„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 22
Oktober – Dezember 1991
Die Söhne der Zeruja
Nach dem Besuch bei Bruder Daniel Werner in Sachsenheim, sprach ich noch kurz mit Arnold Schmidt (29) und Thomas Schaum (30) über meine weiteren Pläne. Arnold ließ sich leider nicht dazu überreden, mitzukommen nach Rumänien („Was soll ich da?“), und Thomas gab mir eine mehrseitige Ausarbeitung über das Gebet zum HErrn Jesus, das er dem Daniel als offenen Brief geschickt hatte. Ich versprach ihnen, sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden zu halten und verabschiedete mich. Mein nächstes Ziel war Crailsheim, wo Bruder Klaus Schmidt wohnte, der schon seit Jahren monatlich einen Rundbrief herausgab mit Gedanken aus Gottes Wort. Auf der Reise dorthin begann ich, ein Taschenbuch zu lesen, das ich mir schon vor meiner Abreise aus Bremen gekauft hatte, da es um das Weltreich des Antichristen ging. Die Geschichte „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley handelt von einer scheinbar schönen Welt in der Zukunft, wo den Menschen aufgrund totale Manipulation und Bedürfnisbefriedigung nicht mehr in der Lage sind, nach dem Sinn ihres Lebens zu fragen. Dieses System der Konformität bis hin zur totalen Gefühls- und Gedankenkontrolle wurde von einem elitären Weltaufsichtsrat eingeführt, um zukünftige soziale Unruhen und Kriege zu vermeiden. Die Bibel wird – wie alle Bücher – in dieser Dystophie verboten, und Gott wurde in Redensarten durch Henry Ford ersetzt, dem Erfinder des Flieβbands („Ford sei Dank!“, „um Fords willen!“ etc.). Doch dann wachen zwei Freunde aus diesem Alptraum erzwungener Vollkommenheit auf und beginnen, das System zu hinterfragen. Sie werden verhaftet und vor den Weltherrscher gebracht, der sie zwar nicht töten, aber verbannen will, um sie mundtot zu machen.
Ich war wie gefesselt beim Lesen des Romans und las bei jeder kleinen Pause weiter, sogar z.T. auch während ich das Fahrrad eine Anhöhe hochschob. So werde es also sein, wenn der Antichrist kommt: die Leute werden nicht mit Gewalt bedroht wie bei George Orwells „1984“, sondern so sehr eingelullt, dass sie gar nicht mehr mitkriegen, wie man sie um ihre Freiheit beraubt. Genauso war es ja schon heute, dass die Menschen nur noch alles nachplappern, was ihnen durch das Fensehen als „Meinung“ vermittelt wird. Und alle wollen heute angepasst sein und keine eigenen Gedanken mehr haben. Als ich am späten Nachmittag bei Klaus Schmidt (50) in Crailsheim ankam, lud er mich auf ein „Maaß Bier“ ein (ein Liter!), was mich ziemlich erschrak, weil ich immer dachte, dass Christen gar keinen Alkohol trinken. Wir hatten gute Gespräche, und am nächsten Morgen verabschiedete ich mich, um weiter nach Erlangen zu radeln zu den Geschwistern Siegfried und Gerlinde Eicher. Dort aber übernachtete ich nicht, sondern fuhr nach einem kurzen Besuch weiter nach Fürth, um mal den Brüdern Norbert Homuth und Joachim Krauß zu besuchen. Diese beiden Straßenevangelisten teilten sich gemeinsam eine Wohnung und predigten schon seit zwanzig Jahren überall in Deutschland, so dass ich 1985 ja selbst auf sie aufmerksam wurde. Doch als ich nun mal den Norbert persönlich kennenlernen durfte, stellte ich fest, dass er viel milder und freundlicher war als es nach seinen „Glaubensnachrichten“ zu urteilen den Anschein hatte. Sie hatten bei sich zuhause eine kleine Hausversammlung, die um einen langen Tisch herum saß (wie bei Bruder Edgard in Bremen). Um ihre Traktate und Heftchen zu drucken, hatten sie sogar eine eigene Druckmaschine. All dies wurde allein von Spenden finanziert.
Die Geschwister Eicher hatten mir auch von zwei sehr radikalen Brüdern erzählt, die in Plech wohnen, in der Nähe von Bayreuth, und die ich unbedingt auch mal kennenlernen sollte. So fuhr ich also als nächstes zu den leiblichen Brüdern Hans-Jürgen und Eberhard Böhm (35-40) in die Fränkische Schweiz, wie man jene Region in Bayern nennt. Auch hier hieß man mich wie selbstverständlich willkommen, obwohl sie mich gar nicht kannten, und ich durfte mehrere Tage bei ihnen übernachten. Ich dankte dem HErrn, dass Er bis hierher mir immer wieder geholfen und mir die Háuser und Herzen der Gläubigen geöffnet hatte, um mir ihre Gastfreundschaft zu erweisen. Eberhard war von Beruf Maurer und hatte eine eigene Baufirma. Sein Bruder Hans-Jürgen war zwar ein studierter Akademiker, hatte aber aus persönlichen Glaubensgründen auf eine Karriere und eigene Familie verzichtet, so dass er bei seinem Bruder als angestellter Maurer arbeitete. Da ich selbst auch ein wenig Erfahrung als Maurer hatte, nahmen sie mich am nächsten Morgen mit zu ihrer Baustelle, wo ich ihnen zur Hand gehen konnte. Den ganzen Tag sprachen wir über diverse Lehrfragen, wobei mich Ihr enormes Bibelwissen beeindruckte. Aufgrund ihrer strengen und zum Teil eigenwilligen Bibelauslegungen hatten sie keine Gemeinschaft mit anderen Christen, trugen jedoch mit jedem, der mit ihnen Kontakt aufnahm, einen schonungslosen Streit um die Deutungshoheit aus, den sie in der Regel immer gewannen.
Das konnte ich besonders am Samstag mitbekommen, als sie Besuch bekamen von Bruder Helmut Stücher (56) aus Siegen, dem Gründer einer Heimschulinitiative, der gläubige Eltern berät, die – wie er – ihre Kinder aus Glaubensgründen nicht mehr zur Schule schicken. Bruder Helmut vertrat die reformatorische, sog. Ersatztheologie, auch Antimillenialismus genannt, d.h. er glaubte nicht an eine buchstäbliche Auslegung der Prophetie, sondern wollte alles vergeistigen. Den ganzen Tag redeten die beiden Brüder abwechselnd auf den Bruder Helmut ein, um ihn von seinem Irrtum zu überführen. Dabei begnügten sie sich nicht damit, ihren eigenen Standpunkt klarzumachen und evtl. Missverständnisse auszuräumen, sondern sie wollten den Bruder um jeden Preis besiegen und demütigen. Indem sie kein einziges Argument von ihm unwiderlegt ließen. Wie zwei Raubkatzen hatten sie ihn in die Ecke gedrängt, aus der er nun nicht mehr herauskam. Erbarmungslos verrissen sie jedes einzelne Argument von ihm, so dass mir der alte Bruder am Ende richtig leidtat. Bisher hatte ich selbst ihnen ja immer zugestimmt oder geschwiegen, wenn sie mir z.B. weismachen wollten, dass meine Taufe als damals 17-Jähriger nicht gültig sei, da nach ihrem Schriftverständnis das Mindestalter für die Taufe angeblich 20 Jahre sei. Aber was würde passieren, wenn ich plötzlich gezwungen wäre, ihnen ungewollt widersprechen zu müssen?
Genau dieser Fall trat schon wenige Stunden später ein, als ich ihnen bekennen musste, dass ich an ihrem Abendmahl am nächsten Tag nicht teilnehmen könne aus Gewissensgründen, da ich die Verwendung von gesäuertem Brot und gegorenem Wein beim Abendmahl als eine Sünde ansehen würde. Anstatt Rücksicht auf mich als „Schwächeren“ zu nehmen, redeten sie den ganzen Abend auf mich ein, um mir mein bisheriges Bibelverständnis mit aller Gewalt auszureden. Dadurch geriet ich in ein unerträgliches Dilemma: denn auf der einen Seite wollte ich ja nicht Gott lästern durch diese – aus meiner Sicht – falschen Symbole, aber auf der anderen Seite wollte ich, dass sie mich endlich in Ruhe ließen. Sie gaben mir dann bis zum Gottesdienst am nächsten Tag Bedenkzeit. Aus lauter Verzweiflung gab ich dann am nächsten Tag auf und nahm mit Furcht und Zittern am Abendmahl teil. Da der HErr mich jedoch nicht unmittelbar züchtigte durch Krankheit oder Tod wie in 1.Kor.11:30, wurde ich mir von jenem Tag an immer sicherer, dass wir beim Abendmahl auch gewöhnliches Brot und Wein verwenden dürfen, zumal die buchstäbliche Befolgung des Gebotes einen alttestamentlichen Charakter hatte, von dem wir im neuen Bund befreit sind. Trotzdem war es aber nach 1.Kor.8:11-12 nicht richtig, dass sie mein schwaches Gewissen derart verletzten durch ihre Rechthaberei. Diese fromm getarnte Rücksichtslosigkeit erinnerte mich an die „Söhne der Zeruja“, Joab und Abisai, die die Gegner von König David immer gleich einen Kopf kürzer machen wollten und über die sich David am Ende vor seinen Knechten beklagte (2.Sam.3:39).
Als ich den Böhm-Brüdern am Abend von Norbert Homuth und Joachim Krauß berichtete, schlugen sie vor, diese einfach mal am nächsten Tag gemeinsam zu besuchen. So fuhren wir zu dritt nach Fürth und versammelten uns dort mit den Brüdern. Doch schon nach einer halben Stunde, als es um die Frage der Geistesgaben ging, flogen die Fetzen, so dass ich lieber nach draußen ging, um aus der Schusslinie zu geraten. Es dauerte nicht lange, da verließ auch Bruder Norbert fluchtartig den Raum, weil er sich wohl der Rhetorik der Böhm-Brüder nicht gewachsen sah. Er fragte mich, wie ich das denn mit den Geistesgaben sehen würde. Ich weiß nicht mehr, welches Argument ich pro Geistesgaben anführte, aber Norbert sagte sofort: „DAS musst Du denen da drinnen unbedingt mal sagen!“ Aber ich wollte mich auf keinen Fall an dieser Auseinandersetzung beteiligen, weil ich keine Chance gehabt hätte. Der einzige, den ich damals kannte, der es mit diesen Zeruja-Söhnen hätte aufnehmen können, war Thomas Schaum. Deshalb rief ich ihn bald darauf an und vermittelte den Kontakt mit diesen. Es sollte ein über zwei Jahre andauerndes Brief-Duell folgen, der bis aufs Blut ging und keinen Sieger hatte.
Als nächstes fuhr ich mit dem Fahrrad zu meinem Freund Uwe Rieß (28) nach Bamberg. Seine Mutter wohnte dort zusammen mit ihrem jüngsten Sohn Thomas, der – wie sein Vater – schwer alkoholabhängig war. Anni Rieß erzählte mir, dass sie damals – als sie mit ihrem Jüngsten schwanger war – ihr Mann von ihr gefordert habe, das Baby „wegzumachen“. Sie war sehr traurig darüber, aber wollte ihrem Mann gehorchen, wobei sie damals auch noch nicht gläubig war. Doch als sie auf dem Weg zum Krankenhaus war, um ihr Baby abtreiben zu lassen, kam sie an einer Kirche vorbei. Sie betrat den Vorraum und las an der Wand einen Bibelvers: „Ich werde nicht sterben, sondern leben, um die Taten des HErrn zu erzählen!“ (Ps.118:17). Da wurde ihr in dem Moment klar, dass ihr Baby auf jeden Fall am Leben bleiben müsse. Sie widerstand ihrem Mann und brachte den Jungen zur Welt. Als Thomas heranwuchs, begann sein Vater ihn auf seine Weise zu lieben und nahm ihn jedes Mal mit in die Kneipe, wo er von klein auf das Alkoholtrinken erlernte. Inzwischen war Thomas bis auf die Knochen abgemagert, und seine Leber war geschrumpft, so dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Aber seine Mutter Anni sagte zu mir: „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass auch er eines Tages noch den HErrn Jesus aufnehmen wird und von Gottes Wundertat anderen berichten kann, denn so hatte es Gott mir ja an jenem Tage zugesagt.“ Wie die Geschichte aber später ausgehen sollte, habe ich bis heute nie erfahren.
Die Reise nach Rumänien
Inzwischen hatte ich schon 1.100 km mit dem Fahrrad zurückgelegt. Aber da es schon Mitte Oktober war und ich dem Bruder Hans-Udo versprochen hatte, Ende Oktober nach Berlin zu kommen, um an der Reise teilzunehmen, brach ich meine Fahrradtour abrupt ab und fuhr mit dem Zug zurück nach Bremen. Bevor ich dann nach Berlin fuhr, hatte ich mir aus der Bibliothek noch ein Lehrbuch für die rumänische Sprache ausgeliehen, um wenigstens auch etwas Rumänisch zu lernen. Auch waren inzwischen die Bücher von Fritz-Henning Baader eingetroffen, die ich vor Neugier gleich mitnahm auf die Reise. In Berlin angekommen, ging es dann auch schon bald darauf los mit zwei voll beladenen Lkws nach Rumänien. Hans-Udo nahm seine Söhne Timotheus und Johannes als Fahrer mit und wollte für die Reise noch einen gläubigen Jura-Studenten aus Nürnberg namens Andreas Einwag abholen. Auch dieser glaubte an die Allversöhnung, und da er in meinem Alter war, interessierte mich, wie er auf diese Lehre gekommen sei.
Ich fragte ihn: „Nehmen wir mal an, dass du dich geirrt hast und Gott diejenigen, die zu Lebzeiten nicht an Ihm gläubig wurden, am Ende doch für ewig verloren gehen lassen würde, – würdest du dann deinen Glauben an Gott verlieren?“ – „Das kann ich nicht sagen; aber die Frage stellt sich für mich auch nicht. Denn wie könnte ich denn Vertrauen haben in einen Gott, der zwar mich errettet hat, aber die meisten anderen Menschen für alle Ewigkeit im Feuersee quälen würde? Wie könnte ich mich dann über das Paradies freuen, wenn die anderen ewiglich so viel Leid und Schmerz ertragen müssten, obwohl ich doch keinen Deut besser war als sie?! Das wäre ja beinahe so verstörend, als wenn ich das Kind eines Mafia-Bosses wäre, der mich selbst zwar liebt, aber von dem ich wüsste, dass er seine Feinde foltert und umbringt. Wie könnte ich da je ein tiefes Vertrauen in seine Liebe haben?“ – „Ja, das kann ich verstehen. Aber nehmen wir mal an, dass es wirklich so wäre – was willst du denn dann machen? Du kannst doch dann trotzdem nur heilfroh sein, dass Gott wenigstens dir gnädig war und du errettet bist. Oder würdest du etwa das Heil unter solchen Voraussetzungen ablehnen?“ – „Ja, ich glaube, dass ich einen solchen Gott nicht lieben könnte und würde möglicherweise dann lieber kein Christ mehr sein.“ Diese Antwort schockierte mich, und ich hörte sofort auf, weiter ihn zu bedrängen, um ihn nicht zum Glaubensabfall zu verführen.
Als wir nach 20-stündiger Autofahrt am nächsten Tag in Rumänien ankamen, erschien es mir wie eine Reise ins Mittelalter. Auf den Äckern neben der Straße sah man z.B. Büffel, die einen Pflug anschoben. Ich wusste gar nicht, dass es in Europa überhaupt Büffel gibt oder dass man am Ende des 20. Jh. noch Äcker mit einem Pflug bestellen muss. Wie arm mussten die Menschen hier also sein! Spät am Abend hielten wir vor einem Haus in Telmesch, rumänisch Tălmaciu, wo wir von Bruder Christian Iach herzlich begrüßt wurden, der uns jeweils ein Bett zuwies für die Nacht. Am nächsten Morgen gingen wir nach dem Frühstück in das nahe gelegene Gehöft mit den zwei Häusern, das der deutsche Verein von Spenden gekauft hatte, um daraus ein Kinderheim zu machen. Die Räume hatten Betten, Schränke und jeweils einen Ofen, der mit Holz beheizt wurde. Bela, der Bruder von Christian, führte uns dann zu einem Lagerraum am Bahnhof, wo wir die Kartons mit den Kleiderspenden aus den Lkws ausladen konnten. Dann stellte er mir einen rumänischen Bruder vor namens Daniel Rusu (30), mit dem ich in den nächsten Wochen zusammen im zukünftigen Kinderheim wohnen und arbeiten würde. Da Daniel Englisch konnte, war die Verständigung kein Problem. Am Nachmittag nahmen mich Timotheus, Johannes und Andreas mit zu einem kurzen Ausflug ins Hochgebirge der Karpaten, die nur 45 Minuten mit dem Auto entfernt waren. Die Strecke verlief in Serpentinen steil hinauf bis aus etwa 2000 Meter, vorbei an Wasserfällen und durch eine Wolkendecke hindurch. Als wir hielten, hatten wir einen fantastischen Ausblick auf die riesige Schlucht, die ins Tal führte. Wir gingen dann noch ein Stück zu Fuß hinauf auf den mit Schnee bedeckten Bergkamm, wo der Weg plötzlich vor einem Stahltor endete, das mitten in den Berg hinein zu führen schien. Als wir das Tor öffneten, war es dahinter stockdunkel. Erst dachten wir, dass es ein Raum sei, aber dann erkannten wir einen winzig kleinen, hellen Punkt, so dass wir verstanden, dass es ein etwa 100 Meter langer Tunnel war, der auf die andere Seite vom Gebirgs-Pass hinausführte. Wir fassten uns an die Hand und gingen durch die Finsternis auf den hellen Punkt zu. Als wir dort ankamen, hatten wir eine unbeschreiblich schöne Aussicht auf die schneebedeckte Gebirgswand von der Südseite, die in der Abendsonne gelblich-orange glänzte. Wir sahen überall Steinböcke, die entlang des steilen Abhangs von einem Fels zum anderen sprangen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Dieser Ausflug hatte sich auf jeden Fall gelohnt.
Am nächsten Tag verabschiedeten Daniel und ich die Hosters, die zurückfuhren nach Deutschland. Dann gingen wir zu dem Lagerraum, wo sich vor der Rampe etwa 50 -70 Dorfbewohner versammelt hatten, die Daniel vermutlich zuvor eingeladen hatte, um etwas von den Schuh- und Kleiderspenden aus Deutschland etwas zu bekommen. Daniel redete mit den Leuten, dass sie eine Schlange bilden sollten, damit jeder der Reihe nach etwas bekäme. Während Daniel die ersten Kartons öffnete, sah ich eine alte Frau, die mitten in diesem Spätsommer bei 20 °C mit einer winterlichen Steppjacke und Gummistiefeln bekleidet war, die sie wohl aus einer vorigen Spendenaktion geschenkt bekommen hatte. Ich machte den Vorschlag, dass wir die vielen Schuhe in den Kartons, jeweils nach Größen ordnen sollten, damit sie den Leuten auch passen. Daniel aber rief dann die Schuhgröße einfach in die Menge, damit diejenigen, die diese hätten, hervortreten sollten. Doch schon kurz darauf entbrannte ein Streit, wer die Schuhe jeweils bekommen sollte. Und plötzlich brach das totale Chaos aus, indem die Leute auf die Rampe kletterten und einfach wie wild die Kartons selber aufrissen, um sich so viel zu nehmen, wie sie konnten. Da Daniel und ich nur zu zweit waren, konnten wir diese Plünderung nicht verhindern, sondern nur noch darauf achten, dass sich bei dieser panikartigen Raffgier niemand verletzte und keiner es übertrieb. Nach etwa einer Stunde waren fast alle Kartons leergeplündert, und ich dankte Gott, dass wir so vielen armen Menschen helfen konnten. Doch dann kam mir mit Schrecken eine Überlegung: „Jetzt haben wir ja gar keine Kleiderspende mehr für die Kinder im Heim übrig…“ Aber Daniel beruhigte mich: „Keine Sorge: im Kinderheim haben wir noch jede Menge Kartons mit Spielsachen und Kinderkleidung.“
Gegen Mittag ging ich dann mit Daniel zum Haus einer Familie, wo wir zu Mittag aßen. Die Hausmutter lebte dort mit ihrer erwachsenen Tochter und ihren vier Enkelkindern. Ich erfuhr, dass die etwa 30-Jahre alte Tochter gerade erst ihren Ehemann verloren hatte durch einen tragischen Verkehrsunfall. Daniel erklärte mir, dass wir von nun an jeden Mittag und Abend hier essen würden. Da die Leute sehr arm waren, gab es jedoch immer nur Kartoffelbrei mit Soβe – nur das! -, und zwar über die ganzen Wochen. Die Hausmutter hatte vermutlich einen Karton mit Kartoffelpüree gespendet bekommen, sowie mehrere Packungen mit Soßenbinder. Denn knapp zwei Jahre nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes lag das Land wirtschaftlich immer noch am Boden. Über 40 Jahre Kommunismus hatten nur noch verbrannte Erde zurückgelassen. Die Läden waren mit Ausnahme einiger weniger Konserven fast leer. Einmal in der Woche kam ein Lkw voll mit bereits trockenem Brot ins Dorf. Zum Glück gab es unter den Spenden aus Deutschland auch einen Karton mit Frühstücksfleisch von Aldi, so dass wir von nun an jeden Morgen trockenes Brot mit Frühstücksfleisch und Knoblauch aβen. Zu den wenigen Dingen, die es sonst noch gab, gehörte Wein. Denn fast jeder im Dorf hatte Weinpflanzungen und machte daraus Wein – auch wir. Jeden Abend hatte ich mit Daniel eine Bibellese und eine Gebetsgemeinschaft. Eines Abends vorm Zu-Bett-gehen fragte ich Daniel: „Tell me, Daniel, what is the crucial difference between capitalism and communism?“ Daniel überlegte kurz und gab mir dann eine leicht verständliche, augenzwinkernde Antwort: „In capitalism, one is exploited by the other. And in communism the others are exploited by the ones.“
Aus Făgăras kamen Brüder angereist, die uns bei der Renovierung der Gebäude helfen sollten. Ein rumäniendeutscher Bruder gab uns immer die Anweisungen. Durch den ständigen Kontakt mit den anderen lernte ich die ersten rumänischen Wörter. Abends im Zimmer las ich dann immer in meinem Lehrbuch der rumänischen Sprache und konnte schon bald eigene Sätze sprechen. Bruder Bela brachte mir auch ein Lied auf rumänisch bei, das ich bis heute auswendig kann, und zwar die rumänische Version von “Ich bin ja nur ein Gast auf Erden…” (“Sunt un pribeag fără de ţară”). Da die rumänische Sprache genauso wie die spanische Sprache ihren Ursprung im Lateinischen hat, fiel es mir recht leicht, mir die Worte zu merken. Besonders während der Gottesdienste in Cisnadie (Heltau) lernte ich durch die ständig sich wiederholenden Gebete die typischen Redewendungen auswendig (“Îți mulțumim Doamne Isuse...” = „Dank sei Dir, HErr Jesus…” oder „Dumnezeu sa te binecuvanteze” = „Gott segne dich!”). Mir fiel auf, dass die Schwestern in dieser Brüdergemeinde nicht nur kurz nach Beginn ihres Gebets sofort zu Weinen anfingen, sondern dass sie auch alle ziemlich lange beteten. Und wenn die eine “Amen” sagte, fing sofort die nächste Schwester an, so dass der Prediger nach etwa 20 Minuten einfach mitten im Gebet ins Mikrofon sprach, um den Abbruch des Gebets zu erzwingen, da es sonst nie ein Ende genommen hätte. Auch ich durfte hin und wieder mal predigen, während Bela mich übersetzt hat. Einmal jedoch wusste ich gar nicht, dass ich predigen sollte und hatte mich überhaupt nicht vorbereitet. Selbst in dem Moment, als ich mit Bela nach vorne ging, hatte ich noch nichts, so dass mir das Herz bis zum Hals schlug. Ich dachte nur an die Worte Abrahams: “Der HErr wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer”. Selbst als ich die Geschwister dann begrüßte und sagte: “Lasst uns mal aufschlagen, und zwar…” hatte ich noch nichts, aber in der Sekunde kam es dann: “…in 1.Mose, Kapitel 9” und predigte dann am Beispiel von Noah darüber, dass wir unsere Eltern und ältere Geschwister nicht bloßstellen sollten.
Wein, Milch und ein wilder Junge
Da ich im Unterschied zu Noah selbst bis dahin noch nie betrunken war in meinem Leben, kam mir an einem Nachmittag die – zugegebenermaßen törichte – Idee, die Gelegenheit zu nutzen, um gleichsam einem Experiment mich auch selbst einmal bewusst zu betrinken unter kontrollierten Bedingungen, um zukünftig zu wissen, was eigentlich Trunkenheit ist. Da wir ja ein paar Wochen zuvor sehr viele Weintrauben geerntet hatten, die der Hausmeister im Keller gekeltert und in großen Glas-Bottichen zum Gären umgefüllt hatte, ging ich zu ihm und erbat von ihm einen Liter, den er mir in einer Glaskanne abfüllte. Damit ging ich dann auf mein Zimmer und sagte mir: “Es handelt sich hier ja bloß um eine wissenschaftliche Studie!” Und dann trank ich den pinkfarbenen Wein nach und nach, bis die Kanne leer war. Zunächst spürte ich gar nichts, außer ein bisschen Müdigkeit. Ich beschloss, einfach mal etwas früher ins Bett zu gehen. Doch nach einer halben Stunde rief mich Daniel, um mit ihm zum Abendessen zu gehen. Ich sprang vom Bett auf, hatte auf einmal jedoch ein wenig Koordinations-Probleme. Während ich hinter Daniel den schmalen Pfad zum Haus der Gastfamilie ging, hatte ich dann größte Schwierigkeiten, noch gerade zu gehen, sondern schwankte hin und her. Ob die Gastfamilie meinen trunkenen Zustand bemerkte, kann ich heute nicht mehr sagen, aber anzunehmen ist es.
An einem Tag teilte Daniel mir mit, dass er in seine Heimatstadt Iasch reisen müsse, um dort auf dem Amt etwas zu erledigen, aber er würde in etwa drei oder vier Tagen zurück sein. Kurz nachdem er weg war, klopfte es an der Tür. Ein alter Bauer stand vor der Tür und schenkte mir eine große Kanne voller Büffelmilch. Ich bedankte mich herzlich und füllte sie in einen großen Topf um. Da es aber bestimmt 10 Liter waren, wusste ich nicht, ob ich so viel Milch überhaupt alleine trinken konnte, zumal wir ja keinen Kühlschrank besaßen. Aus lauter Unbeholfenheit stellte ich den Topf erstmal auf den Boden der Küche, in der Hoffnung, dass sich das Problem schon irgendwie lösen würde. Doch als Daniel nach einer Woche noch immer nicht zurück war, beschlich mich ein ungutes Gefühl, dass ich doch jetzt irgendwas mit der Milch machen müsse, damit sie nicht verderbe. Also zündete ich den Herd an und wollte die Milch erstmal kochen. Doch schon nach wenigen Sekunden verwandelte sich die dicke, weiße Milch plötzlich in klares Wasser, so dass ich völlig irritiert war. Als ich dann den Löffel hineintat, um umzurühren, schwammen da große Stücke einer weißen Masse drinnen. Und dann fiel auf einmal der Groschen: ich hatte rein zufällig gerade Käse hergestellt! Und die klare Flüssigkeit im Topf musste demnach Molke sein. Der Käse hatte eine etwas faserige Konsistenz, schmeckte aber sonst wie normaler Käse. Jetzt hatte ich also nicht nur erfahren, was Trunkenheit ist, sondern wusste auch, wie man Käse herstellt.
Kurz darauf kam Daniel wieder und hatte zu meiner Überraschung einen etwa 6-jährigen Jungen mitgebracht. Daniel berichtete, dass er spät abends im Zug diesen kleinen Jungen fand, der völlig verdreckt auf dem Fußboden schlief. Er sprach ihn an und erfuhr, dass er keine Eltern habe und sich nur von Betteln und Stehlen ernährte. Daniel bot ihm an, mit ihm mitzukommen zu seinen Eltern, wo er ihn dann badete, ihm neue Kleidung gab und was zu Essen. “Und da wir ja ohnehin vorhaben, ein Kinderheim zu gründen, könnte er doch dann unser erstes Waisenkind sein, das wir aufnehmen.” sagte Daniel. Ich fand die Idee gut und ging mit dem Jungen in das Zimmer, wo die ganzen Kartons mit den Spielsachen lagerten. Als ich einen Karton geöffnet und Spielsachen herausgenommen hatte, geriet der Kleine völlig außer sich und griff sich juchzend vor Freude so viele Spielsachen, wie er tragen konnte. Dann tat er sie zur Seite und machte einen neuen Karton auf, um möglichst ganz viele Spielsachen herauszunehmen. Nun rannte er hin und her von einem Karton zum anderen und lachte aufgeregt, wobei er viel Unordnung anrichtete. Daniel wollte ihn sofort disziplinieren, dass er sich maximal nur zwei oder drei Sachen nehmen dürfe, aber mir tat der Junge sehr leid, weil er solch eine Erfahrung ja noch nie gemacht hatte.
Die folgenden Tage gestalteten sich dann sehr schwierig, den dieser wilde, hyperaktive Junge konnte kaum 5 Minuten mal alleine gelassen werden, ohne irgend eine Dummheit anzustellen. Ich kam gar nicht mehr zu meiner Arbeit, sondern musste mich ständig um den Kleinen kümmern, der am liebsten rumtoben wollte. Daniel war sehr streng mit ihm und schlug ihn sogar, damit er mal ruhiger werde. Aber das Gegenteil war der Fall: er plärrte laut und bitterlich, so dass sogar die Nachbarn im Dorf es hörten. Ich dachte nur: Wenn es schon so schwierig ist, ein einziges Kind zu erziehen, wieviel mehr dann ein ganzes Kinderheim! Aus lauter Verzweiflung sperrte Daniel ihn dann sogar in eine dunkle Kammer, womit ich jedoch nicht einverstanden war. Daniel erklärte: „Wir haben hier in Rumänien andere Erziehungsmethoden als in Deutschland.“ Ich sagte: “Für uns Gläubige sollte allein maßgeblich sein, was in der Bibel steht, nämlich die Liebe…” – “Ja, aber in der Bibel steht auch, dass wir die Kinder züchtigen müssen” erwiderte Daniel.
Nach zwei Tagen fuhr ich mit Daniel und dem Jungen nach Bukarest, um ihn beim dortigen Jugendamt anzumelden. Zu unserer Überraschung sagte der Junge auf einmal zu der Sozialarbeiterin, dass er sehr wohl noch Eltern habe, aber von zuhause abgehauen sei. Er konnte sogar die Adresse sagen und machte deutlich, dass er wieder zurückwolle zu seinen Eltern. Damit hatte sich für uns der Fall erledigt und wir nahmen es aus Gottes Hand. Auf der Zugfahrt zurück, setzten Daniel und ich uns in ein Abteil, wo drei junge Männer uns gegenüber saßen. Sie schauten mich die ganze Zeit an, so dass ich verlegen wurde. Dann sagte einer auf Rumänisch zu Daniel: “Ce vrea acest străin aici, la noi?” („Was will dieser Ausländer hier bei uns?”). Sie dachten wohl, dass ich sie nicht verstehen würde, aber ich verstand es schon, tat aber so, als verstände ich nichts. Daniel: “A venit în România să ne ajute să înființăm un orfelinat” („Er ist gekommen, um uns beim Aufbau eines Kinderheims zu helfen”). – Sie: „Atunci spune-i că nu avem nevoie de ajutorul lui. Ar trebui să se întoarcă de unde a venit și să înceapă un cămin de copii în propria sa țară, dacă vrei!” Die Worte „Copii” (Kinder) und „Tsară” (Land) hatte ich noch verstanden, aber sonst nichts. Daniel beugte sich zu mir und übersetzte auf Englisch: „Sie sagen, dass sie Deine Hilfe nicht brauchen. Du sollest wieder zurückkehren, wo Du hergekommen bist und in Deinem eigenen Land ein Kinderheim gründen. – Mach Dir nichts draus, Simon, das sind Schwachköpfe, die absolut keine Ahnung haben!” Ich war trotzdem überrascht, dass es auch hier in Rumänien solch einen Nationalismus gibt, mit dem ich gar nicht gerechnet hätte.
Eine Fahrt in den Abgrund
Mitte November war auf einmal der Winter eingebrochen und es schneite bald jeden Tag. Wenn ich morgens aufstand, war es bitterkalt im Zimmer, denn eine Heizung gab es ja nicht. So ging ich erstmal nach draußen zum Plumpsklo und musste danach im Schlafanzug Holz hacken, um den Ofen anzuzünden. Als Stadtmensch war ich dies alles natürlich nicht gewohnt, aber wenigstens wechselte ich mich mit Daniel ab. Wenn der Ofen warm war, stand auch Daniel auf und zog sich an. Dann beteten wir gemeinsam, lasen einen Bibelabschnitt und sprachen darüber. Danach holten wir uns einen Laib Brot, öffneten eine neue Konserve Frühstücksfleisch, dankten dem HErrn und aßen Brot und Fleisch wie einst Elia am Bache Krith, jedoch zusammen mit Knoblauch. Wie gerne hätte ich auch mal wieder zur Abwechslung Marmelade oder Honig gegessen, aber solch einen Luxus gab es in Rumänien zu jener Zeit nicht. Daniel erzählte mir, dass von allen Grundnahrungsmitteln Zucker das Allerteuerste und am schwierigsten zu kriegen sei. Zu Sowjetzeiten wurden sie noch von Cuba beliefert, aber durch die Bodenreform (d.h. Zwangsenteignung) gab es zunehmend Missmanagement aufgrund fehlender Marktanalysen und Informationen. So gab es von manchen Produkten mehr als nötig und von anderen viel zu wenig oder gar nichts.
An einem Tag kam ein gläubiger Architekt zum Kinderheim namens Karl-Heinz Schäfer (ca. 40 J.) mit seinem Hund. Er hatte sich Urlaub genommen, um sich mal vor Ort einen eigenen Eindruck von der Missionsarbeit zu machen und um – wo er konnte – mitzuhelfen. Nachdem wir ihm alles mal gezeigt hatten, erzählte ich ihm, dass die nahegelegenen Karpaten ein wunderschönes Naturspektakel böten und ich mit ihm gerne mal ins Hochgebirge fahren würde. „Dort soll es sogar noch Bären und Wölfe geben!” Karl-Heinz war sofort begeistert und so fuhren wir tags darauf ins Hochgebirge, wo ich ja schon einmal war. Doch als wir nur wenige hundert Meter die Straße hochgefahren waren, sahen wir eine Straßen-Sperre mit einem Schild „Accesul interzis din cauza pericolului de gheață”. Keine Ahnung, was das heiβen mochte. Wir schoben die Absperrung beiseite und fuhren weiter hoch. Dann sahen wir auf einmal einen riesigen Wasserfall, der komplett eingefroren war. Wir stiegen aus und Karl-Heinz machte ein Foto. Nun ging es weiter rauf, entlang an riesigen Gebirgsschluchten die teilweise von Betonmauern begrenzt waren. Als wir schon fast ganz oben angelangt waren, merkten wir, dass die Straße spiegelglatt war vor Eis und die Räder öfters durchdrehten. Auf einmal sahen wir vor uns, dass die Straße durch eine Schneelawine zugeschüttet war. Da es für eine Wanderung zu kalt war, entschieden wir uns, umzukehren. Karl-Heinz fuhr zunächst mit dem Wagen rückwärts die steile Serpentine runter und wurde zu meiner Verwunderung immer schneller. Kurz vor der Kurve drehte sich der Wagen mit Schmackes in die richtige Fahrtrichtung, so dass ich dachte: „Na, der will mir wohl beweisen, wie gut er Autofahren kann.” Doch als ich zu ihm schaute. War er kreidebleich und schien Atembeschwerden zu haben. „Was ist denn?” fragte ich. „SIMON!!!” Er schnappte nach Luft. „SIMON!! Weißt Du eigentlich, dass ich seit oben völlig die Kontrolle über den Wagen verloren habe! Ich hab´ die ganze Zeit gebremst – Hast Du das gar nicht mitbekommen?! – aber der Wagen hielt einfach nicht mehr an, sondern raste auf den Abhang zu!” – „Ach, echt? Aber Du hast doch eben gerade gebremst oder nicht?” – „NEIN! ging ja nicht. Der ist durch irgendwas ins Schleudern geraten und dann von ganz allein zum Stehen gekommen!” – Jetzt war ich auch völlig verdattert: „Dann hat Gott wohl Seinen Engeln geboten, den Wagen anzuhalten, damit wir nicht in den Abgrund fahren…” – „Simon, wir sind einen Meter vor der Betonmauer zum Stehen gekommen! Wenn Gott den Wagen nicht gerade noch rechtzeitig gestoppt hätte, wären wir jetzt mit Vollgas gegen die Betonmauer geknallt!” Karl-Heinz stand total unter Schock, so dass wir eine ganze Weile nicht weiterfahren konnten. Aber ich betete mit ihm und dankte dem HErrn, dass Er auf uns achtgegeben hatte.
Als Karl-Heinz Schäfer nach einer Woche wieder zurückreisen musste, lud er mich ein, noch einmal Abends Essen zu gehen zusammen mit Christian und Bela. Da Rumänien 1991 noch bettelarm war, waren die Preise dort gerade einmal nur ein Bruchteil von dem, was man in Deutschland zahlen würde. Deshalb hatte Karl-Heinz die Idee, mal in ein echtes Fünf-Sterne-Restaurant zu gehen, damit wir uns mal so richtig verwöhnen könnten. Christian hatte in der nahe gelegenen Großstadt Sibiu (Hermannstadt) schon bald eines ausfindig gemacht und einen Tisch für vier Personen bestellt. Als wir das Restaurant betraten, waren wir hoch erstaunt, denn in dem großen rosa-farbigen Saal waren überall echte Palmbäume, aber auch Kronleuchter und üppig verzierte Stuckarbeiten. Ein echtes Orchester spielte klassische Musik und die Kellner hatten alle einen Wrack-Anzug an. Aber auch die wenigen Gäste waren fein gekleidet mit Smoking und Kostüm, während wir nur gewöhnliche Straßenkleidung anhatten. Karl-Heinz hatte sich während der Vorspeise und dem Hauptmenü schon jede Menge Bier bestellt, so dass er leicht angeschwippst war.
Nach etwa einer halben Stunde gingen auf einmal die Lichter aus. Erst dachte ich an einen Stromausfall. Aber dann ertönte plötzlich laute Rumba- oder Samba-Musik und überall ging eine farbenfrohe Discobeleuchtung an. Doch ehe ich den ersten Schreck verwunden hatte, erschienen auf einmal im grellen Scheinwerferlicht etwa fünf leicht bekleidete Tänzerinnen in Reizwäsche, die zu der Musik tanzten. Karl-Heinz musste laut lachen und sagte nur: „Wow, voll geil!“ während ich und die beiden Iach-Brüder beschämt wegschauten. Aber es kam noch heftiger, denn die Damen machten nun auch noch einen Striptease, so dass sie bald völlig ohne Kleidung tanzten. Dann verließen sie die Bühne und tanzten zwischen den Tischen der Gäste, die ihnen Geldscheine ins Dekollté steckten. Ich dachte nur: Das kann doch nicht wahr sein! Wo sind wir denn hier gelandet?! Aber Karl-Heinz musste die ganze Zeit kichern, applaudierte mit den anderen Gästen und amüsierte sich offensichtlich prächtig. Ich wollte nur noch so schnell wie´s geht weg hier aus diesem Sündenpfuhl, aber musste warten, bis auch die anderen soweit fertig waren mit dem Essen. Am Ende zahlte Karl-Heinz umgerechnet etwa 35,- DM für alles, was zur damaligen Zeit dem Monatslohn eines rumänischen Arbeiters entsprach. Als wir zurück zum Auto gingen, machte ich dem Karl-Heinz schwere Vorwürfe, warum er die ganze Zeit applaudiert habe, aber er wollte sich auch jetzt die gute Laune nicht von mir verderben lassen.
Als wir später auf dem Zimmer waren, hielt ich ihm eine Standpauke: „Karl-Heinz, du hast dich heute abend wie ein Gottloser benommen! Schlimm genug, dass wir überhaupt auf dieser Veranstaltung waren, die ja eines Gläubigen unwürdig ist. Aber du hast die ganze Zeit auch noch gelacht, so dass ich mich wirklich frage, ob du überhaupt ein echtes Kind Gottes bist.“ Inzwischen war Karl-Heinz wieder etwas ernüchtert und bekannte mit gedämpfter Stimme, dass ich schon recht hätte, aber bei ihm nun einmal der alte Mensch wieder zum Vorschein kam. „Weißt du, Simon, ich komme aus einer ganz gewöhnlichen Baptistengemeinde und du wahrscheinlich aus einer strengen und gesetzlichen Brüderversammlung, deswegen bist du anders sozialisiert als ich. Ich gehöre eben nicht zu denen, die zum Lachen in den Keller gehen, sondern lasse meinen natürlichen Empfindungen freien Lauf. Ich könnte ehrlich gesagt auch gar nicht so ein Christ sein wie du, der sich ständig zusammenreißen muss und über nichts lachen darf. Da würde ich schon lieber ungläubig bleiben. Aber Jesus hat uns doch schließlich aus Gnade gerettet und nicht aus Werkegerechtigkeit. Deshalb vertraue ich darauf, dass er mich trotz all meiner Unvollkommenheit auch weiterhin so liebt und annimmt wie ich bin.“ Ich entgegnete: „Wir dürfen zu Ihm kommen, wie wir sind, aber wir dürfen nicht so bleiben, sondern sollen uns durch die Kraft des Heiligen Geistes verändern lassen, um so zu werden wie der HErr Jesus. Du kannst…“ Er unterbrach mich: „Nee, nee, das ist doch völlig übertrieben! Wir werden niemals sein wie Er, und das brauchen wir auch nicht. Das will uns nur der Teufel einreden, dass wir so sein können wie Gott!“ – „Aber steht geschrieben in 1.Joh.2:2, dass wir so wandeln sollen, wie Er gewandelt hat. Deswegen heißt es ja auch NACHFOLGE, also in Seinen Fuβstapfen gehen und Ihn nachahmen in allen Dingen.“ – „Aber Jesus ist doch auch auf die Hochzeit zu Kana gegangen…“ – „Ja, aber bestimmt nicht, um dort in Ausschweifung an Trinkgelagen und Orgien mitzumachen.“ – „Ach Simon, lass mal. Mich stresst das alles jetzt zu sehr. Du haust hier einen Satz nach dem anderen raus und machst mir dadurch nur ein schlechtes Gewissen. Ich muss das jetzt alles erst einmal in Ruhe verdauen, was du mir gesagt hast. Lass uns hier jetzt mal schlussmachen, denn ich bin auch sehr müde.“ – „Ok,“ sagte ich, „aber ich muss dir noch eines zum Schluss mitteilen: Ich betrachte dich von nun an nicht mehr als echten Christen, weil du nicht die guten Früchte hervorgebracht hast. Nimm es mir nicht übel, aber der HErr erwartet dies von mir. Du musst erstmal richtig Buße tun, denn erst dann kann ich in dir meinen Bruder sehen.“ – „Das ist sehr schade, wenn du so über mich denkst, aber das kann ich dann eben auch nicht ändern.“
„Gründliche Widerlegung der Allversöhnungslehre“
Kurz nach Karl-Heinz´ Abreise, kamen Mitte Dezember endlich auch Hans-Udo und einige Brüder mit zwei voll beladenen Lkws im Kinderheim an, um mich wieder abzuholen. Zu meiner großen Überraschung war auch mein Vater unter den Ankömmlingen. „Was machst du denn hier, Papa?!“ fragte ich irritiert. „Och, Hans-Udo hatte mich einfach gefragt, ob ich mitkommen will, und da habe ich Ja gesagt.“ – „Aber woher kennt ihr euch denn überhaupt?“ – „Durch Mudder. Die hatte ja von dieser Kinderheimarbeit erfahren und dann ganz viel Kinderkleidung und Möbel sammeln lassen, die wir u.a. jetzt mitgenommen haben.“ Ich war total glücklich, dass jetzt auch meine Familie mit den Hosters freundschaftlichen Kontakt hatte und dankte Gott dafür. Doch es gab noch eine weitere Überraschung für mich, denn unter den mitgereisten Brüdern war auch der Brandenburger Arnold Schmidt (29) aus Sachsenheim. „Wie bist du denn jetzt in Kontakt gekommen zum Hans-Udo? Du wolltest doch erst gar nicht mit nach Rumänien – wie kommt´s, dass du jetzt deine Meinung geändert hast?“ – „Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich rief halt irgendwann den Hans-Udo an und lernte dann durch einen Besuch die Familie Hoster kennen. Meine Eltern wohnen ja in Vogelsdorf, in der Nähe von Berlin, daher war das ja für mich naheliegend.“ – „Da freu ich mich aber echt, dass Du jetzt hier bist!“ sagte ich „Und vielleicht schenkt der HErr dir hier ja eine Ehefrau, denn es gibt hier in der Jugendgruppe der Gemeinde sehr hübsche Mädchen!“
Am nächsten Abend war dann Jugendstunde und unter den etwa 30 jungen Christen, waren fast alles nur Mädchen im Alter von 17 bis 25 Jahren. Arnold hatte also eine große Auswahl. Ein Bruder aus Deutschland sollte die Predigt halten, aber da Bela nicht da war, bot ich mich an, die Predigt zu übersetzen. Zu meinem eigenen Erstaunen hatte das dann auch tatsächlich funktioniert, denn jedes Mal, wenn ich ein Wort nicht wusste, halfen mir die jungen Schwestern. Ja, sie hingen förmlich an meinem Mund und ahnten sofort, was ich sagen wollte. Wir hatten viel Spaß dabei und alle waren hellauf begeistert. Nach der Predigt, bat ich auch Arnold, etwas zu sagen, aber er traute sich nicht. Dann schlug ich vor, dass Arnold doch wenigstens mal von seinen selbsterdachten Liedern auf der Gitarre vorspielen sollte. Als Arnold anfing zu spielen und dabei zu singen, himmelten ihn alle Schwestern an, was man richtig spüren konnte. Ich bin mir sicher, dass jede dieser Schwestern ihm sofort das Ja-Wort gegeben hätte, wenn er um ihre Hand gebeten hätte. Und tatsächlich hatte sich Arnold dann später für eine rumänische Glaubensschwester entschieden und sie geheiratet, wie ich Jahre später erfuhr, allerdings niemand aus dem Jugendkreis, sondern er hatte jene junge Witwe geheiratet, wo wir immer zu Mittag gegessen hatten mit den vier Kindern. Er soll sich dann später in Rumänien sogar ein Haus gekauft haben, lebt aber heute wieder in Deutschland mit seiner Frau.
Bald darauf traten wir die lange Heimreise nach Deutschland an und ich war Gott sehr dankbar für all die abenteuerlichen Erlebnisse, die ich in Rumänien haben durfte. Ich war so glücklich, dass auch mein Vater mitgekommen war und spürte zum ersten Mal, dass ich sogar stolz auf ihn war, als er diesen großen LKW durch die Schlagloch-reichen Straßen Rumäniens mitten in der Nacht fuhr. Hans-Udo hatte angeboten, sich hinten im Laderaum zum Schlafen hinzulegen; doch nach etwa einer Stunde hörten wir ein heftiges Klopfen, so dass mein Vater den Wagen anhielt. Als wir die Tür hinten aufmachten, rannte Hans-Udo sofort raus und musste sich übergeben. Da konnte ich mir ein Schmunzeln kaum verkneifen. Nach 20 Stunden Autofahrt kamen wir endlich in Berlin an, und dann fuhr mein Vater noch mit mir nach Bremen zurück, so dass wir rechtzeitig vor Weihnachten wieder zuhause waren.
Nun hatte ich endlich mal ein paar Tage Zeit, mich mit den Büchern von Fritz-Henning Baader zu beschäftigen, die ja inzwischen eingetroffen waren. Besonders interessierte mich das Buch „Die Richtigungen und die Erbarmungen Gottes“, wobei die Wortschöpfung Richtigungen eigentlich „Gerichte“ bedeutet. Mich interessierte vor allem, welche Argumente die Allversöhner ins Feld führen, um ihre Allversöhnungslehre zu begründen. Schon bald fiel mir auf, dass dieser Bruder offensichtlich ein echter Schriftgelehrter war, denn er beherrschte nicht nur Hebräisch und Griechisch, sondern er konnte sogar problemlos die Herleitungen und Wurzeln sämtlicher Grundtextworte darlegen. Mit virtuoser Kreativität gelang es ihm dann immer wieder, zwei oder drei ganz unterschiedliche Bedeutungen eines Wortes unter einen Hut zu bringen, damit man nach Möglichkeit das gleiche Grundtextwort an allen vorkommenden Stellen in gleicher Weise übersetzen konnte. Das erste, was mich jedoch zweifeln ließ, war gerade das hohe Bildungsniveau, das FHB voraussetzte und scheinbar erforderlich war, um die Texte überhaupt richtig zu übersetzen. Denn wenn doch nach den Worten des HErrn in Mt.11:25 das Wort Gottes auch und gerade von den Unmündigen – sprich Ungebildeten – verstanden werden kann und soll, dann könne man doch unmöglich so viel Hintergrundwissen voraussetzen. Bruder Edgard, der ja selbst auch eher ungebildet war, hatte mir immer versichert: „Je gelehrter, desto verkehrter“.
Als ich an jene Stelle im Buch kam, wo FHB sich über Mt.12:31-32 äußerte, konnte ich kaum fassen, was ich dort las: „Zunächst ist es doch einmal sehr erfreulich, dass der HErr hier zusagt, dass alle Sünden und Lästerungen der Menschen ihnen eines Tages noch vergeben werden, entweder noch in diesem Äon oder im nächsten Äon… Jene Lästerung des Geistes aber kann den Menschen noch nicht im nächsten Äon vergeben werden, möglicherweise aber dann im übernächsten“ (Gedächtniszitat). Das darf doch nicht wahr sein! Da zaubert er aus einer Stelle, die doch eigentlich gegen die Allversöhnung verwendet werden kann, mal eben im Handumdrehen eine Auslegung, die zur genau entgegengesetzten Schlussfolgerung kommt! Das ist wirklich eine Frechheit sonder gleichen! Dann folgte ein Kapitel über „den Wurm, der nicht stirbt“ (Mk.9:44-48). FHB schrieb dazu: „Aus dem prophetischen Psalm 22 wissen wir aus Vers 5, dass dieser Wurm nur der HErr Jesus sein kann. Er geht selbst in der Gehenna noch dem Verlorenen nach, bis Er es findet“ (Gedächtniszitat). Hier platzte mir wirklich der Kragen, da solch eine absurde Auslegung ja schon fast nach Lästerung klang. Er dreht sich alles so hin, dass es am Ende in seine Lehre passt! Aber so kann man doch nicht mit dem Wort Gottes umgehen! Was mich aber am meisten ärgerte, war, dass ich nicht auf Anhieb eine Widerlegung parat hatte. Inzwischen war ich schon bei der Hälfte des Buches angelangt und merkte, dass ich sogar den meisten Argumenten nichts entgegen zu setzen wusste. Das konnte ich aber doch unmöglich einfach so auf sich beruhen lassen, sondern ich MUSSTE alle Argumente irgendwie entkräften können, denn sonst wäre die Allversöhnung ja tatsächlich wahr. Also beschloss ich, das Buch noch einmal ganz gründlich von Anfang an zu beginnen, um mir bei jedem Argument ein passendes Gegenargument einfallen zu lassen.
So brütete ich eine ganze Woche lang über viele Stunden an jedem einzelnen Argument, wälzte Wörterbücher und Konkordanzen und hatte schließlich das befriedigende Gefühl, dass ich diesen Frotalangriff auf die biblische Lehre erfolgreich abgewehrt hatte. Nun musste ich die Ergebnisse nur noch ins Reine schreiben. Ich nahm also meine Schreibmaschine und tippte zwei weitere Wochen lang Tag und Nacht, um systematisch eine vollständige Widerlegung aller Argumente Baaders aufzuführen. Am Ende wurden es 42 DIN A4-Seiten. Für das Deckblatt wählte ich den Titel: „Gründliche Widerlegung der Allversöhnungslehre“. Dann kopierte ich den Text etwa 10 mal und sandte ihn an Fritz-Henning Baader, sowie an sämtliche Brüder, die ich auf meiner Reise kennengelernt und die etwas mit dieser Lehre zu tun hatten. Besonders interessierte mich natürlich die Reaktion von Bruder Hans-Udo Hoster. Doch leider bestand sein einziger Kommentar dazu darin, dass er den Titel rügte: „Du hättest es vielleicht besser etwas bescheidener schreiben können, z.B. ‚Versuch einer Widerlegung der Allversöhnungslehre‘. Denn ob deine Ausarbeitung wirklich so gründlich war, wie sie in deinen Augen ist, wird sich erst noch erweisen müssen. Die Schrift sagt ja in Spr.27:2 ‚Es rühme dich ein anderer und nicht dein Mund, ein Fremder, und nicht deine Lippen‘“. Einige Monate später kam dann auch eine Antwort von Bruder FHB, und zwar in Form eines Heftchens, das er anlässlich meiner Streitschrift herausgab und in welcher er auf das erste Kapitel über die Äonen Bezug nahm. Für die anderen Kapitel wollte er sich nicht die Mühe machen, sie zu widerlegen, weil er es wohl aufgrund der Unbedeutsamkeit meiner Person für überflüssig hielt. Aber ich war dennoch dankbar, dass er meine viele Mühe wenigstens durch eine kleine Stellungnahme würdigte.