„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 10
Dezember 1985 bis März 1986
Aus der Welt hinausgehen
Eine Woche vor Weihnachten fragte mich Bruder Edgard, ob ich nicht mit ihm und seiner Frau Hedi, sowie einem Bruder namens Raimund Schmidt (31) über die Feiertage auf eine Bibeltagung bei Br. Daniel mitfahren wolle. „Auf jeden Fall! Auch wenn ich dann gar nicht mit meiner Familie Weihnachten feiern kann“ sagte ich. „Das solltest Du auch besser nicht, denn Weihnachten ist ja ein heidnisches Fest, das wir Gläubigen gar nicht mehr feiern sollten. Viel wichtiger ist es jetzt, dass Du unters Wort kommst!“ Edgard und Hedi liebten mich, so als wäre ich ihr eigener Sohn (zumal sie auch keine eigenen Kinder hatten). Da Raimund noch einen alten Bruder aus Fulda abholen sollte, verabredeten wir, dass ich in Raimunds Wagen zur Bibelfreizeit nach Weiler fahren sollte.
Raimund erzählte mir zu Beginn der Fahrt, wie er sich vier Jahre zuvor bekehrt und dann die Hausgemeinde bei Bruder Edgard kennengelernt hatte. Er sagte mir aber auch, dass er sich vor zwei Jahren von Edgards Hausgemeinde wieder getrennt hatte und erst jetzt vor ein paar Wochen wieder zurückgekehrt sei. „Ja, Edgard hatte das kurz angedeutet, aber mir keine Einzelheiten erzählt. Er meinte nur: ‚Raimund hatte noch MEHR gesucht‘. Was meinte er damit?“ – Raimund lächelte und sagte: „Das ist eine lange Geschichte. Aber wir haben ja jetzt Zeit im Auto, und da kann ich es Dir in Ruhe erzählen. Alles begann vor etwa 50 Jahren. Damals lernte der Vater von Bruder Daniel Werner, der damals in Peterswaldau in Schlesien wohnte und eine Hausgemeinde leitete, den alten Bruder Percy W. Heward in London kennen. Letzterer war ein Bibellehrer, der viele Schriften herausgab für Gläubige, die sich mit der gesunden Lehre befassten. Viele Christen sind ja heute völlig angepasst an die Welt und nehmen die Gebote Gottes nicht mehr so ernst, z.B. dass eine Frau sich beim Gebet ein Kopftuch aufsetzen soll usw. Darin waren sich Daniels Vater und Bruder Heward auch sofort eins. Aber Heward hatte noch viele weitere Lehransichten, die von den geläufigen Überzeugungen der evangelischen Christen abwichen. Zum Beispiel vertrat er den Standpunkt, dass man beim Abendmahl keinen Wein nehmen dürfe, sondern nur Traubensaft und ungesäuertes Brot, denn der Sauerteig sei ja ein Bild auf die Sünde, weshalb die Juden beim Passahfest gar keinen Sauerteig in ihren Wohnungen haben durften. Auch war Heward davon überzeugt, dass die Christenheit nicht vor den letzten sieben Jahren vor Christi Wiederkunft schon entrückt werde, sondern dass die Entrückung erst am Ende der sieben Jahre geschieht, kurz vor Beginn der apokalyptischen Zornesschalen-Ausgießung über die Erde.“
„Ja, das habe ich alles schon in den Heften gelesen“ erwiderte ich „Aber was hat das jetzt mit Dir zu tun?“ fragte ich. „Dazu komme ich gleich“ antwortete Raimund. „Der Vater von Daniel schloss sich also diesem Gemeindeverbund von Bruder Heward an und übernahm auch deren Lehren, was zu einer Abspaltung von allen anderen bibeltreuen Christen führte. Denn wenn andere Gemeinden beim Abendmahl noch gesäuertes Brot verwendeten, so stellten sie dadurch ja den HErrn Jesus symbolisch als Sünder dar, und mit Lästerern können wir ja keine Gemeinschaft haben.“ – „Klar.“ bestätigte ich. „Daniels Vater ging aber in der Folgezeit noch einen Schritt weiter und lehrte, dass man sich als Christ vollkommen von der Welt absondern müsse, also nicht nur der Verzicht auf Radio und Zeitung, sondern dass man auch jeden Kontakt zur Welt abbrechen müsse, z.B. in der Arbeitswelt, in Verbänden oder in Vereinen. Denn solange es noch Abhängigkeiten gäbe, sei man nicht frei. Paulus sagt ja: ‚Wenn ihr die Möglichkeit bekommt, aus Sklavenverhältnissen freizukommen, dann nutzt diese, denn andernfalls müsstet ihr ja aus der Welt herausgehen‘. Daniel selbst hat diese radikale Sichtweise nicht vertreten. Aber Ende der 70er Jahre stieß ein ehemaliger Hippie namens Ralf Schiemann zum Daniel-Werner-Kreis, der schon immer davon geträumt hatte, eine christliche Kommune zu gründen. Er kam ursprünglich aus einer Sekte in Frankfurt, die sich ‚Gemeinde Christi‘ nannte, aber die waren ihm nicht radikal genug. Als Ralf dann die Schriften von Daniels Vater las, wurde er völlig überzeugt davon, dass nur das Zusammenleben von Christen in einer Gütergemeinschaft wie die Urgemeinde in völliger Absonderung von der Welt das echte Christentum sei und alles andere nur laues und inkonsequentes Laodizea-Christentum.
Doch als Ralf sah, dass er bei Bruder Daniel mit diesen Ideen auf taube Ohren stieß, entschied sich Ralf, sich vom Daniel-Werner-Kreis zu trennen, um in seinem Haus in Bebra-Asmushausen eine Kommune nach dem Vorbild der Urgemeinde zu gründen. Er kam 1983 nach Bremen und berichtete uns von seinen Plänen. Edgard und die anderen konnte er zwar nicht überzeugen, aber ich hingegen war sofort Feuer und Flamme. Ich kündigte kurzerhand meinen Job und meine Wohnung und zog in das alte Bauernhaus, wo Ralf und seine Frau Dorothea zusammen mit dem Ehepaar Wilfried und Gertrud Dörner wohnten. Wir legten all unsere Ersparnisse zusammen und verdienten uns unseren Lebensunterhalt von nun an als Tagelöhner bei den Bauern in der Nachbarschaft, denen wir bei der Ernte halfen. Jedes offizielle Angestelltenverhältnis lehnten wir ab, weil wir dadurch ja wieder Mitglied im weltlichen System wären. Wir gingen so weit, dass wir sogar unsere Personalausweise wegwarfen, um zu bekennen, dass wir der Welt nicht mehr angehören. Christiane, die Stieftochter von Ralf, verbrannte sogar ihren Gesellenbrief als Bäckereifachverkäuferin, den sie kurz zuvor erst erworben hatte. Es gab bei uns damals sogar kurzzeitig die Überlegung, ob man nicht auch die biblische Kleidung tragen sollte, d.h. Leinengewänder und selbstgemachte Sandalen.“
„Wow, das ist ja wirklich ganz schön radikal!“ sagte ich. „Aber wie kam es dann dazu, dass Ihr zwei Jahre später wieder aufgegeben habt?“ – „Das lag an den Frauen. Gertrud und Dorothea hatten häufig unterschiedliche Ansichten und stachelten ihre Ehemänner gegeneinander auf. Abgesehen davon gingen uns auch allmählich die Ersparnisse zur Neige, und so setzte nach zwei Jahren bei allen die Ernüchterung ein, dass wir unser Projekt aufgeben sollten. Wilfried und ich sind daher wieder nach Bremen zurückgekehrt und haben uns bei Edgard entschuldigt. Und Ralf will sich jetzt mit Bruder Daniel versöhnen.“ Ich freute mich und sagte: „Dann ist doch jetzt wieder alles gut!“ – „Nicht ganz,“ wandte Raimund ein, „denn es droht schon jetzt ein neuer Konflikt. Denn Ralf hatte die Dorothea ja vor sechs Jahren geheiratet, obwohl sie früher schon mal verheiratet war und aus dieser Ehe zwei Töchter hat. Jetzt hat Ralf mit ihr zwei eigene Kinder. Aber Daniel ist der Meinung, dass Ralf sie als Geschiedene gar nicht hätte heiraten dürfen.“ – „Aber das lässt sich ja ohnehin nicht mehr ändern, zumal sie jetzt auch zwei gemeinsame Kinder haben“. – „Das sieht Ralf auch so, aber Daniel ist der Meinung, dass sie ihre Ehe wieder auflösen müssten, da sie vor Gott keine Gültigkeit habe. Das gleiche Problem haben übrigens auch Wilfried und Gertrud, denn auch diese beiden kommen aus geschiedenen Ehen.“ – „Das finde ich aber sehr übertrieben und lieblos“ sagte ich. „Kann man da nicht irgendwie einen Kompromiss finden – um der Barmherzigkeit willen?“ – „Ralf und Wilfried haben bereits versprochen, dass sie mit ihren Frauen nicht mehr intim sind, sondern nur noch wie Bruder und Schwester zusammenleben. Aber ob dem Daniel das genügt…“
Die Winde von falschen Lehren
Wer hätte das gedacht! Da war ich gerade in eine ganz neue Gemeinde gekommen, und schon wurde ich mit so vielen schwierigen Beziehungen konfrontiert! Dabei wäre mir am Liebsten gewesen, wenn alle sich doch wieder einig wären oder wenigstens friedlich miteinander auskämen. Als wir in Fulda ankamen, stieg der alte Bruder Gerhard Sprecher mit seiner Frau zu uns ins Auto. Ich saß mit ihm auf dem Rücksitz, und während der ganzen Fahrt erklärte mir Gerhard, was er alles schon mit Gott erlebt hatte und wie er den Daniel vor Jahren kennenlernte. Dabei übte er jedoch auch viel Kritik an Bruder Daniel und seinen Lehren, was mich sehr betrübte. Da ich aber noch viel zu jung war, traute ich mich nicht, ihm zu widersprechen. Nach 2,5 Stunden kamen wir dann in Weiler (Pfaffenhofen) an und begrüßten die Geschwister, die dort alle aus ganz Deutschland und der Schweiz angereist kamen zur Bibelfreizeit. Man wies mir als jüngsten Bruder ein Bett auf dem Dachboden zu, zusammen mit zwei Brüdern aus der Schweiz. Dann lernte ich auch den Ralf Schiemann (37) kennen und war beeindruckt von seinem langen Bart. Als Edgard und Hedi ankamen, ging ich zu ihnen auf ihr Zimmer und erzählte ihnen vom alten Bruder Sprecher und von all der Kritik, die er an Bruder Daniel geäußert hatte. Edgard war schockiert und sagte, dass ich mich vor diesem Bruder hüten sollte, weil sich das nicht gehöre, dass man über andere hinter deren Rücken schlecht rede.
Als ich wieder zurück auf unserem Zimmer war und in meiner Bibel las, gingen mir die Worte von Edgard nicht aus dem Kopf. Im Grunde hatte ja auch ich mich dann versündigt, weil ich hinter dem Rücken dieses alten Bruders schlecht geredet hatte. Ich hatte mich feige verhalten, wie eine Tratschtante, anstatt dem Bruder ehrlich zu sagen, dass mir seine Kritik nicht gefalle. Jetzt war auch Gott betrübt über mich, deshalb musste ich das so schnell wie möglich wieder in Ordnung bringen. Wir wurden zum Abendessen gerufen. Voller Aufregung ging ich in den Speiseraum, wo schon fast alle Platz genommen hatten. Dann ging ich geradewegs auf den Tisch zu, an dem Bruder Sprecher saß, um ihn um Vergebung zu bitten. Doch in dem Moment, als ich ihm die Hand reichte, schossen mir die Tränen aus den Augen, und ich war kaum noch in der Lage, etwas zu sagen, außer dass es mir sehr leidtäte, dass ich ihn verpetzt hatte. Der alte Bruder war ganz überrascht und irritiert, was denn mit mir los sei, aber nahm wie selbstverständlich meine Entschuldigung an. Dabei schauten sämtliche Augen im Raum auf mich, was mich aber nicht störte.
Nach dem Essen rief mich Bruder Daniel auf sein Zimmer. Er erklärte mir, dass er sich große Sorgen um mich mache, da ich noch sehr jung sei und offen für alle möglichen Einflüsse. „Du musst wissen, Simon, dass bei dieser Freizeit viele Christen gekommen sind, die ich selbst noch kaum kenne, und sie kommen aus ganz unterschiedlichen Gruppierungen. Du bist aber noch nicht genug gefestigt im Glauben, so dass es ein Leichtes ist für den Feind, Dich von irgendeiner neuen Lehre zu beeindrucken und zu verführen.“ – „Keine Sorge, Bruder Daniel,“ wand ich ein, „ich habe die biblische Lehre schon sehr gut gelernt und kann sie gut verteidigen.“ – „Nein, Simon, das möchte ich nicht. Du sollst Dich nicht verteidigen, sondern Dich einfach nur fernhalten von allen anderen! Ein junger Christ wie Du ist noch nicht in der Lage, falsche Lehren zu durchschauen. Da braucht nur mal einer kommen, der die Bibel viel besser kennt als Du und schon kann er Dich hinter sich abziehen. Ich trage aber eine Verantwortung für Dich und darf nicht zulassen, dass Du eine Beute von irgendeinem falschen Lehrer wirst. Deshalb musst Du mir versprechen, mit niemandem auf der Freizeit über irgendwelche Lehrfragen zu diskutieren. Ist das klar?“ Ich versprach es ihm.
Doch schon am ersten Abend, als ich nach der Bibelstunde wieder auf meinem Zimmer war, geriet ich in Versuchung, mein Versprechen zu brechen. Während wir auf unseren Betten lagen, plauderte ich mit den beiden Schweizern, die auch leibliche Brüder waren. Sie erzählten mir, dass sie dem HErrn in völliger Abhängigkeit dienen und deshalb auch nicht arbeiten würden, weil sie keine Zeit dafür hätten. „Und wie bezahlt Ihr dann Eure Miete und den Lebensunterhalt?“ wollte ich wissen. „Wir machen das so: Wenn wir eine Rechnung bekommen, dann legen wir sie dem HErrn im Gebet vor und bitten Ihn, dass Er sie bezahlen möge. Und dann am nächsten Tag öffnen wir den Briefkasten, und dann ist da ein Briefumschlag drin mit genau dem Geldbetrag, den wir brauchen, um die Rechnung zu bezahlen.“ – „Echt!?“ fragte ich überrascht – „Und wer hat Euch diesen Briefumschlag reingeworfen?“ – „Der HErr natürlich. D.h. nicht direkt Er selbst, sondern Er hat einen Seiner Diener gesandt, um uns diesen Betrag zu geben“. Ich war total überrascht: „Und das passiert jedes Mal, wenn Ihr wieder eine Rechnung bezahlen müsst?“ – „Nicht immer, aber der HErr hat immer wieder Mittel und Wege, um uns zu versorgen. Schließlich steht ja auch geschrieben, dass der HErr die Gläubigen versorgt wie die Vögel unter dem Himmel. Wir müssen Ihm nur vertrauen.“ Ich war schwer beeindruckt. „Das ist ja wirklich wunderbar. Ehrlich gesagt, habe ich so etwas noch nie gehört.“ – „Das liegt daran, dass die meisten Christen heute nur an ihre Karriere denken und an ein Haus mit Garten, aber kaum einem ist bewusst, dass Jesus jeden Moment wiederkommen kann.“ – „Aber steht nicht auch geschrieben, dass wir sechs Tage in der Woche arbeiten sollen, und nach Möglichkeit im Schweiße unseres Angesichts?“ fragte ich. „Das war im alten Bund so. Aber im neuen Bund sollen wir uns allein vom Geist Gottes leiten lassen. Und der HErr hat mir gezeigt, dass ich Ihm vollzeitig dienen soll. Denn es gibt Millionen von Menschen, die noch die frohe Botschaft hören müssen. Deshalb ist es einfach unverantwortlich, wenn wir unsere wertvolle Zeit noch mit einem Beruf oder einer Karriere verschwenden.“
Das leuchtete mir ein. Aber gerne wollte ich auch noch mal Daniels Meinung dazu wissen. Am nächsten Vormittag predigte Daniel über das Herr-Sein Christi in Phil.2:9-11 und erwähnte dabei ganz beiläufig, dass man den HErrn Jesus nicht einfach mit „Jesus“ anreden dürfe im Gebet, weil Er seit Seiner Auferstehung den Titel „Herr“ bekommen habe. Aber schon zuvor hätte keiner Seiner Jünger es je gewagt, Ihn einfach mit „Jesus“ anzureden, sondern sie sagten immer nur „HErr Jesus“ zu Ihm (Joh.13:13). Nur die Dämonen sprachen Ihn lediglich mit „Jesus“ an, da Er nicht ihr Herr war (Mk.5:7). Wer also heutzutage nicht in der Lage sei, Jesus als Herrn anzusprechen, beweist nach 1.Kor.12:3, dass er nicht durch den Geist Gottes, sondern durch einen fremden Geist spreche. Das fand ich ja äußerst spannend, und ich nahm mir vor, dass ich da in Zukunft mal genau drauf achten wolle. Nach der Predigt fragte ich Daniel, ob es nicht besser wäre, wenn man wegen der nahen Wiederkunft Jesu lieber nur noch für Gott arbeite, anstatt für irgendeine weltliche Firma. „Nein, auf keinen Fall! Das hatten auch die Thessalonicher geglaubt und einfach aufgehört zu arbeiten. Paulus ermahnte sie jedoch: ‚Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen‘ und er wies sie darauf hin, dass erst der Antichrist kommen müsse und erst danach unsere Entrückung stattfinden werde (2.Thes.2:3). Wie kommst Du eigentlich darauf?“ – „Och, nur so allgemein.“
Als ich nach dem Mittagessen wieder mit den beiden Schweizern allein auf dem Zimmer war, konfrontierte ich sie mit der Erklärung von Bruder Daniel. „Das gilt aber nicht automatisch für alle Christen und kann man auch nicht verallgemeinern, denn der Geist Gottes führt jeden Gläubigen ganz unterschiedlich. Der HErr Jesus und die Jünger haben z.B. auch nicht mehr gearbeitet, sondern von Spenden gelebt. Und wir wollen Ihm ja schließlich in allem folgen.“ – „Aber Ihr könnt Euch doch nicht mit dem HErrn und Seinen Aposteln auf eine Stufe stellen! Außerdem hat der Apostel Paulus auch gearbeitet, um niemandem auf der Tasche zu liegen!“ Nun war der eine von beiden aufgestanden und beteuerte aufgeregt: „Gott hat mich zu einem Propheten und Menschenfischer berufen. Und Du hast überhaupt nicht das Recht, meine Berufung infrage zu stellen! Du kannst auch nicht immer alles mit der Bibel begründen, sondern solltest Dich auch mal selbst mehr vom Geist Gottes leiten lassen, denn sonst dienst Du einem toten Buchstaben. Die Bibel sagt übrigens auch: ‚Wo der Geist des HErrn ist, da ist Freiheit!“ – „Das stimmt. Aber wir sollen auch die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind, und das können wir ja schließlich nur mit der Bibel. Denn der Heilige Geist würde uns ja nie etwas einreden, was nicht mit Gottes Wort im Einklang steht.“ Der Bruder ereiferte sich immer mehr: „Aber wenn doch geschrieben steht: ‚Wo der Geist des HErrn ist, da ist Freiheit‘, dann gilt das etwa nicht mehr?! Wie soll ich mich denn von der Bibel leiten lassen, wenn sie demnach immer ganz widersprüchliche Aussagen macht! Da kann ich sie ja gleich wegwerfen!“ Auf einmal warf er seine Bibel voller Übermut auf den Boden, dass sie unter den Tisch rutschte. „Was sollte das denn jetzt?!“ fragte ich ihn. – „Wieso! wenn sich jeder aus der Bibel das herauspicken kann, was er will, wozu brauche ich dann noch die Bibel?!“ entgegnete er provozierend. Ich war entrüstet: „Hör mal, Du kannst doch nicht einfach die Bibel auf den Boden werfen, ganz gleich was Du damit zeigen willst, denn sie ist Gottes heiliges Wort! Aber wenn Du so wenig Respekt hast vor der Heiligen Schrift, dann wird mir dadurch klar, dass Du einen fremden Geist hast. Denn ein echter Christ hat Gottesfurcht und würde sich scheuen, die Bibel einfach auf den Boden zu werfen!“ – „Ach was! Die Bibel ist nur ein totes Buch und wird erst durch den Geist Gottes lebendig. Moses hat auch die steinernen Tafeln zerbrochen, obwohl sie sogar mit dem Finger Gottes beschrieben waren! Du musst Dich echt mal freimachen lassen von diesem Bibel-Fanatismus, damit Gott Dich durch Seinen Geist leiten lassen kann. Jesus sagt: ‚Der Geist ist es, der lebendig macht‘!“ – „Mir scheint, Du missbrauchst die Bibel, um das Vertrauen in die Bibel zu zerstören. Aber auch das zeigt mir, dass mit Dir etwas nicht stimmt. Außerdem sagst Du im Gebet immer ‚Jesus‘ zum HErrn; daran wurde ich gerade heute Vormittag erinnert, als wir die Predigt hörten. Ich fürchte, dass Du einen falschen Geist hast.“ – „Pass gut auf, was Du sagst, Simon, denn sonst lästerst Du den Geist Gottes!“
Der ältere der beiden Brüder rief uns daraufhin dazu auf, nicht weiter zu streiten. Das war auch gut so, denn durch seinen letzten Satz war ich tatsächlich ganz schön verunsichert. Vielleicht hatte er ja recht, dass ich gerade den Heiligen Geist gelästert habe. Aber wie sollte man denn einen falschen Geist enttarnen, wenn man immer das Risiko eingeht, sich zu irren und dann für ewig verloren zu sein? Dann wäre es ja besser, überhaupt nicht mehr die Geister zu prüfen. Vielleicht sollte ich ihn vorsichthalber bitten, dass er mir vergeben möge? Doch zu meiner Überraschung kam der Jüngere mir am Abend zuvor und bat mich um Vergebung. Zugleich bat er mich aber auch, dass ich diesen Vorwurf zurücknehmen möge, dass er einen anderen Geist habe, und ich willigte sofort ein. Aber mir fiel auf, dass ich wirklich auf der Hut sein musste und nicht alles glauben dürfe, was einer behauptet, selbst wenn er sich als Christ ausgibt, denn der Teufel kann sogar einen Christen gebrauchen, um andere vom Weg abzubringen.
Bruder Daniel aber war der Einzige, der nicht nur wunderbar predigen konnte, sondern auch selbst ein absolut vorbildliches und geradezu asketisches Leben führte. In einer seiner Predigten machte er sehr verständlich, warum ein Christ all diese seelischen Dinge wie Musik oder Fotos nicht mehr brauche, weil sie nur das Fleisch anregen. Als Jünger Jesu müssen wir uns aber verabschieden von allem weltlichen Tand, weil uns nur noch interessieren sollte, wie wir dem HErrn gefallen könnten. Der HErr sagte: „Wer die Hand an den Pflug legt und noch zurückblickt, ist nicht geeignet für das Reich Gottes“. Wozu aber sammeln Christen dann noch Fotos, um sich an ihre Vergangenheit zu erinnern? Das leuchtete mir sofort ein. Als wir nach den Weihnachtstagen wieder nach Bremen zurückfuhren, nahm ich mein Fotoalbum, in welchen fast alle Fotos meiner Kindheit und Jugend drin waren, und warf sie in den Müllcontainer (das ist der Grund, warum ich seither fast kein einziges Foto mehr aus meiner Jugendzeit habe). Zugleich nahm ich auch alle Bilder und Gemälde, die ich mal in tagelanger Arbeit mühsam gemalt hatte und warf sie ebenso weg; denn es steht ja geschrieben, dass wir uns kein Bild machen sollen von allen Dingen, die im Himmel und auf der Erde sind. Als nächstes packte ich all meine Schallplatten in einen großen Karton, um sie wegzuwerfen, und zwar nicht nur mit all der noch verbliebenen weltlichen Musik, sondern auch all die ganzen christlichen Lieder-Kassetten. Mein Bruder Marcus wollte mich noch daran hindern und wandte ein, dass man die Kassetten doch auch einfach überspielen könnte. Aber ich wollte das nicht, weil ich Angst hatte, faule Kompromisse zu machen.
In der neuen Schule
Nachdem ich knapp ein halbes Jahr nicht mehr in einer deutschen Schule war wegen meines USA-Aufenthalts, meldete ich mich im Januar 1986 für das 2. Halbjahr der 11. Klasse im Schulzentrum Walliser Str. an, wo auch Manfred hinging. Ich wählte als Leistungskurse die Fächer Englisch und Kunst und nahm neben den Pflichtfächern Deutsch und Mathe noch die Fächer Chemie, Biologie, Sport und Pädagogik als Grundkurse. Mir war klar, dass ich möglichst jede Gelegenheit in der Schule ausnutzen musste, um dort meinen Glauben an den HErrn Jesus zu bezeugen. Also beteiligte ich mich aktiv im Unterricht, um Bezüge zu meinem Glauben herzustellen. Als wir z.B. im Pädagogikunterricht über die Antiautoritäre Erziehung von Summerhill sprachen, erklärte ich vor der ganzen Klasse, dass Kinder Führung brauchen und deshalb das Projekt der sich selbst überlassenen Schüler von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Dann zitierte ich die Bibel: „Narrheit ist gekettet an das Herz des Knaben, aber die Rute der Zucht wird sie davon entfernen“. Verständlicherweise gab es sofort massiven Wiederspruch von Seiten der Schüler, während der Lehrer nur still und amüsiert den Schlagabtausch zwischen uns verfolgte. Nur einmal meldete er sich zu Wort, um mich zu korrigieren: „Sag bitte nicht immer, dass man Kinder ZÜCHTEN müsse, denn Du meinst wohl eher, dass man sie ZÜCHTIGEN müsse. Züchten ist nämlich noch was anderes!“ Nach dem Unterricht fragte ich den Lehrer, ob ich mit meinen streng konservativen Ansichten überhaupt tragbar sei im Pädagogikfach. Der Lehrer lächelte und sagte nur, dass ich ja auch ein halbes Jahr gefehlt habe und daher noch nicht richtig mitreden könne.
In der Pause erzählte mir Manfred, dass er jetzt wieder hochmotiviert sei, gute Noten zu schreiben, nachdem er all die Jahre zuvor wie ich der Meinung war, dass die weltliche Weisheit ja Torheit bei Gott sei und es sich daher nicht lohne, sich in der Schule anzustrengen. Das sehe er inzwischen anders, nachdem er einen Lehrer kennengelernt habe, der zwar Atheist sei, aber trotzdem ein ganz großes Vorbild für ihn wurde, gerade WEGEN seiner Klugheit und Schlagfertigkeit. Manfred sagte, dass er nach dem Abitur Medizin studieren wolle und deshalb unbedingt sehr gute Noten brauche. „Aber warum willst Du Medizin studieren, wenn Du doch immer der Meinung warst, dass die Reichen alle Egoisten sind und man sich für die Armen in der Welt engagieren müsse?“ – „Das eine schließt das andere doch nicht aus. Auch als Arzt kann man Menschen helfen, und deshalb lohnt sich der Aufwand.“ – „Aber helfen könntest Du den Menschen genauso gut in einfacheren Berufen, z.B. bei der Müllabfuhr. Wenn Du ehrlich bist, musst Du doch zugeben, dass es Dir nur darum geht, später mehr Geld zu verdienen. Sei doch ehrlich!“ – „Warum unterstellst Du mir das? Und selbst wenn ich mal mehr Geld verdienen sollte – was wäre daran verwerflich? Wer mehr hat, kann auch mehr spenden. Was stört Dich denn so sehr daran?“ Ich überlegte. „Früher hatten wir immer die gleiche Meinung und wollten den Armen helfen. Ich finde, dass Du damit Deine Ziele und Überzeugungen verraten hast. Aber Du bleibst immer noch mein bester Freund.“
Kurz darauf lud ich Manfred ein, mich doch mal am Wochenende zu begleiten, wenn ich wieder nach Blumenthal fuhr. Wir verabredeten uns an einem Samstag am Roland auf dem Bremer Marktplatz, und zwar um 15:30 Uhr, um von dort zusammenzufahren. Versehentlich hatte ich jedoch „15:00 Uhr“ verstanden, hatte mich aber dann so sehr verspätet, dass ich erst um 15:30 Uhr ankam. Ich war nun voller Sorge, dass Manfred nicht so lange auf mich warten würde, freute mich aber dann um so mehr, als er gerade ankam. „Oh Manfred, entschuldige bitte, dass ich Dich so lange warten ließ!“ – „Wieso? es ist doch jetzt genau halb vier, wie wir es abgemacht hatten!“ Als sich dann das Missverständnis aufklärte, dachte ich nur: Was für ein Zufall! Als wir später dann bei Kaffee und Kuchen saßen zusammen mit Bruder Daniel, erzählte ich allen von dieser glücklichen Fügung und endete mit den Worten: „Das ist doch wirklich lustig, nicht wahr!“ Daniel antwortete: „Das ist überhaupt nicht lustig, sondern sehr ernst. Du hättest den Manfred ja normalerweise dann wirklich viel zu lange warten lassen. Wenn man zu Verabredungen nicht pünktlich ist, dann ist das vor Gott eine Sünde. Da musst Du drüber Buße tun!“ Ich schaute verschämt zu Manfred rüber, der sich gerade noch ein Lächeln verkneifen konnte.
Um vom Thema abzulenken, sagte ich: „Ach Daniel, übrigens habe ich Dir ein Geschenk mitgebracht. Darf ich Dir das mal in der Küche zeigen?“ Ich hatte nämlich auf einem großen Plakat mit Wachsstiften den Psalm 23 geschrieben und dann an den Rändern in verschiedenen Farben verziert. Doch zu meiner Überraschung gab Daniel kein einziges Wort der Freude und Dankbarkeit von sich, als er das Plakat sah, sondern las stattdessen nur andächtig den Psalm. Als er fertig war, sagte er: „Na ja, Simon, das ist wirklich schade, aber Du hast da einen Rechtschreibfehler und musst den Psalm leider nochmal schreiben.“ – „Einen Rechtschreibfehler? Wo denn?“ – „Schau mal ganz genau hin; vielleicht entdeckst Du ihn selbst.“ – Ich las alles noch einmal ganz gründlich, konnte aber keinen Fehler entdecken. „Wo denn genau?“ fragte ich. „Lies mal die 6. Zeile, dann findest Du ihn.“ Ich las noch einmal und schüttelte dann den Kopf: „Tut mir leid, aber ich finde ihn nicht.“ – „Aber Simon, Du enttäuscht mich aber. Du bist doch ein kluger, junger Mann! Siehst Du denn nicht, dass das letzte Wort klein geschrieben werden muss? Es heißt: ‚um Seines Namens willen‘ und nicht ‚um Seines Namens Willen‘“. Jetzt begriff ich: „Aber das ist doch kein Problem, das kann ich eben ein wenig mit TippEx korrigieren und dann sieht man es nicht mehr.“ – „Aber Gott sieht es, und auch die Engel. Man kann das Wort Gottes nicht einfach korrigieren. Wenn die Übersetzer der Bibel sich vor 1000 Jahren mal verschrieben haben, dann musste immer gleich die ganze Seite neu geschrieben werden. Wenn Du mir also eine Freude machen willst, solltest Du Dir die Mühe machen, den Text noch einmal neu abzuschreiben.“
Ich dachte nur: Was für eine Demütigung und Kränkung! Und das auch noch in Anwesenheit von Manfred, der sich jetzt garantiert über mich und diesen Kreis lustig machen wird! Wie peinlich ist das alles! Aber ich hatte keine Chance gegen Daniel. Wenn er sagt, dass ich den ganzen Psalm noch einmal neu abschreiben müsse, dann war das so, denn Daniel hatte immer recht. Am folgenden Montag fragte mich Manfred in der Schule: „Na, Simon, hast Du denn jetzt Buße getan? Hahahaha hahaha!“ Während er laut lachte, prügelte ich mich aus Spaß mit ihm, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber er lachte immer weiter. Das war ganz typisch für Manfred, dass er sich gerne über die Peinlichkeiten anderer lustig machte, und eigentlich mochte ich das auch an ihm, denn er gab mir dadurch immer zu verstehen, dass doch alles nicht so heiß gegessen wird, wie man es kocht. Sein Spruch war immer: „Take it easy, alles nicht so schlimm!“ Aber für mich war es schlimm, dass er kaum mehr Interesse zeigte an der Bibel, obwohl doch gerade ER es war, der mich zwei Jahre zuvor noch zum Bibellesen animiert hatte. Jetzt aber hatte er seinen Glauben verloren und war zum Zyniker geworden – und das nur wegen diesem Lehrer Fritz Starke, der ihn zum Unglauben verführt hatte! Ich erzählte dem Daniel und Edgard davon und fragte sie, wie ich den Manfred wieder für den Glauben gewinnen könne. Daniel sagte: „Wenn er den HErrn Jesus ablehnt, dann kannst Du nicht länger mit ihm befreundet sein. Sag ihm einfach: ‚Ich gehöre jetzt zum HErrn Jesus und folge Ihm nach. Wenn Du mitkommen willst, dann komm gerne mit. Aber wenn Du bleiben willst, dann trennen sich jetzt unsere Wege‘.“
Ein paar Tage später saß ich nach der Schule mit Manfred auf dem Flur und dachte: Jetzt ist die Gelegenheit günstig. Mit trauriger Stimme wiederholte ich die Sätze, die Daniel mir aufgetragen hatte und sagte zum Schluss: „Ich möchte so gerne, dass Du auch wieder Christ wirst. Aber was soll ich machen? Wenn Du den Glauben ablehnst, dann müssen sich unsere Wege trennen.“ Nun beobachtete ich Manfred. Er sagte kein einziges Wort. Auf einmal lief ihm eine Träne aus dem Auge. Nun konnte auch ich mich nicht mehr kontrollieren und sagte mit weinerlicher Stimme: „Ach, vergiss das einfach, was ich gesagt habe. Wir bleiben für immer Freunde, keine Sorge.“
Die Kunstgeschichte am Beispiel der Wiederkunft Jesu
Da ich während der Schulpausen immer in meiner Bibel las, wurden auch meine Mitschüler darauf aufmerksam. Als ich meine Bibel einmal für eine Zeit unbeaufsichtigt liegen gelassen hatte, sah ich, dass jemand das Wort „Mods“ in den Buchdeckel reingeschrieben hatte. Ich ärgerte mich aber nicht, sondern war nur froh, dass er die Bibel nicht beschädigt hatte. Eines Tages sprach mich im Treppenhaus der Schule eine Klassenkameradin auf meinen Glauben an. Maren Behrens kannte ich schon seit der 9. Klasse, hatte aber bisher kaum Kontakt zu ihr. Sie erzählte mir, dass sie und ihr Freund Michael Lange gemerkt hätten, dass ich an Jesus glaube und wollten mehr davon erfahren. Wir verabredeten uns nach der Schule auf dem Schulhof, und ich erklärte beiden ausführlich das Evangelium. Maren hatte eine sehr kindliche Art an sich und ein einnehmendes Lächeln. Auf einmal fragte Maren: „Was muss man denn machen, um nach dem Tod in den Himmel zu kommen?“ Voller Freude bot ich den beiden an, dass wir zusammen beten könnten, damit der HErr Jesus sie errette. Sie willigten ein, und wir beteten gemeinsam. Dann fragte mich Maren: „Bin ich denn jetzt ein Kind Gottes geworden?“ Ich lächelte und sagte: „Ja, ich denke schon.“ Dann hatte Michael noch mehrere Fragen an mich, die ich ihm beantworten konnte. Doch während ich ihm alles erklärte, sahen wir plötzlich, wie Maren auf dem Schulhof eine Art Reigen tanzte, obwohl gar keine Musik spielte. Ich fragte sie, was sie denn da mache, und sie sagte: „Ach, ich freu mich einfach so, dass ich jetzt ein Kind Gottes bin!“
Auf der Gymnasialen Oberstufe sucht sich jeder Schüler immer einen Vertrauenslehrer aus, auch Tutor genannt. Ich hatte unseren Kunstlehrer Tilmann Rothermel gewählt, der nebenberuflich ein freischaffender Künstler war. Eines Tages lud er uns als seine Vertrauensschüler (Tutanden) in sein Atelier ein zum näheren Kennenlernen. Als wir dann alle um seinen Tisch herumsaßen, fiel mir auf, dass die anderen ziemlich verrückt gekleidet waren. Ein Mädchen hatte sich z.B. wie eine Nomadin verkleidet mit einem selbstgenähten Mantel, der aus vielen Flicken bestand. Aber auch alle anderen wirkten auf mich wie Freaks mit ihren Tattoos und Piercings, so dass ich als Normalo richtig auffiel. Aber unser Kunstlehrer war ganz offensichtlich noch viel verrückter als alle anderen, denn seine Collagen waren z.T. ein einziges Krikelakrak mit knallbunten Farben und albernen Figuren. Herr Rothermel hatte uns am Beispiel des Dadaismus einmal erklärt, dass es in der Avantgarde-Kunst nicht um Schönheit ginge, sondern darum, eine Idee umzusetzen, auf die zuvor noch niemand gekommen sei. Gleiches gelte ebenso für die Musik. Eine Schülerin fragte ihn, was er denn eigentlich so für Musik höre. „Ach, ganz unterschiedlich. Meistens Jazz oder experimentelle Musik. Teilweise sind das Stücke, da könntet Ihr wohl nichts mit anfangen.“ Nun waren alle neugierig: „Bitte, könnten Sie uns mal davon was vorspielen. Das würd‘ uns jetzt aber echt mal interessieren! Bitte, bitte, bitte!“ – „Na gut, wenn Ihr unbedingt wollt. Aber ich fürchte, dass Euch da die Ohren abfallen.“ Er legte eine Schallplatte auf, und man hörte plötzlich eine fürchterliche Aneinandereihung von Krach, so als ob Kinder mit Streichinstrumenten wild hin und her, rauf und runter Lärm produzieren würden. Wir mussten alle ein wenig lachen. „Das hört sich ja an, als würde jemand auf der Langwelle ziellos immer weiterdrehen“ sagte ich. „Mag sein, aber ich hatte Euch ja gesagt, dass diese Musik anspruchsvoll und eher gewöhnungsbedürftig ist für unkundige Ohren. Daher gibt es von dieser Platte auch nur eine sehr geringe Auflage, da nur wenige diese Art Musik verstehen.“ Um das Thema zu beenden, machte ich abschließend noch die Bemerkung: „Naja, dann kann diese Band ja froh sein, dass sie in Ihnen jemanden gefunden hat, der diese Platte gekauft hat.“ Überraschenderweise musste Herr Rothermel plötzlich laut lachen. „Warum lachen Sie?“ fragte ich verunsichert. Als er sich wieder gefangen hatte, bekannte er mir: „Besonders witzig finde ich Deine Einfalt, dass Du überhaupt nicht merkst, dass Du mich gerade eben richtig beleidigt hast. Denn im Grunde hast Du gerade gesagt: ‚Dann kann diese Band ja froh sein, dass sie hier einen solchen Trottel gefunden hat, der für diesen Schrott auch noch Geld bezahlt hat.“ – „Aber das habe ich doch gar nicht gesagt und auch nicht gedacht.“ – „Das weiß ich, deshalb nehme ich Dir das ja auch nicht übel.“ – „Aber das wollte ich wirklich nicht sagen.“ – „Ist schon gut, Simon.“
Die Schüler unterhielten sich dann noch eine ganze Weile mit unserem Vertrauenslehrer über die moderne Kunst. Herr Rothermel erzählte, dass er auf einer großen Künstlerausstellung mal ein Arrangement mit Steinen, Blättern und Stacheldraht hingelegt hatte. „Und was sollte das bedeuten?“ fragten die Schüler. „Das muss jeder für sich herausfinden“ war seine Antwort. Ich schaute auf die Uhr: „Ich muss mich jetzt langsam auf den Weg machen, denn Dienstgsabend geh ich immer zur Bibelstunde.“ – „Na sowas! Das finde ich ja spannend“ sagte Herr Rothermel. „Denn ich hatte in meiner Jugendzeit auch viel mit freikirchlichen Christen zu tun. Da müssen wir uns mal dringend persönlich unterhalten. Gibt es noch andere in der Schule, die so wie Du gläubig sind?“ – „Ja,“ sagte ich, „z.B. die Maren Behrens, die ja auch bei Ihnen im Kunstunterricht ist. Ich habe hier übrigens mal eine Schrift für Sie, ‚Schritte in ein neues Leben‘, die ich Ihnen gerne geben möchte.“
Am nächsten Morgen hatten wir wieder Kunstunterricht bei Herrn Rothermel. Er sagte: „Heute wollen wir mal über die verschiedenen Stile der Architekturgeschichte sprechen.“ Dann wandte er sich zu Maren Behrens: „Maren, könntest Du heute mal das Protokoll schreiben? Danke.“ Und dann legte er los: „Vor etwa 1000 Jahren glaubten die Menschen, dass Jesus bald wiederkommen würde, denn in der Bibel steht, dass Jesus nach 1000 Jahren wiederkomme. Damals gaben die Menschen all ihren Reichtum der Katholischen Kirche, die ihnen versprochen hatte, dass sie nur dadurch einen sicheren Platz im Himmel bekämen. Die Kirche baute von dem Geld besonders stabile Kirchengebäuden mit dicken Wänden, die sogar den Überfällen von heidnischen Kriegern standhalten konnten. Das war die Zeit der sog. ROMANIK, etwa von 950 bis 1150 n.Chr. Als dann das Jahr 1000 vorbeiging und Jesus immer noch nicht wiedergekommen war, waren die Leute sehr enttäuscht und verzweifelt. Die Kirche erklärte ihnen, dass sie noch zu viele Sünden täten und noch mehr Geld für die Kirche spenden sollten, damit Jesus wiederkommen könne. Das taten sie dann auch, und es begann die Zeit der GOTIK von 1150 bis 1500, also im gesamten Spätmittelalter.“ Ich fand es unerhört, dass er einfach öffentlich den Glauben und die Kirche schlechtmachte und meldete mich, um zu widersprechen. Herr Rothermel, ahnte schon, warum ich mich meldete und sagte: „Nein, Simon, ich werde mich jetzt nicht mit Dir über exegetische Fragen unterhalten, denn ich weiß, dass Du das als Christ ganz anders siehst.“ – „Aber es stimmt einfach nicht, wenn Sie behaupten, dass Jesus nach der Bibel im Jahr 1000 wiederkommen sollte. Das ist einfach nicht wahr!“ – „Das mag sein, dass es da heute unterschiedliche Auslegungen gibt, aber die Bibel sagt doch, dass es 1000 Jahre Frieden gäbe und dann das Endgericht bei der Wiederkunft Christi. So zumindest haben es die Kleriker damals geglaubt und gelehrt, und das ist ja das Entscheidende.“ – „Ja, aber Sie haben behauptet, dass das so in der Bibel stehe, und das stimmt eben nicht.“ – „Wie gesagt, Simon, da gibt es unterschiedliche Interpretationen, aber lass uns das jetzt nicht vertiefen. Wir machen jetzt mal weiter bei der Gotik. Die Menschen bauten also riesige Kirchen in der Hoffnung, dass sie dadurch Gott gefallen könnten, nach dem Motto: ‚Wenn Gott nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu Gott‘. Wir werden uns die verschiedenen Stile gleich noch näher auf Bildern anschauen im Anschluss, aber hier nur erstmal ein grober Überblick, um die Begriffe zu veranschaulichen. Als Jesus dann im 15. Jh. immer noch nicht gekommen war, wandten sich immer mehr Künstler von der Kirche ab und machten Kunstwerke, die die Kirche bis dahin verboten hatte, indem man z.T. nackte Körper darstellte, die dreidimensional schon fast wie echt wirkten. Man orientierte sich hier an den Alten Griechen, deren freidenkerische Kultur man zu neuem Leben erwecken wollte. Deshalb nennt man diese Epoche vom 15.-16. Jh. auch RENAISSANCE, d.h. die ‚Wiedergeburt‘ der Antike. Der Mutter Kirche hat diese Abkehr vom christlichen Glauben natürlich gar nicht gefallen, deshalb setzte sie alle möglichen Hebel in Gang, um die Menschen wieder in die katholische Kirche zu locken, indem sie nun selbst anfing, ihre Kirche lustvoll und gefühlsbetont zu schmücken mit schwungvollen Kringeln und Verzierungen. Das war die Zeit des BAROCK von 1600 bis 1750 n.Chr. Die Rückkehr der Frömmigkeit findet auch Anklang in dem Kinderlied ‚Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein‘, als die Mutter ‚weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr‘, und dann heißt es: ‚da besinnt sich das Kind, eilt nach Haus geschwind‘. Das Zuhause ist in diesem Fall bei der Mutter Kirche.“ Und so ging es dann immer weiter, dass Herr Rothermel immer wieder Bezüge herstellte zur Kirchengeschichte, weil dies von der Kunst seiner Meinung nach nicht zu trennen sei. Ich dachte die ganze Zeit nur: Die arme Maren! Sie muss all dieses aufschreiben und wird in ihrem kindlichen Glauben noch ganz durcheinandergebracht!
Nach der Unterrichtsstunde ging ich zum Lehrer und sagte ihm, dass ich das nicht gut fand, dass er meinen christlichen Glauben so schlechtgeredet hatte vor der ganzen Klasse. Er hätte da mehr Rücksicht nehmen müssen. „Simon, über Jahrhunderte haben Christen der Kunst vorgeschrieben, was sie darf und was sie nicht darf. Die Gesellschaft hat sich jedoch seit der Aufklärung von dieser Bevormundung freigemacht und emanzipiert. Jeder kann die Welt heute deuten, wie er es für richtig hält, und Du musst damit leben, dass die Menschen sich heute nicht mehr an bestimmte religiöse Vorgaben halten wollen, sondern eine freie Entfaltung und Selbstverwirklichung anstreben.“ – „Ja, aber nicht auf Kosten von Minderheiten!“ wand ich ein. „Außerdem ist der heutige Mensch ja gar nicht wirklich frei, sondern gehorcht allen möglichen Mode-Torheiten, um bloß nicht als ‚angepasst‘ zu gelten. Als konservativer Christ falle ich heute schon viel mehr auf, weil ich mich nicht dem gerade herrschenden Zeitgeist beuge und bin dadurch viel weniger angepasst.“ – „Das hast Du gut erkannt. Und tatsächlich leben wir heute in einem kubischen System, wo zwar jeder ein Individuum ist, aber sich dann doch unbemerkt in ein großes Ganzes fügt“ erklärte Herr Rothermel. „Aber ich finde, dass in der heutigen Gesellschaft auch Rücksicht genommen werden muss auf Andersdenkende, die sich nicht so leicht in die Masse einfügen lassen.“ – „Das tun wir ja, Simon. Aber wer selbst Kritik übt, muss auch Kritik einstecken können.“
Diese klärende Aussprache war gut gewesen, denn in den Wochen danach hatte unser Lehrer keine Sticheleien mehr auf den christlichen Glauben geübt, sondern schenkte mir viel Sympathie. Einmal durften wir im Freistil ein Bild nach Wunsch malen, das wir aber dann vor der Klasse erklären sollten. In der Pause kam Michael Lange zu mir und sagte: „Simon, ich habe keine Idee, was ich malen könnte. Hast Du vielleicht eine Idee für mich?“ Ich antwortete spontan: „Mal doch eine große Menschenmenge, die sich auf den Horizont zubewegt und dann in den Wolken verschwindet.“ – „Ja, das ist eine super Idee! Das mach ich. Danke!“ Eigentlich wollte ich diese Idee für mein eigenes Bild verwenden, aber ich gab lieber Michael den Vorzug. Ich überlegte nochmal. Da ich eine große Sehnsucht nach Gott hatte, kam mir die Idee, jene Szene zu malen, in welcher Mose voller Sehnsucht vom Berg Nebo auf das verheißene Land Kanaan schaut. Als der Lehrer an meinen Tisch kam und das Bild sah, sagte er: „Das ist wirklich eine sehr schöne Landschaft. Du kannst echt gut malen. Aber was soll dieser alte Knacker da rechts im Bild? Mach den lieber wieder weg, denn der verschandelt das Bild.“ Ich war empört: „Der ‚alte Knacker‘ ist Mose, der Mann Gottes, der hinabschaut ins Tal. Ohne ihn ergäbe das Bild doch überhaupt keinen Sinn!“ – „Mag sein, aber das weiß ja keiner, wer das sein soll. Ich hätte diesen Opa lieber weggelassen.“ Als er dann an den Tisch von Michael kam, sagte Rothermel: „Ach, und das sollen wohl die Heiligen sein auf dem Weg ins himmlische Jerusalem? Da hat Dir doch bestimmt der Simon bei geholfen, oder?“ – „Nein, das habe ich allein gemalt! Simon hat mir lediglich eine Idee gegeben.“
Später sollten wir mal einen sog. Linolschnitt machen, d.h. auf einem weichen Linoleumbelag ein Bild ritzen mit einem Hohleisen, mit dem das Negativbild ausgehoben wird. Da Herr Rothermel nicht schon wieder ein biblisches Motiv von mir sehen wollte, schnitt ich einen Jungen, der gerade im Fernsehen sieht, wie ein Mann eine Frau erwürgt, und der Junge sich dann in einer Gedankenblase vorstellt, wie er selbst gerade seine Mutter erwürgt. Um die Botschaft des Bildes noch überdeutlicher werden zu lassen, malte ich noch ein Skelett, das auf dem Fernseher saß und den Jungen an einer Kette hielt, an die er angekettet war. Mein Lehrer war über dieses Bild entsetzt: „Simon, was Du machst, hat nichts mehr mit Kunst zu tun und ist noch nicht einmal provokant, sondern einfach nur plakativ und – in seiner billigen Trivialität – geradezu obszön. Du bemühst Dich ja noch nicht einmal, Deine Aussage künstlerisch zu chiffrieren! Und Bilder mit Skeletten sind schon seit Hans Holbeins ‚Totentanz‘ im 15. Jh. mega-out!“ – „Aber die Verführung durch Gewaltdarstellungen im Fernsehen ist doch immer noch ganz aktuell!“ widersprach ich. „Das ist ja zunächst einmal nur eine klischeehafte Behauptung, denn nicht jeder Sohn bringt gleich seine Mutter um, nur weil er mal einen Horrorfilm gesehen hat. Aber selbst wenn Du diese These behaupten willst, solltest Du sie nicht so plakativ darstellen, sondern künstlerisch verfremden.“
Erhobene Hände
Da der Weg nach Blumenthal jedes Mal sehr weit für mich war, fuhr ich nicht jedes Wochenende zu Edgard und Hedi, sondern nur einmal im Monat, wenn Bruder Daniel oder ein anderer Bruder gerade zu Besuch war. Die anderen Male fuhr ich auch weiterhin zur Missionsgemeinde, wo zwar ein wenig Terror ausgeübt wurde auf die Geschwister, aber wo man dennoch auch viele nützliche Belehrung bekam. Doch die Brüder hatten inzwischen bemerkt, dass ich auch noch zu einem anderen Kreis hinging, denn sie wunderten sich, dass ich beim Gebet neuerdings die Hände erhob. An einem Sonntagmorgen setzte sich vor Beginn des Abendmahls Bruder Dieter Müller neben mich, was mich sehr wunderte, denn er saß eigentlich immer weiter vorne. Als wir dann zum Gebet aufstanden und ich wie immer meine Hände erhob, flüsterte mir Dieter plötzlich in einem scharfen Befehlston zu: „Nimm die Hände runter!“ Ich erschrak, weil er dies mitten im Gebet zu mir sagte und zögerte zunächst. Dann ein zweites Mal, aber viel lauter und wütender: „NIMM DIE HÄNDE RUNTER! Das ist Befleckung!!!“ Völlig erschrocken und eingeschüchtert gehorchte ich einfach, um kein Aufsehen zu erregen. Als dann die Pause kam, fragte ich Dieter sofort: „Warum darf ich die Hände im Gebet nicht erheben?“ – „Tut mir leid, Simon, dass ich so barsch war, aber das musste sein. Denn die Art, wie Du Deine Arme anwinkelst, die kommt ursprünglich aus dem indischen Yoga und nennt sich Finger-Mudra. Man berührt dabei mit seinem Zeigefinger den Daumen und nimmt dadurch Kontakt zur Geisterwelt auf. Ich war ja selber früher im Okkultismus aktiv, daher kenne ich das. Selbst wenn Du das nicht wusstest, aber das ist Befleckung!“ – „Aber ich habe doch gar nichts mit den Fingern gemacht, sondern nur wie Mose meine Hände zum Gebet erhoben…“ – „Das ist im Alten Bund. Im Neuen Bund falten wir zum Gebet die Hände und sagen damit, dass wir mit Christus eins geworden und zur Ruhe gekommen sind.“ Ich dachte: Das muss ich prüfen!
Am darauffolgenden Wochenende fragte ich Edgard nach dem Gottesdienst, warum er und die anderen die Hände zum Gebet hochheben. Er wies mich auf 1.Tim.2:8, wo es heißt: „Ich will nun, dass die Männer an jedem Orte beten, indem sie heilige Hände aufheben…“ Ich war überrascht und erfreut zugleich, dass es sogar ein klares Gebot im Neuen Testament gab. Jetzt war ich gespannt, was wohl Dieter dazu sagen würde. Bald darauf fuhr ich wieder zur Missionsgemeinde und stellte Dieter zur Rede bezüglich des Verses in 1.Tim.2:8 und bat um eine Erklärung. Dieter schaute mich entgeistert an und sagte dann: „Ja, das tun wir ja ohnehin, aber nicht buchstäblich, sondern geistlich. Alles was im Alten Testament buchstäblich zu befolgen war, tun wir heute nur noch geistlich…“ Da merkte ich, dass sich Dieter hier nur herausreden wollte.
Mitte März erfuhr ich, dass mein Vater auf der Arbeit einen Hexenschuss bekommen hatte, und zwar so stark, dass er im Krankenhaus noch genauso verkrümmt im Bett lag, wie er zuletzt sich gebückt hatte. Als ich Edgard davon erzählte, hatte er spontan die Idee, meinen Vater mit mir zusammen zu besuchen. Mein Vater freute sich sehr, als er uns beide sah. Sofort begann mein Vater dem Edgard ausführlich über seine Eheprobleme zu berichten und jammerte über die Zurückweisung meiner Mutter. Bei manchen seiner Sätze hätte ich mir gewünscht, gar nicht anwesend zu sein. Ich hatte gar nicht gedacht, dass mein Vater so verzweifelt war. Edgard redete liebevoll zu meinem Vater, und zu meiner großen Überraschung war mein Vater ganz offen für das Evangelium und ließ sich von Edgard nach Blumenthal einladen, sobald er wieder entlassen sei. Tatsächlich fuhr ich dann am darauffolgenden Wochenende mit meinem Vater nach Blumenthal, um das Wochenende dort zu verbringen. Voller Liebe beantworteten Edgard und Hedi meinem Vater die Fragen, die er hatte. Es entstand eine richtige Freundschaft, und mein Vater versprach, dass er von nun an jedes Wochenende mit mir nach Blumenthal fahren würde. Und als ob das nicht schon zu viel des Guten wäre, machten mein Vater und ich von nun an auch während der Woche gemeinsame Andachten, indem wir zusammen beteten und dann gemeinsam eine Predigtkassette von Daniel Werner hörten. Es war so, als wäre mein Vater zum ersten Mal für mich da. Ich erkannte ihn gar nicht mehr wieder. Es war wirklich ein Wunder passiert. Manchmal kam meine Mutter ins Zimmer und sah, wie mein Vater und ich gerade zusammen auf den Knien beteten. Das machte meine Mutter völlig fertig, denn für sie war dies alles ein verlogenes Possenspiel meines Vaters.
Die Ehe meiner Eltern hing inzwischen nur noch am seidenen Faden. Ein Jahr zuvor hatte sie noch einmal einen Familienrat mit uns Kindern abgehalten und uns gefragt, ob wir einer Trennung von meinem Vater zustimmen würden. Doch während bei der ersten Abstimmung vor zwei Jahren noch alle dagegen waren außer mir, war es nun genau andersherum: alle außer mir stimmten für eine Trennung. Dennoch hatte meine Mutter entschieden, dass eine Trennung nur bei Einstimmigkeit möglich sein könne. Da ich inzwischen jedoch gläubig war und eine Trennung oder Scheidung prinzipiell ablehnte, war meine Mutter gezwungen, bei meinem Vater zu bleiben. Dieser hingegen ließ sich nun regelmäßig von Edgard beraten, wie er sich zuhause verhalten solle. Edgard sagte z.B.: „Georg, Du bist der Herr im Haus und darfst nicht zulassen, dass Deine Frau Dir ständig Vorhaltungen macht. Und Du darfst auch nicht erlauben, dass Deine Tochter bei Dir zuhause in Hurerei lebt, sondern musst unbedingt ein klares Machtwort sprechen. Denn Gott hat Dir für Deine Familie die Verantwortung und Vollmacht anvertraut; deshalb musst Du wieder die Stellung einnehmen, die Gott Dir zugedacht hat.“
Zwei Tage später, als meine Mutter mal wieder in der Küche mit meinem Vater schimpfte, kam meine Schwester Diana herein. Auf einmal erhob sich mein Vater und sagte mit ruhiger, aber fester Stimme: „Diana, ich muss Dir jetzt mal dringend etwas sagen. Und zwar gestatte ich Dir von heute an nicht mehr, dass Du mit Deinem Freund Ralf hier in meinem Haus vorehelichen Verkehr hast. So etwas gehört sich nicht und ist eine Sünde vor Gott.“ Sofort brach es aus meiner Mutter und aus Diana heraus und sie überschütteten meinen Vater mit Geschrei und Vorwürfen, wie er es überhaupt wagen könne, Diana so zu bevormunden etc. Mein Vater konnte das Geschrei nicht länger ertragen, stand auf und ging aus der Küche. Doch während meine Mutter und Diana weiter auf ihn einredeten, geschah plötzlich etwas ganz Unerwartetes: Mein Vater ließ sich auf einmal auf die Kniee fallen, erhob seine Hände und betete laut: „Oh Gott, bitte sei mir und meiner Familie gnädig!“ Meine Mutter empfand dies als absolute Provokation, und sie hielt dies auch nicht für ein ernstgemeintes Gebet, sondern für reinen Spott. Vielleicht war es sogar dieser Moment, dass meine Mutter sich endgültig entschied, sich von meinem Vater trennen zu müssen, da sie es nervlich einfach nicht mehr mit ihm aushielt. Aber auch ich setzte meiner Mutter schwer zu, da ich ihre Liebe zur Welt immer häufiger kritisierte. Damals lernte sie nämlich zwei Musikclowns aus Chile kennen, von denen sie so sehr fasziniert war, dass sie bald jeden ihrer Auftritte besuchte und so etwas wie deren Managerin wurde. Als ich ihr eines Tages sagte, dass dies Götzendienst sei und dass wir nicht Menschen verehren dürfen, sondern nur Gott allein, rastete sie völlig aus.
An einem Sonntagmorgen hatte ich den Bus verpasst, um zur Missionsgemeinde zu fahren. Um noch pünktlich zu kommen, musste ich mit dem Fahrrad zur Föhrenstraße radeln, um von dort aus die Straßenbahn der Linie 10 zum Hauptbahnhof zu nehmen. Da mein Fahrrad jedoch gerade einen Platten hatte, nahm ich mir einfach das Fahrrad meiner Schwester, ohne sie zu fragen. Da es jedoch kein Schloss hatte, versteckte ich es hinter einem Wohnblock in einem Busch. Als der Gottesdienst vorbei war, fuhr ich nach Haus und vergaß völlig, dass ich ja noch das Rad meiner Schwester dort gelassen hatte. Am nächsten Tag sagte meine Schwester laut: „Wer ist zuletzt mit meinem Fahrrad gefahren?“ Da erschrak ich und bekannte ihr und meiner Mutter, dass ich es ungefragt genommen hatte. Meine Mutter war außer sich und verlangte, dass ich sofort zur Föhrenstraße fahren solle, um das Fahrrad herzuholen. Als ich losfahren wollte, sagte meine Mutter einen Satz, der mich ziemlich schockierte: „Wenn das Fahrrad gestohlen sein sollte, dann brauchst Du gar nicht erst wiederkommen!“ Ich fragte mich: Wie hat sie das gemeint?
Als ich bei der Föhrenstraße ankam und zum Versteck ging, war das Fahrrad nicht mehr da. Traurig fuhr ich zurück nach Hause. Als ich das Haus betrat, war meine Mutter gerade am Telefonieren. Als sie mich sah, unterbrach sie kurz ihr Gespräch und fragte mich, ob ich das Fahrrad habe. Ich verneinte es und ging betrübt nach oben. Als meine Mutter später das Gespräch beendet hatte, kam sie zu mir nach oben und entschuldigte sich für ihre dumme Bemerkung vorhin. Doch dann sagte sie: „Simon, ich würde gerne mal etwas Grundsätzliches mit Dir besprechen. Und zwar hast Du ja mitbekommen, dass ich mit Vater in letzter Zeit nur noch Streit habe und dass eine Trennung von ihm für mich inzwischen unvermeidlich geworden ist. Aber ich habe ehrlich gesagt nicht nur Probleme mit ihm, sondern auch mit Dir. Du weißt, dass ich Dich von Herzen liebhabe, aber ich halte ein Zusammenleben mit Vater und Dir einfach nicht länger aus, besonders seit Ihr beide nun auch noch zusammen nach Blumenthal fahrt. Ich respektiere Deinen Glauben, aber ich kann es einfach nicht länger ertragen, dass Du mir direkt oder indirekt ständig Schuldgefühle verursachst. Deshalb möchte ich, dass Du zusammen mit Vater das Haus verlässt. Mein Vorschlag ist, dass Du im Juli, wenn Du volljährig wirst, bei Edgard und Hedi einziehst. Sie haben ja ein großes Haus und bestimmt nichts dagegen, wenn Du ihr neuer Mitbewohner wirst. Und mit Vater werde ich sprechen, dass er sich eine eigene Wohnung nehmen möge. Wir werden uns ja nicht scheiden, weil das vor Gott nicht erlaubt ist, aber ich möchte, dass wir in Zukunft getrennt wohnen.“
Obwohl ich es schlimm fand, dass meine Mutter uns loswerden wollte, konnte ich ihren Entschluss gut nachvollziehen und auch innerlich bejahen. Deshalb vereinbarte ich mit ihr, dass ich mit Edgard und Hedi sprechen würde und dann ab Mitte Juli zu Beginn der Sommerferien zu ihnen nach Blumenthal ziehen könnte. Wie zu erwarten, waren die beiden sofort damit einverstanden und freuten sich sehr, dass Gott ihnen nun einen „Sohn“ geschenkt hatte.