellung hätte Gott theoretisch auch andere Welten erschaffen können mit ganz anderen Geschichtsverläufen. Aber nur der jetzige Weltlauf wurde auch allen notwendigen Anforderungen gerecht, weshalb sich Gott für diesen entschied. Diese These beantwortet die Frage, warum z.B. der HErr Jesus erst 4000 Jahre nach der Schöpfung auf die Erde kam, um das Evangelium zu verkünden, obwohl Sodom nie zerstört worden wäre wegen der Umkehr ihrer Bewohner, wenn sie damals schon all die Zeichen und Wunder gesehen hätten (Mt.11:23). Denn eigentlich müsste man doch fragen, warum die Wunderwerke Jesu nicht schon damals unter ihnen geschehen sind, um sie zu erretten, da Gott ja dann schuld wäre, dass sie nicht errettet wurden. Diese scheinbare Ungleichbehandlung oder Unfairness wird nach den Worten Jesu dadurch ausgeglichen, dass sie „es ihnen erträglicher ergehen wird am Tage des Gerichts“, indem ihre Haftzeit verkürzt wird (Mt.10:15, 11:24, Hes.16:53).
Als ich noch Atheist war, hatte ich den Eindruck, dass es im Christentum immer irgendeine Ausrede gibt, mit der man versucht, das Sinnlose und Grausame in der Natur göttlich zu verbrämen, indem sofort von „Prüfungen“ oder „Zucht“ die Rede ist, wenn Gläubigen Unheil widerfährt. Heute ist mir jedoch klar geworden, dass wirklich alles im Leben einen Sinn ergibt und wir Gottes gütliches Handeln verstehen können, wenn wir es nur wollen: Krankheiten, Naturkatastrophen und andere „Schicksalsschläge“ sind nicht nur Folge der gefallenen Schöpfung, sondern Erziehungsmethoden Gottes, damit wir Geduld, Vertrauen und Barmherzigkeit erlernen. Wenn alles immer glatt laufen würde, hätten wir nie Gelegenheit, all das anzuwenden, was wir im Wort Gottes schon gelernt haben und unser Glaube würde allmählich verkümmern und verschwinden wie eine Fremdsprache, die wir zwar mal erlernt aber nie anwenden konnten. Alles, was nicht gefordert wird, das schrumpft; aber alles, was gefordert wir, das wächst. Wenn allein das Glück der von Gott gewollte Lebenssinn wäre, hätte Er uns ja auch gleich ins Paradies nehmen können. Wenn es kein Leid gäbe, könnten wir keine Freude empfinden; und wenn es z.B. keine Vulkane gäbe, gäbe es auch keine fruchtbare Erde.
- Hätte Judas sich auch weigern können, Verräter zu werden?
Ja selbstverständlich. Und dennoch war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er derjenige sein würde, von dem David vorhersagte: „Der mein Brot aß, hat die Ferse gegen mich erhoben“ (Ps.41:10, vergl. Joh.13:10). Und wenn Judas seinen Plan zum Verrat verworfen hätte, dann hätte Gott rechtzeitig noch einen anderen gefunden, der die dreißig Silberstücke ins Haus des HErrn geworfen hätte, wie es der Prophet Sacharja vorausgesagt hatte (Sach.11:12-13, vergl. Mt.27:9-10). Gott hatte den Judas nicht geschaffen, um Verräter zu werden, aber Er wusste, dass Judas es sein würde, weil er ein Dieb war und damit habsüchtig und gewissenlos (Joh.12:6). Aber Gott hatte Judas nicht zum Dieb gemacht, sondern er sich selbst. Die ganze Judasgeschichte lässt sich nur durch den offenen Theismus sinnvoll erklären. Und Judas steht exemplarisch für die gesamte Passionsgeschichte, an der ja auch viele andere beteiligt waren wie etwa Kaiphas, Herodes, Pilatus und jene Juden, die die Volksmenge anstifteten für Barabbas zu stimmen. Alles geschah freiwillig, und dennoch war es zwangsläufig. Sogar der zukünftige Antichrist wird alles, was er tut, freiwillig tun, und dennoch hat Gott es vorhergesehen. Es handelt sich hier um eine göttliche Wahrscheinlichkeitsberechnung mit einer Trefferquote von deutlich unter ± 5%. Man könnte auch von „Vorherahnung“ sprechen.
Ich selbst erlebe es im Alltag als Malermeister ähnlich: Wenn ich morgens in die Werkstatt komme und meinen Mitarbeitern die Kundenaufträge aushändige, dann „weiß“ ich, dass sie diese auch zu meiner Zufriedenheit ausführen werden. Und wenn mal etwas schief geht, dann bringen sie oder ich es wieder in Ordnung. Gleiches gilt aber auch im Schlechten: Letztens habe ich einen Lehrling aus Afghanistan eingestellt, der faul war und schon nach 10 Tagen vorgab, „krank“ zu sein. Ich ließ ihn jedoch nach einer ersten Verwarnung noch zehn weitere Tage bei mir arbeiten, weil ich ahnte, dass er mit Sicherheit wieder demnächst einen Tag blau machen würde, um ihn erst dann mit besserer Begründung wieder zu entlassen, wie es dann auch geschah. Ähnlich verhielt sich auch der weise König Salomo, nachdem sein Vater David ihm auf dem Sterbebett sagte: Sorge dafür, dass Simei, der mich verfluchte, nicht ungestraft davon komme trotz des Schwurs: „Du bist ein weiser Mann und wirst wissen, was du ihm tun sollst“ (1.Kön.2:9). Und da Salomo wusste, dass Simei nicht auf Dauer das Gebot befolgen würde, stellte er ihm eine entsprechende Falle.
- Hätte auch Hiob oder gar der HErr Jesus Gott enttäuschen können?
Ja, aber nur in der Theorie. Denn wenn dies wirklich im Bereich des Möglichen gewesen wäre, wäre Gott das Risiko gar nicht erst eingegangen. Gott wusste, dass Er sich auf Hiob verlassen konnte und war deshalb bereit, diese „Wette“ mit dem Teufel einzugehen. Und Gott wusste ebenso, dass Sein geliebter Sohn, Sein treuer Knecht, Ihn nicht enttäuschen würde, sondern alles ausrichtet, wozu der Vater Ihn gesandt hatte (Jes.55:11). Der HErr Jesus war nicht gezwungen, für uns zu sterben, sondern tat es freiwillig aus Liebe: „Niemand nimmt es (das Leben) von Mir, sondern Ich lasse es von Mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen…“ (Joh.10:18). Sogar noch im Garten Gethsemane bat der HErr den Vater, dass „WENN ES MÖGLICH IST, der Kelch doch an Ihm vorübergehe“, d.h. wenn es noch eine andere Möglichkeit gäbe, die Welt zu erretten. Aber da es keine andere Möglichkeit gab, fügte der HErr sich freiwillig, um den Willen Seines Vaters zu tun und um uns dadurch ein Vorbild zu geben.
Es gibt ja nicht nur in der Katholischen Kirche, sondern auch innerhalb der Reformierten und der Brüderbewegung einige Vertreter wie etwa J.N. Darby und C.I. Scofield, die der Ansicht waren, dass der HErr Jesus aufgrund Seiner göttlichen Natur gar nicht in der Lage war, zu sündigen (die sog. Impaccibilitätslehre). Aber dann würde das Wort nicht zutreffen, dass Er „in ALLEM den Brüdern gleich werden musste“ (Hebr.2:17) und könnte uns auch nicht wirklich ein Vorbild sein, da wir diese göttliche Begabung des Nicht-Sündigen-Könnens ja selbst nicht besitzen. Der HErr Jesus ist aber „in allem versucht worden wie wir, doch ohne Sünde (geblieben)“ (Hebr.4:15). Die Versuchung entspringt aber den eigenen Begierden (Jak.1:13-14), die demnach auch der HErr hatte, ohne dass Er diesen nachgab. Im Garten Gethsemane, tat Er durch das Beten und Flehen genau das, was Er auch uns empfiehlt, damit wir nicht in Versuchung fallen (Luk.22:42-44).
- Können wir durch Gebet und Fürbitte die Zukunft mitgestalten?
In Matth.24:20 gebietet uns der HErr Jesus, dass unsere „Flucht nicht im Winter geschehe, noch am Sabbath“. Ich weiß nicht, wer außer mir sonst noch dieses Gebetsanliegen vor Gott gebracht hat; aber offensichtlich hat sich Gott hier noch nicht festgelegt, wann genau dieses zukünftige Ereignis stattfinden soll und gibt uns die Chance, durch unser Gebet, diesen Zeitpunkt mit zu gestalten. Beim Lesen der Bibel finden wir immer wieder Beispiele, wie Männer Gottes durch ihr Gebet den Verlauf der Dinge geändert haben, angefangen bei Abrahams Fürbitte für Sodom (1.Mo.18:22-33), Josuas Bitte um einen Stillstand der Sonne (Jos.10:12-14), Hannas Bitte um einen Sohn (1.Sam.1:10-20), Hiskias Bitte um Lebensverlängerung (2.Kön.20:1-6), das Gebet der Gemeinde für Petrus (Apg.12:5-17), Paulus Bitten für die Gemeinden (Phil.1:9-11, Kol.1:9-12), das Gemeindegebet wegen der Verfolgung und die Bitte um Freimütigkeit (Apg.4:23-31) und vor allem das Gebet des Elia, dass Feuer und später Regen vom Himmel fallen möge (Jak.5:16-18).
Obwohl Gott eigentlich nicht auf uns angewiesen ist und auch schon vorher weiß, was wir brauchen, ehe wir Ihn um etwas bitten (Mt.6:8+32), möchte Gott erbeten werden und ist sogar bereit, die Entscheidungen Seiner Diener als Seine eigenen zu bestätigen (Mt.18:18). In Jes.44:26 heißt es: „Der das Wort Seines Knechtes bestätigt und den Ratschluss Seiner Boten vollführt“. Das muss man sich mal vorstellen! Wenn wir wie der HErr allezeit das tun, was Gott wohlgefällt, dann lässt Gott uns nie im Stich, sondern erfüllt uns jeden Wunsch, so wie beim HErrn Jesus (Joh.8:29). Wir haben also durch unsere Gebete Einfluss auf die Zukunft! Wie viele Weltereignisse sind allein durch das Gebet von Gläubigen gewirkt worden! Ohne diese Gebete wäre Vieles anders gelaufen. Unsere Fürbitte hätte ja auch gar keinen Sinn, wenn wir nicht glauben würden, dass sie einen entscheidenden Einfluss auf das Geschehen hätten. Wenn wir den Vater z.B. nicht um Arbeiter bitten, die Er in Seine Ernte senden möge, dann passiert es auch nicht (Luk.10:2). Aber auch viele der Gerichtsankündigungen Gottes können wir durch unsere Fürbitte noch abwenden, wenn wir nur einen Glauben wie Mose hätten (2.Mo.32:9-14, 4.Mo.14:13-20).
Seid der Gnade des HErrn befohlen!
Euer Bruder Simon

