„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 16
Januar – Juni 1988
Überführt und abgeführt
In der Malerklasse der Berufsschule Alwin-Lonke-Str. gehörte ich mit meinen 19 Jahren zu den Ältesten. Die meisten waren ca. 16 und noch entsprechend wild. Die Lehrer waren meist Alt-68er und versuchten, mit Kumpelhaftigkeit bei den Schülern Vertrauen und Sympathie zu wecken. Unsere Politiklehrerin Inge(borg) Eicken bot uns sogar das Du an, obwohl sie schon um die 60 J. alt war. Während des Unterrichts saß sie häufig mit ihren Turnschuhen im Schneidersitz auf dem Tisch und trug eine Jeansjacke mit der Rolling-Stones-Zunge. Da kam mir die Idee, dass auch ich mich durch meine Kleidung zum HErrn Jesus bekennen sollte. Ich nahm also die alte Lederjacke, die mir mein Vater geschenkt hatte, und malte darauf mit großen weißen Buchstaben: „JESUS CHRISTUS sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Joh.14,6“. Als ich am nächsten Berufsschultag damit in die Klasse kam, hörte ich, wie meine Mitschüler es immer wieder laut vorlasen und sich daran belustigten: „Hey! Bist Du etwa Jesus-Fan!?“ Der andere: „Wieso? Die einen haben hinten ‚Werder Bremen‘ drauf, und Simon hat nun mal ‚Jesus Christus‘ hinten drauf. Ist doch okay!“ Schon bald wurde ich von Schülern anderer Klassen gehänselt: „Ey, schau mal, da kommt Jesus Christus!“
In den Unterrichtspausen ging ich regelmäßig in die Schulbibliothek und stöberte in den Sachbüchern. Ich hatte einen großen Wissenshunger, hauptsächlich im Fach Geschichte. Dabei hatte es mir besonders eine Person angetan, und zwar Antiochus IV. Epiphanes (215 – 164 v.Chr.), welchen Bruder Daniel mal als den „Antichrist des Alten Testaments“ bezeichnet hatte. Er wird in der Bibel nur in Daniel 11 als „König des Nordens“ erwähnt, dafür aber um so ausführlicher im 1. und 2. Makkabäerbuch. Daniel meinte, dass Antiochus IV. ein Vorläufer des zukünftigen Antichrists sei, der sich ja ebenso wie dieser in den Tempel Gottes setzen und für sich selbst göttliche Verehrung beanspruchen werde, so wie es auch Antiochus 167 in der Mitte seiner siebenjährigen Amtszeit tat. Vor allem interessierte ich mich, wer all jene Diadochen-Könige im 11. Kapitel vom Propheten Daniel waren, die immer nur angedeutet, aber nicht namentlich genannt wurden. Ich las also tagelang all die vielen Einzelheiten in den Geschichtsbüchern nach, um die vorhergesagten Hinweise zu deuten und den jeweils beschriebenen Königen zuzuordnen. Als es mir am Ende gelungen war, fragte ich mich, ob ich eigentlich der erste sei, dem diese Zuordnung gelang. Jahre später entdeckte ich in einer Scofield-Bibel, das schon längst andere sich die gleiche Mühe gemacht hatten und ich mir all die Arbeit eigentlich hätte sparen können.
Doch was mir noch immer keine Ruhe ließ, war die Frage, warum der Prophet Daniel zwar von mehreren antiken Weltreichen sprach, die vor der Wiederkunft Christi kommen sollten, aber die letzten 2000 Jahre einfach unerwähnt bleiben. Zwischen dem Untergang des Römischen Weltreichs und der heutigen Zeit klafft ja in der biblischen Prophetie eine riesige Lücke, für die ich keine Erklärung hatte. Zudem zielen die in Daniel 11 beschriebenen Könige zwar am Ende auf den Seleukidenkönig Antiochus IV. ab, aber dann kommt auch schon der HErr Jesus wieder und beginnt Seine himmlische Königsherrschaft. Irgendwie stimmte da etwas nicht. Tagelang grübelte ich auf dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit über dieses Problem nach, bis mir auf einmal die Erleuchtung kam: Die Geschichte wiederholt sich! Die in Daniel 2 aufgezählten fünf Weltreiche, die es vor dem ersten Kommen des HErrn gab, haben im Neuen Testament eine geistige Entsprechung auf die Herrschaftssysteme vor dem zweiten Kommen des HErrn! Babylon entsprach der katholischen Kirche, die nahezu 1.300 Jahre geistig über Europa geherrscht hatte. Das Medo-Persische Weltreich folgte dann vielleicht analog zum Absolutismus in Europa, und Griechenland entsprach der heutigen Demokratie, die ja immerhin in Griechenland erfunden wurde. Und was könnte auf das Römische Weltreich zutreffen, das hart wie Eisen war? Der Kapitalismus? oder der Faschismus? Und dann gab es ja noch das geteilte Reich aus Eisen und Ton. Das könnten vielleicht die heutigen Machtblöcke von Ost und West sein, also die Nato und der Warschauer Pakt, die sich ja im Kalten Krieg befanden. Ja, das passte! Und jetzt käme als nächstes der HErr Jesus wieder!
Diese Entdeckung gab mir innerlich einen großen Auftrieb. Kein Wunder, dass die Juden zur Zeit Jesu dachten, dass die Ankunft des Messias mit Macht und großer Herrlichkeit kommen müsse, denn diesen Anschein hatte es ja wirklich im Alten Testament. Aber jetzt hatten sich auch all die parallelen Weltreiche erfüllt, und das Jahr 2000 stand nur noch wenige Jahre bevor! Und ich gehörte vielleicht zu den wenigen, die wussten, dass das zweite Kommen Jesu in greifbare Nähe gerückt war. Ich musste diese Botschaft unbedingt in der Berufsschule verbreiten! Ich schrieb also von nun an jede Woche einen evangelistischen Bibelvers auf einer DIN A4-Seite, kopierte ihn mehrfach und klebte ihn an vielen Wänden in der Schule an. Wenn ich dann eine Woche später wieder zur Schule kam, waren die Zettel zwar alle wieder abgerissen, aber das machte nichts, denn ich hatte ja dann jedes Mal schon wieder einen neuen Vers mitgebracht und klebte ihn überall hin. Ich musste dies natürlich immer heimlich nach Schulschluss machen, damit niemand mich dabei beobachtete. Und selbst wenn ich auch dabei erwischt werden sollte – hatte ich etwa nicht das Recht, für meinen Glauben zu werben? Schließlich hingen da ja auch jede Menge andere Werbeplakate für irgendwelche Veranstaltungen oder Konzerte. Auf einem wurde z.B. darauf hingewiesen, durch welche sexuellen Praktiken der AIDS-Virus übertragen werden könne. Zum ersten Mal las ich das Wort „Blasen“ und ahnte schon, was es bedeuten solle. Widerlich!
Doch nach ein paar Wochen kam mir der Gedanke, dass ich unter die Plakate doch wenigstens meine Telefonnummer hinterlassen sollte für den Fall, dass ein interessierter Mitschüler sich an mich wenden wolle. Zudem hatte ich die Idee, etwas mehr Inhalte auf die evangelistischen Plakate zu schreiben, damit der Leser weiß, um was es mir eigentlich ging. So schrieb ich einen Text mit der Überschrift: „AIDS – die Strafe Gottes!“ und begründete darin, dass sich der Erreger i.d.R. nur durch sündhafte Handlungen übertragen würde und wies darauf hin, dass schon die Bibel eine solche körperliche Bestrafung angekündigt hätte (Röm.1:27). Auf einem anderen Plakat ging es um den Kalten Krieg und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit, wenn man sein Vertrauen auf menschliche Ideologien stütze, anstatt auf seinen Schöpfer. Schon bald darauf erzählte mir Hedi, dass ein Mädchen angerufen hätte und sich für meinen Glauben interessieren würde. Hedi hatte ihr meinen Namen mitgeteilt, damit ich sie in der Schule treffen könne. Dies hatte ich am darauffolgenden Berufsschultag schon fast vergessen, als auf einmal während des Unterrichts zwei Personen in den Klassenraum kamen, ein Mann und eine Frau, sich für die Unterbrechung entschuldigten und laut sagten: „Wer von Euch ist Simon Poppe?“ Ich meldete mich, und sie baten mich, mal aufzustehen und mit ihnen zu kommen, was ich auch tat.
Sie führten mich wortlos ein paar Flure entlang, bis sie dann einen Raum aufschlossen, an dem ein Schild stand „Schulpsychologischer Dienst“. Sie baten mich, ihnen gegenüber Platz zu nehmen, legten eines meiner Plakate auf den Tisch und sagten: „Simon, Du hast diesen Zettel geschrieben. Du brauchst es nicht leugnen, denn wir wissen es!“ Ich sagte: „Ja, natürlich habe ich das geschrieben. Warum sollte ich das leugnen?“ Sie waren erleichtert: „Na, dann ist das ja schon mal geklärt. Sag mal, wie kommst Du dazu, ständig solche Zettel überall hinzuhängen? Hast Du dafür überhaupt eine Genehmigung?“ Ich überlegte: „In gewisser Weise schon. Denn als Christ unterliege ich dem allgemeinen Missionsbefehl von Jesus Christus“ – „Das kannst Du in Deinem Privatbereich gerne machen, aber nicht hier in der Schule. Vor allem schüchterst Du die Schüler ein mit Deinen Verdammnis-Androhungen. Kannst Du Dir vorstellen, was für einen seelischen Schaden Du damit bei Schülern anrichtest, die zarter besaitet sind? Das ist eine absolute Zumutung, was Du hier schreibst!“ – „Aber was ist denn schlimmer: dass die Schüler verunsichert werden oder dass sie am Ende in die Hölle kommen?“ fragte ich. Die Psychologen schüttelten lächelnd den Kopf: „Wer glaubt denn heute noch an eine Hölle?“ – „Wenn niemand an die Hölle glauben würde, könnte sie ja auch niemanden beunruhigen.“ – „Aber es gibt immer Ausnahmen. Und Du hast nicht das Recht, andere Schüler einzuschüchtern. Vor allem hättest Du Dir dafür vorher eine Erlaubnis von der Schulleitung holen müssen.“ – „Das stimmt. Dafür bitte ich um Entschuldigung. Aber ich kann mir ja auch jetzt noch eine Erlaubnis vom Schulleiter holen, nicht wahr?“ Sie schauten sich an und sagten: „Das kannst Du gerne versuchen, aber die wird er Dir garantiert nicht erteilen.“
Wir standen auf und sie begleiteten mich auf den Weg zum Schulleiter. Auf dem Weg kam uns Herr Gross entgegen, der stellvertretende Schulleiter, der scheinbar informiert war: „Und? Habt ihr den Übeltäter erwischt?“ Sie nickten und er ließ mich wissen, dass er für meine Aktion nur Verachtung übrighabe. Dann betrat ich allein das Zimmer des Schulleiters. Ich begann, ihm mein Anliegen zu erklären, aber er winkte ab, dass er bereits bescheid wisse. Er lehnte sich zurück, legte seine Beine gemütlich übereinander und fragte: „Sag mal, wie heißt eigentlich Euer Guru?“ – „Wir haben keinen Guru“ gab ich zurück. „Ich weiß, ich weiß, ich meinte natürlich Euren Boss.“ – „Unser HErr ist Jesus Christus, einen anderen haben wir nicht.“ Dann stellte er mir noch viele andere Fragen im Plauderton und schien an der Unterhaltung Gefallen zu haben. Am Ende sagte er: „Find ich mutig, was Du machst. Weißt Du was: Ich gestatte Dir, die Zettel auch weiterhin aufzuhängen!“ – „Echt? Oh, vielen Dank!“ Ich lächelte und verabschiedete mich. Als ich hinausging, fragte Herr Gross: „Und? Was hat er gesagt?“ – Stolz erwiderte ich: „Er hat es mir erlaubt!“ Darauf Herr Gross: „Ach ja? Dann häng Deine Zettel ruhig weiter auf, aber ich werde sie selbst danach höchstpersönlich wieder abreißen!“ Dann beugte er sich zu mir und flüsterte: „Euch muss man BEKÄMPFEN!“ Dann ging er weg.
Solange man anderen um des Evangeliums willen ein Anstoß ist, ist das etwas Gutes. Aber da Hedi sehr gerne Knoblauch ins Essen tat, wurde ich meinen Mitschülern und Arbeitskollegen leider oft auch dadurch ein Anstoß. Bruder Edgard mochte zudem auch immer besonders gerne eine bestimmte Käsesorte, die sich „Harzer Roller“ nennt und besonders stark riecht, wenn der Käse sein Verfallsdatum überschritten hat. Aber erst dann besaß er seine volle Reife und Würze, so dass Edgard immer mehrere Käse auf einmal kaufte, sie aber erst nach zwei Monaten aß. Einmal war der Käse sogar schon voller Maden; aber Edgard nahm es mit Humor: „Die Fliegen wissen, was gut ist!“ Als Edgard mich mal probieren ließ, musste ich das Stück vor Ekel sofort wieder ausspucken. Es war als hätte ich einen ganzen Kuhstall im Mund. Aber allmählich schmeckte auch mir dieser Harzer Käse und ich wusste – wie Edgard – das strenge Aroma zu schätzen. Einmal hatte ich mir damit Brote gemacht für die Schule. Doch als ich die Brotdose in der Pause vor dem Klassenraum aufmachte, verschloss ich sie sogleich wieder, um keinen Anstoß zu erregen. Doch zu spät: „Ey, was stinkt das denn hier so?! Hat hier jemand einen Furz gelassen?“ Ich ließ mir nichts anmerken, aber fühlte mich zugleich etwas beleidigt.
Der tägliche Kampf auf der Arbeit
Im Anfang des Jahres hatte mein Chef Klaus Hillmer keine Arbeit, weshalb die Gesellen wegen Kurzarbeit zuhause blieben. Ich hatte im Januar in der Werkstatt die mobile Imbissbude seiner Frau Jutta Hillmer-Scheffel bemalt als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Da der Winter sehr milde war, sollte ich als nächstes eine Firmenwerbung an die Fassade der Werkstatt malen, die mit einem Tageslichtschreiber auf die Wand projiziert wurde. Als ich nach zwei Tagen fertig war, lobte mich mein Chef für die saubere Arbeit, aber sagte dann: „Schade, dass die Schrift so klein ist. Von weit weg kann man es gar nicht mehr lesen.“ Und nach einer Weile des Grübelns fügte er hinzu: „Weißt Du was: Streich morgen früh alles noch mal über! Und dann mach die Werbung noch einmal über die gesamte Wand!“ Ich kochte innerlich, denn ihm konnte es ja egal sein, da er ja ohnehin keine andere Arbeit für mich hatte, aber ich ärgerte mich. An einem Tag war ich allein mit Herrn Hillmer in der Werkstatt, als es auf einmal eine kleine Explosion gab. Ich schaute auf und sah, dass meinem Chef beim Reinigen des Spritzgerätes etwa ein Liter weißer Lack ins Gesicht gespritzt war. Ich musste mir das Lachen verkneifen, da er sehr wütend war. Er forderte mich auf, sein Gesicht zu reinigen, was ich auch tat. An einem anderen Tag war ich es, der seine Hilfe brauchte, da ich mich ziemlich stark geschnitten hatte Er ging sofort los, um – wie er sagte – Verbandszeug zu holen. Erst nach über zwei Stunden kam er wieder. Er hatte sich mit Freunden seines Nautilus-Vereins getroffen, war mit ihnen in die Kneipe gegangen und hatte bei der Rückkehr ganz vergessen, dass er eigentlich Verbandszeug mitbringen wollte. Ich hatte mir inzwischen schon selbst geholfen.
Als die Gesellen im März wieder da waren, ließen sie keinen Zweifel daran, wer das eigentliche Sagen in der Firma hatte, denn sie gingen mit Herrn Hillmer um, als wäre er ihr Lehrling. Einmal schimpfte z.B. Werner Holle mit mir: „Sag mal, Simon, hast Du hier Terpentin ins Klo gekippt?“ – „Nein, sowas mach ich nicht!“ erwiderte ich. „Herr Hillmer, haben Sie das Terpentin ins Klo gekippt?“ – „Ach, dann war da Terpentin drinnen, das wusste ich nicht“ antwortete mein Chef kleinlaut. „Aber das riecht man doch sofort! Und außerdem sind Sie es doch, der jedem Kunden erzählt, dass Sie Greenpeace gut finden und dafür spenden! Wo ist denn auf einmal Ihr Interesse an der Natur geblieben?!“ Mein Chef konnte sich gegenüber seinen Mitarbeitern nicht behaupten und mied wohl deshalb auch den Kontakt zu ihnen.
Einmal sollten wir ein altes Schiff im Hafen lackieren. Nach Feierabend klingelten die Gesellen beim Chef und fragten ihn: „Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, wer den Mast lackieren soll? Denn wir werden da nicht hinaufklettern, denn der ist ja über 10 m hoch!“ Herr Hillmer sagte trotzig: „Wenn Sie sich das nicht trauen, dann klettere ich eben meinetwegen da hoch!“ Den Gesellen war sofort klar, dass er das niemals tun würde, da er viel zu ängstlich war und nur angeben wollte. „Oder sonst kann ich doch den Mast lackieren…“ bot ich an. Werner reagierte erbost: „Nein, Poppe, auf keinen Fall machst Du das! Das verbiete ich Dir!“ – „Aber wenn Simon das machen will, dann lassen Sie ihn doch, er ist doch noch jung und gelenkig.“ sagte Herr Hillmer – „Und wenn er dort runterfällt, wollen Sie dann die Verantwortung tragen?“ Doch am nächsten Tag war Werner Holle krank, und ich nutzte die Gelegenheit, nahm mir den Topf Lack und eine HK-Rolle und kletterte auf den Mast. Oben war es sehr windig und der Mast schwankte leicht. Ich fing an mit dem Lackieren und kletterte immer weiter ein Stück runter. Auf einmal kam der Geselle Rudi um die Ecke, sah mich und sagte nur: „Pass bloß auf, dass Du da nicht runterfällst!“ Aber insgeheim waren sie wohl alle froh, dass ich mich für diese Arbeit bereitgestellt hatte.
Da die Gesellen nach wie vor ständig auf mir rumhackten, war es für mich überlebenswichtig, dass ich irgendwie bei ihnen punkten konnte. Doch das einzige Talent, das sie mir zugestanden, war, dass ich Farbtöne gut nachmischen konnte, was manchmal erforderlich wurde. An einem Tag schickten sie mich mittags in die Werkstatt, um Türen abzubeizen. Das ist eine ziemlich undankbare Arbeit, denn man muss die Flächen nach jeder einzelnen Schicht neu einstreichen mit dem hochgiftigen Abbeizer. Als es 15:30 Uhr wurde, war ich noch kaum vorangekommen und hatte eine panische Angst, dass sie am nächsten Tag wieder mit mir schimpfen würden. Doch dann kam mir plötzlich eine Idee: Ich strich sämtliche Türseiten nacheinander mit Abbeizer ein und legte eine Folie luftdicht auf die eingestrichenen Flächen, damit die Gase nicht entweichen konnten. Ich dachte: Wenn ich Glück habe, bräuchte ich am nächsten Tag gar nicht mehr Kratzen, denn der Abbeizer könnte über Nacht ungestört alle Lackschichten anlösen. Aber wenn ich Pech habe, könnte es sein, dass die Folie am nächsten Tag fest auf der Tür kleben bleibt und alles eingetrocknet ist. Ich wollte also noch vor 7:00 Uhr in der Werkstatt sein, damit die Gesellen es nicht merkten, dass ich geschummelt hatte. Doch am nächsten Tag waren sie schon vor mir da und sagten: „Was hast Du denn da gemacht, Poppe?!“ Werner hob die Folie langsam hoch, und zu unser aller Überraschung war das Holz der Tür restlos sauber, während der gesamte Lack an der Folie klebte. „Hey, Poppe, das war ja eine clevere Idee von Dir! Das solltest Du Dir mal patentieren lassen. Da spart man ja wirklich viel Zeit!“ Auch mein Chef war beeindruckt von meiner Erfindung und lobte mich.
Doch schon bald darauf fiel ich wieder in Ungnade: „Simon, warum bist Du denn beim Streichen des Dachunterstandes überall gegen die Dachrinne gekommen?!“ fragte Rudi – „Aber das sieht man doch kaum…“ – „Klar sieht man das, wenn man genau darunter steht.“ – „Find ich aber ehrlich gesagt ziemlich übertrieben,“ entgegnete ich „und wenn dem Kunden das wirklich stört, dann kann er das ja mal selbst saubermachen…“ – „Was erzählst Du da wieder! Bist Du noch zu retten?!“ – „Ja“, sagte ich, aber ich vermute, dass er den Sinn meiner Antwort nicht verstanden hatte. Als ich an einem anderen Tag mal versehentlich die falsche Farbe verwendet hatte, brüllte mich Rudi an: „WAS MACHST DU DENN DA? Sag mal, bist Du des Teufels?!“ – „Nein, ich bin des Gottes!“ Ich wollte ihm dadurch zeigen, wie gedankenlos wir manche Redewendungen benutzen, die ursprünglich mal eine religiöse Bedeutung hatten. Aber wenn jemand gerade richtig wütend ist, scheint es unangebracht zu sein, solche Hinweise zu geben.
Nachdem es dem Teufel nicht gelungen war, mich durch Einschüchterungen zu Fall zu bringen, versuchte er es mit Versuchungen. Meine beiden Arbeitskollegen hatten nämlich eine gemeinsame Leidenschaft, und zwar das Thema Sex. Als sie mitbekommen hatten, dass ich noch jungfräulich war, ließen sie keinen Tag aus, um mich durch anzügliche Witze oder Phantasien zum Mitlachen zu verleiten. Es gab damals eine Sendung im Fernsehen mit einer gewissen Erika Berger, die den Leuten am Telefon Ratschläge über ihre Sexualität gab, was dem Werner und dem Rudi jedes Mal in den Arbeitspausen Gesprächsstoff gab.
Anfangs versuchte ich noch, mich aus diesem Thema rauszuhalten und genierte mich, wenn sie mir Fragen stellten. Einmal hielten sie mir sogar ein Pornoheft unter die Nase, das sie hinter dem Bett eines Kunden gefunden hatten. Weil ich meinen Kopf immer wieder wegdrehte, war sich Werner Holle sicher, dass ich schwul sein müsse, um sowas nicht gut zu finden. Doch im Laufe der Zeit hatte ich mich an dieses Thema so sehr gewöhnt, dass ich mitmachte bei ihren Albernheiten und sie sogar zum Lachen brachte. Als ich feststellte, dass ich mich dadurch bei ihnen beliebt machte, blödelte ich immer öfter mit ihnen beim Arbeiten rum, als wollte ich ihnen zeigen, dass ich einer von ihnen sei. Wenn ich dann abends zu Feierabend nach Haus fuhr, bat ich Gott jedes Mal unter Tränen um Vergebung, denn die Bibel verbietet uns ja schändliche Witzelei (Eph.5:4). Wenn ich Buße tat, spürte ich jedes Mal, wie der Teufel mich vor Gott verklagte und schämte mich dann, dass ich den Namen Christi in den Dreck gezogen hatte. Aber da ich immer wieder in dieselbe Falle tappte, hatte ich schon morgens auf dem Weg zur Arbeit regelrecht Panik, dass ich mich heute wieder versündigen könnte. Ich flehte deshalb immer auf dem Fahrrad, dass Gott mich doch heute bewahren möge und freute mich dann zu Feierabend, wenn ich mal einen siegreichen Tag hatte. Mir wurde allmählich klar, dass Gott diese Versuchungen nur deshalb erlaubte, damit ich an ihnen wachsen konnte und um mich in Demut zu üben. Es gab damals ein christliches Lied, das ich auswendig konnte und fast jeden Morgen sang, wenn ich zur Arbeit fuhr:
„HErr, beuge mich! Wie Du das Korn, das goldne, beugst im Morgenhauch;
vor Deines Heil’gen Geistes Wehn, da beuge mich in Demut auch.
Und wenn das trotzig Herz sich wehr, dem Geist zu folgen, wenn Er wirkt,
so komm im Feuer, Kraft des HErrn, verbrenne, was sich Dir verbirgt!
Wie sich die Welle vor dem Sturm tief beuget, beuge mich vor Dir,
und wie am Ufer sie zerschellt, gib im Zerbrechen Segen mir!
HErr, beuge mich! Wie Du den Lauf der Ströme hältst in Deiner Hand,
so leite Ströme Deiner Kraft dahin, wo jetzt noch dürres Land!
Wie sich die Rebe beugt und fügt, wie es der Gärtner haben will:
gib, dass ich nichts mehr suche selbst, nein, Dir mich beuge froh und still!“
Die „Allempfangende“
Zu Ostern war wieder eine Bibeltagung, aber diesmal nicht mehr in Weiler, sondern in Sachsenheim, wo Daniel Werner wohnte und in seinem Haus einen großen Versammlungsraum hatte. Es gab diesmal viele neue Geschwister, die ich noch nicht kannte. Bruder Daniel hielt u.a. eine Predigt über den barmherzigen Samariter und erklärte, dass es sich bei diesem sinnbildlich um den HErrn Jesus handele, der sich des armen Sünders erbarmt, der auf dem Weg ins Verderben ging und durch eine Lebenskrise („Räuber“) angehalten wurde. Wein und Öl bedeuten Freude und Heiligen Geist, die dem Sünder bei der Errettung zuteilwerden. Die „Herberge“ bedeute in dem Gleichnis die Gemeinde Jesu, wo die Gläubigen sich von ihren Schwächen kurieren lassen sollen. Das griechische Wort PANDOChAION bedeute wörtlich „Allempfangende“, d.h. jeder kann in Gottes Haus kommen, so wie er sei, aber er werde nicht so bleiben, wie er ist, sondern nach und nach von Gott verändert. Der „Wirt“ der Herberge, der zwei Denare für die Versorgung des Überfallenen erhielt, deutet auf den Heiligen Geist hin, der sich um die Gemeinde kümmert, bis der HErr Jesus wiederkommt. Da ein Denar der damals übliche Tageslohn eines Arbeiters sei (Mt.20:2), würden zwei Denare die Versorgung für zwei Tage sichern. Ein Tag wiederum ist bei Gott ja bekanntlich „wie 1000 Jahre“, so dass die Versorgung der Gemeinde demnach für 2000 Jahre reichen würde bis zur Wiederkunft des HErrn. Da der HErr um das Jahr 30 n.Chr. die Erde verließ, müsse Er also auch um das Jahr 2030 wiederkommen. Ich dachte: „Das würde ich ja dann sogar noch miterleben und wäre dann 62!“
Daniel betonte, dass die Gemeinde zwar wie ein Krankenhaus jeden aufnehmen würde, egal wie sehr er von der Sünde versehrt sei, aber dass in einem Krankenhaus ja schließlich auch eine hohe Hygiene notwendig sei, damit die Kranken nicht immer wieder neu infiziert werden. Dies bedeute, dass wir keine Sünde oder schlechte Angewohnheiten in der Gemeinde dulden dürfen, die andere Christen auf Dauer schaden könnten. Eine vorübergehende Trennung von ungehorsamen Gläubigen sei deshalb oftmals unvermeidlich, damit sie dadurch zur Buße geleitet werden (2.Thes.3:14). Dies erinnerte mich daran, dass Bruder Edgard mir von einer Spaltung erzählte innerhalb der Versammlung in Sachsenheim. Mehrere Brüder hatten Kritik an dem autoritären Führungsstil von Bruder Daniel geübt, weil er immer alles allein machen wollte und keine Aufgaben delegierte. Es waren die Eheleute Pfleiderer, Schubert und Domrös, die sich nun getrennt von Daniel versammelten. Da ihr Wortführer Karl-Heinz Schubert in Sachsenheim wohnte, nahm ich mir vor, die Gelegenheit zu nutzen, um ihn mal zu besuchen, um Näheres über die Trennungsgründe zu erfahren.
Von Karl-Heinz hatte ich schon viel gehört. Er gehörte dem Daniel-Werner-Kreis schon seit fast 30 Jahren an und war Anfang der 60er Jahre sogar mal für mehrere Monate in Argentinien gewesen, um die dortigen Gläubigen, die ebenso zu dieser Gruppe zu besuchen, zu besuchen in Corrientes. Seither pflegte er den Kontakt zu diesen, sowie auch mit anderen Gläubigen von Guatemala bis nach Peru. Er freute sich, mich kennenzulernen und ließ mich in seinem Wohnzimmer Platz nehmen. Ich äußerte zunächst mein Bedauern über die Trennung und meinen Wunsch, dass sie sich doch wieder mit Bruder Daniel versöhnen mögen. Karl-Heinz wollte aber nicht darüber reden, da es mich nichts anginge, so dass wir das Thema wechselten. Er erzählte mir von den Christen in Mittel- und Südamerika und zeigte mir Fotos, die sie ihm geschickt hatten. „Hier auf diesem Foto ist Luis Condori zu sehen, der leitende Bruder aus der Versammlung in Lima.“ – „Und wer ist dieses hübsche Mädchen auf dem Foto?“ fragte ich. „Das ist seine Tochter Ruth. Er hat auch noch zwei Söhne, Walter und Israel.“ Ich dachte insgeheim: ‚Die sieht aber echt hübsch aus; aber die würde mich sicher nie nehmen, weil ich viel zu hässlich bin‘.
Beim gemeinsamen Mittagessen in Sachsenheim unterhielt ich mich mit den Eheleuten Eicher aus Erlangen, die mir gegenübersaßen. Sie hatten eine Tochter in meinem Alter namens Pia und waren jedes Mal sehr freundlich zu mir, – so als ob sie mich gerne als ihren zukünftigen Schwiegersohn hätten. Bruder Siegfried fragte mich: „Und Simon: gehst Du denn noch zur Schule oder studierst Du bereits?“ – „Weder noch“ antwortete ich. „Ich mache gerade eine Ausbildung zum Maler und Lackierer.“ Da spürte ich auf einmal eine tiefe Bestürzung, und seine Frau Annemarie fragte mich sorgenvoll: „Aber gingst Du nicht auch mal aufs Gymnasium?“ – „Ja,“ antwortete ich, „aber ich habe das Gymnasium vorzeitig abgebrochen, um eine Ausbildung zu beginnen.“ – „Aber warum das denn?“ – „Weil ich lieber einen einfachen Beruf erlernen wollte“. Annemarie schaute ihren Mann an: „Das versteh ich nicht.“ Da merkte ich, dass ich als Schwiegersohn für sie nicht mehr in Frage kam.
Ich besuchte auch den alten Bruder Gustav Stadler und seine Frau, sowie den Bruder Helmut Eiler, den ich erst zu Weihnachten kennengelernt hatte. Er war zuvor Charismatiker, war mir aber durch seine extreme Frömmigkeit sofort aufgefallen. Er aß z.B. zum Abendbrot immer nur eine Scheibe Brot und las danach schweigend die Lieder aus unserem Gesangsbuch, das er unter dem Tisch hielt, anstatt sich mit anderen Besuchern der Bibeltagung zu unterhalten. Als Schwester Alice Massmann ihn ansprach, ob er denn gar nichts mehr essen wolle, antwortete er mit verklärter Stimme: „Dies ist eine köstliche Speise“, wobei er das Liederbuch kurz hochhielt. Auf einem Spaziergang erzählte mir Bruder Helmut, dass er häufig Visionen habe und manche ihn deshalb für krank hielten. Auch auf seiner Arbeit hielt man ihn für einen Sonderling, zumal er jeden Tag sich einen neuen Bibelspruch aus dem Hückeswagener Abreiß-Kalender ans Revers heftete, den seine Arbeitskollegen dann lasen („Na, Helmut, lass mal schauen, was Du heute wieder für uns hast: ‚Euer Leben währt wie ein Hauch, der schon bald verschwindet‘ – ah ja, interessant!“). So wie ich hatte auch Helmut inzwischen die ganze Bibel auf Kassette gesprochen und hörte sich während der Arbeit in der Fabrik jeden Tag über Kopfhörer die Bibelbücher an, um die Texte dadurch auswendig zu lernen: „Ich hatte früher einmal das Buch Hohelied auswendig gelernt, es aber gar nicht verstanden. Erst jetzt habe ich durch Bruder Daniel erfahren, dass es um Christus und die Versammlung geht. Jetzt verstehe ich es überhaupt erst!“ Helmut hatte ein kleines Dachzimmer, an deren Wänden nur noch Bilderrahmen hingen ohne Bilder. Er sagte: „Schau mal, Simon: Durch dieses Dachfenster schaue ich jeden Tag im Gebet zum Himmel, so wie auch die Arche Noah nur ein Fenster nach oben hatte; denn die umliegende Welt würde uns ja nur vom HErrn ablenken!“
Als wir wieder in Bremen waren, rief eines Abends ein Bruder namens Otto Bonas an. Er erzählte dem Edgard, dass er für ein paar Wochen einen psychisch-kranken Straftäter bei sich aufgenommen hatte, der zuvor lange Zeit in der geschlossenen Psychiatrie war, aber früher mal bei Edgard und Hedi wohnte. Edgard erinnerte sich: „Ja, der Andreas ist ein junger Mann, der bekannte gläubig zu sein, uns aber ständig bestohlen hat, bis er eines Tages ein Mädchen im Wivo-Wald vergewaltigte und verhaftet wurde.“ Otto erzählte, dass dieser Andreas noch immer ein Psychopath sei, dem er sich aufgrund seiner außergewöhnlichen Intelligenz nicht mehr gewachsen fühlte: „Heute ist mir leider sogar die Hand ausgerutscht, weil er mich zu sehr provozierte! Ich komme mit ihm einfach nicht mehr klar, deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie ihn wieder aufnehmen würden.“ Edgard erklärte, dass er ja jetzt bereits einen anderen jungen Mann bei sich aufgenommen hätte (nämlich mich), aber dass Andreas gerne mal übers Wochenende zu Besuch kommen könne. Am darauffolgenden Wochenende brachte Otto dann den Andreas vorbei, und wir sprachen mit ihm über viele Dinge aus der Bibel. Am nächsten Tag nach dem Gottesdienst unterhielt ich mich noch lange mit Andreas auf meinem Zimmer, als er auf einmal sagte: „Du, Simon, macht es Dir etwas aus, wenn ich mal einen Blick in Deinen Kleiderschrank werfen darf?“ Ich war etwas verwundert über diese Bitte, ließ es ihm aber bereitwillig zu. Als er nun meine grüne Lederjacke sah mit der Beschriftung aus Joh.14:6, fragte er mich: „Schenkst Du mir diese Jacke?“ Ich lächelte und dachte: ‚Warum nicht?‘. Er freute sich sehr darüber, und wir gingen nach unten, um ihn zu verabschieden. Ich begleitete ihn noch zur Haltestelle, während wir uns weiter unterhielten. Als wir ankamen, stellte er fest, dass an diesem Sonntag die Busse nur alle zwei Stunden fuhren und er lange warten musste. Da machte ich ihm den Vorschlag, einfach mal zwei Haltestellen weiter runterzugehen, wo auch noch eine andere Buslinie fährt, damit er nicht so lange warten müsse. „Ja, ist gut. Aber kannst Du mich bitte bis dorthin begleiten?“ Zuerst dachte ich, dass er ganz schön egoistisch sei, da ihm doch klar sei, dass ich im Anschluss den ganzen Weg dann auch wieder zurückgehen müsse. Aber dann fiel mir plötzlich das Wort des HErrn ein: „Wenn jemand deinen Leibrock will, dann gib ihm auch noch deinen Mantel, und wenn dich einer bittet, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh auch noch zwei“. Erstaunlicherweise hatte sich dieses Wort ja praktisch buchstäblich jetzt ereignet, so dass es völlig klar war. Aber war das alles Zufall oder hatte Andreas diese Situation vielleicht absichtlich so herbeigeführt, um mich zu prüfen?
Anfang Mai bekamen wir auf einmal Besuch von einem Prediger aus Mönchengladbach namens Kurt Hoster, den Edgard bereits von irgendwoher kannte. Er hatte zwei junge Brüder in meinem Alter mitgebracht, nämlich Uwe Rieß und Daniel Ahner. Als Kurt aus dem Wagen gestiegen war, ging er auf mich zu, umarmte mich, drückte mich förmlich, und rief laut: „SEI GEGRÜßT, BRRRUDER!!!“ Dann machte er mit Edgard das gleiche, so dass ich nur dachte: ‚Wow, der hat aber ein Temperament!‘ Als Edgard dann mit ruhiger Stimme Zeugnis von uns gab, sagte Kurt jedes Mal laut: „LOB UND DANK! LOB UND DANK!!“ als wären wir alle schwerhörig. Erst als wir uns im Wohnzimmer unterhielten, redete Kurt wieder mit normaler Stimme, aber man spürte deutlich seine Autorität. Als wir später in der Bibelstunde saßen, fiel mir als erstes auf, dass Daniel Ahner und Uwe Rieß mit kurzen Ärmeln bekleidet waren, was ja nach unserer strengen Sittenlehre eigentlich nicht erlaubt war. Bevor sie am Abend wieder wegfuhren, ließ ich mir von ihnen die Adressen geben, so dass ich in der Folgezeit noch lange Zeit Briefkontakt mit Daniel Ahner hatte, der mein Freund wurde. Zum ersten Mal hatte ich einen Bruder in meinem Alter kennengelernt, mit dem ich auch über ganz persönliche Dinge offen sprechen konnte.
Und dann erinnere ich mich noch, wie uns eines Tages eine Frau Menzel besuchen kam, die ebenfalls etwas exzentrisch war. Sie war eine sehr feine Dame und kam jedes Mal mit ihrem Dackel. Sie vertrat die Meinung, dass alle Musik im Prinzip vom Teufel sei, außer die geistliche Musik wie z.B. von Johann-Sebastian Bach. Als sie dann mal an einem Sonntagmorgen kam, um auch am Gottesdienst teilzunehmen, sagte Edgard zu ihr: „Aber Ihren Hund können Sie nicht mitnehmen in den Gottesdienst!“ Sie war darüber empört und sagte: „Ich gehe nirgendwo hin ohne meinen Rufus! Er war noch nie allein und würde das nicht verkraften ohne mich.“- „Wir werden ihm in der Küche etwas zu Trinken und ein Leckerli geben, aber in den Versammlungsraum kann er auf keinen Fall mitkommen.“ – „Aber wieso denn nicht?! Er ist doch ganz still und stört niemanden. Außerdem: Wo steht denn in der Bibel, dass man seinen Hund nicht mitnehmen darf in den Gottesdienst?“ Edgard lächelte und sagte: „Es steht geschrieben: ‚Draußen sind die Hunde‘ (Offb.22:15).“ Edgard hatte zuweilen eine sehr eigenwillige Art, die Schrift anzuwenden…
Ein reines Gewissen behalten
Im Blockunterricht mussten wir auch einmal in der Woche Schwimmen. Nach dem ersten Mal wurde mir klar, dass das halbnackte Schwimmen etwas war, dass ich eigentlich nicht mit meinem Gewissen vor Gott vereinbaren konnte. Also schrieb ich dem Schwimmlehrer eine kurze Entschuldigung, die ich ihm dann persönlich überbrachte. Er machte den Umschlag auf und las:
„Sehr geehrter Herr Behrens,
hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich fortan nicht mehr am Schwimmunterricht teilnehmen kann aus Gewissensgründen. Denn als überzeugter Christ gestattet es mir mein sittliches Empfinden weder mich halbnackt vor anderen zu präsentieren noch mit anderen halbnackten Mitschülern in Sichtkontakt zu sein, zumal in der Klasse auch ein Mädchen ist. Sollte meine Entscheidung irgendwelche Repressalien nach sich ziehen, bis ich gerne bereit, sie um Christi willen zu erleiden.
Mit freundlichen Grüßen“
Der Lehrer sagte sofort: „Nein, nein, keine Sorge, selbstverständlich respektiere ich Deine Entscheidung, und sie hat auch keine Auswirkungen auf Deine Note. Aber nachvollziehen kann ich sie ehrlich gesagt nicht, denn in der heutigen Zeit weiß doch inzwischen jeder, wie der Körper des anderen Geschlechts nackend aussieht und braucht sich deshalb doch nicht genieren. Ganz im Gegenteil: Meine Frau und ich gehen z.B. gerade deshalb an Nacktbadestränden, weil es für uns eine Wonne ist, gemeinsam schöne Körper anzuschauen.“ Ich wollte diese Sichtweise lieber nicht kommentieren.
An einem Tag fuhr ich mit dem Bus von der Berufsschule nach Hause und stellte erst bei der Ankunft fest, dass ich ganz vergessen hatte, meinen Fahrschein zu stempeln. Als ich das Haus betrat, sagte ich zu Edgard: „Der HErr hat mich sehr bewahrt, denn ich bin eben gerade versehentlich schwarzgefahren , ohne es zu merken. Mal gut, dass ich nicht kontrolliert wurde.“ – „Ja, aber das ist nicht in Ordnung vor dem HErrn!“ entgegnete Edgard. „Das weiß ich, aber ich hab’s ja nicht absichtlich gemacht und kann es nicht mehr ändern.“ – „Du kannst aber zur BSAG hingehen und sagen, dass Du den Fahrpreis nachträglich bezahlen willst“. – „Meinst Du, das geht?“ fragte ich überrascht. „Ja, natürlich, warum nicht?“ Also fuhr ich mit dem Fahrrad zum Service-Schalter des Busunternehmens und stellte mich in die Schlange. Als ich an der Reihe war, erklärte ich mein Anliegen. Aber der Verkäufer verstand gar nicht, was ich wollte. „Ich hatte vergessen zu stempeln…“ – „Ja und? Dann sei doch froh, dass Du nicht erwischt wurdest!“ – „Ja, aber ich will den Schaden nachträglich ersetzen.“ – „Aber es ist doch gar kein Schaden entstanden!“ – „Aber die BSAG hat doch jetzt einen Verlust erlitten, und diesen will ich nachträglich wieder gutmachen.“ Hinter mir begannen die Leute in der Schlange zu lachen. Aber ich ließ mich nicht beirren und legte dem Verkäufer das Geld für den Fahrschein vor. „Ich kann doch kein Geld von Dir nehmen, wenn Du keinen Fahrschein kaufen willst. Und nachträglich kann man keinen Fahrschein bezahlen. Wie soll ich das denn überhaupt verbuchen?!“ – „Sonst verkaufen Sie mir doch einfach einen neuen Fahrschein, damit ich den vor Ihren Augen zerreiße.“ Entnervt gab er mir einen Fahrschein und ich riss ihn durch. „Und? Bist Du jetzt endlich zufrieden? Meine Güte, wie kann man nur so kompliziert sein!“ Ich erklärte: „Das hat was mit meinem Glauben an Jesus Christus zu tun. Vor Gott muss immer alles seine Ordnung haben.“
Doch so wachsam war ich längst nicht immer: Einmal ließ ich unbedacht meiner Phantasie freien Lauf und erntete dafür nicht nur Applaus, sondern auch viel Unverständnis. Alles begann damit, dass ich für mein Berichtsheft noch ein paar Fachaufsätze auf den Rückseiten mehrerer Wochenberichte schreiben musste. Da wir dazu alle Freiheit hatten, kam mir die Idee, eine erfundene Geschichte aufzuschreiben, die von einem Malermeister handelte, der von einem sadistischen Kunden bis zur Weißglut getrieben wurde. Der Kunde rief ihn eines Abends an und fragte, wann er denn endlich seinen Zaun lackieren würde. „Aber der ist doch längst fertig!“ entgegnete der Malermeister irritiert. „Nein, das kann doch gar nicht sein“, sagte der Kunde, „denn sie haben ihn doch bisher erst einmal mit Rostschutzfarbe und einmal mit Metallschutzlack gestrichen. Nach der Verdingungsordnung für Bauleistungen Teil C, DIN 18363 sind Sie aber dazu verpflichtet, ihn zweimal mit Rostschutzfarbe und dann zweimal mit Metallschutzlack zu streichen.“ – „Ach, ich bitte Sie! Papier ist geduldig. Was erwarten Sie denn von mir?“ – „Ich erwarte, dass Sie morgen vorbeikommen und den gesamten Zaun noch einmal abbeizen und blank schleifen, damit Sie nochmal von vorne beginnen in der vorschriftsmäßigen Reihenfolge. Denn wenn Sie das nicht tun, werde ich einen anderen Malermeister bestellen, der auf Ihre Kosten die Reklamation nacharbeitet!“ Hier endete der erste Teil der Geschichte.
Im zweiten Teil kam dann der Malermeister am nächsten Tag zum Kunden. Doch dieser zeigte ihm eine weitere „Reklamation“, und zwar die zehn Türen, die er gerade lackiert hatte. „Aber was haben Sie daran auszusetzen, denn die sind doch tiptop!“ „Das ja,“ sagte der Kunde, „aber ich habe mir mal ein sog. Schichtdickenmessgerät besorgt und dabei festgestellt, dass die Türen aufgrund ihres Alters schon so oft lackiert wurden, dass inzwischen eine zu hohe Schichtdicke erreicht ist und Sie die Türen gar nicht mehr hätten lackieren dürfen“. – „Aber Sie hatten mir doch den Auftrag dazu erteilt!“ – „Das schon. Aber Ihnen dürfte bekannt sein, dass Sie nach der VOB Teil C DIN 18363 auch dazu verpflichtet sind, den Untergrund vor Annahme des Auftrages auf seine Eignung zu überprüfen und gegebenenfalls schriftlich Bedenken anzumelden. Hätten Sie mich rechtzeitig über das Risiko aufgeklärt, dass der Lack innerhalb der Gewährleistungszeit reißen könnte, hätte ich von einer Lackierung der Türen Abstand genommen. Nun aber sind Sie mir gegenüber regresspflichtig und ich erwarte von Ihnen, dass Sie alle Türen und Rahmen noch einmal abbeizen bzw. abschleifen und dann noch einmal eine neue Lackierung vornehmen, wie es der Vorschrift entspricht, da ich Sie sonst zur Nacharbeit verklage!“
Es war klar, dass diese völlig übertriebene Geschichte eigentlich nur die Absurdität mancher Vorschriften deutlich machen sollte. Aber als ich meinem Lehrer, Herrn Lohmann, diese Aufsätze zu lesen gab, war er hellauf begeistert und erbat von mir die Erlaubnis, sie zu kopieren, um sie in der Meisterschule den erwachsenen Meisteranwärtern als warnende Belehrung mitzugeben. Ich freute mich über die positive Resonanz und erzählte am nächsten Tag meinem Chef Herrn Hillmer von diesem Erfolg. Er war ebenso ganz angetan von meinem Genie und wollte unbedingt auch eine Kopie von der Geschichte haben, was ich ihm auch versprach. Am Abend erzählte ich Edgard und Hedi von Geschichte und dem vielen Zuspruch, den ich bekommen hatte. Edgard bat mich, ihnen doch mal die Geschichte vorzulesen, was ich auch tat. Als ich fertig war, war Edgard entsetzt und tief enttäuscht von mir: „Weißt Du, Simon, das klingt überhaupt nicht nach der Phantasie eines Kindes Gottes, sondern eher nach der eines Gottlosen. Wir Gläubigen sollen der Welt draußen doch ein Zeugnis geben von der Liebe und dem Erbarmen Gottes, aber ihnen doch nicht solche gottlosen Geschichten vortragen! Damit hast Du dem Anliegen des HErrn wirklich einen Bärendienst erwiesen! Du solltest das unbedingt alles wieder rückgängig machen, damit sich die Geschichte nicht weiterverbreitet. Und Du solltest darüber Buße tun, dass Du Dich zu solch einer Torheit hast verleiten lassen, solch einen Schabernack aufzuschreiben und zu verbreiten, wofür sich ein Kind Gottes eigentlich schämen müsste.“ Ich war tief getroffen, aber ich wusste sofort, dass Edgard recht hatte. Am nächsten Tag fragte mich mein Chef, ob ich ihm die versprochene Kopie meiner Aufsätze mitgebracht hätte. Ich erklärte ihm, dass ich über Nacht meine Meinung geändert hätte und sie ihm nicht mehr zu lesen geben könne. Er reagierte verständlicherweise sehr irritiert und auch ein wenig gekränkt. Aber um seinen Stolz wiederzuerlangen, sagte er: „Dann hole ich mir eben eine Kopie von Herrn Lohmann!“
Kurz vor den Sommerferien sagte unsere Politiklehrerin Frau Eicken: „Ich habe für heute nichts mehr vorbereitet. Wenn also jemand von Euch einen Vorschlag hat, über was wir sprechen wollen, dann bin ich für alles offen.“ Dies erinnerte mich an jene Gelegenheit, die mein Französischlehrer mir damals gab, und ich ergriff wiederum die Chance, um spontan einen Vortrag über meinen Glauben zu halten. Da ich noch immer mit dem Propheten Daniel beschäftigt war, erbat ich von der Lehrerin, mir die Gelegenheit zu einem kleinen Vortrag zu geben. Ich ging also nach vorne und erklärte, dass die Bibel viel aktueller sei als alle Zeitungen der Welt, weil sie sogar über das berichtet, was noch gar nicht passiert sei. Und dann legte ich meine Vermutung dar, dass sich die Geschichte immer wiederhole und ich deshalb vermute, dass gleichsam wie das Reich der Meder und Perser 333 v.Chr. durch Alexander dem Großen erobert wurde gemäß Daniel, Kapitel 8, es in naher Zukunft noch ein weiteres Mal zu einem großen Sieg kommen würde, und zwar diesmal ein ideologischer Sieg des Westens gegen den Osten, sprich der Nato gegen den Ostblock. Das könne man ja schon in Anfängen erkennen durch die Politik von Gorbatschow namens Glasnost und Perestroika („Offenheit und Umgestaltung“), durch welche es seit 1986 ein Abschmelzen der eingefrorenen Beziehungen zu Amerika gäbe. Am Ende dieses Prozesses werde es den Ostblock nicht mehr geben und auch der Kommunismus sei dann vorbei. Stattdessen werde sich aber dann allmählich die ganze Welt vereinen und sich gegen die zukünftige Herrschaft des Sohnes Gottes wappnen, dessen Kommen schon vor 2000 Jahren vorausgesagt wurde und sich innerhalb der nächsten 50 Jahre erfüllen werde. Jeder, der bis dahin Christ geworden sei, werde dem kommenden Zorngericht Gottes entfliehen.
Als ich mich wieder gesetzt hatte, sagte die Lehrerin: „Interessant, Deine These. Aber ich glaube nicht daran, dass der Ostblock und der Kommunismus schon bald beendet sein werden. Das kann durchaus noch 50 oder 100 Jahre andauern. Auch glaube ich nicht, dass sich die Welt am Ende vereinen wird. Bestenfalls halte ich eine engere Vereinigung Europas für möglich, dass also Europa zu einem Land wird. Das kann ich mir schon vorstellen.“ Ein anderer Schüler namens Sascha sagte: „Ist doch voll cool, dass Simon sogar die Zukunft kennt! Wollen wir mal schauen, ob sich seine Vorhersage wirklich erfüllen wird!“