April – Juni 1996
Meine Angst, zu versagen
Am 01.04. war es dann schließlich soweit, dass ich mich von meiner Frau Ruth, von meiner Schwiegermutter Lucila und von meiner 6 Monate alten Tochter Rebekka verabschieden musste, da Ruth wegen ihres Tiermedizinstudiums und ihrer Doktorarbeit für ein halbes Jahr wieder nach Peru musste. Wir waren so verblieben, dass ich dann Anfang Oktober ebenso kommen würde, um sie für zwei Monate dort zu unterstützen. Als ich an jenem Montag früh um 5.30 Uhr den Bremer Flughafen verließ, um zur Arbeit zu fahren, hatte ich noch keine Ahnung, was alles noch in jenem Sommer passieren würde und sich mein Leben von nun an vollkommen verändern würde…
In der neuen Firma wurde ich einem jungen Meister namens Claus zugeordnet, der eine kleine Truppe unter sich hatte. Mich wunderte, wie akribisch genau der Materialbedarf für jeden einzelnen Auftrag ermittelt wurde und ich fragte einen Kollegen nach dem Grund. Er sagte mir, dass der Chef ein echter Kontrollfreak sei, der seinen Mitarbeitern grundsätzlich immer misstraue, angefangen von der Einhaltung der Arbeitsleistung bis hin zum Materialverbrauch. Das störe alle so sehr, dass sie auch ihrerseits sich bewusst Freiheiten herausnehmen, indem sie z.B. regelmäßig Dinge mitgehen lassen würden. Nicht dass sie es nötig hätten, aber es bereite ihnen einfach eine gewisse Genugtuung und ein Erfolgserlebnis, zu sehen, dass der Chef mit seinem notorischen Misstrauen nichts erreichen würde. Es dauerte nicht lange, da bekam ich diesen Kontrollzwang auch selber zu spüren. Als ich an einem Morgen um 8.00 Uhr dabei war, Farbe anzumischen, kam der Chef auf die Baustelle, begrüßte mich, und fragte: „Herr Poppe, Sie sind seit 7.00 Uhr auf der Baustelle, aber rühren jetzt erst den Farbton an. Was haben Sie denn seit 7.00 Uhr gemacht?“ – „Ich habe abgeklebt und überall mit Acryl ausgefugt.“ – „Wo genau?“ – „z.B. überall in den Fensterleibungen“. – Er ging still durch die Räume und rief mich dann von weitem: „Zeigen Sie mir doch mal bitte, wo!“ Ich ging herzklopfend mit ihm in einen der Räume des leeren Bürotraktes und zeigte auf eines der Fenster. Er fasste mit seinem Finger in die Ecke und vergewisserte sich, dass das Acryl noch frisch war, um mich zu testen. Als er dann wieder wegfuhr, nahm ich mir vor, meinen zukünftigen Mitarbeitern nicht solche Schikanen zuzumuten.
Doch obwohl ich mir alle Mühe gab, so korrekt und fleißig wie´s nur irgend möglich war, zu sein, hatte ich doch immer ein Problem mit der Pünktlichkeit. Denn um pünktlich um 7.00 Uhr in der Firma zu sein, musste ich schon um kurz nach 6.00 Uhr aus dem Haus, weil die Firma weit weg war und ich zweimal umsteigen musste. Doch hatte ich jetzt wo Ruth weg war niemanden mehr an meiner Seite, der mich zur Not weckte, wenn ich nach dem Ausschalten des Weckers wieder eingenickt war. Dadurch passierte es, dass ich mich manchmal ganz schnell beeilen musste, um noch meinen Bus zu kriegen. Hatte ich diesen aber dann verpasst und musste den nächsten nehmen, kam ich manchmal erst um 7.30 Uhr an, was für meine Kolonne sehr ärgerlich war, denn alle mussten dann extra 5-10 Min auf mich warten. Nachdem ich innerhalb von 2 Wochen schon das 3. Mal verspätet kam, drohte mir Claus: „Wenn du in den nächsten 3 Monaten nur noch einmal zu spät kommst, bist du gefeuert!“ Ich versprach, dass es nie wieder vorkommen werde; doch schon kurze Zeit später, wachte ich morgens erst um 6.45 Uhr auf! Ich hatte keine Chance mehr, pünktlich zu kommen. Aber zu behaupten, ich sei krank, traute ich mich nicht, denn ich war immer schon ein schlechter Lügner, und der Arzt würde das merken. Was konnte ich also tun? Ich lief aufgeregt in der Wohnung umher und überlegte. Doch dann hatte ich eine Idee. Wenn ich nicht lügen durfte, dann musste ich die Ursache für meine Arbeitsunfähigkeit eben selber herbeiführen, um dann de Wahrheit sagen zu können! So fuhr ich mit meinem Fahrrad an die nahe gelegene Uferpromenade, wo ein Schotterweg war. Ich stieg mit meiner kurzen Hose auf eine Sitzbank und ließ mich von dort mit dem Knie auf den Boden fallen, so dass mein Knie blutete. Dann rief ich in der Firma an und sagte, dass ich gestürzt sei und mich am Knie verletzt habe, weshalb ich nicht zur Arbeit kommen könne. Dann verband ich mein Knie und ging damit zum Arzt. Während dieser meinen Verband abwickelte, um sich die Wunde anzusehen, fragte er mich: „Wie ist das denn passiert?“ – „Ich bin gestern Abend mit dem Fahrrad gestürzt…“ Als er dann die Wunde sah, sagte er: „Na sowas, die blutet ja noch ganz frisch! Und das soll schon gestern Abend passiert sein?“ Da wurde ich rot.
Mein Grübeln
Die Tage vergingen, und während ich mich tagsüber noch gut zerstreuen konnte durch die Arbeit, fiel mir die Einsamkeit nach Feierabend doch zunehmend schwer. Wie ungewohnt war es, abends ins Bett zu gehen, ohne dass ich jemandem „Gute Nacht“ sagen konnte! Um die Stille in der Wohnung zu überwinden, hörte ich viel Radio und auch immer mehr Musik, die ich mir aus der Stadtbibliothek besorgt hatte. Einige Zeit zuvor, wurde gerade der CD-Player erfunden, und auch ich hatte mir solch einen zugelegt, weil die Musik künftig nur noch auf CDs verkauft und verliehen wurde (die gute alte Langspielplatte hatte ausgedient, und die Kassetten wollte auch keiner mehr hören, wegen dem häufigen Bandsalat, den man dann mühselig mit dem Bleistift wieder beheben musste). Mein geistlicher Eifer, den ich früher noch hatte, war inzwischen völlig erloschen. Ich las auch immer weniger in der Bibel und betete nur noch, wenn es mir schlecht ging. Ich hatte auch keine Lust mehr, Briefe zu schreiben oder biblische Abhandlungen, und auch mein missionarischer Eifer war längst vorbei. Auf der Arbeit unterhielt ich mich einmal mit einem Kollegen über Gott und die Bibel. Er sagte: „Ich habe mich ehrlich gesagt bisher nicht mit diesem Thema befasst. Meine Eltern haben mir auch nie etwas von Gott erzählt und von der Bibel weiß ich eigentlich kaum etwas.“ – Früher wäre dies für mich eine Steilvorlage gewesen, um ihm mal ausführlich das Evangelium zu erklären, aber auf einmal fühlte ich mich innerlich so schlapp, dass ich keine Kraft hatte, ihm nun eine hilfreiche Antwort zu geben, warum er Gott suchen sollte. Einerseits sagte ich mir: Wenn Gott will, dass Er errettet wird, dann braucht mich Gott nicht unbedingt. Und wenn er nicht errettet werden soll, dann nützen auch all meine Überredungsversuche nichts. Andererseits fragte ich mich: Warum wollte Gott ihn einfach verloren gehen lassen, wo es doch gar nicht seine Schuld war, dass seine Eltern ihn nie vom Glauben an Gott erzählt haben? War er etwa ein schlechterer Mensch als ich? Es war doch schließlich auch nicht mein Verdienst, dass ich errettet wurde, sondern allein Gottes Gnade. Aber warum ist Gott denn nicht auch ihm gnädig? Ich war ja wirklich keinen Deut besser, außer dass ich eben den Glauben hatte, der mir aber doch auch von Gott geschenkt wurde. Warum aber verlangte Gott überhaupt den Glauben zur Errettung, wenn Er diesen nicht auch allen Menschen gab? Oder gab es vielleicht noch eine weitere Bedingung, die ich erfüllt hatte und er nicht? War es vielleicht doch nicht der Glaube allein, der den Unterschied machte?
So grübelte ich tagelang auf der Arbeit vor mich hin, um eine Auflösung für all diese Widersprüche zu finden. Warum eine ewig währende Höllenstrafe für Sünden, die die Menschen während einer begrenzten Zeit getan hatten? Warum will der HErr Seinen Feinden irgendwann nicht mehr vergeben, wenn Er doch auch von uns Feindesliebe erwartet und wir sogar 70 x 7 mal vergeben sollen? Wieso hat der HErr uns nicht vollkommen geschaffen, dass wir gar nicht mehr in der Lage sind, zu sündigen? Warum hat Gott in Seiner Allwissenheit den Sündenfall nicht einfach verhindert? Immer wenn ich dachte, dass ich jetzt endlich eine plausible Erklärung hätte, fiel mir später irgendeine Bibelstelle ein, die mein ganzes gedankliches Kartenhaus wieder zum Einstürzen brachte. Einfach wäre es gewesen, wenn man bestimmte Bibelstellen hätte relativieren oder umdeuten können, damit das Puzzle endlich passt und ein Ganzes ergibt. Wenn ich aber irgendeine Aussage der Bibel in Frage stellen würde, müsste ich die ganze Bibel in Frage stellen, und das durfte/wollte ich nicht. Denn was hatte ich dann noch? Während ich beim Streichen so überlegte, hörte ich die ganze Zeit meine südamerikanische Folkloremusik über meinen Walkman. Besonders gerne hörte ich die peruanischen Criollalieder, die ecuatorianischen Pasillo-Balladen oder die cubanische „musica trova„, denn diese romantische Musik drückte genau meine schwermütigen Gefühle aus. Die Musik half mir, einen klaren Kopf zu behalten und besänftigte meinen inneren Schmerz.
Was mich auch fast zur Verzweiflung brachte, war der Umstand, dass sich die Verheißung aus 2.Kor.5:17 einer vollkommenen Lebensveränderung nur in der ersten Zeit meines Glaubens bewahrheitet hatte, aber ich schon seit langer Zeit wieder rückfällig geworden war und im Grunde so lebte wie jeder andere Mensch. Dabei stellte Johannes doch fest, dass „jeder der aus Gott geboren ist, nicht mehr sündigt„, und dass „jeder, der sündigt, aus dem Teufel ist“ (1.Joh.3:8-9). Gibt es aber überhaupt irgendeinen Christen, der von sich ehrlich sagen kann, dass er nicht mehr sündigt? Wenn ja, dann war ich bisher nie wirklich wiedergeboren; und wenn Nein, dann stimmte diese Verheißung einfach nicht oder sie war maßlos übertrieben. Mir ging es aber eher so wie Paulus, der schrieb: „Nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich nicht will, das tue ich… Ich elender Mensch, wer wird mich retten aus diesem Leibe des Todes?“ (Röm.7:15+24). Leben ohne Sünde war für mich nur noch graue Theorie. Es fing ja schon an mit den sexuellen Sünden. Ich schaffte es kaum, länger als eine Woche ohne Selbstbefriedigung auszukommen. Früher hatte ich es bis zu vier oder fünf Wochen ausgehalten, aber jetzt wo Ruth weg war, war die Onanie die einzige Möglichkeit, um die Sehnsucht und den hormonellen Druck loszuwerden. Die Unreinigkeit gehörte aber zu den „Werken des Fleisches„, von denen das Wort Gottes sagt: „…die solches tun, werden das Reich Gottes nicht ererben“ (Gal.5:19+21). Entweder war ich also verloren oder aber die Bibel irrte sich. Beides war für mich gleichermaßen eine schreckliche Vorstellung. Es musste doch irgendeinen Ausweg geben aus diesem Dilemma! Irgendwas musste jetzt passieren, dass mir aus dieser unerträglichen Belastung heraushalf und mir eine neue Perspektive gab!
Während ich so mir den Kopf zerbrach und der Verzweiflung nahe war, kam ein Lied von der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa (1935-2009) mit dem Titel „Todo cambia“ („Alles verändert sich„). Das Lied berührte mich aufs Tiefste, sodass ich es immer wieder hintereinander hörte, sowohl die Melodie als auch der Text. Ihre liebevolle und mütterliche Stimme und auch ihre tröstenden Worte kamen mir so vor, als ob meine eigene Mutter mich in den Arm nehmen und mir Trost zusprechen würde, indem sie meinen Blick weitete und mir den Mut gab, mein Herz zu öffnen. Ich gebe hier mal im Folgenden eine Übersetzung des Textes:
„Es ändert sich das Oberflächliche
genauso wie das Tiefgründige, auch das Denken ändert sich,
so wie sich auch alles in der Welt verändert. Es wandelt sich das Klima mit den Jahren,
und der Hirte wechselt seine Herde. Und so wie alles sich ändert,
ist es nicht verwunderlich, dass auch ich mich ändere.
Refrain: Es verändert sich, alles verändert sich.
Es verändert sich, alles verändert sich
Es verändert selbst der feinste Edelstein seinen Glanz,
von Hand zu Hand. Es wechselt das Vöglein sein Nest,
so wie ein Geliebter seine Gefühle ändert. Der Wanderer ändert seinen Kurs,
auch wenn es ihm am Ende schadet, Und so wie alles sich ändert,
ist es nicht verwunderlich, dass auch ich mich ändere.
Es ändert sich, alles verändert sich…
Die Sonne verändert ihren Stand,
während die Nacht fortbesteht. Die Pflanze wechselt ihr Kleid,
trägt frisches Grün im Frühling. Wie das Wildtier sein Fell wechselt,
verändert sich das Haar des Greises, Und so wie alles sich ändert,
ist es nicht verwunderlich, dass auch ich mich ändere.
Es ändert sich, alles verändert sich…
Was sich nicht ändert ist meine Liebe,
wie fern ich auch immer mich befinde, Und auch nicht die Erinnerung
und der Schmerz meines Volkes und meiner Leute. Was sich gestern erst verändert hat,
wird sich auch morgen wieder ändern müssen, So wie ich mich verändere in diesem fernen Land.
Es ändert sich, alles verändert sich…„
Durfte ich auch meinen Glauben ändern? Was würde dann passieren? Würde ich dann nicht jeden Halt verlieren? Aber was, wenn ich dann aufgefangen werde? Aber was, wenn nicht? Konnte ich dieses Risiko eingehen? Vielleicht hätte ich bald keine andere Wahl mehr. Aber solange es noch ging, wollte ich erst mal weiter am Bisherigen festhalten. Vielleicht würde der HErr demnächst endlich den ersehnten Ausweg bereit halten. Ich wollte weiter auf Seine Hilfe warten. Ich dachte: Vielleicht sollte ich mich mal vertrauensvoll an den Prediger der Missionsgemeinde wenden, um ein seelsorgerliches Gespräch zu erbitten? Bisher hatten mir die Predigten kaum geholfen in meiner notvollen Lage, und ich überlegte schon, ob ich überhaupt noch dort hingehen sollte. Also schrieb ich am 12.05.96 einen Brief an Udo Slopianka, und bekannte ihm mein Dilemma. Ich bekannte ihm auch, dass ich mit vielen seiner Lehren zwar nicht einverstanden war, aber dass es mir derzeit vielmehr um mein eigenes Seelenheil ging. Das konnte ihm als Hirten doch nicht egal sein!
Mein letztes Aufbegehren
Am darauffolgenden Sonntag ging Udo nach dem Gottesdienst auf mich zu und lud mich zu einer kurzen Unterredung ein. Wir gingen in einen Abstellraum, aber statt zu beten, fing er sofort an, mir eine Mitteilung zu machen, die ihm auf dem Herzen lag: „Hör mal, Simon, ich verstehe Dich sehr gut, viel besser als Du Dir vorstellen kannst. Und ich kann Dir versichern, dass Du nicht verloren gehen wirst. Was Du gerade durchmachst, das hat schon jeder von uns erlebt; das sind ganz normale Anfechtungen vom Feind. Aber hättest Du mir jetzt nicht geschrieben, wäre ich ohnehin auf Dich zugegangen, denn es gibt da etwas, was ich ohnehin mal mit Dir besprechen wollte…“ – Ich sagte: „Tatsächlich? Dann erzähl mal!“ – „Weißt Du, Simon, Du bist ein hochbegabter junger Bruder, und eigentlich freue ich mich, Dich hier in unserer Gemeinde zu haben. Du wärest an sich auch gut geeignet für den Verkündigungsdienst, aber es gibt da ein riesiges Problem…“ – „Du meinst die Lehrunterschiede?“ – „Nein, die vielleicht auch, aber das ist nicht das entscheidendste Problem!“ – „Ok. Und was ist es dann?“ – „Weißt Du, Simon, wenn ich mit meiner Frau zusammen für Dich bete, dann bete ich nicht nur FÜR Dich, sondern ich bete auch GEGEN Dich!“ Noch bevor ich ihn fragen konnte, setzte er gleich fort: „Ja, Simon, denn DU bist VOLL VON DÄMONEN, Du bist geradezu WAHNSINNIG BESESSEN ohne dass es Dir vielleicht bewusst ist!“ Ich grinste verlegen. Er sagte: „Ja, grins nur! denn sogar an Deinem Grinsen sehe ich das Grinsen der alten Schlange! und auch wie Du beim Reden Deine Zunge bewegst! Mir machst Du da nichts vor. Du hast Dir irgendwo ein paar Dämonen eingefangen und brauchst dringend Befreiung. Du weißt ja, dass wir auch einen Befreiungsdienst praktizieren, weil der HErr das so geboten hat. Wenn Du also frei werden willst, dann lade ich Dich herzlich dazu ein! Diese Dämonen haben Dich auch zu all diesen Irrlehren verführt, von wegen, ein Kind Gottes könne noch verloren gehen!“ Ich erklärte ihm, dass ich nicht an die Möglichkeit von Besessenheit bei Gläubigen glaube. Er aber wollte von mir keine Begründung hören, sondern riet mir, dass ich erst mal weiter in die Gemeinde gehen solle, dann würde Gott mir schon Buße und die Erkenntnis Seines Wortes und Willens schenken.
Am folgenden Samstag besuchte mich mein Freund Jochen Pahlke (29), der inzwischen schon ein Jahr verheiratet war. Er lud mich ein, mit ihm zusammen zum Spanischbibelkreis zu gehen, wo ich schon eine ganze Weile nicht mehr war. Die Predigt fand ich sehr schlimm, denn der Prediger lehrte aus meiner Sicht unbiblisch, so dass er der Gesetzlosigkeit Tür und Tor öffnete. Doch dann gab eine junge Schwester ein Zeugnis, was sie mit dem HErrn erlebt hatte, seit sie gläubig wurde, ein wunderbares Zeugnis! Danach erschien es, als würde der Prediger dieses Zeugnis gleich wieder zunichtemachen, indem er sie vor den „Gesetzeslehrern“ warnte, die sie einschüchtern könnten, indem sie ihr ein schlechtes Gewissen machten. Darauf erhob ich spontan meine Stimme und beklagte die heutige Treulosigkeit des Volkes Gottes, wobei ich mich selbst mit einschloss. Meine Stimme bebte und ich zitterte, doch die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Sie waren scharf und schneidend, es war eine Rede gegen mich selbst gerichtet. Danach waren alle sehr betroffen, es war eine bedrückende Stimmung im Raum, die jedoch bald wieder verflog. Doch in mir gehrte es weiter. Ich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, musste aber dann doch rausgehen, um meinem Kummer Luft zu machen. Mir wurde die ganze Machte des Feindes in meinem Leben bewusst und meine ganze Schuldigkeit und Verlorenheit. Ich begann, mich zu verabscheuen und den HErrn wieder ganz neu und inbrünstig zu lieben. Ich beschloss, den Kampf gegen die Sünde in aller Härte wieder ganz neu aufzunehmen und mich gegen die Vorherrschaft des Teufels in meinem Leben aufzulehnen. Ich wollte endlich frei werden und mich nicht mehr vom Widersacher einschüchtern lassen. Als ich abends nach Haus kam, räumte ich erst mal in meiner Wohnung auf. Alle meine Musikkassetten und Bücher wollte ich wegschmeißen und meine Wohnung wieder als Gebetsstätte heiligen. Doch noch am selben Abend erlag ich einer Versuchung, indem meine gläubige Nachbarin Elena, die unter mir im Haus wohnte, zu mir hoch kam und mich einlud, zusammen einen Film im Fernsehen zu sehen. Elena war aufgrund traumatischer Kindheitserlebnisse und damit verbundener psychischer Probleme in Frührente und lebte alleine. Da sie mir leid tat, willigte ich ein, ihr Gesellschaft zu leisten. Als ich spät am Abend wieder nach oben ging, war mir sehr elend und ich weinte bitterlich, weil ich dem Feind wieder auf den Leim gegangen war. Doch wollte ich mich nicht wieder einschüchtern lassen und bat Gott um Vergebung, wobei ich auch wirklich glaubte, dass Er mir vergab und mir nichts nachtrug.
So verging eine Woche in der ich in Treue und Hingegebenheit zu Gott lebte und freute mich über den Sieg in meinem Leben. Auch berichtete ich Ruth in einem Brief, dass ich wieder zur ersten Liebe zurückgekehrt sei. Doch dann fiel ich wieder in Sünde (Selbstbefriedigung) und meine alten Zweifel kamen mir wieder, weil ich vieles erlebte, bei dem ich den Eindruck hatte, dass Gott mein Gebet nicht mehr erhört, ja, sogar mir entgegen war. Ich fragte mich: Liebt mich Gott überhaupt noch oder hatte Er mich inzwischen schon verworfen wie Saul? Warum verlangt Gott so viel von mir? und warum lässt Er mich verloren gehen, wenn Er mich doch liebt? Warum darf ich nicht einfach ein normales Leben führen wie jeder andere Mensch? Lag es vielleicht daran, dass mir mein vieles Wissen um den Willen Gottes zum Verhängnis geworden ist (Amos 3:2, Luk.12:47, 19:26)? Dann könnte ich es fast bereuen, dass ich Christ geworden war. Ich wünschte mir, dass Gott anders wäre als der Gott, von dem es heißt: „Ein eifernder und rächender Gott ist Jahwe und voll von Grimm; Jahwe übt Rache an Seinen Widersachern und trägt Seinen Feinden nach“ (Nahum 1:2). Aber ich konnte es mir nicht aussuchen, sondern musste es so glauben (oder nicht glauben), wie’s geschrieben steht.
Zeitweise überlegte ich schon, ob ich den Glauben nicht ganz aufgeben sollte, denn ich hatte kaum noch Hoffnung, dass sich mein Leben noch einmal entscheidend ändern würde. Und dann erlaubte Gott etwas, dass mir im Nachherein sehr peinlich war: und zwar hatte ich an einem Sonntagabend die Idee, meinen neu erworbenen Anrufbeantworter mit einer bekannten Melodie zu untermalen. Mir kam dabei die lustige Idee, die Titelmelodie von James Bond 007 zu nehmen und entsprechend auf dem Band zu sagen: „Mein Name ist Poppe, Simon Poppe, bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht!“ Doch schon am nächsten Tag fiel mir ein, dass auch ein Bruder mich anrufen könnte und dann mich für völlig verweltlicht halten könnte. Also beschloss ich, die Ansage wieder zu ändern. Als ich nach Hause kam, hatten zwei Personen angerufen, einmal meine Mutter, die auch eine Nachricht hinterlassen hatte, und eine andere Person, die nur aufgelegt hatte und von der ich auch keine Nummer im Display sehen konnte. Als ich eine Woche später erfuhr, WER diese Person war, die meine alberne Ansage gehört hatte, war es mir absolut peinlich… (kommt noch).
Marcos Rückfall in den Wahnsinn
Mitte Mai fand in Dresden ein sog. Christival statt, zu welchem junge Christen aus ganz Deutschland für eine Woche hin pilgern, um an den Veranstaltungen teilzunehmen, also eine Art evangelikaler Kirchentag für Jugendliche. Als Marco erfuhr, dass Tobias und Rolf dort hinreisen wollten, um dort zu missionieren, wollte er unbedingt auch dorthin, um sie zu unterstützen. Doch kurz zuvor schrieb Rolf dem Marco, dass sie nicht mit ihm zusammen zum Christival fahren würden, weil er sich noch nicht von mir distanziert habe. Sie warfen ihm vor, dass er „noch auf beiden Seiten hinken würde“ (1.Kön.18:21). Doch Marco fuhr trotzdem nach Dresden und hatte sich dort scheinbar mit den Brüdern angelegt. An einem Abend zog dann ein Sturm auf, der sämtliche Zelte hinwegriss, wo Tobias, Rolf und die anderen Teilnehmer campierten. Danach weiß niemand mehr, was genau passiert war, aber nach zwei Tagen fand die Polizei Marco an einer Autobahnraststätte in der Nähe von München im völlig verwirrten Zustand. Er hatte schon wieder eine Psychose erlitten, insgesamt schon die Dritte. Sein ganzes Gepäck hatte er unterwegs mal wieder irgendwo an die Straße gestellt und war ohne Gepäck weitergegangen. Es heißt, dass er noch nicht einmal mehr Schuhe anhatte. Er wurde mit dem Krankenwagen nach Wasserburg gebracht, 50 km von München entfernt, wo eine Klinik für psychisch Kranke ist. Marco weigerte sich jedoch aufgenommen zu werden. Als zwei Pfleger ihn dann mit Gewalt auf seine Station bringen wollten, schlug er sie mit der Faust, so dass sie Verstärkung holen mussten. Er schlug um sich mit Händen und Füßen, so dass man ihm einen Wirkstoffcocktail injizierte, der ihn vollkommen lahmlegte, eine sog. „chemische Zwangsjacke„. Nachdem die Polizei sein Gepäck und sein Zelt gefunden hatten, fanden sie auch seine Brieftasche mit seinen Personalien. Sie riefen dann bei meiner Mutter an, die entsetzt war, und da sie mit der Situation nicht klarkam, bat sie mich nach München zu fahren, um Marco zu besuchen.
So fuhr ich am 18.05.96 durch eine Mitfahrgelegenheit nach München und von dort weiter mit dem Bus nach Wasserburg. Als ich im Klinikum Inn-Salzach ankam, ging ich durch mehrere Glastüren auf einen 20 m langen Flur und sah von Ferne ganz am Ende des Ganges eine Person, die dort stand wie ein „Zombie„, ein lebender Toter, der mich mit einem gebuckelten Rücken und herunterhängenden Armen unentwegt anstarrte mit offenem Mund. Als ich näher kam, erkannte ich, dass es mein Zwillingsbruder war. Man hatte ihm Haldol gegeben, so dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich begrüßte ihn herzlich, aber Marco war nicht in der Lage, irgendwelche Affekte zu äußern. Wir gingen in eine Art Empfangs- oder Besucherraum, wo sich hinter einer Glasscheibe auch das Stationszimmer befand. Mitten in diesem Aufenthaltsraum stand das Bett von Marco. Ich erfuhr, dass man das Bett absichtlich hier hineingeschoben hatte, weil er aufgrund seiner Suizid- und Gemeingefährlichkeit unter ständiger Beobachtung stehen müsse. Ich setzte mich mit Marco aufs Bett und tröstete ihn, wobei ich ihm behutsam ein paar Fragen stellte. Doch Marco hatte keine Lust, mir zu antworten, weil er zu müde war. Er legte sich hin und wollte sofort einschlafen. Ich schüttelte ihn und bat ihn, doch mit mir zu reden, schließlich war ich doch von weither gekommen. Er aber knurrte, weil er lieber schlafen wollte, und kurz darauf war er auch schon fest eingeschlafen. Ich sprach daraufhin mit dem Pfleger, und der erklärte mir, was passiert war und gab mir die Adresse der Polizeidirektion, damit ich dort seine Sachen abholen konnte. Das tat ich und fuhr an selben Abend noch mit dem Zug zurück nach Bremen.
Marco wurde entmündigt und sollte für mehrere Monate in Wasserburg bleiben. Doch nach einer Woche fühlte sich Marco schon wieder gut und wollte zurück nach Bremen. Aber man erlaubte es ihm nicht, und er durfte noch nicht einmal aus dem Gebäude der geschlossenen Psychiatrie hinaus. Während er am Freitagnachmittag mit einem Patienten Schach spielte, sah er durch die Scheiben der Fenster, wie die anderen Patienten draußen Volleyball spielten. Marco beschwerte sich, weil es draußen schon über 30˚ Celsius war und er hinaus wollte zu den anderen. Er wies daraufhin, dass das Grundstück doch ohnehin durch eine hohe Mauer gesichert sei, so dass niemand entkommen könne. Auf sein Drängen hin, ließ man ihn nach draußen. Zunächst ließ er sich nichts anmerken und vergnügte sich mit den anderen; doch in einem Moment, als niemand achtgab, kletterte Marco über eine große Hecke hinaus und rannte durch den Wald. Schon bald wurde sein Verschwinden bemerkt und man rief die Polizei. Diese fahndete nach ihm mit einem Großaufgebot und durchkämmte mit Hunden den Wald. Marco war unterdessen auf eine Straße gekommen, wo er als Anhalter mitgenommen wurde. Der Fahrer war etwas erstaunt, denn Marco war nur mit einer Bermuda-Shorts bekleidet ohne jegliches Gepäck. Er nahm ihn mit nach Rosenheim, wo Marco sich im Haus eines Bekannten duschen konnte, der ihm auch Kleidung, Schuhe und Kleingeld borgte. Damit fuhr Marco dann per Anhalter quer durch Deutschland und kam in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages in Bremen-Arbergen an. Um etwa 9.00 Uhr klingelte es an jenem Sonntagmorgen, und zwei Polizisten standen vor der Tür. Marco stellte sich freiwillig, und nachdem sie sich eine halbe Stunde mit ihm unterhalten hatten, erklärten sie ihn für zurechnungsfähig, ganz pragmatisch und ohne psychologisches Gutachten. Ich musste allerdings mit ihm am Montag noch mal zum Vormundschaftsrichter, damit auch dieser seine Entmündigung wieder aufhob.
Ein paar Tage später hatte ich den Wunsch, mal wieder meinen Freund Bernd Fischer anzurufen, um ihn zu fragen, ob ich ihn besuchen dürfte. Wir vereinbarten einen Termin für Anfang Juni. Und dann sagte Bernd zu mir: „Übrigens Simon, mache ich mir Sorgen um Dich, weil wir ja schon eine ganze Weile nicht mehr miteinander gesprochen haben, und ich habe mich gefragt, ob Du überhaupt noch an Gott glaubst.“ – „Aber Bernd, warum sagst Du das? Selbstverständlich glaube ich doch an Gott!“ – „Ich war mir aber nicht so sicher, denn vor etwa zwei Wochen habe ich Dich angerufen, und da war eine so merkwürdige Ansage von Dir auf dem Anrufbeantworter, dass ich dachte, Du seiest inzwischen in die Welt zurück gegangen.“ – Mir schlug das Herz bis zum Hals. Dann war es also der Bernd, der mich anrief, aber keine Nachricht hinterlassen hatte! Ich fing an zu stottern und erklärte Bernd, dass das so eine Dummheit von mir war, weil ich meinen Bruder Patrick da nachahmen wollte, aber mir schon gleich am nächsten Tag das Gewissen schlug und ich es wieder gelöscht habe. Als das Telefonat dann nach einigen quälenden Minuten endlich zu Ende war, fiel ich heulend auf meine Knie und bat Gott um Vergebung. Mir war es so peinlich, dass ich mir ausgerechnet vor diesem heiligen Bruder solch eine Blöße gegeben hatte. Wie konnte das nur passieren?! Mir fiel auf, dass ich wirklich in zwei ganz unterschiedlichen Welten lebte: auf der einen Seite war ich der fromme – wenn auch noch unreife und z.T. wankelmütige – Glaubensbruder, und auf der anderen Seite war ich der lustige und kreative Simon von früher (d.h. von vor meiner Bekehrung). Mein altes Wesen sollte doch aber längst begraben sein durch Christus in der Taufe. Warum aber kam es immer wieder noch zum Vorschein? So konnte es aber nicht immer weitergehen, dass ich wie ein Schauspieler auf zwei Hochzeiten tanzen würde. Ich musste mich einfach mal entscheiden, wer ich eigentlich wirklich sein wollte. Und da ich dem hohen Anspruch eines heiligen und Gott wohlgefälligen Lebens offensichtlich noch nicht (oder nicht mehr!) gewachsen war, sollte ich doch lieber so ehrlich sein, dazu zu stehen, anstatt weiter zu heucheln. Während ich noch auf den Knien war, sagte ich zu Gott: „Ich schaffe das nicht, HErr. Bitte verzeih mir, aber ich schaffe es einfach nicht! Mach mich zu einem Deiner Tagelöhner! Stufe mich zurück und fordere nicht mehr so viel von mir, HErr.“ Dann stand ich auf und sagte zu mir selbst: „Ab jetzt will ich nicht mehr heucheln, sondern zu dem stehen, was ich bin! Lieber, dass ich im Ansehen der anderen sinke, aber ich möchte mich ab heute nie mehr verstellen.“ Da ging es mir schon viel besser.
Mein Abfall vom Glauben
Ende Mai hatte ich dann an einem Tag ein entscheidendes Schlüsselerlebnis, das mein Leben für die nächsten 18 Jahre ändern sollte: Ich hatte den ganzen Tag alleine an der Fassade eines Mehrfamilienhauses gestrichen und dachte dabei über die Erlebnisse der letzten Monate nach. Warum hatte Gott all diese Probleme zugelassen, sei es mit dem Kinderheim oder Herrn Tönjes oder mit Tobias und Marco? Und warum hatte ich schon seit Monaten keine Gebetserhörung mehr, z.B. bezüglich der Dauerschmerzen von Ruth. Das machte für mich alles keinen Sinn mehr. Und warum ließ Gott den Tobias mit all seiner Bosheit einfach ungeschoren davon kommen? Ich hätte ihn am liebsten genauso öffentlich an den Pranger gestellt, wie er dies mit mir und anderen gemacht hatte, um ihn zu demütigen. Aber Gott schwieg zu alledem, wie mir schien, und ließ mich seit Monaten schon in einem geistlichen Niemandsland umherirren, ohne Rast und Frieden. Und dann waren da all die ungelösten Fragen und Zweifel, die ich in der Bibel sah, aber die mir keine Ruhe ließen, weil ich für diese keine Erklärung fand. So grübelte ich auf dem Gerüst den ganzen Tag, während ich über Kopfhörer meine Musik hörte. Und dann kam ein Lied, dessen schwermütiger Gesang genau in meine Situation passte, nämlich „Losing my religion“ von R.E.M., frei übersetzt: „(Ich fürchte, dass) ich meinen Glauben verliere„. In dem Lied ging es um eine gescheiterte Liebesbeziehung, wo der Sänger auch den Eindruck hatte, dass er „alles vermasselt“ habe und es nun zu spät sei. Genauso ging es mir ja auch in Bezug auf Gott.
Als Feierabend war, fuhr ich mit meinem Rad den langen Weg nach Hause, während ich unentwegt grübelte. Was wäre, fragte ich mich, wenn das mit der „ewigen Qual“ in der Hölle einfach nur ein Missverständnis war, nämlich eine Fehlübersetzung des Wortes „aion„, wie die Allversöhner behaupten, und es sich in Wirklichkeit nur um eine vorübergehende Dauer handelte? Aber „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ klang mir doch zu sehr nach „endlos„, da wollte ich mir nichts vormachen. Aber wie konnte eine unendliche Qual mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes harmonisieren? Gar nicht. Wie man es auch dreht und wendet, es passte einfach nicht zusammen. Was aber, wenn Gott uns nur einen Schrecken einjagen wollte, aber es letztlich nicht so gemeint hat? Nein, das passt auch nicht, denn Gott kann nicht lügen und Sein Wort ist wahr. Oder wie wäre es, wenn die Bibel nicht Gottes Wort ist, sondern nur Gottes Wort enthält, wie einige Theologen sagen? Ein Großteil der Bibel ist ja ohnehin nur erzählte Geschichte und nur ein relativ kleiner Teil direkte Rede Gottes. Wie wäre z.B., wenn Gott die Bibel nicht als Sein Wort buchstäblich INSPIRIERT sondern nur nachträglich AUTORISIERT habe, also zugelassen habe? Dann dürfte es auch Fehler enthalten, die Gott aber überwaltet. Der Mensch hätte in diesem Fall nur seine Gedanken und Vorstellungen über Gott aufgeschrieben und Gott habe sie für gut und sinnvoll anerkannt und genehmigt, selbst wenn sie nicht immer zutreffend wären. War es nicht auch so mit dem mosaischen Gesetz, das ja letztlich auch nicht den endgültigen Willen Gottes widerspiegelte, sondern nur eine Zwischenstation darstellte, die auf den HErrn Jesus und das Evangelium vorbereiten sollte, aber noch nicht der Weisheit letzter Schluss war. Was wäre, wenn auch das Evangelium nur eine solche Zwischenstation wäre, aber Gott uns über Seinen endgültigen Willen bewusst im Unklaren gelassen habe, weil die Zeit noch nicht reif war für eine höhere Stufe? Schließlich gab es doch auch im Alten Testament kaum Hinweise auf das Evangelium, so dass es doch auch denkbar wäre, dass ebenso auch im Neuen Testament noch keine klaren Hinweise erkennbar seien für eine „3. Stufe“ des Heilsplans Gottes? Aber dann verwarf ich all diese Überlegungen, weil sie ketzerisch waren und noch nicht einmal das Denken darüber erlaubt sei (1.Kor.4:6). Diese Gedanken standen im Widerspruch zu Gottes Wort und waren deshalb absolut tabu.
Ich fuhr weiter, aber war frustriert, denn ich brauchte endlich eine Lösung, die den „gordischen Knoten“ in meinem Kopf zerschlug, damit ich nicht wahnsinnig werden würde wie mein Bruder. Was wäre, so überlegte ich, wenn die Bibel tatsächlich nicht das Wort Gottes wäre? Sollte es nicht mal einen Versuch wert sein, sich wenigstens für einen Moment diesem Gedanken zu öffnen? Ich stellte mir eine Türschwelle vor, die ich in Gedanken für einen kleinen Moment überschreiten musste, um danach wieder zurückzukehren in mein bisheriges Denken. Ich wollte nur mal ganz kurz spüren, wie sich dieser Gedanke anfühlt. Und wenn ich gleich sofort wieder zurückgehe in mein altes Denken, dann kann es doch nicht geschadet haben… Ich hatte mich selbst überzeugt und wollte das Wagnis eingehen. Dabei war es – wie ich im Nachhinein feststellte – als habe ich die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegriffen und war nun im Begriff dabei, von dieser Frucht abzubeißen. Ich tat es. Es musste sein, damit ich endlich aus dem Dilemma herauskäme. Ich war vom Fahrrad abgestiegen, hatte meine Augen geschlossen und setzte mich für zwei Minuten hemmungslos diesem Gedanken aus. Es war überwältigend. Ein totales Glücksgefühl stieg in mir auf. Ich war endlich völlig frei! Als wenn sich auf einmal alle Ketten lösten, die mich gefangen hielten. Es war meine „zweite Bekehrung„, wie ich es später nannte, nur dass in diesem Moment nicht der Heilige Geist in mir Wohnung nahm, sondern fremde Geister in mich einkehrten, weil ich sie durch meine Entscheidung herbei gerufen hatte. Aber mir war in diesem Moment klar, dass ich nie mehr zurück wollte, sondern nun ein neues Leben begonnen hatte. Ich konnte nun kein Christ mehr sein, jedenfalls nicht mehr im biblischen Sinne, sondern war jetzt ein Apostat, ein Abgefallener. Aber war nicht auch Paulus ein „Abgefallener“ vom Gesetz in dem Moment, als er sich zu Christus bekehrte? Vielleicht hatte Gott auch mich jetzt tatsächlich auf eine höhere Stufe der Erkenntnis gestellt, so glaubte ich. Ich fuhr weiter und sah plötzlich die Passanten, die an mir vorbei gingen, als meine Brüder und Schwestern an. War es das, was auch der Freimaurer Friedrich Schiller erlebt hatte, bevor er in der „Ode an die Freude“ dichtete: „Seid umschlungen, Millionen! diesen Gruß der ganzen Welt. Brüder, über‘m Sternenzelt, muss ein güt´ger Vater wohnen… Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwert geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“
Kurz darauf erhielt ich einen Brief von Bruder Bernd, in welchem er mich tröstete und mir erklärte, warum wir als Christen nicht immer sofort den Sieg hätten über die Sünde, weil nämlich wir sonst hochmütig werden könnten und die Abhängigkeit vom HErrn verlieren. Er mahnte mich, nicht aufzugeben, sondern einfach jedes Mal wieder neu Buße zu tun, wenn ich durch Sünde gefallen war, weil mir der HErr den Sieg verheißen habe, solange ich den Kampfplatz nicht verlassen würde. „Wichtig ist, dass Du die Front nicht dort einreißen lässt, wo Du schon Sieg hattest, … damit der Feind keine Gebietsgewinne macht. Lass Dich von der Selbstbefriedigung nicht zum Ehebruch treiben…“ Nein, das hatte ich gewiss nicht vor. Aber sein Appell zum Durchhalten kam jetzt zu spät, denn ich hatte ja bereits die Seite gewechselt und war sozusagen zum Gegner übergelaufen. Aber wie sollte ich das jetzt allen erklären? Sie würden verächtlich auf mich herabschauen und sagen, dass ich schon immer zu fleischlich war und nun der Fleischeslust nachgegeben hätte. Aber das stimmte so ja nicht, sondern es waren ja vor allem die Widersprüche an sich, die mich zur Aufgabe zwangen. Der HErr hatte mich doch als ganz normalen Mann geschaffen mit ganz normalen sexuellen Bedürfnissen. Warum sollte Er mir dann Vorwürfe machen, dass ich mich genau so verhalte, wie Er mich geschaffen hat? Hätte Er mich denn sonst nicht auch anders schaffen können?
Meine Rache an Tobias
Zum Glück wusste ja noch überhaupt niemand, dass ich jetzt „ungläubig“ geworden war, also konnte ich mir in Ruhe eine Strategie überlegen, wie ich meinen Sinneswandel nun allen so behutsam und nachvollziehbar vermitteln konnte wie möglich. Für eine Weile musste ich also noch ein Doppelleben führen bis die Zeit reif genug war, dass ich allen Geschwistern nach und nach die Wahrheit sagen konnte. Am schwierigsten würde das wohl für Ruth sein, aber ich hatte ja auch noch ein paar Monate Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Als erstes wollte ich mich mal um Tobias Schaum „kümmern“, denn mit seinem boshaften Verhalten sollte er nun nicht mehr ungeschoren davonkommen. Jetzt wo ich ja kein Christ mehr war, hatte ich keinerlei Einschränkung mehr in meinen Mitteln. Um Tobias aber vor allen bloßzustellen, musste ich ihm erst einmal selber irgendwie seine dunklen Geheimnisse entlocken. Aber wie sollte ich diese herausfinden? Von selbst würde er sie mir ja nicht verraten. Da kam mir ein perfider Plan: Ich wollte ihm einen Bußbrief schreiben, in welchem ich ihm offen bekennen würde, was für ein Sünder ich doch sei und ihn fragen, ob ich ihn besuchen könnte, damit ich bei ihm „reinen Tisch machen“ könne. Würde er mir erst mal glauben, könnte ich ihn in ein Gespräch verwickeln, in welchem er auch seine eigenen Sünden konkret bekennt. Später bräuchte ich dann meine Abbitte nur zu widerrufen, hätte aber dann die Informationen, die ich bräuchte, um ihm das zu vergelten, was er mir angetan hatte. Ich schrieb ihm also einen Brief, in welchem ich so glaubwürdig wie möglich Buße tat; und siehe da: Tobias hatte den Köder geschluckt und lud mich ein, am 09.06.96 nach Asmushausen zu kommen. Der erste Schritt meines Planes hatte also funktioniert. Schon gleich nach meiner Ankunft am Samstagmittag schüttete ich mein Herz aus und bekannte ihnen schonungslos meine fleischliche Schwachheit, d.h. meine Abhängigkeit von der Selbstbefriedigung und von romantischer Musik. Was hatte ich auch zu verlieren, denn sie konnten ja nicht ahnen, dass es mir inzwischen ziemlich egal war, was sie von mir dachten. Als wir dann später als Brüder an den Kaffe-und-Kuchen-Tisch setzten, fragte ich Tobias wie beiläufig: „Wie ist das eigentlich bei Dir so? Bist Du eigentlich frei von der Selbstbefriedigung?“ – Daraufhin antwortete Tobias mir zunächst nur, dass er auf diesem Gebiet auch „noch viel Kampf“ habe und fügte dann in einer für mich völlig überraschenden und absoluten Ehrlichkeit einen Satz hinzu, den ich hier nicht nennen kann, um die Fantasie und das Schamgefühl des Lesers, vor allem aber auch das Ansehen von Tobias nicht weiter herabzuwürdigen. Jedenfalls hatte er mit seinen Bekenntnissen meine Erwartungen weit übertroffen.
Als ich wieder in Bremen war, erbat Tobias von mir, dass ich nun auch „der Buße würdige Frucht bringen müsse“, indem ich öffentlich meine zuvor genannten Vorwürfe gegen Tobias widerrufen solle. Ich wiederum bat den Tobias darum, dass er nun, wo ich doch alles bekannt hatte, was mich betrifft, doch davon abstehen möge, weiter gegen den Bruder Hans-Udo vorzugehen, zumal dies gar nicht seine Aufgabe sein könne als Fernstehender. Diese Provokation war für Tobias dann genug, dass er meine ganze Buße als halbherzig und damit als wertlos betrachtete, mich erneut als „Belialsmensch“ bezeichnete und ein weiteres Mal über mehrere Seiten alles wiederholte, was er über mich in Erfahrung gebracht hatte, sei es von anderen oder aus meinem eigenen Mund. Was er jedoch nicht ahnte, war, dass genau dies meine Absicht war, denn jetzt gab er mir einen Grund, ihn auch selbst öffentlich an den Pranger zu stellen in einem „offenen Brief“, den ich auch an all die anderen Brüder sandte, die ihn und mich kannten, aber diesmal mit ebenso heiklen Details aus seinem Privatleben, um ihm das heimzuzahlen, was er zuvor mit mir tat. Mein Brief blieb dann tatsächlich nicht ohne Folgen, indem ich später erfuhr, dass einige Getreue von Tobias nun auch zu ihm auf Distanz gingen. Und von Tobias kam zu meiner Überraschung keine Reaktion mehr. Die Schlammschlacht war zu Ende, und einen Sieger gab es nicht.
Im Nachhinein betrachtet war mein Verhalten gegenüber Tobias absolut hinterhältig und verwerflich. Es zeigt einfach nur, dass ich inzwischen von demselben mörderischen Drang erfüllt war, der auch dem Tobias umtrieb und ich mich um das Verbot der Rache mittlerweile einen Dreck scherte (Röm.12:19). Seit ich wieder gläubig bin (seit 2014) habe ich über mein damaliges Verhalten Buße getan und Gott um Vergebung gebeten. Ob Tobias inzwischen auch irgendetwas bereut hat über sein Verhalten mir gegenüber, kann ich nicht sagen, denn er will nach wie vor nichts mit mir zu tun haben und erkennt meine erneute Umkehr zu Gott nicht als echt an. Möge der HErr Gnade schenken, dass es zwischen uns eines Tages zur Versöhnung komme!
Nachdem ich meine Rache geübt hatte, überlegte ich mir, mit wem ich in Zukunft Kontakt und Freundschaft pflegen sollte, nachdem ich mich ja nun vom fundamentalistischen Christentum innerlich losgesagt hatte. Da fielen mir die Freimaurer ein, die ja gerade von bibeltreuen Christen als die ärgsten Feinde und sogar als Diener Satans angesehen wurden. Ich fragte mich, ob denn nicht die Feinde meiner Feinde zu meinen Freunden werden könnten. Also suchte ich mir aus dem Telefonbuch die Telefonnummer einer Freimaurerloge heraus und rief dort an. Nachdem ich dem Mann am anderen Ende kurz mein Anliegen beschrieben hatte, wies er mich darauf hin, dass seine Loge eine konfessionslose sei, es aber auch eine christliche Freimaurerloge in Bremen gäbe, nämlich die „Zum Ölzweig“. Er empfahl mir, mich an diese zu wenden, da diese „Brüder“ besser vertraut waren mit meiner Vergangenheit und gab mir von dieser die Nummer. Als ich dann dort anrief, lud mich der „Meister vom Stuhl“, Klaus Betzold, zu einem Gästeabend ein, wo mich die Logenbrüder persönlich kennenlernen könnten und meine Fragen beantworten würden.
Kurz darauf besuchte ich diese und nahm in der Folgezeit an insgesamt drei solcher Gästeabende teil, wobei ich jeweils der einzige Gast war inmitten von etwa 5 bis 6 Logenbrüdern. Zunächst fiel mir auf, dass diese Männer im Alter von 40 bis 75 Jahren alle sehr freundlich waren. Besonders der Großmeister Klaus Betzold war außerordentlich höflich und respektvoll zu mir wie ein Gentleman. Sie waren amüsiert, als ich ihnen schilderte, wie man von Seiten der bibelgläubigen Christen über die Freimaurer dachte, dass sie nämlich heimlich mit dem Teufel im Bunde seien etc. Sie erklärten mir, dass sie selbst eine explizit christliche Loge seien, die nur Männer aufnehmen würde, die an Christus und die Bibel als Wort Gottes glauben würden. Wie jedoch der Glaube jedes einzelnen praktiziert werde, sei jedem selbst überlassen. So freundete ich mich im Verlauf der nächsten Wochen mit einem gewissen Carl-Ernst an, der ein überzeugter Katholik war und mit seinen etwa 40 Jahren der Jüngste von allen sei. Der Klaus Betzold wiederum hatte über mich „Recherchen“ angestellt, genau gesagt über meinen Stammbaum, und übergab mir nach ein paar Tagen einen Stammbaum der Familie Poppe, der bis ins 15. Jh. zurückreichte. Dies tat er deshalb, weil er durch vorherige Untersuchungen in seinem eigenen Stammbaum feststellte, dass seine Vorfahren mit den meinigen verwandt seien. Auch brachte er mir einen Aufsatz mit, den er mal über das Bremer Rathaus geschrieben hatte. Er hatte diesen mal als Vortrag in der Loge gehalten und wies darin auf die geometrisch interessante Bauweise hin, durch die der Architekt angeblich auf freimaurerische Symbole anspielen wollte (für mich war der Text totlangweilig). Und als ob er mich für die Loge gewinnen wollte, zeigte er mir an meinen Vorfahren, dass ungewöhnlich viele von diesen sog. „Baumeister“ (Architekten) waren und Mitglied der Loge „Zum Ölzweig“. Auch erzählte er mir, dass die Loge massiv unter Mitgliederschwund leide, da die Alten ausstürben und keine neuen Brüder hinzukämen. Schuld daran sei seines Erachtens, dass die Gesellschaft zunehmend individualisiert sei und jeder nur seine eigenen Interessen verfolgen würde.