„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 20
Januar – August 1991
Überdruss und Einsamkeit
Inzwischen lebte ich schon ein halbes Jahr in meiner 13 m²-großen Ein-Zimmer-Wohnung im Asylantenheim, ging jeden Morgen zu Fuß rüber ins Krankenhaus, um meinen Zivildienst zu verrichten und jeden Abend mit dem Fahrrad 5 Kilometer zur Bibelstunde zu den Böhnkes. Noch immer las ich morgens, mittags und abends meinen Bibeltext und hatte inzwischen die Bibel schon sechsmal komplett durchgelesen. Allmählich kannte ich die Texte schon in- und auswendig, so dass sie nicht mehr so spannend waren wie im Anfang. Edgard hatte schon viele Mal den berühmten Satz von Spurgeon zitiert: „Ich habe die Heilige Schrift bisher schon 99-mal gelesen, aber nachdem ich sie in diesem Jahr nun zum 100. Mal gelesen habe, kam es mir vor, als würde ich sie zum ersten Mal lesen.“ Diese Erfahrung entsprach leider nicht (mehr) der meinigen – und das schon nach sechs Malen! Natürlich kann man ein Buch wie die Bibel mit über 1000 Seiten und hunderten von lehrreichen Ereignissen und Lebensweisheiten nicht mit irgendeinem beliebigen Roman vergleichen, der nach einem einmaligen Lesen langweilig wird. Aber inzwischen kannte ich so ziemlich jeden Gedanken, jeden Textabschnitt, ja, fast jeden Satz. Ich war zwar auch ein wenig stolz auf mein umfangreiches Bibelwissen, aber ich machte mir Sorgen, dass ich die Bibel nur noch aus Pflichtbewusstsein las und nicht mehr, um etwas mitzunehmen für den Alltag. Deshalb hatte ich nun begonnen, mir aus jedem Kapitel, das ich gelesen hatte, je einen Vers herauszusuchen und ihn in ein separates Buch abzuschreiben, um den darin enthaltenen Gedanken zu behalten.
Viel spannender war für mich damals das aktuelle Weltgeschehen. Denn es drohte ein großer Krieg zwischen Amerika und dem Irak. Saddam Hussein war in Kuwait einmarschiert, um sich den Reichtum der Öl-Scheichs anzueignen. Und jetzt schaute die ganze Welt wie gebannt darauf, dass die USA unter George Bush Sr. diesen Tyrannen in die Schranken weise – die Guten gegen die Bösen. Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass ich richtig kriegslüstern war und es gar nicht abwarten konnte, dass es losgehe. Endlich passierte mal etwas! Für mich war es weit mehr wie ein Fußball-Länderspiel, denn es hatte so einen Geruch von Endzeit. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn jetzt die ganze Welt untergehe und der HErr Jesus wiederkomme, damit das Warten ein Ende habe. Und tatsächlich war der gesamte kommunistische Ostblock im Verfall begriffen. Nachdem Deutschland sich vor drei Monaten vereinigt hatte, wollten nun auch viele andere sozialistische Länder raus aus der Sowjetunion: zunächst die Baltenstaaten, dann die Tschetschenen, die Georgier und auch die Ukraine. Überall brachen kleine Bürgerkriege aus, denen Präsident Gorbatschow nicht mehr Herr wurde. Das ging auf einmal alles so schnell, dass man den Eindruck bekam, dahinter könnte irgendeine Verschwörung liegen.
Ich hatte mir damals ein Buch gekauft mit dem Titel „Wer regiert die Welt?“ von Des Griffin, das auch die sog. „Protokolle der Weisen von Zion“ enthielt. Vom gleichen Verlag abonnierte ich damals auch die Zeitschrift „CODE“, welche die aktuellen Verschwörungen in der Welt aufzudecken vorgab. Jetzt war für mich alles klar: die Freimaurer und Juden sind für alles verantwortlich und ziehen die Strippen hinter dem Weltgeschehen. Und aus ihrer Mitte werde demnächst der Antichrist hervorkommen und eine Weltregierung gründen, die dann alle Christen verfolgen werde. Es passte alles so wunderbar mit der Heiligen Schrift zusammen, dass ich gar keine Zweifel mehr hatte. Durch mein Geheimwissen über die Pläne der Weltverschwörer sah ich mich als kleinen Helden, der die Verantwortung trug, es möglichst allen anderen mitzuteilen. Jetzt wo der Kalte Krieg beendet war, sprach der amerikanische Präsident nun sogar ganz offen von einer „Neuen Weltordnung“. War es nicht genau das, was unter der Pyramide auf der 1-Dollar-Note stand „Novus Ordo Seclorum“? Jetzt war es so weit! So absurd das klang, aber irgendwie wünschte ich mir sogar, dass jetzt bald der Antichrist käme, damit endlich alles vorbei sei.
Zu jener Zeit fühlte ich mich sehr einsam. Wenn ich abends ins Bett ging, konnte ich niemandem mehr „gute Nacht“ sagen. Ich schlief alleine ein und wachte alleine auf. Nur die Geräusche von den anderen Zimmern im Asylantenheim, gaben mir die Illusion, dass auch noch andere mir Gesellschaft leisteten. Natürlich war es mir ein Trost, dass ich mir Gottes Nähe und Gegenwart bewusst sein konnte, je öfter ich Ihn im Gebet suchte. Aber manchmal war mir die Stille im Raum unheimlich und erdrückend. Ich fuhr zwar jeden Abend zur Bibelstunde, aber eigentlich tat ich es gar nicht mehr, um etwas aus der Bibel zu lernen, sondern um von Edgard und Hedi die Wärme und Geborgenheit zu bekommen, nach der ich mich so sehr sehnte. Da ich mich zwar gesund, aber sehr einseitig ernährte, hatte ich stark abgenommen. Zum Beispiel aß ich häufig Harzer Roller, weil der kein Fett, aber viel Eiweiß enthielt. Um den Reifeprozess zu beschleunigen, tat ich die Käse nicht in den Kühlschrank, sondern legte sie auf die Rippen des Heizkörpers, wo sie durch die Wärme allmählich flüssig wurden in der Verpackung. Auch aß ich ständig Knoblauch, so dass sich die Ärzte und Krankenschwestern über mich beschwerten. Als ich eines Morgens an der OP-Schleuse stand, hatte ein Arzt scherzhaft zu mir gesagt: „Herr Poppe, das Narkotisieren der Patienten machen schon wir, das brauchen Sie nicht tun.“ ?
Inzwischen hatte ich auch sehr viele Kontakte zu Christen außerhalb unserer Gruppierung gesammelt, mit denen ich mich nun regelmäßig schrieb. Häufig tippte ich auf meiner Schreibmaschine die biblischen Gedanken aus dem einen Brief einfach nur noch in dem anderen Brief ab, um mir die Denkarbeit zu erleichtern. Mein Bruder Patrick hatte sich inzwischen einen richtigen Computer gekauft mit einem Schreibprogramm („Data Becker“). Als er mir diesen vorführte sagte er: „Schau mal, Simon: Wenn Du hier auf dem Bildschirm eine Zeile zu Ende geschrieben hast, brauchst Du jetzt gar nicht mehr den Rollwagen zum Anschlag zurückschieben, wie bei der Schreibmaschine, sondern kannst einfach weitertippen. Schau nur: der geht von ganz allein in die nächste Zeile. Und wenn Du Dich mal vertippt hast, dann brauchst Du jetzt nur noch hier drücken und schon ist das Wort wieder gelöscht!“ – „Wahnsinn!“ sagte ich – „Und pass auf, der kann noch mehr: nehmen wir mal an, Du willst mitten in einen fertigen Text noch einen ganzen Satz einfügen, dann gehst Du einfach hier hin, klickst mit dem Cursor in den Text, und dann kannst Du Deinen Satz einfügen.“ – „Wow, das ist ja eine riesige Erleichterung!“ sagte ich und war total begeistert ?.
Patrick hatte seine Schulzeit inzwischen beendet und – so wie ich – seinen Zivildienst begonnen. Auf einmal erfuhr ich, dass vom Kanzler Helmut Kohl ein Erlass ergangen war, dass – wenn in einer Familie zwei Brüder den Zivildienst verrichteten – der dritte Bruder davon befreit wäre. Diese Chance konnte ich nun nutzen und beim Kreiswehrersatzamt einen Antrag auf Befreiung stellen, da ja auch Marcus schon seinen Zivildienst erbracht hatte. Der Antrag wurde bewilligt, und so konnte ich Ende Februar aus meinem Dienst im Krankenhaus entlassen werden. Ich rief bei meinem Lehrherrn, Herrn Hillmer, an, der mich daraufhin sofort wieder einstellte als Malergesellen. Das Arbeitsverhältnis war glücklicherweise nun sehr viel entspannter als früher, da mich meine Kollegen endlich respektierten und meine Arbeit zu schätzen wussten. Darüber hinaus verdiente ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig viel Geld, das ich mir auf die Seite legte für meine spätere Reise nach Südamerika.
Erste Fluchtgedanken
Durch den intensiven Briefwechsel, den ich mit Geschwistern in Südamerika hatte, wurden meine Spanischkenntnisse allmählich immer besser. Ich besuchte auch immer wieder Omar und Erika Llanos in Schwanewede. Sie erzählten mir von Peru, und auf was ich alles achten müsse, wenn ich dort sei. Edgard und Hedi erzählte ich nichts von meinen Besuchen dort, weil es ihnen nicht gefallen hätte. Doch eines Tages kam Edgard dahinter denn er sah eine Plastiktüte, mit geliehenen Sachen von Omar, die ich zur Versammlung mitgenommen hatte, um sie am Nachmittag dem Omar zurückzugeben. Edgard fragte mich was denn da für Unterlagen drinne seien und warum ich sie mitgebracht hätte. Da musste ich es ihm ja bekennen, und er war wie erwartet sehr erschrocken und enttäuscht. Ja, er fing sogar an zu weinen, weil ich ihn hintergangen hatte und bewiesen hätte, dass ich kein völliges Vertrauen mehr zu ihm hätte. Natürlich erzählte Edgard meine „Freveltat“ auch gleich dem Daniel weiter, so dass ich mich scharfer Kritik in den Predigten Daniels aussetzen musste. Zum 99. Mal musste ich mir vorhalten lassen, dass „die Jüngeren den älteren unterwürfig zu sein“ haben, und dass sich die jungen Brüder (ich war der einzige!) sich den jungen Timotheus zum Vorbild nehmen sollten, wie er demütig dem Paulus diente.
Es wurde für mich immer mehr eine unerträgliche Situation. Ich fühlte mich völlig unfrei – kontrolliert und beobachtet auf Schritt und Tritt. Die allabendlichen Bibelstunden ödeten mich allmählich an, und aus Trotz kam ich nur noch, wenn ich nicht müde oder beschäftigt war – und auch nur noch, um einer Verpflichtung Genüge zu tun. Doch es ärgerte mich, dass ich jedes Mal, wenn ich an einem Abend nicht kam, am nächsten Abend von Schwester Hedi gefragt wurde: „Simon, warum warst du denn gestern nicht gekommen? Wir haben dich vermisst…“ Ich musste diesem Teufelskreis endlich entfliehen, aber ich wusste nicht, wie. Schließlich war der Kreis vom Edgard für mich ja nach wie vor die Versammlung der Heiligen, der echten treuen Nachfolger Christi. Sie zu verlassen, könnte daher ja niemals Gottes Wille sein. Und ich könnte es ihnen gegenüber auch nie glaubhaft rechtfertigen. Außerdem: wo sollte ich denn hingehen? In Bremen gab es ja sonst keine Gemeinde, wo ich so ohne Weiteres Gleichgesinnte finden könnte. Besonders schwer zu schaffen machte mir der Gedanke, dass ich Gott missfallen würde, wenn ich die Geschwister im Stich lasse. Ja, schon allein die Überlegung war schon verwerflich! Wie weit war ich schon abgerutscht in meinem geistlichen Leben, dachte ich mir, dass ich sogar eine Trennung von den Geschwistern nicht mehr ausschloss! Wie würde Gott über mich betrübt und erzürnt sein, wenn ich das wirklich täte, zumal doch völlig außer Zweifel stand, dass es Sein Wille war, dass ich bei den Geschwistern bleibe und das Los eines Überwinders trage, der alles geduldig aushält und erträgt. Wenn ich die Geschwister verlassen würde, dann wäre mir wirklich nicht mehr zu helfen; alle würden verächtlich auf mich herabsehen, ja, ich könnte Bruder Daniel nie mehr unter die Augen treten, müsste mich ja im Grund und Boden vor ihm schämen. Ich stellte mir seinen ernsten, rigiden Gesichtsausdruck vor, sein vorwurfsvoller, tadelnder Blick, seine finsteren, durchdringenden Augen und letztlich sein unnachgiebiges und unerbittliches Wesen, mit welchem ich so sehr das Wesen Gottes identifizierte: ein Gott, der nie zufrieden mit mir war, dem ich es nie recht machen konnte, gegenüber welchem ich mich immer wieder schuldig fühlen musste.
Die einzige Möglichkeit, die ich sah, endlich frei zu werden, ohne die Gemeinschaft mit Edgard und Hedi zu verlieren, bestand darin, dass ich von ihnen als Missionar nach Südamerika gesandt werde. Denn die dortigen Gemeinden gehörten ja schließlich alle zu diesem Kreis, und es war ohnehin mein Wunschtraum, dorthin zu reisen. Also brachte ich es ihnen so behutsam wie möglich bei, dass dies eine Möglichkeit sei, dem HErrn zu dienen. Sie waren zunächst skeptisch, weil sie wohl befürchteten, dass ich dann nie wieder zurückkäme. Doch dann vertraute mir Hedi an, dass sie das Geld aus dem Bausparvertrag gar nicht für meine Fahrstunden verbraucht hatte und es demnächst zuteilungsreif sei. Sie übergab mir die Unterlagen und erklärte, dass die angesparten 6.000, – DM eine gute Grundlage seien, um jetzt eine Familie zu gründen. Ich freute mich über die Maßen und wusste nicht, wie ich ihr danken konnte. Dann erzählte Hedi mir, dass sie von Schwester Magdalena gehört habe, dass es in Sachsenheim seit kurzem eine junge Schwester in meinem Alter gäbe namens Felicitas, die ganz eifrig sei im Glauben und die ihre ganze Familie überredet hätte, zu Daniel in die Gemeinde zu kommen. Mir war sofort klar, dass Hedi diese Anspielungen machte, damit ich die Felicitas zur Ehefrau nähme. Doch bevor ich eine Familie gründen konnte, wollte ich erstmal noch nach Südamerika fliegen. Als ich allerdings dann dem Bruder Daniel von meinem Plan berichtete, wiegelte er sofort ab mit dem Hinweis auf mein viel zu junges Alter: „Der HErr Jesus begann erst mit 30 Jahren Seinen Dienst, ebenso die Leviten. Wenn Du also als Missionar arbeiten willst, solltest Du mindestens 30 Jahre alt sein!“ Als Edgard und Hedi von Daniels ablehnender Haltung erfuhren, schlossen sie sich seiner Auffassung an, so dass mein Traum im Nu zerplatzte.
Damals dachte ich zum ersten Mal über die Möglichkeit einer „Flucht“ nach. Ich fühlte mich in der Tat wie in einem Gefängnis, denn ich durfte ja so gut wie nichts tun, was nicht im Einverständnis mit den alten Brüdern bzw. deren Schriftauslegung war. Ich wusste, dass – wenn ich irgendwann einmal abhauen wollte – ich nie wieder zurückkommen könnte, denn sie würden mir diesen Frevel nicht mehr verzeihen. Darüber hinaus würde ich mir die übelsten Vorwürfe gefallen lassen müssen, z.B. dass ich wieder „in die Welt zurückkehren würde“ oder zumindest „als lauer, weltangepasster Freikirchen-Christ“ enden würde usw. Nein, wenn es zu einer Trennung kommen sollte, dann würde ich den Geschwistern nie mehr unter die Augen treten wollen. Ich müsste spurlos verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Nur dann wäre ich verschont von diesem quälend schlechten Gewissens, das Bruder Daniel und die anderen mir all die Jahre eingeflößt hatten. Deshalb kam für mich auch nur eine Flucht ohne Vorankündigung in Frage. Ich wollte einfach von einem Moment zum anderen verschwinden. Von nun an bewegte ich diesen Gedanken in mir jeden Abend, wenn ich von der Bibelstunde wieder nach Hause fuhr, und er gab mir Auftrieb und Ansporn, vorerst noch weiterzumachen. Ich musste nur den richtigen Moment finden und alles gut vorbereiten, wie bei der Flucht aus Alcatraz.
Mein erstes Verliebtsein
Während der alljährlichen Bibeltagung in Sachsenheim über die Osterfeiertage nutzte ich die Gelegenheit und offenbarte mich dem Thomas Schaum gegenüber. Zu meiner Überraschung teilte er meine Einschätzung in Bezug auf Bruder Daniel, dass er die Geschwister bevormunden und seine Autorität missbrauchen würde, indem er unter dem Vorwand der biblischen Ordnung keinerlei Kritik oder Änderungsvorschläge dulden würde. Thomas ging sogar so weit, zu behaupten, dass die auffällige Häufigkeit an kinderlosen Paaren in Sachsenheim eine Strafe Gottes sei, weil Gott ihnen dadurch zeigen wolle, dass Er sich nicht zu all ihren Werken bekennen könne. So hatte Thomas in den Wochen zuvor herausgefunden, dass es – entgegen der Lehre vom Daniel – sehr wohl vereinzelt Bibelstellen geben würde, die das Gebet zum HErrn Jesus – im Gegensatz zum Gebet zum Himmlischen Vater – belegen würden. Darauf angesprochen, reagierte Daniel abweisend und empfand Thomas plötzliches, provokatives Gebet zum HErrn Jesus als offenen Affront und Rebellion. Allerdings wollte Bruder Thomas sich zunächst noch nicht von Daniel trennen, sondern wollte versuchen, die Gemeinschaft schrittweise zu reformieren.
Während dieser Bibeltagung lernte ich auch endlich Felicitas Egeler kennen. Sie war wirklich eine hübsche Glaubensschwester in meinem Alter und sogar fast so groß wie ich. Und sie wirkte tatsächlich sehr eifrig und feurig für den HErrn, wie man mir gesagt hatte. Ich hatte mich ja schon in sie verliebt, als ich sie noch gar nicht kennengelernt hatte, aber jetzt wo ich sie in der Bibelstunde zum ersten Mal sah, konnte ich an nichts anderes denken. Ich fragte mich, wie ich ihr ein Zeichen geben konnte. Würde sie mich überhaupt registrieren? Eigentlich müsse sie das doch, schließlich war ich doch weit und breit der einzige Junge im Daniel-Werner-Kreis. Was auf den ersten Blick wie ein Nachteil erschien, dass wir so wenig Auswahl hatten (wie Adam und Eva im Paradies), erwies sich bei näherer Betrachtung eher sogar noch als Vorteil, denn je weniger Auswahl, desto leichter fällt einem die Partnerwahl. So brauchte ich nur etwas Geduld und die Dinge würden sich dann von ganz allein fügen.
Doch dann nahm ich auch schon sehr bald die ersten Schattenseiten an Felicitas wahr. Zunächst sprach sie ein für mich Norddeutschen kaum verständliches Schwäbisch. Und als die Bibelstunde vorbei war und wir noch etwas beisammensaßen, kam plötzlich ein anderer Junge rein in meinem Alter, und als sie ihn sah, sprang sie auf und umarmte ihn endlose Sekunden lang mit einer Herzlichkeit, wie es sie nur bei Verliebten gibt. Ich war erschrocken und sofort schwer enttäuscht. Innerlich machte ich mich sofort daran, sie wieder von der Liste möglicher Heiratskandidatinnen zu streichen. Neugierig fragte ich meine Sitznachbarin, eine ältere Dame, wer denn der Neuankömmling sei. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass es sich um einen Sohn der Familie Egeler handeln würde, also um Felicitas Bruder. Ich dachte: Was?! Was ist das denn für eine komische Geschwisterliebe? Ist das hier im Schwabenland etwa so üblich? Allerdings war ich auch beruhigt, dass Felicitas doch noch zu haben war, und ich dachte mir: Wenn die schon ihren eigenen Bruder so umarmt, wie wird das erst sein, wenn ich eines Tages mit ihr verheiratet bin…
Es gab da jedoch auch noch ein anderes Mädchen, das ich schon einmal erwähnt hatte, nämlich Christiane, die Stieftochter von Ralf Schiemann und „geistige Tochter“ von Daniel und Magdalena. Sie hatte im 4-Parteien-Haus von Daniel ihre eigene Wohnung, und weil sie nur fünf Jahre älter war als ich, wäre auch sie eine mögliche Heiratskandidatin gewesen. Für Daniel und Magdalena war es längst ausgemacht, dass ich Christiane eines Tages heiraten solle, denn dann würde Daniels schöne heile Welt auch noch über Jahrzehnte weiterbestehen. Es war so ungefähr wie im Mittelalter, als sich zwei Königreiche durch das Heiraten der Königskinder miteinander verbanden. Es gab nur ein Problem bei dieser klugen Strategie: ich liebte Christiane nicht. Sie war echt super nett und lustig, aber ich fand sie nicht besonders attraktiv. Außerdem war sie mir so ähnlich, dass wir uns später vielleicht aus Rivalität nur gestritten hätten. Wir konnten uns stundenlang gut unterhalten, aber ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, mit ihr irgendwann mal ein Bett zu teilen. Es fehlten einfach die nötige Romantik und der Liebeszauber. Ob sie das auch so sah, wusste ich nicht, denn wir hielten uns gegenseitig auf respektvolle Distanz.
Auf jenem Bibelseminar lernte ich jedoch auch Arnold Schmidt kennen, meinen Zimmergenossen. Er war ein kleingewachsener, schüchterner Neubekehrter, 29 Jahre alt, aus Brandenburg, der über Thomas Schaum zu Daniel gefunden hatte. Weil wir viel Zeit hatten, vertraute er mir seine Gedanken und Gefühle an, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Er lebte schon ein halbes Jahr in Sachsenheim und hatte sich mittlerweile unsterblich in Christiane verliebt. Sein Problem war jedoch, dass er wirklich sehr schüchtern war und dazu noch ein hoffnungsloser Romantiker. Er spielte Gitarre und dichtete seine eigenen Liebeslieder für Gott. Darüber hinaus sah er auch wirklich nicht schlecht aus, aber er wusste nicht, wie er der Christiane seine Liebe bezeugen könnte. Er erzählte mir, dass er vor ein paar Tagen einen Annäherungsversuch unternommen hatte, indem er Christiane fragte, ob sie ihn zur Autowerkstatt begleiten könne, weil er seinen Wagen dort lassen müsse und jemanden bräuchte, der ihn dann wieder zurückbringt. Zu seiner – und meiner – Überraschung erwiderte Christiane, dass sie das nicht machen könne, da sie vom Daniel gelernt habe, dass es unschicklich sei, wenn zwei Unverheiratete gemeinsam im Auto unterwegs seien. Bruder Daniel würde das nie erlauben. Ich war wirklich perplex über solch eine scheinheilige Begründung, zumal ich doch selber schon viele Stunden mit Christiane in ihrer Küche verbracht hatte. Für Arnold war dies jedoch schon fast ein sicheres Signal an ihn, dass sie kein Interesse an ihm hatte.
Er tat mir ziemlich leid, und ich wollte ihm helfen. Deshalb bot ich ihm an, für ihn Christiane zu fragen und für ihn zu werben. Obwohl ihm das peinlich war, war ihm mittlerweile alles andere lieber als in dieser Ungewissheit zu bleiben. Ich fragte mich jedoch, ob dies überhaupt Gottes Wille sei, mich für ihn einzusetzen. Deshalb vereinbarte ich im Gebet, dass Gott mir dadurch grünes Licht geben möge, wenn er es zuließe, dass ich an jenem Abend noch einmal Christiane ganz allein begegnen würde. Und tatsächlich geschah dies dann auch auf dem Flur, so dass ich sie ansprach: „Christiane, ich müsste mal dringend mit dir sprechen unter vier Augen. Denn was ich dir sagen möchte, ist sehr persönlich, deshalb fände ich es besser, wenn wir spazieren gehen und ich es dir dann erzählen könnte, – wenn du gerade einen Moment Zeit hast.“ – Sie schaute überrascht und sagte spontan zu, zog sich schnell noch eine Strickjacke über und ging mit mir hinaus.
Ich spürte, wie aufgeregt sie war, und erst jetzt wurde mir klar, dass sie meine Ankündigung auch ganz anders hätte verstehen können, nämlich dass ich ihr selber gerade einen Antrag machen wolle. Ich hatte aber keine Wahl mehr und sagte ihr geradeheraus: „Christiane, der Arnold ist in dich verliebt.“ Sie schluckte, war etwas verdutzt und erwiderte vorsichtig: „Ja, das habe ich auch schon bemerkt“. „Er wollte es dir eigentlich selber sagen, aber du weißt ja, dass er sehr schüchtern ist und deshalb hat er mich gefragt, ob ich dich mal fragen könnte“. – „Weißt du, Simon, ich habe mir ja auch schon meine Gedanken über ihn gemacht, und er ist ja wirklich auch ein lieber Kerl, aber ich bin mir einfach nicht sicher, ob das Gottes Wille wäre. Du weißt ja, dass er noch nicht so lange dabei ist, und wenn Bibelstunde ist, dann beteiligt er sich eigentlich so gut wie nie, noch nicht einmal beim Gebet. Ich glaube, dass ihm noch die geistige Reife fehlt. Aber vielleicht kommt das ja noch, und dann hätte ich auch eher schon Gewissheit, dass es Gottes Wille ist.“ Mit dieser Antwort kam ich zu Arnold zurück und konnte ihn trösten, denn aufgeschoben ist ja noch nicht aufgehoben.
Ich selber war mir ja auch noch längst nicht klar, ob es nun die Felicitas sein soll oder doch lieber eher die Ruth. Mich reizte neben Ruths Schönheit auch die Schönheit Perus, nicht nur die Natur, sondern auch die ganze Geschichte. Es hatte einfach etwas Abenteuerliches und Faszinierendes, mit einer Ausländerin verheiratet zu sein. Ich wusste, dass die Sprache kein Hinderungsgrund für uns sein würde, sondern eher kulturelle Unterschiede; aber auch diese würden sich im Laufe der Zeit schon auflösen. Was mir ein wenig Sorgen machte, war, dass Ruth durch ihre Briefe einen etwas oberflächlichen Eindruck auf mich machte. Es gab ziemlich viele Übertreibungen und Schönfärbungen, so dass ich mir nicht sicher war, ob hinter der christlichen Fassade wirklich auch eine überzeugte Ernsthaftigkeit war. Das musste ich erst noch herausfinden, aber dazu würde ich ja demnächst Gelegenheit bekommen. Geld genug hatte ich inzwischen angespart, um mir einen Hin- und Rückflug nach Südamerika leisten zu können (ca. 1.500 DM damals).
Ein schmerzhafter Abschied
Als der Sommer gekommen war, traf ich die letzten Vorbereitungen für meinen Ausstieg. Ich plante, bevor ich meine Südamerikareise antrat, erst noch ein paar Monate lang sämtliche Geschwister in Deutschland zu besuchen, von denen ich wusste, dass sie auch mal zum Daniel-Werner-Kreis gehörten oder diesem nahe gestanden hatten. Ich wollte wissen, aus welchen Gründen sie sich vom Bruder Daniel getrennt hatten und ob ich mich mit ihren jeweiligen Ansichten über die Bibel anfreunden konnte. Ich plante, eine Rundreise durch ganz Deutschland zu machen mit dem Zug und teilweise auch mit dem Fahrrad, so wie ich es schon einmal mit 16 gemacht hatte („Tramper-Monats-Ticket“). Mein Flug nach Peru war gebucht für den 28.01.1992. Ich hatte also noch gut ein halbes Jahr Zeit. Ich schrieb der Ruth, dass ich für ein paar Monate nicht mehr schreiben würde, da ich sozusagen auf einer Selbstfindungsreise sei und daher Abstand von allem suchte. Ich ahnte nicht, dass sie das dann so interpretierte, als wolle ich mit ihr schlussmachen.
Während der Bibeltagung zu Ostern hatte mich Daniel eingeladen, im Sommer wieder für eine Woche nach Sachsenheim zu kommen, um dort für ihn Malerarbeiten auszuführen. Da ich ihm mein Kommen versprochen hatte, plante ich meinen Ausstieg so, dass er kurz nach dieser Woche, Anfang August, stattfinden solle. Ich hatte meine Ein-Zimmer-Wohnung und auch meine Arbeitsstelle fristgerecht gekündigt ohne dass die Geschwister etwas davon erfuhren, und hatte mir für meine Flucht den 15.08.1991 ausgesucht, ein Donnerstag. Am Abend zuvor wollte ich noch ein letztes Mal zur Bibelstunde kommen und es dann allen sagen. Doch zuvor wollte ich auch nochmal die Geschwister in Sachsenheim sehen während meines Arbeitseinsatzes vom 02.08. bis 09.08.1991. Insgeheim hoffte ich, den Thomas und den Arnold noch überreden zu können, mit mir zusammen auszusteigen. Thomas war jedoch mittlerweile wieder der Ansicht, dass es Sünde sei, sich von einer Gemeinde, die Gott einem zugewiesen hatte, zu trennen, egal ob es in einer solchen Missstände gäbe oder nicht.
In der Bibelstunde erfuhr ich durch das Gebet von Bruder Helmut durch Zufall, dass der alte Bruder Arthur Vincent aus Kanada am Vortage heimgegangen war. Die Brüder nahmen es mal wieder mit so viel Gleichmut, dass auch ich keinerlei Gefühlsregung empfand, obwohl ich Bruder Arthur doch schon seit nunmehr 6 Jahren kannte und im ständigen Briefaustausch mit ihm war. Er wurde 94 Jahre alt. Am letzten Abend vor meiner Rückreise nach Bremen saß ich mal wieder bei Christiane und wir aßen ein Eis. Ich hatte niemandem außer Thomas und Arnold bisher von meinem Ausstieg erzählt, und ich dachte, dass ich Christiane wenigstens einen kleinen Tipp geben sollte, damit sie später nicht schlecht von mir denkt: „Christiane, es gibt da etwas, was ich Dir noch nicht verraten darf, aber ich kann Dir so viel sagen, dass es eine deutliche Veränderung in meinem Leben geben wird, von der Du vielleicht schon im Laufe der nächsten Woche erfahren wirst. Bitte sei mir dann nicht böse, wenn Du es erfährst.“ – „Das ist ja ein Zufall, Simon, denn auch bei mir wird es eine große Veränderung geben, von der auch Du in der nächsten Woche erst erfahren wirst! Also, lassen wir uns beide überraschen!“ Ihr Geheimnis erfuhr ich dann Tage später: Am darauffolgenden Sonntag war Bruder Robert Brandt nach dem Gottesdienst nach vorne gegangen und hatte seine Verlobung mit Christiane bekanntgegeben. Ich war wirklich überrascht, als ich dies hörte, denn obwohl diese Möglichkeit so naheliegend war, kam es mir nicht in den Sinn, dass es ausgerechnet zwischen diesen beiden funken würde. Aber im Grunde passten sie wirklich gut zusammen. Die Geschwister in Sachsenheim waren aber zunächst nicht so erfreut darüber, da sie wohl befürchteten, dass die beiden schon seit längerem ein geheimes Verhältnis miteinander hatten. Andererseits hatte der kinderlose Bruder Daniel nun endlich seinen langersehnten Kronprinzen und Thronfolger. Allerdings nicht für lange Zeit, denn Monate später erfuhr ich auch, dass Robert und Christiane nach ihrer Hochzeit sich von Daniel und den Geschwistern in Sachsenheim getrennt hatten und zunächst den Adventisten beigetreten und später sogar in die Esoterik abgedriftet sind.
Am nächsten Tag erklärte mir Daniel beim Frühstück, dass er mich ein Stück meines Weges nach Bremen begleiten wolle, weil er ohnehin einen Besuch in Eisenach geplant habe und mich mitnehmen könne. Das war für mich keine gute Nachricht, denn das würde bedeuten, dass ich mich mit Daniel im Wagen unterhalten musste und dabei ständig auf der Hut sein musste, um mich nicht zu verraten. Doch irgendwie überstand ich die Fahrt, und wir erreichten Eisenach am Mittag. Daniel wollte einen sehr bibelkundigen Bruder besuchen, von dem er schon viel gehört hatte, sein Name: Bernd Fischer (52). Später sollte ich diesen auch noch kennenlernen und mit ihm viel erleben, aber zunächst wollte Daniel dies verhindern und bat mich, während der Unterredung Handzettel in der Innenstadt zu verteilen, was ich auch tat. Nach etwa zwei oder drei Stunden holte mich Daniel am vereinbarten Treffpunkt ab, und wir fuhren wieder in den Westen. Er sagte mir, dass er mich bis nach Bebra fahren und mich von dort in den Zug nach Bremen setzen würde. Als ich „Bebra“ hörte, freute ich mich, denn ich war mir sicher, dass Daniel mit mir dort den Bruder Ralf Schiemann besuchen würde, der ja in Bebra wohnte. Doch zu meiner Überraschung fuhr mich Daniel direkt zum Bahnhof in Bebra und kaufte für mich sogar die Fahrkarte, so als ob er dadurch sicherstellen wollte, dass ich nicht auf dumme Gedanken kommen könnte und den Bruder Ralf Schiemann doch besuche. Weil Daniel noch nicht einmal den Namen von Ralf erwähnte, tat ich es auch nicht, sondern ließ Daniel in dem Glauben, dass ich tatsächlich brav nach Bremen weiterfahren würde. Sobald Daniel aber weg war, verlängerte ich mein Ticket und machte mich auf den Weg zu Ralf.
Nachdem ich Ralf von Daniels unbrüderlichem Verhalten berichtet hatte, war dieser zwar traurig aber nicht wirklich überrascht, da dieses typisch war für Daniel. Ich übernachtete in Bebra und hatte schöne Gespräche mit Ralf, der für mich immer mehr ein Vorbild war. Ich mochte seine rebellische Art, dass er sich nie einem – wie auch immer gearteten – System unterordnen wollte, sondern seinen eigenen Kopf hatte. Als ich wieder in Bremen angekommen war, fuhr ich Montagabend wieder zur Bibelstunde, um den Geschwistern von meiner Reise zu berichten. Anschließend war ich schon im Gehen begriffen, da fragte mich Edgard beiläufig: „Und? Wie war es heute auf der Arbeit?“ Ich erschrak, denn da ich nicht lügen durfte, hatte ich keine andere Wahl, als den Geschwistern die Wahrheit zu sagen: dass ich nämlich schon vor zwei Wochen gekündigt hätte und vorhätte, auch sie demnächst für immer zu verlassen. Wir setzten uns noch einmal ins Esszimmer und ich erklärte ihnen behutsam, welches die Gründe für meine Entscheidung waren. Hedi fing an zu weinen, und auch ich brach daraufhin in Tränen aus. Für sie ging eine Welt unter, denn ich war doch quasi ihr „Sohn“ und Erbe. Das durfte einfach nicht sein, und anstatt Verständnis für mich aufzubringen, hieß es einfach nur immer wieder: „Das ist aber nicht vom HERRN“! oder „Das kann unmöglich Gottes Wille sein!“ Indirekt wollten sie mir zu verstehen geben: Wenn Du uns verlässt, verlässt Du den HErrn! Ich versicherte ihnen, dass es vielleicht nur vorübergehend sei und ich vielleicht eines Tages zu ihnen zurückkehren würde. Jedenfalls würde ich mich am Mittwoch auch noch von den anderen Geschwistern verabschieden.
Nun war die Katze also aus dem Sack, und ich fühlte mich erleichtert, dass ich dies nun hinter mir hatte. Meine Sachen waren schon gepackt und meine Schwester Diana erklärte sich bereit, mir bei der Einlagerung meiner Sachen im Hause meiner Eltern zu helfen. Ich besaß damals so wenig, dass alles in ihren kleinen Golf hineinpasste. Auf einer großen Deutschlandkarte markierte ich mir alle Stationen, wo ich Geschwister besuchen wollte. Um von den Bahnhöfen aus zu deren Haus zu gelangen, nahm ich auch mein Fahrrad mit. Ich kaufte mir auch noch einen Fotoapparat, um meine Abenteuerreise in Bildern festzuhalten. Am Tag vor meiner Abreise kam Edgard mich noch einmal besuchen und teilte mir mit, dass Hedi und er sich entschieden hätten, dass ich am Abend nicht mehr zur Bibelstunde kommen solle, da sie es nicht ertragen könnten, mich nur noch ein letztes Mal zu sehen. Ich hätte ihnen das Herz gebrochen, und ich solle mir meine Entscheidung noch ein letztes Mal überlegen, da ich auch für alle Konsequenzen selbst verantwortlich sei. Ich bat Edgard, nicht weiter auf mich einzureden, da ich mir diesen Entschluss schon seit langem überlegt habe.
Am Tag meiner Abreise fuhr ich vollbepackt mit dem Fahrrad los zum Hauptbahnhof. Dort angekommen, erfuhr ich zu meinem Entsetzen, dass das Tramper-Monats-Ticket nur für Jugendliche bis 21 Jahre gültig sei. Da ich aber gerade 22 geworden war, könne ich es nicht mehr bekommen. Was sollte ich also tun? Denn mir jedes Mal eine neue Fahrkarte zu kaufen, kam für mich nicht in Betracht, da ich sparsam sein musste. Da kam mir ein ziemlich verrückter Einfall, den ich dann auch in die Tat umsetzte: Ich wollte die ganze Route quer durch Deutschland mit dem Fahrrad zurücklegen, also rund 2000 km. Ich hatte ja schließlich genug Zeit, und Fahrradfahren macht ja eigentlich auch Spaß. Also: Augen zu und durch!
Der theatralische Prediger
Ich fuhr zunächst Richtung Osnabrück und übernachtete die erste Nacht auf einen Campingplatz. Am nächsten Morgen regnete es in Strömen, aber zum Glück hatte ich mir ja ein Zelt aufgebaut. Nach drei Tagen Fahrradfahrt kam ich endlich in Mönchengladbach an, meiner ersten Station auf meiner Reise. Mir tat schon richtig der Hintern weh. In Gladbeck rief ich bei Bruder Kurt Hoster an, einem Prediger, der uns schon mal in Bremen besucht hatte. Es war jedoch nur sein Sohn Daniel zu Hause; die Eltern und seine Brüder seien zu Besuch beim Onkel in Berlin. Ich war jedoch herzlich eingeladen, bei ihnen zu übernachten, zumal ich ja auch eng mit Daniel Ahner befreundet sei, der erst vor kurzem die Schwester von Daniel Hoster geheiratet hatte. Daniel war in meinem Alter, und wir verstanden uns bestens. Bis spät in die Nacht hinein unterhielten wir uns. Am nächsten Morgen wollte ich mich nützlich machen, um ihnen nicht zur Last zu werden. Ich bot Daniel an, dass ich sämtliche Türen im Haus lackieren könne (als Gegenleistung für Kost und Logie). Wir kauften uns Lack und Pinsel, und ich machte mich ans Werk. Am nächsten Tag kam die Hosterfamilie wieder, und so hatte ich Gelegenheit, sie und besonders den Vater Kurt einmal richtig kennenzulernen:
Als gebürtiger Rheinländer hatte er ein typisch überschwängliches Temperament. Auch zu mir war er zunächst sehr herzlich, aber ich spürte bald, dass er seine Familie und die kleine Hausgemeinde mit patriarchalischer Strenge führte. Er hatte eine so dermaßen durchdringende Art, dass es schon einer erheblichen Standfestigkeit bedurfte, um seinem Charme nicht zu erliegen. Keiner von den Geschwistern traute sich, ihm auch nur zu widersprechen, da sie sich vor seiner dominanten Donnerstimme fürchteten. Er scheute auch nicht davor zurück, mich als Andersdenkenden vor allen bloßzustellen. So hatte ich z.B. ziemlich am Anfang eine Diskussion mit ihm über die Frage, ob ein Christ noch verloren gehen könne, was er entschieden bejahte. Auf seine Frage, wie anders denn wohl Gott den Abfall und die Sünde der Gläubigen bestrafen könne, hatte ich erwidert, dass es in diesem Fall eben eines Tages „Punktabzug“ geben würde. Daraufhin machte er diesen Gedanken zum Predigtthema am Abend, indem er all jene verspottete, die da glaubten, sie würden wegen ihrer heimlichen Sünden nur einen „Punktabzug“ erleiden. Wen er insbesondere von uns damit meinte, ließ er mich dann noch einmal wissen im anschließenden Gebet, indem er das Gebet jedes einzelnen mit einem lauten „AMEN!“ bestätigte, während er das meinige mit einem vielsagenden Schweigen quittierte.
Ich fühlte mich schlecht und elend nach der Predigt, wollte aber nicht Bruder Kurt die Schuld daran geben, sondern fragte mich hingegen selbstkritisch, ob ich nicht wirklich viel zu lau und fleischlich geworden sei in letzter Zeit. Fing nicht alles damit an, dass ich mir dieses blöde Radio gekauft hatte? Nun hatte der Teufel einen Zugang bekommen, um mich allmählich wieder in die Welt zurückzuziehen. Und dann hatte ich mir auch noch einen Fotoapparat gekauft, obwohl mir doch klar sein musste, dass ich mir nach dem 2. Gebot kein Bildnis machen dürfe. Kurzentschlossen nahm ich also den Fotoapparat und warf ihn in den Mülleimer der Küche. Daraufhin ging es mir schon viel besser und ich atmete auf. In diesem Moment kam Jonathan, der 16-jährige Sohn vom Kurt, in die Küche und fragte mich, wie ich die Predigt gefunden habe. Ich bekannte ihm, dass mir eben gerade so war, als habe Gott direkt zu mir geredet.
„Ja, das sieht man Dir auch irgendwie an“ sagte er. „Tatsächlich? Woran siehst Du das?“ – „An Deinen Augen. Sie leuchten irgendwie. Ich weiß auch nicht.“ Nach einer kurzen Pause fragte er mich: „Was hat Gott denn zu Dir gesagt?“ – „Dass ich mich von einem Götzen trennen soll.“ – „Hallelujah!“ sagte er. „Und hast Du es schon gemacht?“ – „Ja.“ – „Und um welchen Götzen hat es sich gehandelt?“ – „Um meine Kamera.“ Ich merkte plötzlich eine leichte Bestürzung bei ihm, aber er sagte nichts. Nach einer Weile der Stille fragte er zaghaft: „War die neu?“ – „Ja.“
Stille.
„Darf ich fragen, wo Du sie hingeworfen hast?“ – „Damit Du sie dann aus dem Müll wieder herausholst? Nein. Ich will Dich auf keinen Fall in Versuchung bringen, deshalb darf ich es Dir nicht sagen.“ – „Nein, nein, Bruder Simon, so war das nicht gemeint! Ich dachte nur, dass irgendjemand anderes sie vielleicht dort finden und dann an sich nehmen könnte. Das wäre doch riskant!“ beteuerte er. „Keine Sorge. Ich hol sie nachher selbst dort raus und werde sie zertrümmern“ sagte ich. Dabei kam mir der Gedanke, dass ich dies vielleicht erst später tun sollte, um einmal zu testen, ob Jonathan sie suchen würde. Als ich eine Stunde später noch einmal in die Küche ging und in den Mülleimer hineinsah, war sie nicht mehr da. Naja, dachte ich, – für mich war sie jedenfalls ein Götze!
Am nächsten Tag hatte ich noch immer Schuldgefühle. Familie Hoster wollte zum Mittag grillen, deshalb war Vater Hoster im Garten, um schon mal die Kohle zu entzünden. Ich ging hin zu ihm und bat um ein seelsorgerliches Gespräch. Er ging mit mir in die Gartenlaube, bot mir einen Platz und sagte: „Dann leg mal los, lieber Bruder: Was bedrückt Dich denn?“ – „Ach, ich weiß nicht so recht. Ich glaube, dass ich in den letzten Monaten etwas lau geworden bin in meinem Glaubensleben. Ich habe das Gefühl, dass mir irgendwie die erste Liebe fehlt.“ In diesem Moment klingelte das Telefon und Kurt sprang auf und rannte ins Haus. Ich dachte, ich hatte ihn sicherlich jetzt wohl beeindruckt mit meiner Demut und Unterwürfigkeit. Doch ich sollte mich täuschen: Als er wiederkam und sich gesetzt hatte, schaute er mich entrückt an und sprach mit bebender Stimme: „Mein lieber Simon, ich bin ja jetzt völlig entsetzt, was Du mir da gerade berichtet hast!“
„Ach, na sowas“ entgegnete ich erschrocken, und fragte mich, was denn jetzt kommen würde. „Ich hatte angenommen, dass Du mein lieber Bruder bist!“ – „Aber das bin ich doch auch, oder etwa nicht?“
„Aber Du hast doch gerade eben noch zu mir gesagt, dass Du in letzter Zeit ein wenig ‚lau‘ geworden bist, und Du weißt doch, dass geschrieben steht, dass Gott die Lauen aus seinem Munde ausspeien wird!“ (Offb. 3:17). „Aber Bruder Kurt, jetzt mal halblang. Du darfst das jetzt nicht so wörtlich nehmen. Ich hatte das auch nur auf mein Verhalten in der letzten Zeit bezogen, weil ich nicht mehr so richtig in der ersten Liebe gewandelt habe.“ – „Ja, aber das ist doch gerade das Schreckliche, was auch der HErr gesagt hat, dass wir Buße tun sollen, wenn wir die ‚erste Liebe‘ verlassen haben, sonst gehen wir für alle Zeit verloren!“
Später erfuhr ich, dass diese rigorose Haltung von Bruder Kurt keineswegs böswillig gemeint war, sondern daher rührt, dass er – wie ich später erfuhr – zu den sog. „Norwegern“ gehörte, einer fundamentalistischen Sekte, die u.a. die Lehre von der absoluten Vollkommenheit vertritt, die sich jeder wahre Christ durch ein völlig sündloses Leben erst erarbeiten müsse, um das Heil zu erlangen. Demzufolge kann schon ein geringfügiger Fehltritt bedeuten, dass man – sofern man just in diesem Moment stirbt – sofort das Heil wieder verloren hat und in die Hölle kommt. Diese Lehre beruft sich vorrangig auf den Bibelvers: „Schaffet nun eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern“ (Phil. 2:12). Interessant fand ich die Beobachtung, dass der Begriff „Sünde“ zum Teil sehr spitzfindig definiert wurde, indem nur das wirklich als Sünde galt, für dass es auch einen eindeutigen Beleg in der Bibel gibt. Alles andere war also demnach erlaubt, und sei es auch noch so fragwürdig und ungeistlich, z.B. das grobe Foulen beim Fußball oder die Teilnahme am Wehrdienst. Nach Kurts Auffassung war ja alles geheiligt, solange man es „im Namen des HErrn“ tat, gleichsam einem Etikett, das ich auf eine Sache raufklebe, um ihr dadurch eine neue Bestimmung zu verleihen. Auf diese Weise gab es dann auch nicht mehr allzu viele Sünden, durch die man denn überhaupt noch das Heil verlieren konnte, – eine Lösung, die verständlicherweise erheblich zum Stressabbau beitrug.
Inzwischen waren schon bald zwei Wochen vergangen, seit meiner „Flucht“, und ich fragte mich, was wohl jetzt die Bremer und Sachsenheimer über mich reden würden. Würde Bruder Daniel es nicht als Heuchelei empfunden haben, dass ich ihm auf der ganzen Autofahrt nichts von meiner Absicht, die Geschwister zu verlassen, erzählt habe? Ich entschloss mich also einen Brief an Daniel Werner zu schreiben:
„Mönchengladbach, 27.8.91
Geliebter Bruder im HErrn Jesus, lieber Daniel,
ganz herzlich möchte ich dich und euch alle mit den Worten aus Psalm 126,5 grüßen: ‚Die mit Tränen sehen, werden mit Jubel ernten‘. Sicherlich zerrinnen die Tränen der Welt in der Erde ohne Frucht zu bringen, aber die sind hier ja auch nicht gemeint. Als Heilige und Geliebte dürfen wir aber wissen, dass die gegenwärtigen Trübsale – wenn sie ‚Gott gemäß‘ sind, mitwirken zur Heiligung und zum jubelvollen Ernten für die Ewigkeit.
Bitte vergebt mir, dass ich euch über mein Fortgehen nicht informiert hatte. Ich dachte, es wäre besser so, weil ich ein Gespräch mit Dir darüber gescheut habe. Du hättest mich gewiss nicht verstanden und mir wieder viele Vorwürfe gemacht, die ich nicht ertragen hätte. Dennoch hätte ich es Dir vorher mitteilen sollen, was mir im nachherein klar wurde und worüber ich Buße tat. Trotzdem bin ich bis heute aus ganzem Herzen überzeugt, dass mein Fortgehen richtig und notwendig war. ICH KONNTE EINFACH NICHT MEHR und so hat der HErr mir einen wunderbaren Ausweg bereitet, den ich bisher in nichts bereut habe, – im Gegenteil: ich habe in den Wochen zuvor wie Jakob mit Gott gegen meinen eigenen Willen gekämpft und nun hat der HErr mir den Sieg geschenkt und ‚meine Seele ist gerettet worden‘(1.Mose 32,30). Ihr könnt das nicht verstehen, weil es ein verborgener Kampf war. Nach Deinen Grundsätzen und Prinzipien konnte so etwas nicht ‚vom HErrn‘ sein, was ich tat. Aber auch ich habe Gottes Geist, der mir gezeigt hat, dass es nicht länger Gottes Wille war, in Bremen zu bleiben. Wie es nun In ferner Zukunft weitergehen soll, kann ich jetzt noch nicht sehen, aber wie die Leuchte des Wortes in der Nacht gerade nur die nächsten 2-3 Schritte auf dem Weg beleuchtet, so weiß ich auch jetzt nur den Weg für die nächsten 2-3 Tage. Aber ich habe große Zuversicht und große Freude, weil ich weiß, dass der Herr mit mir ist.
Sagst Du nicht selbst, dass unser guter Hirte uns an frischen Wassern und grünen Auen lagert (Ps. 23,2). Genau das darf jetzt endlich meine glückliche Erfahrung sein. Dagegen kommen mir Bremen und Sachsenheim wie abgestandene Tümpel vor, wo der Zufluss und der Abfluss versiegt sind. Ich sage das ganz offen denn jede Schmeichelei oder Leisetreterei wäre Selbstbetrug. Wäre ich noch länger mit Euch zusammen, dann hätte sicherlich auch bei mir der Geist des Schwermuts und der Selbstgefälligkeit den letzten Funken an ‚Freude im HErrn‘ in mir erstickt.“
An dieser Stelle brach ich das Schreiben ab und entschied mich, den Brief doch nicht abzuschicken (deshalb habe ich ihn bis heute), denn ich wollte Daniel keine Vorwürfe machen, da er es ohnehin schon schwer genug hatte, sondern dachte mir, dass der HErr selbst ihm schon zur rechten Zeit die Augen öffnen kann, was er ändern müsste, damit nicht auch andere weggehen. Wer war ich, dass ich mir das Recht herausnehmen könnte, einen 46 Jahre älteren Bruder belehren zu wollen!
Bruder Kurt fragte mich nach ein paar Tagen, wie denn meine weiteren Pläne aussehen würden. Ich erklärte ihm, dass ich dem HErrn dienen wolle, – egal wie und wo, und dass ich mich von Ihm leiten lassen wolle, wie Er mich führen würde; zunächst aber wolle ich erst einmal meine Reise fortsetzen, um mit dem Fahrrad weitere Geschwister zu besuchen. Daraufhin erzählte er mir von einem Kinderheimprojekt in Rumänien, dass sein leiblicher Bruder Hans-Udo Hoster aus Berlin gerade ins Leben gerufen habe und wo ein Bruder aus Deutschland, der dem HErrn dienen wolle, sehr nützlich sei, und ob ich daran nicht Interesse hätte. Obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen konnte, dass dies Gottes Plan für mich sein könnte, wollte ich nicht Nein sagen, sondern stellte mich vertrauensvoll zur Verfügung in der Hoffnung, dass mich Gott schon recht leiten würde. Als nächstes überredete mich Kurt, dass ich zunächst einmal nach Berlin fahren sollte, damit sein Bruder mich kennenlerne, um alles weitere mit mir zu besprechen. Meine Deutschland-Reise könne ich ja im Anschluss immer noch fortsetzen. Und bevor ich es mir noch anders überlegen konnte, rief Kurt seinen Bruder in Berlin an, um ihm mitzuteilen, dass er einen Kandidaten für das Rumänien-Projekt gefunden habe und er diesen zum näheren Kennenlernen nach Berlin schicken würde. Und spontan, wie er war, fuhr er mich am nächsten Tag auch gleich zum Hauptbahnhof, kaufte mir eine Fahrkarte und schenkte mir am Bahnhof noch einen 500,- DM-Schein, „um ein wenig Taschengeld zu haben“.
Fortsetzung folgt…