„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 31
März bis Juni 1994
Unter Immobilienhaien und Finanzjongleuren
Im Januar hatte ich Arbeit in einer Zeitarbeitsfirma gefunden. Diese hatte mich an eine Reederei in Berne vermittelt, wo ich jeden Morgen früh um 5:00 Uhr losmusste, da die Anfahrt über zwei Stunden dauerte. Nach einem Monat stellte sich heraus, dass mir die lange Fahrtzeit hin und zurück inkl. Fährkosten nicht erstattet wurde, weshalb ich kündigte und bei einem Malerbetrieb in Woltmershausen anfing. Ruths Freundin Raquel (Rahel), die seit Februar bei uns wohnte, erzählte uns von der immer schlimmer werdenden Armut in Peru, die schon fast einer Hungersnot gleichkam. Während die Preise der meisten Lebensmittel inzwischen genauso hoch waren wie bei uns in Deutschland, verdienten die meisten Peruaner nur zwischen 80 – 180 DM im Monat, wobei sie ihre ganze Familie ernähren mussten. Hinzu kam der Wassermangel, besonders in Lima: Das Leitungswasser, das es meist nur für ein oder zwei Stunden am Tag gab, war so voller Bakterien und Viren, dass man sofort die Cholera bekommen konnte, wenn man es ungekocht trank. In den Slums am Stadtrand gab es nur einen Wasserhahn für eine ganze Siedlung. Wenn es dort Wasser gab, musste man sich oft stundenlang anstellen. Auch unsere Schwestern in Collique waren davon betroffen. Durch unsere Gaben konnten sie sich Reis und Bohnen kaufen. Oft reichte das Geld für viele Geschwister nur für Hühnerfutter, bestehend aus Maismehl und Fischmehl, das gebraten zwar scheußlich schmeckte, aber wovon man wenigstens satt wurde.
Da wir zu Dritt selbst nur von meinem kleinen Malerlohn leben mussten, hatten wir kaum eigene Mittel, um die Not zu lindern. Die wenigen Spenden, die wir erhielten, reichten kaum aus, um unser Schulprojekt in Ecuador ausreichend zu versorgen, so dass der Schulunterricht jetzt nur noch am Wochenende stattfand. Der Lehrer Abraham Mora war nicht mehr bereit, die Kinder umsonst zu unterrichten und war wieder nach Guayaquil gezogen zusammen mit seiner Frau Rosita. Die Kinder gingen in der Woche jetzt wieder in staatliche Schulen, sofern sich die Eltern den Unterricht dort leisten konnten. Leider hatten die Brüder zu viel Geld in den Bau der Schule gesteckt, ohne sich eine finanzielle Rücklage zu schaffen. Denn letztendlich war doch der Unterricht selbst – und sei es im Freien – das, was wir ursprünglich finanzieren wollten. Unter solchen Voraussetzungen sah Ruth kaum noch eine Chance, am Ende des Jahres nach Ecuador auszuwandern. Oft schimpfte sie mit mir, ich solle mir doch lieber wieder einen Nebenjob suchen anstatt am Wochenende stundenlang biblische Abhandlungen zu schreiben (ich hatte im Winter an der 49 Seiten langen Rezension eines Buches von Christian Briem geschrieben mit dem unbescheidenen Titel: „Gründliche Widerlegung der Vorentrückungslehre“).
Ich schaute also wieder in die Zeitung nach einem Nebenjob, den ich auch am Wochenende ausüben könnte und stieß auf das Inserat einer Immobilienfirma. Zum Vorstellungstermin lud mich die Firma BASIS in ein Großraumbüro in die Innenstadt ein. Zwei Herren in feinen Anzügen erklärten mir zunächst, dass es nicht um eine Anstellung, sondern um eine freie Mitarbeit auf Provisionsbasis ginge, nämlich um die Vermittlung von Immobilien als Investitionsanlage. „Und was muss ich da machen?“ fragte ich. „Sie sollen in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis einfach mal fragen, ob jemand Interesse habe, eine Wohnung ganz ohne eigenes Geld zu erwerben.“ – „Aber wie soll das gehen?“ – „Schauen Sie: Wir haben ein Finanzierungskonzept erarbeitet, bei welchem der Erwerber allein durch die laufenden Mieteinnahmen seinen Immobilienkauf monatlich tilgen kann, so dass er im Prinzip nach dem Ablauf der Finanzierung stolzer Immobilienbesitzer geworden ist, ohne je von seinem eigenen Geld etwas beisteuern zu müssen.“ Dann erklärten sie mir ausführlich das Konzept, und ich war total geplättet, wie einfach und genial dieses Geschäft funktionierte. „Wenn sie das, was wir Ihnen eben erklärt haben, Ihren Kunden genauso erklären, dann werden sie an der Vermittlungsprovision von 5 % beteiligt. Am Anfang bekommen sie 1 %, nach einem Jahr 2 % und nach zwei Jahren sogar 3 %. Bei einer Wohnung im Wert von 100.000,- DM wären das mal eben zwischen 1.000 bis 3.000 DM schon bei einem einzigen erfolgreichen Vermittlungsgespräch! Und keine Sorge, wenn Sie jetzt noch nicht alles verstanden haben: nächsten Mittwoch bieten wir hier in unseren Räumlichkeiten eine Schulung für alle neuen Mitarbeiter an, wo Ihnen das noch einmal genau erklärt wird.“ – „Aber wenn ich jetzt einen Kunden werbe, – woher haben Sie die Immobilien?“ wollte ich wissen. „Die werden uns von den Banken zur Vermittlung angeboten z.B. nach Zwangsvollstreckungen.“
Bevor ich wieder ging, gaben mir die beiden freundlichen Herren den Tipp, dass ich am Mittwoch mit Anzug und Krawatte erscheinen solle, da dies in der Geschäftswelt so üblich sei und einen seriöseren Eindruck mache. Als ich an der Bushaltestelle stand, dachte ich über all das Gehörte nach. Mir schienen all diese Erklärungen völlig plausibel, und auch von der Bibel her konnte ich keinerlei Begründung sehen, warum man nicht solche Vermittlungen betreiben dürfe; denn schließlich sei ja jede wirtschaftliche Betätigung immer auch mit einem Mehrwert verbunden, sonst würde man sie ja gar nicht machen. Und in diesem Fall hätte jeder etwas davon, auch der Kunde, der auf diese Weise leicht an eine Altersvorsorge kommt, ohne dabei ein Risiko einzugehen, da die Immobilie ja seinen Kredit absichert. Wenn ich aber schon im ersten Jahr bei jeder Vermittlung 1000 DM kassieren könnte, dann würde sich das bei mehreren Kunden schon bald gar nicht mehr lohnen, als Maler zu arbeiten. Und dann hätte ich noch mehr Zeit, um dann richtig viele Kunden zu gewinnen. Ich könnte ganz nebenbei dann auch noch Auslandsimmobilien vermitteln, so dass ich auch noch den Geschwistern in Südamerika helfen könnte…
Während ich an der Haltestelle so vor mich hin grübelte, hielt plötzlich Ruth neben mir auf dem Fahrrad an und sagte grinsend: „Du bist so in Gedanken vertieft, dass Du mich gar nicht bemerkt hast. An was denkst Du?“ Ich sagte: „Ich habe gerade einmal ausgerechnet, wieviel Geld ich in Zukunft mit Immobilien verdienen würde…“ Da musste Ruth laut lachen und machte sich lustig über meinen Ehrgeiz, indem sie mich imitierte, wie ich gerade mit dem Taschenrechner meine Gewinne berechnen würde. Da mussten wir beide herzhaft lachen. Ruth erzählte mir, dass sie beim Arzt war und der ihr nun eine Einweisung ins Krankenhaus gegeben hatte wegen ihrer ständigen Rückenschmerzen. Aber ich konnte ihr nur mit einem halben Ohr zuhören, da ich noch immer von der Vorstellung berauscht war, dass bald endlich unsere Armut vorbei sei. Als ich am Mittwoch dann von der Arbeit nach Haus kam, wusch ich mir schnell die Farbe von den Fingern und zog mir mein weißes Hemd mit Krawatte und violettem Blouson an, um sogleich zur Verabredung zu fahren. Da ich in der Stadt noch etwas Zeit hatte, ging ich zu Aldi und kaufte zwei Tüten voll ein. Nun musste ich aber rennen, denn die Veranstaltung hatte bereits begonnen. Ich rannte die Treppen des Firmengebäudes hoch und ging durch die Glastür auf den Konferenzraum zu. Als ich die große Flügeltür aufmachte, schauten mich auf einmal etwa 50 Geschäftsleute an, denn die Tür war genau hinter dem Redner auf der Bühne. Dieser drehte sich zu mir um, sah meine Aldi-Plastiktüten und sagte lächeln: „Ach, Herr Poppe, wie man sieht, waren sie gerade bei Aldi…“ Alle lachten, und ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber wo hätte ich die Einkaufstüten sonst lassen sollen…
Der Redner war der feine Herr vom letzten Mal. Er sprach etwas über Finanzminister Theo Weigel, der uns Deutschen unser sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen wolle und dass das Verspechen von Arbeitsminister Norbert Blüm, „die Renten seien sicher“, eine Lüge gewesen sei. Vielmehr müsse jeder heute sehen, wie er für die Zukunft vorsorge, und das sei ein unschlagbares Argument. „Versuchen Sie, besonders die dicken Fische zu überzeugen, denn dann können wir diesen gleich ein ganzes Mehrfamilienhaus vermitteln – um so besser für Ihre Provision!“ In der Pause gab es dann belegte Brötchen vom kalten Buffet, an dem sich jeder kostenlos bedienen konnte. Mir war jetzt klar geworden, dass man im Immobiliengeschäft die höchsten Gewinnmargen erzielen konnte. Denn wenn ich z.B. Bratwürste für 2 DM verkaufen würde, die mir 1,35 DM pro Stk kosten würden, müsste ich erst 3.000 Stück verkauft haben, um 2.000 DM an Gewinn zu haben. Das gleiche Geld würde ich aber auch ohne großen Aufwand durch die Vermittlung von zwei Wohnungen verdienen. Zudem konnte ich die ganzen Probleme in Deutschland von Rezession über Rentenloch und drohende Arbeitslosigkeit bis hin zum Sozialabbau auch gut als Argumente zum Auswandern verwenden, so dass ich auch den ärmeren Kunden etwas anbieten kann, das für sie verheißungsvoll klingen wird. Und wenn dann auch noch die armen Geschwister in Ecuador dran mitverdienen, dann ist doch allen geholfen! Neben der Vermittlung einer Immobilie können wir den Auswandererfamilien auch die Instandsetzung der Häuser und die Behördengänge und Übersetzungen anbieten, um sich im Land besser zurechtzufinden. Ich musste dieses Projekt jetzt nur noch den deutschen Geschwistern in einem Rundbrief vorstellen, damit sie es mittragen im Gebet. Also schrieb ich einen Rundbrief mit dem Titel „Arbeit statt Almosen“, in welchem ich den Geschwistern erklärte, dass es allemal besser sei, wenn Brüder in Ecuador durch die Beschaffung und Renovierung von Häusern zukünftig ihr eigenes Geld verdienen können, als wenn sie immer nur auf unsere Spenden angewiesen wären.
Zwischen allen Fronten
Die Reaktion der Gläubigen ließ nicht lange auf sich warten, – und sie war ernüchternd und enttäuschend. Thomas Schaum übernahm stellvertretend für die anderen die Aufgabe, mir in aller Deutlichkeit die „erheblichen Sorgen“ und Zweifel der Brüder mitzuteilen, dass ich mich aus ihrer Sicht „nicht mehr völlig in den Bahnen der Gerechtigkeit und Gottseligkeit … bewegen“ würde, sondern inzwischen „schon abgeirrt sei vom schmalen Weg“, da ich ja als Anlageberater und Immobilienvermittler „aus der Not anderer Kapital schlagen“ und dem ungerechten Mammon nachjagen würde. Anstatt auf Gottes Hilfe und die Spendenbereitschaft der Geschwister zu vertrauen, würde ich nun „krampfhaft nach geeigneten Einnahmequellen suchen“, wobei mir wohl mittlerweile jedes Mittel recht sei. Dass ich obendrein auch noch monatelang mit zwei Frauen auf 16 m² zusammengelebt habe und eine von diesen sogar „inzwischen illegal in Deutschland lebe“, sei für Thomas ein deutliches Zeichen meiner Instinkt- und Gewissenlosigkeit. Einhellig waren nun alle der Meinung, dass ich noch „unreif“ sei, nach Ralf Schiemann sogar ein „aufgeblasener Neuling“ (1.Tim.3:6) und ich hätte ein „onkelhaftes Getue“ (Lukas Schäbs).
Diese Kritik traf mich hart. Denn Thomas war ja nicht nur der Führer unter all meinen Freunden, sondern einer, den ich immer besonders bewundert hatte. Jetzt aber hatten sie sich alle gegen mich gekehrt, sei es Ralf Schiemann, Friedemann Bottesch oder Ralf Daubermann – alle jene, die mir immer so viel bedeutet hatten. Sollte ich mich nun ihrem Urteil beugen und all meine Aktivitäten abblasen? Dann würde ich mich ihnen für immer zum Sklaven machen und müsste ganz auf eine eigenständige Geistesleitung verzichten. Doch als ob Gott mich trösten wollte, erhielt ich am nächsten Tag einen Brief von Bernd Fischer, der mir Zuspruch gab: „Zunächst möchte ich Dir sagen, daß Dein Anliegen, den Brüdern in Südamerika zu helfen, prinzipiell biblisch und gut ist. Es ist auch gut, dass Du Dir darüber selbst Gedanken gemacht hast, wie Du den Brüdern helfen könntest und dazu einen Plan erdacht hast. Es ist nicht biblisch, nur Gott die Initiative zu edlen Werken zu überlassen. Für Ihn bedeutet es keine Beschneidung Seiner Ehre, den Rat<schluß> Seiner Beauftragten vollführen zu lassen (Jes44,28).“ Ich schlug die Stelle in der Bibel nach: „Der das Wort seines Knechtes aufrichtet und den Plan Seiner Boten ausführt…“. Gott lässt uns also eine gewisse Freiheit in den Entscheidungen und Plänen, mit welchen wir Ihm dienen wollen. Da wurde mir bewusst, dass sich Thomas und die anderen in ihrer Kritik im Grunde gar nicht wirklich auf eine Aussage Gottes berufen konnten, sondern es sich eigentlich nur um Einschüchterungen handelte, die auf Vorurteilen und Unterstellungen beruhten. Sie mischten sich in etwas ein, was sie gar nichts anging und dichteten mir böse Motive an. Dabei hat der HErr uns einfach nur geboten: „Handelt, bis ich wiederkomme!“ (Luk.19:13) und jeder wird eines Tages selbst dem HErrn Rechenschaft geben für sein Tun und Lassen.
Der Brief vom Bernd hatte mich bestärkt, nun erst recht aktiv zu werden. Von nichts kommt nichts. Also setzte ich mein Landhaus von nun an regelmäßig in die Zeitung, auch in überregionalen Anzeigeblättern, so dass schließlich Interessenten aus ganz Deutschland mich anriefen. Gleichzeitig ließ ich mir von Bruder Nelson Anzeigenseiten mit Immobilienangeboten schicken, die ich übersetzte und allen Auswanderungs-Interessierten in monatlichen Rundbriefen per Post zusandte. Um die Ernsthaftigkeit der Interessenten zu prüfen, erbat ich von jedem meiner Kunden monatlich 20,- DM als Aufwandsentschädigung, die sie mir dann auch tatsächlich zahlten. Es dauerte nicht lange, da hatte ich eine Liste von rund 80 Interessenten, von denen etwa 15 auch meinen Rundbrief abonnieren wollten. Unter den Interessierten waren z.T. auch richtige Geschäftsleute, die selber ausländische Immobilien anboten: Einer handelte mit Immobilien in der Dominikanischen Republik („Carribean Invest“) und lud mich in seinem Brief zur Partnerschaft ein. Er schrieb mir: „Vielleicht könnten Sie am kommenden Sonntag mit mir mal rüberfliegen, um sich vor Ort die Dom.-Rep. anzusehen […] Von dort könnten wir ja auch einen Sprung rüber nach Ecuador machen. Bitte geben Sie mir umgehend Nachricht.“ – „Mal rüberfliegen“? Hatte er etwa ein Privatflugzeug? Er konnte ja nicht wissen, dass ich nur ein armer Schlucker war, der noch kaum etwas erreicht hatte im Leben.
Doch dann hatte ich auf einmal tatsächlich meinen ersten Vermittlungserfolg: Ein Schweizer namens Emil Kiechle wollte sich ein mehrere Hektar großes Grundstück im Urwald von Ecuador kaufen, um dort eine Seifenfabrik bauen zu lassen. Er hatte zu diesem Zweck kurz zuvor günstig eine Produktionsstraße ersteigert und wollte diese in Containern rüberschiffen lassen. Er hatte sich zuvor gut über die Absatzchancen in Südamerika informiert, und von den niedrigen Personal- und Rohstoffkosten versprach er sich einen satten Gewinn. Und tatsächlich – um es vorab zu sagen – nachdem der Kauf ein Jahr später geklappt hatte, überwies er mir eine Provision, die ich dann mit den Geschwistern in Ecuador teilte. Und auch an die Immobilienfirma BASIS konnte ich einen ersten Kunden vermitteln, nämlich meinen Arbeitskollegen Ralf Petereid. Er ging mit seiner Frau und mir dort ins Büro, ließ sich das Geschäftsmodell erklären und unterschrieb schließlich den Vermittlungsvertrag. Er sollte nun Besitzer einer Mietwohnung in Bremerhaven werden, und ich – nach der notariellen Beurkundung – sollte eine Provision von 800,- DM bekommen! Na also – dachte ich – es funktioniert doch!
Ein paar Wochen später rief mich ein Immobilienmakler aus Bremen an, der meine Annonce gelesen hatte, und lud mich zu sich in sein Büro ein. Er fand die Idee faszinierend, Häuser an Auswanderer zu verkaufen und bot mir die Möglichkeit einer Zusammenarbeit an. „Ich war schon mal in Brasilien und muss sagen, dass in Südamerika die schönsten Menschen der Welt leben“ schwärmte er. Wir plauderten noch eine Weile über den Immobilienmarkt, und ich erzählte ihm beiläufig von dem Null-Kosten-Modell der Firma BASIS. „Von der Firma habe ich noch nie gehört, und auch ihr Geschäftskonzept klingt ziemlich unseriös. Da würde ich sehr vorsichtig sein an Ihrer Stelle…“ – „Aber was sollte daran denn unseriös sein? Die Kunden brauchen ja noch nicht einmal selbst etwas für die Wohnungen bezahlen, weil diese sich allein durch die Mieteinnahmen finanzieren. Ich wüsste nicht, wo daran ein Haken sein soll…“ – „Weil es oftmals Betrügerfirmen sind, die den Leuten Schrottimmobilien andrehen, für die es gar keine Mieter gibt! Hat sich Ihr Kollege die Wohnung auch mal selbst angeschaut, in welchem Zustand sie ist? Wenn es nämlich keine Mieter für das Objekt gibt, dann muss er nämlich selbst für den Schrott bezahlen, ohne dass er etwas davon hat.“
Das klang für mich sehr alarmierend. Deshalb ging ich unverzüglich zur Firma BASIS, um sie mit diesen Infos zu konfrontieren und zu hören, was sie sagen würden. Außerdem hatten sie mir noch immer nicht die 800,- DM Provision überwiesen und gingen zuletzt auch nicht mehr ans Telefon, wenn ich sie anrief. Als ich die Treppe zum 3.Stock erreicht hatte, sah ich durch die Glasscheiben zu meinem Erschrecken, dass die Büroetage leergeräumt war. Sie waren unbekannt verzogen. Vielleicht ermittelte schon die Staatsanwaltschaft gegen sie… Enttäuscht fuhr ich nach Haus und erzählte Ruth von diesem Reinfall. Sie sagte: „Seit Monaten versuchst du nun schon, nebenbei durch Provisionsgeschäfte Geld zu verdienen, aber bisher hast du dadurch noch keine einzige Mark nach Haus gebracht. Der HErr will dir dadurch vielleicht zeigen, dass du lieber als Maler mit deinen eigenen Händen arbeiten sollst im Schweiße deines Angesichts, und nicht immer diese Geschäftemacherei!“ Ruth hatte recht. Ich hatte meine Zeit mit Träumereien vom schnellen Geld vergeudet. Stattdessen sollte ich an den Wochenenden lieber das machen, was ich am besten kann, nämlich Malern. Aber noch immer gab es das Problem mit dem fehlenden Meisterbrief. Wie sollte ich Werbung für meine Dienste machen, wenn ich gar keine Arbeitsberechtigung hatte?
Juni bis Dezember 1994
Schwarzarbeit
In der Bibel steht: „Durch Gesetzlosigkeit erworbene Reichtümer nützen einem nichts, aber Gerechtigkeit errettet vom Tode“ (Spr.10:2). Jedoch redete ich mir ein, dass ich als Diener Gottes das Recht hätte, mich über kleinliche Gesetzesvorschriften hinwegzusetzen. Hatte nicht auch David von den Schaubroten gegessen, die eigentlich nur für die Priester bestimmt waren? Einer gründlichen theologischen Prüfung hätte dieser Vergleich sicher nicht standgehalten, aber um mein Gewissen zu besänftigen, genügte er mir. So rief ich meinen Onkel Detlef an und fragte ihn, ob er vielleicht Malerarbeiten für mich hätte. Und siehe da: Ich durfte nicht nur sein eigenes Haus in Osterholz von außen streichen, sondern auch noch die Fassade seines vermieteten Hauses in Findorff. Ruth begleitete mich einmal und erzählte meinem Onkel, der unter Depressionen litt, vom HErrn Jesus. Als ich die Aufträge beendet hatte, bezahlte mir Detlef einen Stundenlohn von 20,- DM. Ich war sehr glücklich, denn endlich hatten wir genug Geld, um auszuwandern. Als nächstes erhielt ich einen Auftrag von einem Versicherungsmakler, den ich wohl bei einem dieser Seminare kennengelernt hatte. Ralf Lautenschläger wollte, dass ich die alte Farbe von seinem Reihenhaus entferne und es ganz neu streiche. Auch mit ihm vereinbarte ich 20,-DM Stundenlohn. Zu jener Zeit hatte mich abends mein Bruder Marcus besucht, der noch immer versuchte, durch den Verkauf von Telefonkarten Geld zu verdienen. Ich erzählte ihm von meinem Beruf und fragte ihn, ob er nicht auch mal als Maler arbeiten wolle. Marcus nahm diesen Vorschlag gerne an. Dann fragte ich Ralf, mit dem ich mich duzte, ob er auch meinen Bruder als Aushilfe arbeiten lassen würde für 10,-DM/Std. „Mir geht es hier nicht ums Geld, sondern darum, dass ich meinem Bruder etwas beistehen kann, da er psychisch sehr labil ist. Es gibt ja viele anstrengende Vorarbeiten, die er genauso gut machen kann wie ich, aber ich würde dadurch schneller vorankommen. Und Du bräuchtest trotzdem nur 10,- DM/Std. als Anerkennung zahlen.“ Ralf war jedoch unsicher und wollte erst einmal sehen, wie Marcus arbeiten würde. Doch Marcus zeigte vollen Einsatz und kratzte die ganze Woche gründlich die alte Farbe von der Dachrinne und den Wänden.
Als schließlich der Auftrag fertig war, gab ich dem Kunden meinen Stundenzettel. Zu meiner Überraschung wollte Ralf aber keinen Pfennig für Marcus bezahlen, da er ihn schließlich nicht beauftragt hatte. „Aber du hast doch gesehen, wie fleißig er war, und dass ich durch seine Mithilfe viel eher fertig wurde. Davon hast du doch richtig profitiert!“ – „Das mag ja sein. Aber vereinbart hatten wir nun einmal nur 20,-DM für dich. Ich hatte dir erlaubt, dass dein Bruder dir helfen konnte, aber ich hatte dir nicht versprochen, auch ihn zu bezahlen. Außerdem hast du doch gesagt, dass es dir nicht ums Geld gehe, sondern du nur deinen Bruder bei dir haben wolltest. Also – was willst du!“ – Ich war empört über diese Kaltschnäuzigkeit und sagte: „Du solltest Dich wirklich schämen, meinem Bruder nichts zu geben für all seine Mühe! Aber ich werde ihm nichts von deiner Bosheit sagen, um ihn nicht zu kränken, sondern werde ihm seinen Stundenlohn von meinem Geld bezahlen, selbst wenn ich dann nur für 10,- DM gearbeitet hätte. Aber an deiner Stelle würde ich schamrot werden über so ein lumpiges und erbärmliches Verhalten!“ Nun wurde aber auch Ralf wütend: „Hör mal, Bürschchen! Wir können das auch ganz anders machen: Du bist ja mit deinem Abbeizer an ein paar Stellen gegen die Kunststofffenster gekommen und hast dadurch kleine Flecken verursacht – Was hältst du davon, wenn ich von dir jetzt neue Fenster verlange? Ich kann die dann mit deinem Lohn verrechnen, und dann steht dir gar nichts mehr zu! Wollen wir das so machen?“ Ich platzte fast vor Wut, aber bevor ich etwas sagen konnte, rief Ralf: „Pass gut auf, was du jetzt sagst! Ein falsches Wort – und ich werde von dir Schadenersatz verlangen für die Flecken auf den Fenstern!“
Ich unterdrückte mein inneres Toben, da ich einsah, wie ohnmächtig ich ihm ausgeliefert war. Ich konnte mich noch nicht mal auf Jak.5:4 berufen, wo von dem vorenthaltenen Lohn der Arbeiter die Rede ist, denn rein rechtlich gesehen stand mir dieser Lohn ja tatsächlich gar nicht zu. Eher wurde ich an jenen Mann Micha erinnert aus dem Richterbuch 17-18, der sich über die Räuber aus dem Stamm Dan beklagt hatte, die mit dem Recht des Stärkeren ihm sein Hab und Gut vor seinen Augen wegnahmen und ihm dazu noch drohten, er solle den Mund halten, um nicht auch noch getötet zu werden (Richt.18:24-25). Ebenso hatte auch ich durch meine Gesetzlosigkeit jedes Recht verwirkt, um mich über dieses Unrecht zu beschweren.
Nachdem ich meinem Bruder seinen versprochenen Lohn ausgezahlt hatte, fuhr ich mit dem Fahrrad nach Haus. Auf der 10 km langen Strecke zur Weizenkampstr. 146 hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich hasste mich dafür, dass sich meine Gedanken in letzter Zeit nur noch um die Sorge nach dem Geld kreisten und nicht mehr wie früher um die Frage, wie ich dem HErrn gefallen könnte. Wie enttäuscht musste Gott inzwischen von mir sein, dass ich ständig faule Kompromisse einging, anstatt in völliger Abhängigkeit zu Ihm auf Seine Fürsorge zu vertrauen! Schon lange hatte ich nicht mehr den Eindruck, dass der HErr meine Gebete überhaupt noch erhört. Wahrscheinlich hatte Er sich längst zurückgezogen und musste sich meiner schämen. Oder vielleicht hatte Er mich sogar als lauen Christen bereits aus Seinem Mund ausgespien, und ich hatte es nur noch nicht bemerkt! Ich sehnte mich danach, dass Gott mir doch mal ein Zeichen Seines Wohlwollens geben möge! Aber stattdessen schien es mir, als wäre Gott sehr wütend und enttäuscht von mir und würde mich mit Seinen Gerichten bestrafte. Wie oft hatte ich Ihn z.B. angefleht, dass Er doch Ruth heilen möge von ihren Rückenschmerzen, aber es wurde einfach nicht besser. Und wie oft haben wir schon gebetet, dass der HErr uns doch ein Kind schenken möge, aber Ruth wurde einfach nicht schwanger. Als würde Gott uns damit sagen wollen, dass wir bis jetzt keine Frucht gebracht haben…
Als ich zuhause ankam, merkte ich, dass ich meinen Schlüssel nicht dabeihatte. Ich klingelte, aber keiner machte auf. Ruth war in diesen Tagen im Krankenhaus, aber Raquel müsste eigentlich bald zurück sein von ihrer Putzstelle, die wir ihr besorgt hatten. Ich stieg wieder aufs Fahrrad und fuhr zu Raquels Firma. Aber da war sie nicht mehr. Also fuhr ich wieder zurück in der Hoffnung, dass sie inzwischen zuhause angekommen war. Aber schon wieder machte keiner auf. Also fuhr ich die Weser runter zur Roland-Klinik, um mir von Ruth den Schlüssel geben zu lassen. Auf einmal erkannte ich, was Gott mir damit sagen wollte: Wenn ich nicht bald mein Leben ändern würde, dann werde ich zu den Törichten Jungfrauen zählen, die vom Reich Gottes ausgeschlossen werden. Ich dachte auch an jenen fruchtlosen Baum, von dem der HErr sagte: „Schon drei Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum, und finde sie nicht. Haue ihn ab! Denn warum sollte er weiter mein Land verschandeln!“ (Luk.13:7). Unter Tränen flehte ich Gott um Geduld an, dass Er mir doch noch einmal gnädig sei und mich belebe. Ich erbat ein Zeichen Seiner Gunst von Ihm: „Wenn ich jetzt gleich im Krankenhaus ankomme und Ruth antreffe, um mir ihren Schlüssel zu geben, dann weiß ich, dass der HErr mir nochmal eine Chance geben wolle!“
Als ich Ruths Krankenzimmer betrat, war ihr Bett leer. Sofort kamen mir die Worte in den Sinn: „Die eine wird angenommen und der andere zurückgelassen werden“ (Luk.17:35). Die Zimmernachbarin sagte, dass Ruth an der Weser spazieren gehen würde. Aber ich hing noch immer wie benommen der Gewissheit an, dass Gott mich inzwischen verworfen habe. Es war aus und vorbei. Ich hatte das Maß überschritten und Gottes Geduld war nun am Ende mit mir. Als ich Ruth von ferne am Ufer sitzen sah, konnte ich mich kaum noch freuen, denn ich spürte das Entsetzen der Verzweiflung und des Verlorenseins. Als ich Ruth begrüßte, ließ ich mir nichts anmerken: „Hast Du Deinen Haustürschlüssel? Denn ich hatte meinen leider vergessen.“ Sie lächelte und gab mir ihren. Und auf einmal keimte ein wenig Hoffnung auf – vielleicht würde der HErr mir doch noch einmal gnädig sein, wenn ich mein Leben radikal ändern würde. Statt nach irdischen Schätzen wollte ich von nun an Schätze für das Reich Gottes sammeln, d.h. den Leuten vom HErrn Jesus erzählen und mich um die Benachteiligten kümmern! Wie der HErr sagt: „Trachtet zuerst nach Gottes Reich und Seiner Gerechtigkeit, und alles andere wird euch hinzugefügt werden“ (Mat.6:33).
Rubin Rousseau
Die Ehe meiner Eltern hing mittlerweile nur noch am seidenen Faden. Ständig beschwerte sich meine Mutter über meinen Vater, nicht nur vor uns, sondern auch vor der Gemeinde. Der Prediger Michael Flemming hatte meine Eltern über einen längeren Zeitraum beraten und meine Mutter seelsorgerlich betreut. Doch inzwischen hatte er sich der Einschätzung meiner Mutter voll und ganz angeschlossen, dass mein Vater der Alleinschuldige sei an dieser Dauerehekrise, weil er meine Mutter durch seine übertriebene Sparsamkeit und sein mangelndes Taktgefühl ständig auf die Palme brachte. Michael forderte, dass man meinen Vater aus der Gemeinde ausschließen sollte, doch die Ältesten waren dagegen und baten meine Eltern, dass sie sich doch einfach mal vertragen mögen.
Unterdessen gab es in jener freikirchlichen Bibelgemeinde seit einiger Zeit einen aus Südafrika zugezogenen, deutschen Familienvater namens Rubin Rousseau, der sich als Evangelist und Eheberater verstand und sich um meinen Vater kümmern wollte. Die ganze Gemeinde lehnte ihn jedoch ab, weil er ein Spinner und Hochstapler sei, der ständig nur provozierte. Es hieß, dass er in seiner Hochhauswohnung ein riesiges Aquarium habe mit einem echten Hai, und dass er seinem erstgeborenen Sohn den Namen „Friede mit Gott allein durch Jesus Christus“ gegeben habe. „Der Kerl ist doch verrückt!“ sagte mein Vater „Wenn er in der Gemeinde betet, dann bittet er Gott, dass Er doch alle Seine Feinde vertilgen und die Katholische Kirche als Hure Babylon entblößen möge. Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank!“ Irgendwie war mir dieser Rubin dadurch erst recht sympathisch. Auch Jesaja hatte seinem Sohn einen eher ungewöhnlichen Namen gegeben: MaHeR-SchaLaL-HaSch-BaZ „Es-eilt-der-Raub-bald-kommt-die-Beute“ (Jes.8:3).
Ich sprach Rubin an, ob ich ihn mal besuchen kommen könne. Da er Evangelist sei, würde ich gerne mit ihm evangelisieren. Er war hoch erfreut darüber und lud mich zu sich ein. „Sag mal, wie kamst Du auf die Idee, Deinem Sohn einen so langen Namen zu geben?“ – „Damit jeder, der ihn nach dem Namen fragt, sogleich auch die Heilsbotschaft erfährt. Letztens ist Frieden z.B. in eine Bank gegangen, um sein erstes Konto zu eröffnen. Als der Bankangestellte seinen Namen eintragen wollte, sagte mein Sohn: ‚Frieden mit Gott allein durch Jesus Christus‘. Darauf sagte der Angestellte: „Nee, ich wollte nur deinen Namen wissen, nicht dein religiöses Bekenntnis.“ Da musste ich lachen. „Aber mal im Ernst: Ist solch ein Name überhaupt zulässig in Deutschland?“ – „Nein. Als wir bei der deutschen Botschaft Pässe beantragen wollten, weigerte sich die Beamtin. Aber da mein Sohn in Südafrika geboren wurde und dort ein solcher Name erlaubt ist, waren die deutschen Behörden am Ende gezwungen, seinen Namen so in seinen Pass einzutragen.“
Mit seinem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart und seiner fidelen Art wirkte Rubin zwar tatsächlich etwas exzentrisch, aber mir schien, dass er das Herz am rechten Fleck hat. Also besuchte ich ihn und lernte dadurch auch seine Frau Edith kennen und seine sechs Kinder, die er mir der Reihe nach vorstellte: „Noch sind es sechs, aber ich wünsche mir auch noch ein siebtes Kind, denn sieben ist die Zahl der Vollendung. Ich muss nur noch meine Frau davon überzeugen…“ und dann rief er in die Küche: „Nicht wahr, Liebste, ein Kind wollen wir doch noch haben, nicht wahr?“ Edith rief zurück: „DU willst noch eines, aber ich hab‘ immer die ganze Arbeit mit den Kindern. Sei doch dankbar für die sechs Kinder, die Du schon hast!“ Ich fragte Rubin: „Was machst Du eigentlich beruflich?“ – „Ich bin offiziell arbeitslos, aber das heißt nicht, dass ich nicht arbeite. Ich bin nämlich ein sehr kreativer Mensch und habe immer neue Geschäftsideen. Wenn eine von diesen erfolgreich ist, werde ich mich damit selbstständig machen. Zum Beispiel habe ich gerade Äste gesammelt und will in diesen eine Graphitmiene hineintun, um sie als Bleistifte zu verkaufen. Denn wer hat schon einen selbstgemachten Bleistift!“ – „Keiner“, sagte ich, „aber die Frage ist, wer denn überhaupt einen selbstgemachten Bleistift haben will. Also ich z.B. würde dafür kein Geld ausgeben.“ Dann erzählte ich Rubin, dass ich auch schon einiges versucht hatte, um nebenberuflich Geld zu verdienen, aber dass der HErr mir gezeigt habe, dass ich lieber in die Mission gehen sollte nach Südamerika. „Hast du eigentlich eine Waffe?“ fragte er mich unvermittelt. „Ich könnte dir nämlich eine schenken.“ – „Was soll ich mit einer Waffe?“ entgegnete ich irritiert. „Na, wenn du in ein armes Land gehst, dann kannst du doch jederzeit überfallen werden! Ich wäre z.B. in Südafrika nie ohne Waffe auf die Straße gegangen, denn das ist viel zu gefährlich.“ Nun stand er auf und holte aus einer Schublade einen Revolver, den er mir übergab. „Hier, schenk ich dir“ sagte Rubin. „Ist der echt?“ fragte ich. „Ja, natürlich. Aber schießen kannst du damit nicht. Er dient lediglich der Abschreckung. Jesus hat uns ja empfohlen, dass wir eine Waffe mitnehmen sollen. Wir dürfen zwar niemanden töten, aber durchaus durch Abschreckung verhindern, dass wir selbst getötet werden“. Ich gab den Revolver wieder zurück: „Nein, danke, der HErr beschützt mich auch schon so.“
Wir verabredeten uns für den nächsten Samstag, um gemeinsam zu evangelisieren. Da Ruth samstags immer nach Hannover musste zur Bibliothek der Tierärztlichen Hochschule, machte ich den Vorschlag, dass wir ja auch zusammen mit ihr in Hannover Traktate verteilen könnten. Als wir dann am Samstag Rubin abholen wollten, sagte Rubin freudestrahlend: „Simon, ich habe übrigens auch noch ein anderes Projekt, mit welchem ich mich selbstständig machen will – und zwar werde ich Reiseleiter für Abenteuerreisen!“ Noch bevor ich etwas sagen konnte, brachte er mir eine Art Poster aus Fotokartonpapier, das wie eine Zeitung beidseitig und mehrspaltig beschrieben war mit vielen kleinen Fotos. „Was soll das sein?“ fragte ich irritiert. „Das ist mein Werbeflyer, den ich gezielt an Interessierte weitergebe.“ – „Aber warum ist der so groß?“ – „Weil man einen gewöhnlichen Werbeflyer einfach unbeachtet wegwirft. Dieser aber ist mit seinen 1,20 x 0,80 Meter so groß, dass man ihn nicht einfach unbeachtet weglegen kann, sondern neugierig wird, was drinnen steht.“ – „Aber warum sollte man sich die Zeit nehmen, das alles durchzulesen?“ – „Weil es spannend ist! Lies doch mal!“ Ich begann, die kleingedruckten Texte zu überfliegen. „Du willst mit den Leuten Survival-Trips in den Regenwald von Afrika machen? Ist das nicht gefährlich?“ – „Das ist speziell für Leute, die den besonderen Kick suchen.“ – „Und hier steht, dass Du mit ihnen ‚in der Südsee von einer Insel zur nächsten fahren‘ würdest. Wie willst Du das denn bezahlen?“ – „Die Leute müssen mich dann natürlich auch bezahlen, denn so eine Reise kostet locker 5.000,- DM.“
Ich las weiter. „Warum schreibst Du denn hier auch noch eine Biographie, dass du von den Hugenotten abstammst usw.? Das gehört hier doch gar nicht rein! Wer will das denn wissen?“ – „Die Kunden werden doch wissen wollen, mit wem sie es zu tun haben auf der Reise, schließlich müssen sie mir ja 100 % vertrauen. Hier weiter unten erkläre ich ihnen auch das Evangelium.“ Und dann standen weiter hinten jede Menge Multiple-choice-Fragen, die der Kunde in Kästchen ankreuzen sollte: „Bitte helfen Sie mir, ich habe Probleme: Eheprobleme, sexuelle Probleme, Suchtprobleme, …“ usw. „Was hat denn sowas in einem Werbefleyer zu suchen? Die Leute werden denken, dass du einen an der Klatsche hast.“ – „Da irrst du dich! Die Leute werden hier die Gelegenheit sehen, sich auf der Reise bei mir auszusprechen, und dann werde ich sie auf Jesus hinweisen, dass Er der einzige ist, der sie retten kann!“ – „Ich weiß nicht so recht. Das klingt alles sehr optimistisch. Aber vielleicht werden die Leute dadurch eher abgeschreckt…“
Als wir am Hauptbahnhof ankamen, erklärte uns Rubin, dass er immer kostenlos mit dem Zug fahre, weil es ja das Wochenend-Ticket gäbe, bei dem immer fünf Personen mitreisen könnten. Auf dem Bahngleis rief er dann laut in die Menge, wer bereit sei, mit seinem Wochendticket noch uns drei mitfahren zu lassen. Eine Studentin meldete sich und wir bedankten uns. Als ich mich dann im Zugabteil neben sie setzte, flüsterte sie mir zu: „Vielleicht können wir das dann so machen, dass jeder von Euch mir 5,-DM gibt, damit wir alle was davon haben…“ Ich war sofort einverstanden und erklärte Rubin, dass die arme Studentin uns einen fairen Vorschlag gemacht habe. Rubin aber erhob seine Stimme und sagte energisch: „Das sehe ich ja überhaupt nicht ein! Die junge Dame will uns offensichtlich betrügen, denn sie hatte uns ja schließlich eine kostenlose Mitfahrt angeboten. Jetzt aber will sie von uns Geld erschleichen…“ Ich stand auf und versuchte, Rubin zu beruhigen, und dass er nicht so laut reden möge, denn mir war es sehr peinlich, wie er sich hier benahm. Heimlich steckte ich der Studentin dann einen Geldschein zu und entschuldigte mich leise für das egoistische Gebaren meines Freundes.
Als wir ausstiegen, ging Rubin mit uns in eine Bäckerei: „Grüß Gott, wertes Fräulein! Sie können jetzt mal die ganzen Auslagen für uns eintüten – wir nehmen alles mit!“ – „Werden Sie denn auch alles bezahlen?“ fragte die Verkäuferin überrascht. „Nein, natürlich nicht! Das können Sie doch jetzt gar nicht mehr verkaufen, weil Sie gleich Feierabend haben. Wenn Sie es aber doch ohnehin verwerfen, dann können Sie die Backwaren auch uns schenken und tun damit auch noch ein gutes Werk.“ Von dieser Dreistigkeit war die junge Frau genauso entsetzt wie wir und wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte: „Was ich mit unseren Backwaren mache, das geht Sie gar nichts an. Und ich werde sie Ihnen ganz bestimmt nicht schenken!“ Als Rubin dann auch noch eine Diskussion mit ihr anfing, zog ich Rubin aus dem Laden und bat ihn, uns nicht länger so zu blamieren in der Öffentlichkeit mit seinem aufdringlichen Verhalten. „Was soll das, Rubin?! Wir sind doch hier, um die Leute zu beschenken, und nicht um Geschenke von ihnen zu fordern. Denn sonst brauchen wir gar nicht zu evangelisieren. Wir sollen Christus und nicht uns selbst als Herrn verkündigen. Und wir sollen uns Christus zum Vorbild nehmen und nicht Pipi Langstrumpf. Mir ist das wirklich schon peinlich, mit Dir zusammen zu sein. Bitte ab jetzt keine Provokationen mehr!“
Rubin machte sich jedes Mal einen Spaß daraus, wenn wir uns für ihn schämten und versuchte, seine Unsicherheit dann mit Albernheiten zu überspielen. Wir fuhren zwar noch einige Male zusammen nach Hannover, aber um mich nicht ständig mit Rubin zu blamieren, verteilte ich in Wulferode, während er in Kirchrode verteilte. Bald darauf erfuhr ich von meinem Bruder Marcus, dass Rubin schon wieder eine neue Geschäftsidee habe: Und zwar wolle er Regisseur werden und zum Einstand mit Marcus als Schauspieler einen lustigen Film drehen. In der ersten Szene, sollte Marcus einen jungen Mann spielen, der sich auf einer öffentlichen Toilette eingesperrt hatte und versuchte, über die Stellwände zu klettern. Aber Marcus fand diese Unternehmung zu albern und bat Rubin, sich jemand anderes zu suchen. Später berichtete mir Rubin stolz, dass er von einem Autohaus einen Transporter gespendet bekommen habe. „Gespendet?“ fragte ich. „Ja genau! Ich bin da reingegangen und habe dem Geschäftsführer erzählt, dass ich für einen mildtätigen Verein, der sich um Waisenkinder kümmert, Sponsoren suche, und da haben die mir einfach einen Wagen geschenkt.“ – „Aber du hast doch gar keinen Verein für arme Kinder…“ – Rubin lächelte verschmitzt: „Ja, aber das wissen die ja nicht! Und die haben noch nicht mal Nachweise verlangt!“
Der Spenderverein
Rubin war mir nicht mehr geheuer. Mir gefiel zwar, dass er immer so unkompliziert war; aber seine Unbeschwertheit hatte immer mehr eine Tendenz zur Gesetzlosigkeit. Doch brachte mich sein Bericht auf einen Gedanken: Wenn ich mit Ruth nach Südamerika auswandern wolle, dann bräuchten wir einen Spenderverein, der die Kinderheimarbeit zukünftig unterstützen könnte. Sofort kam mir der Missionsverein von Hans-Udo Hoster in den Sinn, für den ich ja mal drei Jahre zuvor in Rumänien gearbeitet hatte. Ich rief in Berlin an und fragte Hans-Udo, ob man nicht unser Kinderheimprojekt unter der Trägerschaft seines Vereins laufen lassen könnte. Der Bruder wollte dies nicht allein entscheiden und lud mich deshalb zur Jahreshauptversammlung des Vereins in den Schwarzwald ein, um meine Idee auch mit den anderen zu besprechen. So nahm ich mir Anfang Oktober ´94 eine Woche Urlaub und fuhr zur Vereinssitzung nach Süddeutschland. Dort war gerade Krisenstimmung, als ich ankam, denn Christian Jach, der Heimleiter des rumänischen Kinderheims in Tălmaciu, hatte dem deutschen Verein mitgeteilt, dass sie nicht länger vom deutschen Verein unterstützt werden wollen, da sie sich mit einem Schweizer Missionswerk verbündet hätten, dass fortan die Trägerschaft des rumänischen Heims übernehme. Damit hatte Christian auf einen Schlag dem Verein faktisch das Kinderheim gestohlen, samt ca. 300.000 DM, die der rumänische Verein bis dahin für die Versorgung des Kinderheims empfangen hatte. Letztlich waren die Spendengelder aber ja doch den Kindern zugutegekommen, und zukünftig würden andere Gläubige sich um sie kümmern. Der Verein beratschlagte, wie es nun weitergehen solle. Mir brannte es unter den Nägeln, ihnen von meinem Kinderheimprojekt in Ecuador zu erzählen – quasi als Ersatz für das verlorengegangene Kinderheim. Aber Hans-Udo schien es verfrüht, um darüber schon zu reden, denn er musste sich selbst ja erstmal ein Bild machen. Ich sprach mit ihm im Anschluss an die Versammlung, und wir vereinbarten, dass er Anfang nächsten Jahres zu mir nach Ecuador fliegen wolle, um sich das Haus und die potentiellen Mitarbeiter dort vor Ort einmal anzusehen. Erst wenn der HErr ihm grünes Licht geben würde für die Unterstützung, wolle er auch dem Verein gegenüber dieses Projekt vorstellen.
Als ich wieder zurück nach Bremen kam, erzählte ich Ruth von den Ergebnissen. Sie freute sich über Hans-Udos Bereitschaft zur Hilfe, war aber insgesamt eher skeptisch, ob die Spenden reichen würden, um in Ecuador ein neues Leben zu beginnen. Im Sommer hatte sie eine Praktikumsstelle als Tierarzt-Assistentin bekommen, die ihr sehr viel Freude bereitete. Endlich durfte sie ihre tierärztlichen Fähigkeiten in der Praxis anwenden und wollte am liebstem jetzt gar nicht mehr auswandern. Ich überredete sie jedoch, erst einmal nach Gottes Reich und Seiner Gerechtigkeit zu trachten, zumal die Kinderheimarbeit vom HErrn einen bleibenden Lohn versprach. Innerlich hatte ich mich schon völlig von Deutschland verabschiedet und freute mich, dass wir durch das Auswandern nun völlig auf Gottes Beistand angewiesen sein würden. Inzwischen hatte sich unter den Interessenten für einen Hauskauf in Ecuador auch ein Glaubensbruder aus einer Baptistengemeinde bei mir gemeldet. Wolfgang Kopsch (ca. 40) wollte Ende des Jahres zusammen mit zwei anderen Brüdern aus seiner Gemeinde zu mir nach Ecuador reisen, um sich das Land anzuschauen und sich ggf. ein Haus zu kaufen. Der HErr schien also auch dieses Projekt zu bestätigen.
Dennoch gab es eine Sache, die mich und Ruth schwer belastete: Wir waren schon fast zwei Jahre verheiratet und hatten immer noch kein Kind. War Ruthi vielleicht unfruchtbar? Thomas hatte mich ja mal daran erinnert, dass die leibliche Unfruchtbarkeit zu den Flüchen Gottes zähle im Gesetz Mose. Diese Frage ließ uns keine Ruhe, so dass Ruth sich schließlich untersuchen ließ. Die Frauenärztin versicherte uns am Ende, dass Ruth vollkommen gebärfähig sei. Sie sagte, dass auch ich mich einmal untersuchen lassen sollte, was ich dann auch tat. Doch das Ergebnis war niederschmetternd: Der Urologe sagte mir, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein Kind zeugen könne, nur bei 0,1 % liegen würde, da meine Spermien durch Umwelteinflüsse geschädigt worden seien. Die Lösemittel, mit denen ich in meiner Lehrzeit immer meine Hände wusch, hätten Einfluss auf die Spermienproduktion gehabt. Davon abgesehen gäbe es aber auch viele andere Umweltgifte, die in den letzten Jahrzehnten allgemein die Zeugungsfähigkeit der Männer drastisch reduziert hätten. Er bot mir Hormontabletten an, sowie eine Biopsie meines Hodens, um die Ursachen für die Schädigung genauer zu ermitteln. Aber ich lehnte ab, weil ich insgeheim lieber in Gottes Hände fallen und auf Ihn vertrauen wolle, dass Er es schon gut meinen würde.
Ich war hin und hergerissen in meinen Gefühlen. Denn einerseits hatte der HErr mir meinen Kinderwunsch versagt, andererseits hatte Er mir durch die beginnende Kinderheimarbeit gleich viele geistliche Kinder verheißen, weshalb ich nicht traurig sein sollte. Bald würde es nun endlich losgehen in Ecuador. Mein Freund Joachim wollte mich mit Raquel nach Peru begleiten, um sie dort zu heiraten. So fuhren wir am 04.11.94 gemeinsam nach Peru, von wo aus ich sogleich allein weiterfuhr nach Ecuador, um dort die drei gläubigen Deutschen zu empfangen, die mit mir das Land auskundschaften wollten. Wir besichtigten zunächst unser Haus in Laurel, wo der einheimische Verwalter Apollo Sanchez mit seiner Familie wohnte. Dann sahen wir auch die 136 m² große Schule, die jedoch noch im Rohbau war und noch kein Dach hatte. Als nächstes machten wir eine Rundreise durchs ganze Land, wo wir z.B. auf dem Chimborazo in 5000 m Höhe im Schnee gingen oder in Puyo durch den Regenwald marschierten. Am Ende der Reise kaufte sich Wolfgang Kopsch schließlich ein Haus in Salinas direkt am Meer, und gab mir für die Vermittlung eine Provision, die ich mit Bruder Nelson Mogollon teilte. Über meine Erlebnisse auf der Reise schrieb ich alle zwei Wochen einen Rundbrief an die Geschwister in Deutschland, und zwar auf meinem ersten PC, einem Laptop, den ich kurz vor der Reise erwarb.
Ende November fuhr ich wieder zu Ruth nach Peru zurück, wo wir gemeinsam die Feiertage verbrachten. Durch Gottes Güte geschah es dann, dass der HErr uns doch noch eine Tochter schenkte, die 9 Monate später das Licht der Welt erblickte. Gelobt sei Gott!