Dezember 2019 bis Januar 2020
Die Ernte zwar ist groß, aber der Arbeiter sind wenige
Über die Weihnachtstage machte ich einige Renovierungsarbeiten am Innenhof vor unserer Wohnung. Dabei kam mir der Gedanke, einen Bibelvers am Eingangstor anzubringen. Da unsere Nachbarn alle Katholiken waren, wählte ich den Vers: „Wenn ihr nicht wiedergeboren werdet aus Wasser und Geist, könnt ihr nicht ins Reich Gottes eingehen“ (Joh.3:3). Dann bestellte ich auch gleich 800 Traktate mit der Aufschrift: „Bis wann hinket ihr auf beiden Seiten? Wenn Jesus Christus Gott ist, dann wandelt Ihm nach, wenn aber die Jungfrau Maria, dann wandelt ihr hinterher (vergl.1.Kön.18:21). ‚Denn es ist in keinem anderen das Heil, denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in welchem wir gerettet werden müssen‘ (Apg.4:12). Simon & Ruth Poppe, Unidad Vecinal de Matute Block 59 A3, La Victoria, Versammlungen: Sonntags 18:00 Uhr und Dienstags 20:00 Uhr“). Als ich damit dann nach Weihnachten ins Stadtzentrum von Lima ging, schenkte es der HErr, dass ich innerhalb von 30 Minuten rund 500 Flyer an die Passanten verteilte, die alle bereitwillig einen nahmen. Einige kamen sogar zu mir gelaufen und rissen mir die Flyer fast aus der Hand. Nur etwa 1 % der Leute wollten keinen Flyer haben – was für ein Unterschied im Vergleich zu Deutschland!
An einem Samstag traf ich den Kommunisten Andrés, der mich prüfen wollte: „Simón, ich habe mal eine Frage zur Bibel: Du hattest gesagt, dass Gott so heilig sei, dass ein Sünder sich Ihm nicht nahen könnte. Aber steht nicht auch geschrieben, dass Satan vor Gott treten konnte?“ Ich gab ihm eine Klarstellung, dass ein Sünder durchaus zu Gott kommen könne, aber dass niemand das Angesicht Gottes sehen dürfe. Wir lasen dann zusammen Jes.6 sowie 1.Kön.22:19-23, und ich erklärte ihm, dass der HErr nach Seiner Auferstehung alle Macht bekommen habe und Gott Ihm alle Seine Feinde zu Seinen Füßen legen werde. Dann fragte mich eine Schwester, wie das mit den Sünden der Vorväter zu verstehen sei, da Gott doch die Ungerechtigkeit der Väter heimsuche an den Kindern und Kindeskindern, am 3. Und 4. Gliede (2.Mo.34:7). Schließlich stünde doch auch geschrieben, dass ein Sohn nicht die Ungerechtigkeit seines Vaters zu tragen habe (Hes.18:19-20). Ich sagte: „Grundsätzlich verlangt jede Ungerechtigkeit eine Sühne, entweder von dem Schuldigen selbst oder von dessen Nachkommen. Das ‚Heimsuchen‘ ist im Sinne einer Benachteiligung zu verstehen. So wie der Urgroßvater anderen Unrecht antat, ohne dass er dafür zur Verantwortung gezogen wurde, so soll zum Ausgleich auch seiner Nachkommenschaft Unrecht widerfahren. Diese haben zwar selbst keine Schuld, aber sie sollen ihrem Großvater oder Urgroßvater behilflich sein, dass er nach dem Tod nicht die volle Schwere der Bestrafung alleine zu tragen hat, sondern sie auf verschiedene Köpfe verteilt werde.“
Dann verteilte ich weiter meine Handzettel und hielt Ausschau nach allein sitzenden jungen Leuten. Da sah ich einen Jugendlichen am Rande sitzen und sprach ihn an. Gerson (19) war Venezolaner und seit einem Jahr in Peru. Er habe 20 Tage gebraucht, um mit seinen Brüdern und der kleinen Schwester die beschwerliche Reise ins „gelobte Land“ Peru zu bewältigen, teils zu Fuß und teils per Anhalter. Nun lebe er mit seinen Geschwistern in einem Hotelzimmer, das ihn 25 Soles pro Tag koste. Um dieses und ihren weiteren Lebensunterhalt bezahlen zu können, müssen er und seine Brüder täglich mind. 30 Soles verdienen durch den Verkauf von Süßigkeiten. Meistens bleibt dann nichts mehr übrig, um auch noch ihrer kranken Mutter etwas zu schicken, die sie in Venezuela zurücklassen mussten. Da Gerson bereits an Gott und Jesus glaubte, war es ein Leichtes, ihm auch noch die Notwendigkeit der Buße und persönlichen Beziehung zu Gott durch den Glauben an den HErrn Jesus nahezulegen. Er war bereit, den HErrn anzunehmen und sprach mir Satz für Satz im Gebet nach. Obwohl einige das Vorbeten als unbiblisch ablehnen, kann ich nur bezeugen, dass ich bei meiner Bekehrung mit 16 J. auch das Gebet des Bruders nachgesprochen hatte, auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstanden hatte, was er sagte.
Am Sonntagmorgen lud uns Bruder Edilberto in seine Pfingstgemeinde ein im reichen Stadtteil San Isidro. Als wir dann hineingingen, sah ich die große Halle wie ein riesiges Kino aus. Decke und Wände waren in einem dunklen anthrazitgrau. Hinter der Bühne waren 8 riesige Bildschirmwände, etwa 6 m breit und 4 m hoch, auf denen kunstvolle Graphiken blitzschnell vorbeihuschten wie Lichtstreifen, Luftblasen oder Schneeflocken. Die Bühne selbst mit Musikband war hell erleuchtet in gelbem, weißem, rotem und blauem Licht. Die Musik war so laut, dass man an eine Diskothek erinnert wurde. Zu Beginn des Gottesdienstes sollten wir alle zum Lobpreis aufstehen, aber es war so ein lauter Krach, dass ich meinen eigenen Gesang nicht mehr hören konnte. Ich konnte mich auch gar nicht auf den Text an der Leinwand konzentrieren, weil diese vielen, schnell vorbeiflitzenden Bildeffekte mich völlig in den Bann gezogen hatten. Stattdessen begann ich, still zu beten und meine Verunsicherung dem HErrn zu sagen: „Oh HErr, was hat das mit einem Gottesdienst zu tun?!“ Was wird der HErr Jesus wohl sagen, wenn Er bald – wie Mose damals – hinabsteigen wird? „Das Volk war zügellos geworden, denn Aaron hatte das Volk zügellos gemacht“ (2.Mo.32:25).
Am Nachmittag traf ich mich mit Bruder Edilberto, um gemeinsam zu Evangelisieren. Als wir an der Avenida Mexico standen und auf den Bus warteten, sah ich etwas, was mich ziemlich schockierte: Vor einem großen Müllhaufen von 1,5 m Höhe standen zwei kleine Männer, die im Müllhaufen nach Essbarem suchten. Trotz der Gluthitze hatten die beiden jeweils eine uralte, total verdreckte Steppjacke an. Auch ihre Hosen und Gesichter waren völlig verdreckt. Sie haben sich wohl seit vielen Wochen nicht mehr gewaschen. Ich tippte ihnen auf die Schulter und gab ihnen beiden etwas Geld (das aber nicht mal für eine Mahlzeit ausgereicht hätte, aber ich hatte leider nicht mehr dabei). Als der eine von beiden seine Hände aufmachte, kam mir das totale Entsetzen, denn seine pechschwarze Handfläche ähnelte eigentlich eher der Pfote eines Hundes…
Als wir im Stadtpark ankamen, setzte ich mich zu jemandem auf die Parkbank: „Glauben Sie an den HErrn Jesus?“ – „Natürlich“ – „Sind Sie auch erlöst durch das Blut Jesu?“ – „An sich, ja.“ – „Wissen Sie auch mit 100%iger Sicherheit, wo Sie die Ewigkeit zubringen werden?“ – „Ich hoffe im Himmel“ – „Aber Sie sind sich nicht sicher?“ – „Nein, das nicht, aber ich bemühe mich schon, ein anständiges Leben zu führen.“ Dann versuchte ich ihm der Reihe nach zu erklären, dass alle Menschen von Jugend an auf dem breiten Weg ins Verderben gehen, weil sie mit jedem Tag immer mehr Sünden aufhäufen, die ihr Strafmaß immer weiter erhöhen und dass allein Jesus uns vor der Bestrafung im Feuersee retten kann, weil Er unsere Schuld für uns am Kreuz auf sich nahm. Ich las mit ihm Joh.5:24 und fragte ihn, heute sein Leben dem HErrn Jesus völlig auszuliefern. Alberto (45) war dazu bereit. Wir beteten zusammen, und er bekannte sich vor dem HErrn als Sünder, der den Zorn Gottes verdient hatte und bat den HErrn um Erlösung. Ich dankte dem HErrn und beglückwünschte ihn zu seiner Entscheidung. „Ab jetzt bist du ein Jünger des HErrn geworden und wirst durch den Geist Gottes und Sein Wort in alle Wahrheit geleitet. Lese nur fleißig in der Bibel, möglichst jeden Tag und bete zum HErrn, dass Er dir eine Gemeinde schenke, wo du geistlich wachsen kannst. Vor allem: Lass dich als nächstes taufen! Wenn du möchtest, kannst du gerne und unsere kleine Hausgemeinde kommen in Matute.“ Ich gab ihm den Handzettel mit unserer Adresse, und wir verabschiedeten uns.
Da sah ich auch schon den nächsten Mann, der mit verschränkten Armen auf einer Parkbank saß. Ich sprach ihn an, und er erlaubte mir, ihm vom Glauben zu erzählen. Anschließend fragte ich ihn: „Sag mal, wie heißt du?“ – „Alfredo.“ – Überrascht sagte ich: „Eben gerade habe ich schon mal mit einem Alfredo gesprochen, und dieser hat sich danach bekehrt.“ Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, denn nun schaute er mich sehr ernst und skeptisch an. Auf meine Fragen reagierte er so dermaßen einsilbig, dass er mich sein mangelndes Interesse und seinen Widerwillen spüren ließ. Da er sehr deprimiert aussah, fragte ich ihn dann, ob er traurig sei. Ich merkte, dass ich ihn nervte, deshalb sagte ich zum Schluss: „Ich möchte nicht ihre Zeit stehlen, mein Herr. Aber mein Eindruck ist, dass Sie gar kein Interesse haben an dem, was ich sage, deshalb möchte ich mich hiermit höflich von ihnen verabschieden.“ Es schien erleichtert und wandte sich ab.
Als nächstes sah ich eine ältere Frau, die mit ihren ganzen Einkaufstaschen am Rande des Platzes saß, als würde sie auf jemanden warten. „Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen, um mit Ihnen über Gottes Wort zu reden?“ – „Setzen sie sich, Jovencito (junger Mann)!“ Dann hielt ich wieder meinen Vortrag, aber sie sah mich verunsichert an und schien mir gar nicht zuzuhören. Mir schien, ich sollte sie mal reden lassen und fragte sie nach ihrer Lebenssituation. Hernandina (74) kam aus dem Gebirge in Andahuaylas, habe dort mehrere Chakras (Grundstücke), sei aber schon Ende der 60er Jahre nach Lima gekommen, damit ihre Kinder in Lima aufwachsen können.Ihre Mutter sei die letzten Jahre in eine Pfingstgemeinde gegangen, wo sie auch schon mal war. Ihre Tochter sei bei den Zeugen Jehovas, aber sie selbst gehe nirgendwo hin und glaubeeigentlich auch an nichts. Da fragte ich sie: „Sind Sie glücklich?“ Sie lächelte, überlegte und sagte: „An sich ja. Eigentlich kann ich nicht klagen. Man hat zwar immer mal kleine Zipperlein, aber im Großen und Ganzen hatte ich ein schönes Leben gehabt.“ Als nächstes wollte ich sie fragen: „Wissen Sie, wo Sie die Ewigkeit zubringen werden?“ und wartete, bis sie ausgeredet hätte. Aber sie redete immer weiter und ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern schweifte immer weiter ab. Ich war wohl an die falsche Person geraten.
Ich schlenderte weiter und sah einen Jungen, der über Kopfhörer Musik hörte. Auch ihn lud ich ein zu einem Gespräch und erfuhr, dass er Arnie Silvio Dominguez (20) hieß. Ausführlich erklärte ich ihm das Evangelium an Hand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Dann erinnerte ich ihn an den Dialog des HErrn mit dem Räuber am Kreuz und fragte Arnie schließlich, ob er auch dem HErrn Jesus gehören wolle, um eines Tages mit Ihm im Paradies zu sein. „Ja, das würde ich wirklich gerne.“ – „Du hast aber auch gehört, was er dazu bekennen musste: 1. Dass er verdient, was über ihn an Strafe verhängt wurde, weil seine Sünden den Tod verdient haben, 2. Dass der HErr Jesus unschuldig für ihn am Kreuz litt und 3. Dass auch er gerne nach dem Tod mit dem HErrn sein wolle und Ihm deshalb um Errettung bat. Bist Du bereit, dem HErrn gegenüber diese 3 Bekenntnisse auch vorzubringen, um gerettet zu werden?“ – „Ja!“ sagte er. „Dann lass uns jetzt beten, damit der HErr sich auch Deiner erbarme und Dir Seinen Heiligen Geist gebe zur Erlangung des Heils.“ Nachdem ich für ihn gebetet hatte, bat auch er mich, dass ich ihm die Worte vorsprechen möge, die er beten solle, was ich dann auch tat. Nach dem „Amen“ gab ich ihm die Hand und versicherte ihm, wie sehr der HErr sich freue, ihn nun als Seinen Jünger in Seine Schule aufzunehmen. Ich ermahnte ihn, nun fleißig in der Bibel zu lesen und sich taufen zu lassen. Wir lasen noch zusammen die Geschichte von Philippus und dem äthiopischen Kämmerer, der sich sofort taufen lassen wollte. Ich gab ihm dann noch meine Kontaktdaten und ging.
Der ehebrecherische Prediger
An einem Tag bekamen wir Besuch von Evelyn, einer gläubigen Cousine von Ruth. Sie kam gerade aus dem Gebirge und berichtete: „Es gibt eine gute Nachricht, liebe Ruth. Du hast ja von Deiner Mutter ein Grundstück in Huaycahuacho geerbt. Und dort hat man jetzt eine Goldader gefunden. Diese ist so groß, dass die Minengesellschaft das ganze Dorf und die umliegende Umgebung aufkaufen will. Das Grundstück Deiner Mutter ist jetzt richtig wertvoll. Du solltest nicht gleich den erstbesten Preis akzeptieren, denn die sind bereit, einen hohen Preis zu bezahlen.“ Ruth freute sich über die Nachricht, wollte aber auf das Grundstück verzichten und es der Evelyn schenken: „Für mich war dieses Erbe ja im Grunde wertlos, denn ich hätte es nicht verkaufen können. Aber Du bist arm und kannst von dem Erlös eine sichere Existenzgrundlage haben.“ Evelyn war sehr gerührt von dieser Liebe und nahm das Geschenk dankbar aus Gottes Hand an.
Dann berichtete Evelyn, dass ihr gläubiger Ehemann Efraín sie seit längerem mit einer anderen Frau betrüge, obwohl er sogar Pastor einer Adventgemeinde sei. Ruth bot daraufhin an, dass wir in dieser Ehekrise vermitteln könnten. Evelyn fand die Idee gut und rief ihren Mann an. Sie sprach kurz mit ihm und reichte das Handy dann weiter an Ruth: „Guten Morgen, Efraín, hier ist Ruth, die Cousine von Evelyn. Wir wollten Dich nur mal grüßen und Dir Gottes Segen wünschen.“ Ich dachte: Was soll bloß diese Heuchelei! Man muss ihn doch gleich sagen, dass er Buße tun müsse, sonst geht er verloren. Auf einmal sagte Ruth: „Ich gebe Dir hier auch mal meinen Mann Simon, um ihn zu grüßen. Einen Moment…“ Ruth ging zu mir und reichte mir das Handy. Efraín sagte: „Guten Morgen Bruder Simon, ich grüß dich herzlich und wünsch Dir Gottes Segen, Bruder!“ Ich sagte: „Lieber Efraín, ich weiß nicht, ob ich nochmal eine Gelegenheit haben werde, es Dir zu sagen, deshalb sage ich es Dir lieber jetzt: Du wirst in die Verdammnis gehen, denn Du bist ein Hurer und Heuchler, und die Bibel sagt klar, dass kein Hurer und Ehebrecher ins Reich Gottes eingehen wird…“ Während ich redete, fuchtelten Ruth und Evelyn aufgeregt mit den Armen, aber ich schaute sie gar nicht an, sondern redete weiter: „All Deine Sünden gegen Deine Frau Evelyn und gegen das Volk Gottes werden ans Licht kommen, deshalb fordere ich Dich hiermit im Namen des HErrn Jesus auf, Buße zu tun und Deine Hurerei zu beenden, denn sonst wird Deine Strafe immer größer werden.“ Ich hielt kurz inne, um ihn zu Wort kommen zu lassen. Efraín sagte; „Nun, lieber Bruder, ich kann im Moment nicht gut sprechen, da ich hier mit einem anderen Bruder im Auto sitze. Lass uns das Gespräch lieber zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen. Ich wünsche Dir noch einen schönen Sonntag.“ Ich entgegnete noch schnell: „Tu Buße!“ bevor er auflegte.
Evelyn fasste sich vor Scham an den Kopf, aber lachte zugleich, weil sie im Grunde schon dankbar war, dass ich gleich mit der Tür ins Haus gefallen war. Ich sagte: „Wir dürfen nicht heucheln, sondern müssen Efraín offen und ehrlich sagen, wie die biblische Sachlage aussieht, weil wir sonst genauso unehrlich sind wie er.“ Ruth lächelte ebenso und stimmte mir zu. Dann zogen sie sich zurück und unterhielten sich weiter. Ich ging auf die Knie, weil ich mit dem HErrn reden wollte, aber konnte mich kaum konzentrieren, weil ich noch selbst ganz aufgeregt war von dem Telefonat mit Efraín. Ich bat den HErrn um Gnade für ihn, und dass der HErr doch meine Botschaft an ihn gebrauchen möge, um ihm ins Gewissen zu reden. Doch da rief Efraín erneut an und sprach mit Evelyn sehr vieles, was ich nicht hören konnte. Sie antwortete: „Wie kannst Du behaupten, dass Simon mit mir ein Verhältnis hatte in Deutschland!“ Er redete weiter, was ich nicht hören konnte. Evelyn sagte: „Nein! Er ist ein Diener Gottes! Warum unterstellst Du ihm das? Bei all dem, was Du mir angetan hast, kannst DU doch nicht erwarten, dass ich das ihnen nicht erzählt habe…Du kannst gerne direkt mit ihm reden.“ Er redete wieder viel und Evelyn antwortete: „Nein, er ist kein Pastor, aber er liebt die Seelen. Du kennst ihn doch gar nicht! Er hat seine Frau noch nie betrogen. Warum behauptest Du solche Sachen?“
Das Gespräch ging noch eine ganze Weile weiter. Dann verabschiedete sie sich, lief zu mir und sagte: „Efraín wird Dich gleich anrufen! Er ist sehr wütend auf Dich.“ In dem Moment rief Efraín an: „Hallo Bruder Simon. Ich wünsche Dir zunächst mal eine frohe Weihnacht und ein gutes neues Jahr.“ Ich unterbrach und sagte: „Efraín, lass bitte die Heuchelei, sondern lass uns gleich auf den Punkt kommen!“ – „Aber warum bist DU so unfreundlich, wenn ich Dir doch etwas Gutes wünsche?!“ – „Weil weiß, dass Du heuchelst. Du redest zwar mit der Zunge einer Taube, aber im Grunde bist Du ein Wolf im Schafspelz. Wir wollen ja nicht über Weihnachten reden, sondern über Deine Sünden.“ – „Ja, aber Du kennst mich gar nicht und hast mir heute sehr viele Anschuldigungen gemacht. Hast Du für diese irgendeinen Beweis?“ – „Efraín, lass bitte diese Spielerei! Du kannst Menschen täuschen, aber nicht Gott. Gott sieht doch alles, und Du darfst den Heiligen Geist in mir nicht belügen. Deshalb frage ich Dich jetzt in Anwesenheit des HErrn Jesus und aller heiligen Engel als Zeugen: Hast Du Deine Frau Evelyn mit anderen Frauen betrogen? Sag einfach Ja oder Nein!“ – Efraín kam ins Schwitzen: „Ich finde das nicht in Ordnung, dass Du mich hier bloßstellen willst. Denn wir haben alle unsere Fehler und Schwächen, und ich habe nie behauptet, dass ich vollkommen sei.“ – „Darum geht es doch gar nicht. Wir reden hier nicht von ‚Fehlern und Schwächen‘, sondern von einer sehr schweren Sünde, die Du offensichtlich gar nicht bereust, sondern versuchst, sie kleinzureden. Ich frage Dich nochmal: Hast Du die Ehe gebrochen: Ja oder Nein?“ – „Ich muss Dir die Frage nicht beantworten.“ – „Mir nicht, aber vor dem HErrn wirst Du Dich einmal verantworten müssen, und dann wirst Du Dich nicht mehr herausreden können. Du hast Schande auf den heiligen Namen unseres HErrn Jesus gebracht, denn Du bist ein Adventistenpastor und verspottest den HErrn durch Deine Hurerei vor der unsichtbaren Welt. DU SOLLTEST DICH SCHÄMEN!“
Ruth gab mir ein Zeichen, dass ich ruhig bleiben solle. Efraín antwortete: „Es trifft zu, dass wir in unserer Ehe seit langem Probleme haben, aber ich finde es nicht gut, dass Du Dich hier einmischt und nur immer die eine Seite gehört hast. Ich weiß ja nicht, was sie Dir alles erzählt hat. Außerdem sprichst Du von Fehlern, die ich in der Vergangenheit begangen habe und für die ich längst Buße getan habe.“ Evelyn winkte mit dem Finger und flüsterte mir ins Ohr: „Mentira!“ („Lüge!“). „Hast Du auch ihre Nummer gelöscht und sie blockiert?“ – „Das kann ich noch machen.“ – „Ich sorge mich um Dein Seelenheil, denn Du wirst definitiv in die Hölle gehen, wenn Du den Anstoß zu Deiner Sünde nicht restlos aus Deinem Leben entfernst.“ Im Nebenzimmer sah ich, wie Ruth und Evelyn auf den Knien beteten. Efraín sagte: „Was weißt Du über meine Beziehung zum HErrn?! Du hältst mich für einen Heuchler, aber Du hast nie gesehen, wie ich im Gebet vor Gott gerungen habe. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich gelitten habe…“ Er fing an zu weinen und zu schluchzen.
„Du hast auch immer wieder zu Evelyn gesagt, dass Du Dich von ihr scheiden lassen willst, weil Du lieber mit der anderen zusammenleben möchtest.“ – „Sowas sagt man manchmal, wenn man sich streitet, aber das habe ich nicht so gemeint.“ – „Wenn Du wirklich bereust, was Du Evelyn angetan hast, dann bekenne es jetzt vor Gott, dass Du Dich nicht mehr von ihr scheiden lassen willst und sie noch immer liebst!“ Jetzt weinte er wieder voller Selbstmitleid und sagte schluchzend: „Ich liebe Evelyn noch immer, trotz all dem, was war, und ich würde auch gerne mit ihr zusammenbleiben, wenn sie mich überhaupt noch will…“ – „Dessen kannst Du gewiss sein. Es hängt allein von Dir ab, Efraín, ob Du wirklich glaubwürdig Werke der Reue zeigst. Ruf Deine Geliebte an und sage ihr, dass Du mit ihr endgültig jeden Kontakt abbrechen wirst. Und fordere auch sie auf, dass sie Buße tun soll, da sie sonst verloren gehen wird. Wärest Du bereit, Deine Schuld vor Gott zusammen mit mir im Gebet zu bekennen und Gott um Vergebung zu bitten als Zeugnis vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt?“ – „Ja, das würde ich machen“ sagte er. Ich legte mir ein Kissen auf den Boden und sagte: „Ok, Efraín, dann lass uns jetzt zusammen beten.“ Tatsächlich bat Efraín nun Gott unter Tränen um Vergebung und bat sogar darum, dass Gott ihn nochmal „bekehren“ möge, um noch einmal ganz neu mit Ihm anfangen zu können. Ich freute mich über sein Bekenntnis und versicherte ihm, dass ich ihm glauben wolle, zumal die Liebe „alles glaubt und auch alles hofft“. „Gott kommt dem entgegen, der den ersten Schritt im Glauben macht und sich bildlich gesprochen das Auge rausreißt, um nicht mehr zu sündigen (Jes.64:5). Aber Du solltest jetzt sofort den Zugang zu Dienen Sexkontakten zerstören, indem Du die Nummern löschst. Und Du musst Evelyn um Vergebung bitten und sie über alles aufklären, was sie als Deine Frau wissen sollte.“ Efraín stimmte zu, und wir verabschiedeten uns.
Schafe ohne Hirten
An einem Tag fuhren Ruth und ich in die Innenstadt zu einem Laden, wo man medizinischen Bedarf kaufen kann, weil Ruth diesen für ihre OPs brauchte (sterile Mullbinden, Jod, Desinfektionsmittel etc.). Während ich auf sie wartete, sprach ich eine Ceviche-Verkäuferin an: „Entschuldigen Sie, ich habe eine gute Nachricht für Sie!“ Dann gab ich ihr eines meiner Traktate. Sie schaute drauf und sagte, dass sie auch gläubig sei. Ich setzte mich und sie erzählte mir von sich: Aidita (32) kam aus Ancash im Gebirge und hatte schon mit 13 Jahren angefangen, in die Jugendstunden einer Pfingstgemeinde zu gehen. Doch dann verliebte sie sich in einen Jungen und wurde mit 16 Jahren schwanger. Die Verwandten legten ihr eine Abtreibung nahe, aber sie wollte nicht, weil das Mord sei. Der Junge verließ sie, und sie musste mit ihrem Sohn Essen verkaufen, um über die Runden zu kommen. Dann lernte sie wieder einen jungen Mann kennen, der sie heiraten wollte, sie jedoch erstmal erneut schwängerte. Ihr neuer Freund knüpfte sein Eheversprechen doch dann an die Bedingung, dass sie ihren ersten Sohn Jeremia zur Adoption geben solle. Dazu war sie jedoch nicht bereit, so dass auch dieser neue Mann sie verließ. Mit Unterstützung ihrer Eltern verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt nun als Essensverkäuferin und konnte davon ganz gut leben. Am Ende sagte ich: „Dir sollte klar sein, dass Sex vor der Ehe Sünde ist. Ich hoffe, dass Du inzwischen aus Deiner Verfehlung gelernt hast und erstmal heiratest, bevor Du wieder mit einem Mann ins Bett steigst. Wieviel Leid und Elend kann in der Welt dadurch vermieden werden, wenn die Menschen einfach nur die Gebote Gottes beachten!“ Ich empfahl ihr, sich eine verantwortungsvolle Gemeinde zu suchen, wo die Geschwister auf einander achthätten und sie ausreichend geistliche Belehrung aus der Heiligen Schrift bekäme.
An einem Tag brauchte ich Lack und ging hinüber auf die andere Seite der Avenida México, wo es einen kleinen Farbenladen gab. Während ich wartete, dass der Lack angemischt wurde, betrat ein junger Mann den laden und sagte mit venezolanischem Akzent: „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht Arbeit für mich, denn ich bin gerade aus Tumbes gekommen und suche dringend Arbeit“. Der Chef winkte ab. „Haben Sie denn vielleicht etwas zu Essen für mich?“ fragte er weiter. „Auch nicht“ sagte der Ladenbesitzer. Auf einmal merkte ich, dass Gott mich nun zum Handeln aufrief. „Wenn Du noch einen kleinen Moment wartest, dann kann ich Dir gleich helfen.“ Ich bezahlte meinen Lack und ging dann mit ihm raus. „Wie heißt Du?“ fragte ich. „David“. „Und wie alt bist Du?“ – „23“. – „Hast Du Hunger?“ – „Ja, ich habe heute noch nichts gegessen.“ – „Dann komm mit zu uns. Wir geben Dir was.“ Wir überquerten die Hauptstraße. Ich erklärte ihm, dass wir Christen sind, und dass ich ihm vielleicht auch Arbeit geben könne. „Ich bin auch Christ!“ sagte er, „aber ich habe mich sehr von Gott entfernt.“ – Und warum kehrst Du nicht einfach zu Gott zurück?“ – „Weil das sehr schwierig ist…“ – „Warum schwierig? Gott ist nur ein Gebet von Dir entfernt. DU brauchst Ihm einfach nur aufrichtig um Vergebung beten.“ – „So einfach ist das nicht“, sagte er, „denn wenn man Jesus folgen will, dann musst Du auch das tun, was Er sagt. Aber das fällt mir sehr schwer. Denn ich habe es schon so oft versucht, aber die Versuchungen sind einfach zu groß und ich bin einfach zu schwach.“
„Und das heißt, dass Du es gar nicht mehr weiter versuchen willst? Kennst Du die Geschichte von den zwälf Kundschaftern? Die haben auch gesagt, dass das verheißene Land zwar gut sei, aber sie hatten nicht den Glauben, dass sie es mit Gottes Hilfe auch erobern könnten. Wir vermögen aus unserer Kraft alle nichts, aber der HErr vermag uns die Kraft zu geben, dass wir die Sünde überwinden können. Das ist aber ein geistlicher Wachstumsprozess. Da darf man nicht schnell aufgeben, sondern muss Gott vertrauen. Du bist ja noch sehr jung.“ Als wir angekommen waren, sagte ich Ruth bescheid, dass sie für uns etwas zu Essen bereiten möge. Ich setzte mich mit ihm draußen hin und erzählte ihm die Geschichte vom Verlorenen Sohn, da er diese noch nicht kannte. Dann schenkte ich ihm eine Bibel und hoffte, dass er sich nun bekehren würde. Aber von wegen: David beharrte darauf, dass er im Moment einfach überfordert sei und gab mir auch die Bibel wieder zurück, da er nicht lesen konnte. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich drängte auf ihn ein, aber er sagte nur: „Ich will ja auch zu Gott umkehren, aber noch nicht jetzt, denn die Bibel sagt ja auch, dass es für jede Sache einen bestimmten Zeitpunkt gäbe, und meine Rückkehr zu Gott ist im Moment noch nicht dran.“ Dies ließ ich natürlich nicht gelten, sondern zitierte Hebr.3: „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht …“ Ich erklärte ihm, dass Glauben auch Gehorsam miteinschließe und dass wir nicht mit Gott spielen können. Doch dann merkte ich, dass ich gerade gar nicht geistlich war, sondern ungeduldig, wenn ich mit einem meiner Lehrlinge schimpfe, weil er schwer von Kapee ist oder zu lange braucht für seine Arbeit. Wir sollen zwar Seelen gewinnen, aber der Zweck sind die Seelen und nicht der Gewinn.
Dann bot ich ihm an, dass ich ihm zwar finanziell unterstützen würde, er sich aber auch nützlich machen könne, indem er das kleine Fassadenstück von Walters Kiosk streiche. Ich ging mit ihm rüber und erklärte ihm die Arbeitsschritte. Doch anstatt mir erstmal zuzuhören, fing er sofort mit dem Streichen an, so dass ich ihm mehrfach anfahren musste: „GUCK DOCH ERST MAL!“ Der neue „Lehrling“ erwies sich schon mal als ganz schön störrisch und sagte mit phlegmatischer Stimme: „Ich kann das alles schon, hab´ich alles schon oft gemacht.“ Als ich dann später nochmal zur Kontrolle vorbeikam, hatte er jede Menge „Feiertage“ (d.h. Fehlstellen, wo keine Farbe hingelangt ist) und die Kanten waren nicht sauber „beschnitten“ (scharf/präzise gestrichen). Dann machte ich ihm vor, wie es richtig gemacht wird, und diesmal war er aufmerksam und machte es danach auch gut, so wie ich es ihm gezeigt hatte. Als ich wieder zurück war, rührte ich eine Mischung Zement an, um den linken Treppensockel zu verputzen, wo immer die Kakerlaken ein und ausgehen konnten. In dem Moment kam unser Nachbar Don Eulogio (91) und sagte, dass er dringend ins Krankenhaus müsse, da sein Urin voller Blut sei und sein Katheder seit Stunden wieder verstopft war. Ruth machte sich sofort bereit, um mit ihm loszugehen.
Am Abend fuhren wir mit Ricardo zum ersten Mal zur neuen Bibelstunde bei Bruder Francisco Lopez (60), dem Tierarztkollegen von Ruth. Als wir seine Wohnung betraten, war ich etwas überrascht, wie kärglich sie eingerichtet war. Ganz offensichtlich schien Francisco tatsächlich nicht viel zu verdienen, weil er viel zu wenig Kunden hatte. Francisco sprach über Joh.5:1-16 (Der Gelähmte vom Teich Bethesda). Ricardo vertrat wie gewohnt den Standpunkt: Wir sollen keine humanistischen Sozialwerke tun, sondern nur das Evangelium verbreiten. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Welt zu helfen, die ja auch von Gott gar nichts wissen will. Die Ungläubigen wollen unsere Hilfsbereitschaft nur ausnutzen, um uns von unseren eigenen Aufgaben abzuhalten und uns das Geld aus der Tasche zu ziehen.“ Ich vertrat den gegenteiligen Standpunkt: „Unsere Evangeliumsverkündigung ist völlig unglaubwürdig, wenn es nicht auch mit guten Werken verbunden ist. ‚Wer sie aber TUT und lehrt‘ sagt der HErr Jesus. Wir können uns nicht jetzt schon in unserer Arche gemütlich einrichten und sagen: ‚Nach uns die Sintflut‘. Solange wir noch nicht verfolgt werden, sollen wir jedem guten Werke nachgehen und Ausschau halten nach entsprechenden Gelegenheiten.“ Zum Glück war auch Francisco meiner Ansicht und betonte ebenso, dass Gott ein Erhalter aller Menschen sei. Wir sollen uns nicht nur um das geistliche, sondern auch das leibliche Wohl eines Menschen kümmern. Doch gab er auch Ricardo recht, dass der HErr Jesus den Gelähmten nach der Heilung aufsuchte, um ihm auch noch eine geistliche Botschaft auf seinen Lebensweg mitzugeben. „Die Nacharbeit wird heute landläufig vernachlässigt in evangelikalen Kreisen. Man begnügt sich mit der Bekehrung, ohne eine Person auch noch danach weiter zu begleiten.“ Dieser Vorwurf traf mich, denn auch ich hatte mich ja um die Neubekehrten bisher gar nicht weiter gekümmert, ja sie noch nicht einmal mehr angerufen. Ich nahm mir vor, dies am nächsten Tag nachzuholen. Zum Schluss wurde noch die Frage aufgeworfen, ob Mutter Theresa errettet sein könnte. Ich meinte, ja, denn sie hat Barmherzigkeit geübt und wird gemäß dem Wort des HErrn Barmherzigkeit erlangen. Wir wurden uns am Ende einig, dass der HErr die Seinen ja kenne und uns das genügen sollte.
Mangelnde Selbstkritik
Eine Woche später hielten wir wieder bei Ricardo. Da er der Hausherr war, hielt er die Andacht. Bevor er anfing, dachte ich bei mir: Hoffentlich wird Ricardo jetzt nicht schon wieder jene EINE (und einzige) Predigt vortragen, die ich bisher schon viele Male von ihm gehört hatte, ob nun vor zwei Jahren in Ecuador oder vor drei Jahren bei seinem Besuch in Deutschland oder vor vier Jahren bei einem Besuch in Lima. Leider wurde ich jedoch in meiner Hoffnung enttäuscht, denn Ricardo hatte wieder genau den gleichen Zettel aus seinem Ordner geholt mit genau den gleichen 26 Bibelstellen, durch welche er wieder und immer wieder belegen wollte – bis es auch noch der allerletzte begriffen hat – dass wir „nicht menschlicher Lehre und Theologie folgen sollen, sondern nur der durch Gottes Geist offenbarten Erkenntnis.“ Zweifellos gehörte Ricardo in seinen Augen zu denjenigen, die stets nur durch Geistesleitung das Wort austeilen, während er solche wie mich, die doch immer alles besser wissen, zu denen zählt, die nur „menschliches Wissen“ verbreiten. Dass es sich hierbei aber um eine rein willkürliche Interpretation handelt, zu dieser Einsicht reichte es bei Ricardo offensichtlich nicht. Für ihn galt der Grundsatz: Je gelehrter, desto verkehrter, basta! Hatte nicht auch der HErr Jesus „die Schriftgelehrten“ verurteilt? Hatte ich ihn vielleicht inzwischen genervz, weil ich ihm zu oft mit dem griechischen Grundtext kam? Aber wie „geistlich“ ist es denn – wo er doch sich selbst immer für geistlicher von uns beiden hält – wenn man immer und immer wieder die gleiche Predigt vorträgt? Und vor allem arbeitet er bloß eine Liste von 26 Bibelstellen ab, die alle die gleiche Aussage machen, weshalb man schon spätestens nach der Hälfte der Liste sagen könnte: „Danke, aber die Botschaft ist angekommen“. Ich musste mit Ricardo sprechen, denn eine solche Predigt ist im Grunde total ungeistlich. Aber wenn ich das tue, wird er wieder beleidigt sein, und wir würden uns bloß wieder nur streiten. Wir hatten uns in der letzten Jahren viel zu oft gestritten. Es wäre zudem auch unfair, weil Ricardo mir gegenüber meist argumentativ unterlegen ist und ich ihn nur demütigen würde. Er würde sich dann innerlich nur noch mehr verhärten und ich würde ihn gar nicht mehr erreichen. Der Geist Gottes sagt: „Die Starken sollen die Schwachheiten der Schwachen ertragen und nicht sich selbst gefallen“. Aber mache ich die Sache nicht dadurch nocj schlimmer, wenn ich gar nichts sage?“ Wie oft war eine klärende Aussprache nicht schon heilsam!
Am nächsten Tag fuhren wir mit Ricardo ans Meer nach Lurín. Der Strand war wunderschön, aber es war noch zu kühl, um zu schwimmen. Wir gingen also spazieren und unterhielten uns über Ricardos gescheiterte Ehe mit Esperanza. Während Ricardo der Ruth mal wieder alle möglichen Details berichtete, was alles in den letzten Jahren vorgefallen war, ging ich etwas voraus und beobachtete die vielen Seevögel, die eifrig damit beschäftigte waren, sich Fische und Krabben aus dem Meer zu angeln. Neben Möwen und Pelikanen, gab es auch ein ganzes Heer von sehr kleinen Strandläufern (eine Vogelart), die mit dem Hin und Her der Brandung auch immer wieder rauf- und runterliefen, um sich beim Zurückziehen des Meeres schnell kleine Krabben rauszupicken. Draußen am Horizont sah man im Nebel riesige Felsinseln aus dem Meer herausragen. Wir waren die einzigen weit und breit an diesem Vormittag, weshalb man nur das Rauschen der Brandung und das Kreischen der Möwen hörte. Ich betete und dankte dem HErrn, dass ich hier sein durfte. Am Strand fand ich auf einmal zwei große, rötliche Quallen. Ricardo sagte, das seien Medusas marinas, die zu den ältesten Lebewesen überhaupt gehören in der Schöpfung Gottes. Obwohl sie wirbellos sind und noch nicht mal ein Gehirn haben, seien sie trotzdem hoch intelligent, indem sie sich durch Nervensensoren orientieren und sich durch ein hoch wirksames Gift gegen ihre Feinde verteidigen. Da erinnerte ich mich, dass ich schon zweimal beim Baden im Pazifik von einer solchen Medusa gestochen wurde und einen fürchterlichen Schmerz im Bein verspürte. Ich dachte beide Male, dass ich jetzt sterben müsse, aber bald darauf ging es mir wieder besser.
Zum Mittagessen gingen wir in ein kleines Strandlokal. Während des Essens erzählte uns Ricardo weiter von all den Fehlern und der Undankbarkeit seiner Frau und wie er selbst doch immer alles richtig gemacht hatte: „Ich habe sie vor 30 Jahren aus der Armut herausgeholt, als sie noch ein unschuldiges Mädchen vom Land war ohne Schulbildung; ich habe sie auch nie gedemütigt, sondern immer versucht, ihre Persönlichkeit zu fördern und sie seelisch aufzubauen, indem ich ihr jede Menge Kurse und Lehrgänge bezahlt habe, ob nun Fußpflege oder Kosmetik. Ich habe ihr auch immer die Ausstattung und alles Material bezahlt für ihren kleinen Marktstand, damit sie irgendwann mal ihr eigenes Geld verdiene. Und nach all dem, was ich für sie getan habe, ist sie heute noch immer unzufrieden mit ihrem Leben und redet jetzt schon lange nicht mehr mit mir.“
Ich hätte ihm gerne war dazu gesagt, aber Ricardo ließ mal wieder niemanden zu Wort kommen, indem er bei jeder beginnenden Erwiderung sofort wieder anfing, als sei er noch nicht fertig. Sein Essen war schon längst kalt, während wir schon aufgegessen hatten. Irgendwann unterbrach ich Ricardo nach vielen Anläufen und sagte: „Lass mich doch auch mal was sagen, Ricardo! Du redest jetzt schon seit zwei Stunden nur von den Fehlern Deiner Frau, die nicht da ist, ohne dass Du auch nur einmal ein selbstkritisches Wort über Dich gesagt hast. Vielleicht ist aber gerade dies eine der Ursachen für Eure Eheprobleme, dass Du bisher die berechtigte Kritik Deiner Frau an Dir nie ernst genommen, ja ihr vielleicht auch viel zu wenig Aufmerksamkeit gegeben hast, sondern immer nur Dich selbst gerne reden hörtest.“ – Ricardo war leider uneinsichtig: „Aber was sollte sie denn an Fehlern bei mir finden? Alles, was sie bisher an Kritik an mir sagte, waren einfach nur böswillige Behauptungen, die ich jedes Mal widerlegen konnte.“ – Ich ging nicht auf seine selbstgerechten Worte ein, sondern fuhr fort: „Zudem war es meiner Meinung nach ein Fehler, dass Du versucht hast, Deine Frau ‚aufzubauen‘ – wie Du es nennst – denn dies geschah ja offensichtlich gar nicht im geistlichen Bereich, sondern nur im materiellen, damit sie beruflich erfolgreich ist. Stattdessen hättest Du ihr lieber vom Wort Gottes her die Vorzüge des Mutterseins schmackhaft machen sollen, denn wenn man drei Kinder hat, hat man eigentlich genug zu tun, um sie in der Furcht Gottes aufzuerziehen und muss nicht auch noch berufliche Ambitionen entwickeln.“ Ruth stimmte mir zu und betonte ebenso, wie wichtig es sei, die eigenen Versäumnisse der Vergangenheit auch jetzt noch nachzuholen, solange die Ehe noch nicht geschieden sei. „Aber sie will doch gar nicht mehr mit mir reden!“ wandte Ricardo ein. Dann machte ich einen Vorschlag: „Bekenne ihr doch mal, dass Du ihr in der Vergangenheit zu wenig zugehört hast, und dass Du jetzt bereit bist, auf ihre berechtigten Wünsche einzugehen. Schließe mit ihr Frieden und verhandle Vereinbarungen mit ihr aus, damit sie sieht, dass es Dir wirklich ernst ist mit einer dauerhaften Versöhnung.“ Ricardo entgegnete: „Sie wirft mir ja u.a. vor, dass ich ihr nicht genügend bieten würde und dass die Ehemänner ihrer Freundinnen alle viel bessere Autos fahren oder schönere Wohnungen hätten. Soll ich etwa auf solch dumme Forderungen eingehen?“ – „Nein, natürlich nicht. Aber Du kannst ihr vom Wort Gottes her erklären, dass ein solch eitler Tand überhaupt keinen wirklichen Wert besitzt, sondern dass es um den Reichtum geht, den wir bei Gott haben durch gute Werke.“
Ich bekannte Ricardo, dass ich selbst früher sehr egoistisch war und zu wenig Rücksicht auf Ruths Bedürfnisse genommen hatte: „Was glaubst Du wohl, wie oft Ruth mir schon aus lauter Hilflosigkeit damit gedroht hat, dass sie sich von mir scheiden lassen will! Aber ich habe das nie als Drohung, sondern als verzweifelten Erpressungsversuch verstanden und dann auch mehr Rücksicht auf Ruth genommen, so dass sich die Situation bald schon wieder beruhigte. Frauen sind nun einmal das ‚schwächere Gefäß‘, wie die Bibel sagt, und als Männer müssen wir lernen, auf sie Rücksicht zu nehmen.“ Als wir aufstanden und bezahlten, sagte Ruth: „Es wäre schön, wenn Du Dich mit Bruder Francisco anfreundest, denn er hatte bis vor einem Jahr genau die gleichen Probleme wie Du; aber er fleht sei zwei Jahren jeden Morgen im Gebet, dass Gott doch seine Frau Rocio wieder erleuchten und erwecken möge. Und jetzt hat der HErr sein Gebet erhört und seine Frau von ihrem krankhaften Egoismus und ihrem mangelnden Verantwortungsbewusstsein befreit. Früher hat sie oft bis mittags geschlafen, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern, so dass Francisco neben seinem Beruf als Tierarzt sich auch noch um seine beiden kleinen Töchter kümmern musste. Aber er hat immer wieder auch mit anderen Brüdern für seine Frau gebetet, und das hat der HErr anerkannt und ihm geholfen.“
Auf der Rückfahrt im Auto sprachen wir davon, dass Francisco zuletzt auch sehr fleißig geworden ist im Werk des HErrn, indem ständig Gläubige bei ihm in die Seelsorge gehen. Allerdings vernachlässigt er schon seit Jahren seine Praxis, so dass er kaum genug Kunden hat, um seine Familie finanziell über Wasser zu halten. Francisco habe aber auch bekannt, dass er eigentlich gar keine große Lust habe zu seinem Beruf, sondern am liebsten nur noch als Pastor im Werke des HErrn arbeiten und geistliche Lieder auf der Gitarre komponieren wolle, zumal er eine traumhaft schöne Gesangsstimme hat. Aber da auch Rocio mit dem Verkauf von selbstgemachtem Kuchen kaum Erfolg habe, sei er gezwungen, weiter als Tierarzt zu arbeiten. Mir kam dieses Dilemma sehr bekannt vor aus meiner eigenen Erfahrung. Ruth sagte: „Im Grunde steht er kurz vor einem burn-out (einer Ermüdungsdepression). Wir sollten dringend für ihn beten!“ Ich sagte: „Wenn man so wenig Kunden hat wie er, dann zieht einen das ohnehin runter. Aber er hat auch ein wenig selbst schuld daran. Wenn ich nur die Fassade seines Hauses sehe, wo überall die grüne Farbe abblättert, dann würde ich zu solch einem Tierarzt auch nicht viel Vertrauen haben. Und auch in seiner Praxis sieht alles schmuddelig aus, und es wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert. Bei der nächsten Reise will ich mich mal darum kümmern und ihm die Fassade neu streichen, sowie die Innenräume, damit auch wieder mehr Kunden kommen.“