„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Einmal auf dem Schoß Gottes sitzen“ Teil 12, (Jan. – Dez. 2002)

Januar bis Juni 2002

Das Ende vom Ende der Geschichte

Kurz nach dem Ende des Kalten Krieges stellte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ (1992) die These auf, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sich nun überall in der Welt die Demokratie und die Freie Marktwirtschaft durchsetzen würden und dadurch keine neuen Entwicklungen und Herausforderungen mehr zu erwarten seien, sondern die gesamte Menschheit endlich ein für alle Mal zur Ruhe gekommen sei. Alle bisherigen Ideologien wären gescheitert, und die Demokratie habe sich als einzig mögliche Gesellschaftsform für alle Zeiten bewährt. Doch schon 10 Jahre nach dem Erscheinen seines Buches erwies sich diese Hoffnung als trügerisch, denn die Terroranschläge vom 11.09.2001 hatten ja gezeigt, dass längst nicht alle Menschen mit der Freiheit und Demokratie einverstanden sind, sondern noch immer an den Sieg ihrer Ideologie oder Religion glaubten und bereit waren, dafür zu kämpfen. Die sog. „westlichen Werte“ mit ihrer Unmoral und Verwahrlosung wurden ja durch Hollywood in der ganzen Welt anschaulich gemacht und deshalb nicht als begehrenswertes Ideal angesehen. Vielmehr besannen sich z.B. viele in den islamischen Ländern wieder auf die alten Werte von Religion, Kultur, Volk, Familie und Vaterland zurück und sahen in dem Oktroyieren (d.h. Aufzwingen) des Liberalismus selbst eine Bevormundung, gegen die sie sich zur Wehr setzen wollten. Da die islamische Welt jedoch unter einander zu zerstritten war, um sich im Kampf gegen die USA zu vereinen, die inzwischen als einzige Weltmacht übrig blieb und zudem als „Weltpolizei“ für Ordnung sorgte, kam für die Islamisten nur der Terror als Zeichen ihres Hasses auf die westliche Kultur in Frage. Auf einen Bus in Lima las ich mal den Spruch: „Hass ist die Rache der Feiglinge„. Und Terror ist in der Tat etwas Feiges und Heimtückisches, aber auch ein Zeichen von Schwäche und Ohnmacht. Er ist aber auch nicht mit kriegerischen Mitteln besiegbar, wie Präsident Bush damals noch glaubte bei seinem Einmarsch in Afghanistan und später in den Irak. Neuer Wein lässt sich eben nicht in alte Schläuche füllen.

Die Hoffnung, dass nach dem Kalten Krieg nun ein ewiges Reich des Friedens und der Vernunft anbrechen würde, war also auf einmal verschwunden, und der „Wind of Change“ war verflogen. Schon wieder machte sich ein Klima der Angst breit, das durch weitere perfide Terroranschläge noch angefacht wurde, wie z.B. dem Versandt von Briefen mit Milzbrand-Bakterien, die als Biowaffen gelten. Auf einmal konnte es jeden treffen, der sich gerade in U-Bahnen oder auf Flughäfen aufhielt, aber auch in Konzerten oder Gottesdiensten. Der gläubige ZDF-Moderator Peter Hahne schrieb damals das Buch „Schluss mit lustig„, das zum Bestseller wurde und auf das Ende der „Spaßgesellschaft“ anspielte. Tatsächlich gab in den Jahren zuvor immer neue Unterhaltungsformate in den Medien wie z.B. „Wer wird Millionär“ oder „Big Brother„, eine Anspielung auf George Orwells „Großen Bruder„, der die Wohnstuben der Menschen beobachtet, um Systemkritiker zu bespitzeln. Wie tief muss eine Gesellschaft erst gesunken sein, wenn sie sich am Voyeurismus amüsieren kann oder an ehemaligen Prominenten, die im Dschungel irgendwelche sinnlosen Mutproben bestehen müssen! Ich selbst hatte mich von Anfang an verweigert, mir solch einen Schwachsinn anzusehen, erlag jedoch der Versuchung, mir stattdessen die WM 2002 anzuschauen, bei welcher die deutsche Mannschaft es sogar ins Endspiel schaffte, aber schließlich gegen Brasilien unterlag.

Ähnlich unerträglich empfand ich auch den Humor von Mario Barth oder Stefan Raab, die ich mir nicht länger als eine Minute angucken konnte, ohne schnell wieder umzuschalten. Da kann man ja fast schon Verständnis aufbringen für die Verachtung und den Hass der Islamisten auf die westliche Dekadenz. Zynismus und Schadenfreude sind die letzten Symptome einer sterbenden Kultur. Auch das Alte Rom ging ja durch „Brot und Spiele“ unter, weil sie durch ihren Sittenverfall zu sehr geschwächt waren, um den angreifenden Horden der Völkerwanderung noch etwas entgegenzusetzen (genauso ist es übrigens auch heute!). Im Nachhinein betrachtet lässt sich feststellen, dass der Terrorismus positiv bewirkt hat, dass sich viele Menschen von der Dauerberieselung und dem Konsumdenken abwandten und unser heutiges Gesellschaftssystem in Frage stellten. Mit dem 11. September entstand gerade bei jungen Leuten wieder ein Interesse an Politik, das in den 20 Jahren zuvor stark zurückgegangen war. Die Kinder der Linken wurden zu Globalisierungskritikern (attac, Occupy) und die Kinder der Rechten zur „Identitären Bewegung“ (Pegida, AfD, Reichsbürger). All dies sind gesunde Vorstufen eines Menschen auf seiner Suche nach Gott, von daher hatte der Schrecken des islamischen Terrors auch eine erzieherische Wirkung von Gott.

Zu Beginn des Jahres 2002 wurde auch endlich der Euro als Bargeld eingeführt. Die Deutschen konnten ihre DM nun zur Landesbank bringen und sich dafür den Gegenwert in Euro geben lassen. Die Mehrzahl der Deutschen war ja eigentlich gegen den Euro, aber als er dann da war, gewöhnte man sich schnell daran. Doch schon nach wenigen Monaten merkten die Leute, dass viele Händler im Zuge der Währungsreform einfach heimlich ihre Preise erhöht hatten, weil sie darauf spekulierten, dass die Leute infolge der Umrechnung durcheinander kamen und sich auch nicht mehr daran erinnern konnten, wie viel das Produkt noch zu DM-Zeiten gekostet hatte. Schnell wurde aus dem Euro also der „Teuro„, wie die BILD-Zeitung diese „gefühlte Preissteigerung“ nannte. Es machte sich ein allgemeines Unbehagen breit, weil jeder irgendwie den Eindruck hatte, dass die EU-Politiker ohnehin machen, was sie wollen und die Demokratie nur noch eine Seiferoper mit vielen Darstellern sei, um die Menschen zu unterhalten. Horst Seehofer hat ja mal im Fernsehen gesagt: „Die etwas zu entscheiden haben, wurden nicht gewählt, und die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden“ Bei der Bundestagswahl hatte ich noch eine Anti-Euro-Partei gewählt, die sich „Pro-DM“ nannte, aber die hatte natürlich keine Chance gegen die Großparteien.

Anfang März konnten wir dann endlich in unser Reihenend-Haus nach Bremen-Habenhausen umziehen, nachdem ich es zuvor mit meinen Lehrlingen renoviert hatte. Ich wollte nach dem Einzug eigentlich einen „Tag der offenen Tür“ machen, um auch die Nachbarn alle kennenzulernen und mit ihnen Freundschaft zu schließen, denn dies war ja eine einmalige Gelegenheit (jemand hat mal gesagt: „Für den ersten Eindruck hat man keine zweite Chance„). Doch Ruth wollte nicht so viele Leute in unserem Haus, zumal vieles noch nicht richtig fertig war, sondern nur provisorisch. Für eine neue Küche fehlte uns das Geld, und unser Garten sah noch aus wie ein verwilderter Truppenübungsplatz. Vorrangig war uns jedoch erst mal das Bad, das noch hässliche, grüne Fliesen aus den 70er Jahren hatte. Von unserem letzten Geld kaufte ich kleine, weiß-bläuliche Wandfliesen und große blaue Bodenfliesen. Da wir uns jedoch keinen Fliesenleger leisten konnten, versuchte ich mich selbst daran. Zunächst funktionierte es auch ganz gut, aber als ich einmal ganz rum war und mit der 4. Wand auf die 1. Wand stieß, waren die Fugen schon um 2 cm versetzt. Aber was soll’s! Wir waren froh, dass wir es nun endlich geschafft hatten, zur sog. „Mittelschicht“ zu gehören, sodass wir uns sogar in diesem relativ wohlhabenden Stadtteil ein eigenes Haus leisten konnten, das zugleich eine Kapitalanlage fürs Rentenalter bedeuten würde.

Sehnsucht nach Gott

Eines Tages als ich abends von der Arbeit nach Hause fuhr, war ich voller Schwermut in meinem Innern. Ich hatte zwar alles erreicht und war dennoch todunglücklich. Ich fuhr die Baum-Allee entlang und hörte dabei meine melancholische Musik von CD. Doch dann schaltete ich aus und wollte mich ganz auf meine Gedanken konzentrieren. Aller materielle Besitz konnte nicht die Leere in meinem Herzen ersetzen. Irgendwas musste sich ändern, damit ich wieder glücklich werden konnte. Mir fiel auf, dass in den letzten 20 Jahren eigentlich alle 6 Jahre eine einschneidende Veränderung in meinem Leben geschehen war: 1984 hatte ich mich bekehrt, 1990 war meine Trennung von Edgard und Hedi und 1996 hatte ich mich vom christlichen Glauben abgekehrt. Jetzt waren aber schon wieder 6 Jahre vergangen, also musste in diesem Jahr wieder irgendein „Richtungswechsel“ passieren. Vielleicht sollte ich wieder Christ werden? Emotional würde mir das sehr helfen, aber dann müsste ich meinem Denken Gewalt antun. Aber was hatte mir mein Unglaube gebracht? Ich fühlte mich irgendwie „krank“ von oben bis unten und sehnte mich nach „Heilung„. Mir kamen die Tränen, und ich sagte mir: „Ich möchte wieder HEIL werden!“ Diesen Satz sagte ich immer wieder vor mich hin, bis ich zuhause ankam.

Ruth saß im Wohnzimmer und telefonierte mit ihrer Freundin Raquel. Als sie jedoch merkte, dass meine Augen rot waren vom Weinen, beendete sie schnell das Gespräch und fragte mich besorgt, was passiert sei. Ich konnte kaum reden, antwortete jedoch nur mit stockender Stimme, dass alles in Ordnung ist, ich nur etwas deprimiert sei. Doch dann brach ich wieder in Tränen aus und sagte schluchzend, dass ich wieder zu Gott zurückwollte. Ruth umarmte mich, aber ich wollte ihr mein Herz weiter ausschütten. Ich bekannte Ruth tränenüberströmend, dass ich heimlich gottlose Musik höre, aber dass ich jetzt einen Neuanfang in meinem Glauben machen wolle. Mir schien, dass Ruth mich gar nicht richtig ernst nahm, denn sobald sie sah, dass kein Unfall passiert sei, rief sie wieder ihre Freundin an, um das Gespräch fortzusetzen. Ich machte mich am Abend noch mal auf dem Weg, um Müll wegzubringen. Auf dem Rückweg war ich tief in Gedanken als ich auf einmal sah, dass die Ampel vor mir von Grün auf Gelb schaltete. Ich wollte es noch schaffen und beschleunigte, doch da sprang sie bereits auf Rot und ich verlangsamte etwas zögerlich, während ich weiter die Kreuzung überfuhr. Doch nach einer Sekunde hatte mich auch schon ein Wagen von der linken Seite gerammt.

Ich fuhr an die Seite, stieg aus und ging auf den jungen Mann zu. Da ich noch etwas unter Schock stand, reagierte ich wohl etwas unsicher auf den Mann, so dass er sofort die Polizei rufen lassen wollte. Alles Zureden half nichts, sondern bestärkte ihn sogar noch mehr. Die Polizei kam, nahm den Unfall auf und ich erhielt kurze Zeit später eine Aufforderung, dass ich meinen Führerschein für einen Monat abzugeben hätte. Das war natürlich ein herber Schlag. Denn als Selbständiger ist man ja völlig auf seinen Führerschein angewiesen. Warum aber war mir dies ausgerechnet jetzt widerfahren, wo ich doch gerade gehofft hatte, einen Neuanfang mit Gott zu wagen? Das passte für mich ganz und gar nicht zusammen. War alles doch nur eine Illusion? Nur eine kurze Gefühlsaufwallung? Ich fuhr traurig nach Hause und war über mich selbst völlig verwirrt. Um mich zu zerstreuen, ging ich am Abend noch mal mit dem Hund am Deich spazieren. Der Himmel hatte sich sehr dunkel gefärbt, fast schon lila-violett und es war diesig und leicht nebelig. Ich betete und bat Gott darum, dass Er mir doch ein Zeichen geben möge, dass Er wirklich existiere. Ich dachte: „Wenn ich Gott wäre, würde ich diese Gelegenheit jetzt nutzen, um mich wieder zum Glauben zu führen!“ Es fing leicht an zu nieseln. Ich bat Gott: „HErr, wenn es Dich gibt, dann zeige Dich doch mir, indem es jetzt sofort aufhört zu regnen. Biiiiiittte, HErr, Biiiiitte, zeige Dich mir doch dadurch. Gib mir ein Zeichen, damit ich wieder glauben kann!“ Es fing auf einmal stark an zu regnen, und ich begann zu weinen. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen, der auf mein Gesicht fiel, und ich war mir jetzt sicher: „Gott existiert überhaupt nicht.“

Nachdem ich meinen Führerschein abgegeben hatte, schaffte ich es tatsächlich irgendwie, die ersten zwei Wochen mit Bus und Fahrrad zu überbrücken. Doch dann musste ich eine dringende Erledigung machen und dachte: „Ich fahr jetzt einfach ganz vorsichtig und unauffällig – die werden mich schon nicht kontrollieren.“ Und tatsächlich ging alles gut, obwohl ich viel Herzklopfen hatte. Am nächsten Tag hatte ich wieder die gleiche Situation, und ich wog noch einmal Chancen und Risiken gegeneinander ab und entschied mich wieder zu fahren. Und so verging ein Tag nach dem anderen, bis ich zuletzt wieder völlig routiniert war und die Angst verflog. Mein Vater hatte immer gesagt: „Man darf alles, man darf sich nur nicht dabei erwischen lassen!“ Als der Monat schon fast herum war und nur noch zwei Tage fehlten, fuhr ich in Bremen-Walle auf der Nordstr. zu Feierabend nach Hause, ohne zu merken, dass ich statt 50 km/h schon eher 70 km/h fuhr, zumal auch die Autos vor mir in dieser kurvenreichen Straße ohne Ampeln alle gleich schnell fuhren. Auf einmal sah ich eine große Verkehrskontrolle und alle Fahrzeuge vor mir wurden von einem Polizisten in einen Hof gewiesen, weil wir alle viel zu schnell unterwegs waren. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich dachte: „Jetzt bin ich geliefert! Warum musste ausgerechnet heute eine Polizeikontrolle sein!?“ Als der Wagen vor mir gerade rechts reingebogen war in den Hof, gab mir der Polizist ein Handzeichen, dass ich stoppen sollte. Der Hof war schon voll mit Autos und kein Platz mehr für ein weiteres. Dann winkte er mir zu, dass ich einfach weiterfahren könne. Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn ich war der Demütigung noch einmal um Haaresbreite entkommen! Dass Gott auch hier Seine schützende Hand über mich hielt, erkenne ich leider erst heute; damals war ich blind für Sein Reden.

Im Frühjahr 2002 schrieb mir Patrick Mücher, mein Ex-Lehrling, der zwei Jahre zuvor einen Tresor gestohlen hatte und danach wegen eines weiteren Einbruchs eine einjährige Haftstrafe absaß. Er schrieb mir aus der Haftanstalt und bat mich noch einmal ausdrücklich um Entschuldigung für den Ärger, den ich mit ihm hatte. Er bat mich, ob ich ihm denn nicht noch mal eine Chance geben könne, da es für einen Ex-Sträfling ja sehr schwierig sei, einen Ausbildungsplatz zu finden. Er tat mir wirklich leid, und da ich selber ja auch kein Unschuldsengel war, wollte ich ihm nochmal eine Chance geben. Aber wodurch hatte ich die Sicherheit, dass er inzwischen geläutert sei und keine weiteren Einbrüche mehr unternimmt? Da kam mir eine ungewöhnliche Idee: Ich schrieb dem Patrick: „Hallo Patrick, ich bin nur unter einer einzigen Bedingung bereit, Dir nochmal eine Chance zu geben. Und zwar möchte ich, dass Du Dich zum christlichen Glauben bekehrst. Ich bin zwar selber auch kein Christ mehr, aber ich weiß, dass Menschen sich zu einem gewissen Grad bessern können, wenn sie an Gott glauben. Ich meine das ernst! Es gibt in der Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen einen gläubigen Seelsorger namens Seibold. Ich möchte, dass Du dich an ihn wendest und ihn bittest, dass er Dir das Evangelium erklären soll. Wenn er mir dann bestätigt hat, dass Du wirklich gläubig geworden bist, kannst Du Deine Lehre bei mir fortsetzen!“ Eine Woche später schrieb mir Patrick und antwortete nur lapidar: „Simon, wenn Du mir nochmal eine Chance gäbest, dann würde ich Dir sogar auf den Koran schwören!“

Der Fall Bender

Herr und Frau Bender waren etwa in meinem Alter und das, was man unter „Öko-Idealisten“ versteht. Sie hatten sich in Bremen-Findorff ein altbremer Reihenhaus gekauft und es nach dem neuesten Stand der ökologischen Nachhaltigkeit modernisieren lassen. Die Wände waren aus Lehmputz und der Holzdielen-Fußboden mit ökologischem Naturöl versiegelt. Wir hatten für sie bereits das ganze Haus von oben bis unten renoviert zu ihrer vollsten Zufriedenheit, als sie zum Schluss noch den Wunsch äußerten, wir sollten doch auch noch ihre neuen Kassettentüren im Landhausstil mit einer weißpigmentierter Öko-Lasur von der Firma Leinos streichen, sowie die alte Holztreppe über zwei Etagen abschleifen und in dunkelrot lackieren. Während wir dies durchführten, war Familie Bender für eine Woche verreist und sie hatten uns den Schlüssel gegeben. Als sie am Wochenende wieder zurück waren, rief mich Frau Bender an und sagte, dass sie mit der Treppe sehr zufrieden seien, nicht aber mit den 12 Türen, da man überall Ansätze sehe und sie trotz des zweimaligen Anstrichs einen zu rustikalen Eindruck machten. Auch wirkten die Türen im Keller wegen der schlechteren Beleuchtung irgendwie grauer und ich solle doch noch einmal vorbei kommen. Obwohl ich selbst die Türen für gut befand, bot ich den Kunden an, die Türen alle noch ein 3. Mal auf eigene Kosten zu lasieren, damit sie etwas gleichmäßiger aussähen.

Dies geschah dann auch Anfang Mai, während Benders noch ein weiteres Mal für zwei Tage wegfuhren. Doch auch diesmal entsprach das Erscheinungsbild nicht ihren Vorstellungen, da die Türen „nicht alle einen gleichmäßigen Gesamteindruck“ ergaben. Ich war nun mit meinem Latein am Ende. Stellenweise hatten die Türen tatsächlich hässliche Flecken, was an den Holzinhaltsstoffen lag, dem sog. „Lignin„, das durch die wässrige Lasur angelöst wurde und durchschlug. Wir überlegten deshalb, einen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der doch mal ehrlich sagen solle, wie er die Türen beurteilen würde. Doch auch der Gutachter Stoiber tat sich schwer damit, einen Vorschlag zu machen, um beiden Seiten gerecht zu werden. Wir setzten uns also an den Küchentisch und beratschlagten, was zu tun sei. Am Ende einigten wir uns darauf, dass ich nochmal eine „Mustertür“ ein weiteres Mal lasieren sollte mit einer anderen Öko-Lasur, und wenn diese zu aller Zufriedenheit ausfallen würde, dann könne ich auch alle übrigen Türen noch ein 4. Mal auf diese Weise lasieren. Sollte aber auch die Mustertür wieder missfallen, erklärte ich mich bereit, auf 50 % von meinem restlichen Werklohn von 1.559,20 € zu verzichten, also auf 779,60 €.

Nachdem ich die Mustertür gestrichen hatte, waren die Eheleute zwar endlich zufrieden mit dem Ergebnis, beklagten jedoch den strengen Geruch nach Zitronensäure, der doch die Atemwege ihrer Kinder reizen würde. Ich versprach ihnen, die restlichen Türen mit einer anderen Bio-Lasur zu streichen, die nicht so riechen würde, womit sie einverstanden waren. So machte ich mich daran, auch die anderen 11 Türen noch ein 4. Mal zu lasieren mit einem Produkt der Firma Sadolin. Die neue Lasur war etwas weißer als die anderen, aber das schien Frau Bender nicht zu stören, mit der ich mich während der Arbeit öfter unterhielt. Ich war froh, dass wir uns gut verstanden und der Fall endlich erledigt wäre. Doch nach einer Woche erhielt ich einen Brief von den Eheleuten Bender, dass sie immer noch nicht zufrieden seien, da die Türen zwar jetzt alle gleichmäßig wären, aber dafür viel zu stark gedeckt hätten, so dass man die ursprüngliche Maserung und die Astlöcher kaum mehr sehen könne. Zudem seien die anderen Türen viel weißer als die von ihnen gutgeheißene Referenztür. Da sie keine weitere Nachbesserung mehr von mir wollten, würden sie sich nun einen anderen Malermeister suchen, der die gesamten Türen noch einmal abbeizen und von Grund auf neu lasieren solle. Die Kosten hierfür würden sie mir in Rechnung stellen, da ich ja nicht in der Lage gewesen sei, die Türen zu ihrer Zufriedenheit herzustellen. Ich war entsetzt und überlegte, mir einen Anwalt zu nehmen. Inzwischen hatten die Benders noch einmal ihren Gutachter Stoiber herbeigerufen, der sich ihrer Auffassung anschloss und eine Neubearbeitung von Grund auf ebenso befürwortete.

Ich rief die Benders an, ob man sich nicht einigen könnte auf einen außergerichtlichen Vergleich bei der Schlichtungsstelle der Handwerkskammer, um einen Streit vor Gericht zu vermeiden. Sie waren damit einverstanden. Wir trafen uns also bald darauf im Zimmer des Justiziars der HWK und erörterten den Sachverhalt. Meine Karten standen schlecht, da ja Herr Stoiber auf ihrer Seite war. Benders boten mir an, auf eine Komplettüberarbeitung der Türen im Wert von rund 5.000,- € zu verzichten, wenn ich auf meinen Werklohn von 1.559,-€ verzichte und Ihnen darüber hinaus noch eine Entschädigung von 1.160,-€ zahle. Außerdem sollte ich ihnen auch noch die Kosten für den Gutachter in Höhe von 500,-€ erstatten. Ich bat um Bedenkzeit, doch der Justiziar schlug vor, ich solle den Einigungsvertrag doch erst mal unterschreiben, da ja eine Widerrufsklausel von einer Woche bestünde. Ich unterschrieb, aber in mir sträubte sich alles dagegen. „Was für ein Unrecht!“ dachte ich. Nach all der Mühe, die ich mir gemacht hatte, – sollte das jetzt der Dank sein?! Ich konnte drei Nächte lang kaum schlafen, weil ich immer nur daran denken musste. Schließlich schrieb ich einen Brief an die Handwerkskammer, dass ich den Vergleich fristgerecht widerrufe.

Einige Wochen später kam das Klageschreiben des gegnerischen Anwalts gegen mich, wo auch ein Kostenvoranschlag des anderen Malermeisters beigefügt war i.H.v. 5.834,64 €, aufgrund dessen mich nun die Kunden verklagen wollten, Vorschuss zu leisten, da ich angeblich ihre Türen verhunzt hätte. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass ich diesmal unterlegen sein würde und nahm mir deshalb einen Anwalt. Heiko Lindemann, hörte mir geduldig zu und schrieb dann eine Klageerwiderung, in welcher er mit Hilfe meiner fachlichen Erklärungen begründete, dass mit einer Weißlasur nach so vielen Anstichen kein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen sei und dies doch auf Veranlassung der Kunden selbst erfolgt sei. Die Gegenseite blieb jedoch bei ihrer Forderung auf Schadenersatz, da ich angeblich nicht in der Lage gewesen sei, die neuen Türen fachlich korrekt zu lasieren. Da sie den Gutachter auf ihrer Seite hatten, sah die Sache wirklich nicht gut für mich aus. „Was mache ich, wenn die den Prozess gewinnen?“ dachte ich. „Schrecklich! – Wenn solche Forderungen noch öfter passieren, dann werde ich irgendwann noch pleite gehen. Und was können die machen, wenn ich zahlungsunfähig bin?“ Plötzlich schoss es mir in den Sinn: „Die sind in der Lage, mir das Haus wegzunehmen!“ Mir wurde ganz übel bei dieser Vorstellung. Doch dann kam mir eine Idee: „Ich werde das Haus einfach auf meine Frau übertragen, dann können die mir nichts mehr anhaben, denn meine Frau hat ja mit der Firma nichts zu tun.“ Ich veranlasste also notariell eine Übertragung des Hauses, damit es allein meiner Frau gehöre und für zukünftige Regressforderungen von Kunden unantastbar wäre.

Einige Monate später war dann der Prozess vor dem Amtsgericht Bremen. Mir schlotterten die Knie, als wir aufgerufen wurden, um einzutreten. Nachdem der Richter sich die Anträge der Parteien noch einmal bestätigen ließ, gab er mit ruhiger Stimme seine rechtliche Wertung des Falles bekannt: „Sie beide hatten zuletzt einen Vergleich bei der HWK geschlossen, den der Beklagte Poppe jedoch widerrufen hatte. Damit aber bleibt die ursprüngliche Einigung der Parteien vom 09.07.2002 weiterhin wirksam. Danach bestehe kein Nachbesserungsanspruch des Klägers, sondern nur ein geminderter Werklohnanspruch des Beklagten. Die Klage ist demzufolge abzuweisen, und der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.“ Noch ehe ich überhaupt begriffen hatte, was der Richter gerade erklärt hatte, geriet der Anwalt von Bender beinahe in einen Tobsuchtsanfall, wie der vorsitzende Richter sich angesichts der Faktenlage überhaupt zu solch einem Urteil hinreißen lassen könne, etc. Schließlich bestünde doch seit der Verwendung einer anderen Lasur von mir „gar keine Geschäftsgrundlage mehr„, da ich mich ja selber nicht an die Vereinbarung gehalten hätte. Der Richter wies jedoch darauf hin, dass diese Behauptung perfide sei, da ja die Benders selber eine andere Lasur gewünscht hätten wegen der Geruchsbelästigung.

Ich hatte den Prozess also tatsächlich gewonnen und brauchte keine Entschädigung mehr an den Kunden zu zahlen. Stattdessen sollte ich sogar von Benders noch die Hälfte meiner restlichen Werklohnforderung bekommen in Höhe von 779,60 €. Zudem mussten sie auch noch meinen und ihren Anwalt bezahlen, sowie die Gerichtskosten. Verständlicherweise ließen sie diese Demütigung nicht auf sich sitzen, sondern gingen in Berufung. Doch auch vor dem Bremer Landgericht scheiterten sie schließlich, so dass Benders am Ende auch noch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen hatten. Daraufhin rief mich der Sachverständige Stoiber an und beklagte sich bei mir, dass er nun bei seinen Auftraggebern in Ungnade gefallen sei und man ihm die ganze Schuld anlasten würde wegen seines unausgereiften Einigungsvertrages vom 09.07.02. Er bat mich, doch wenigstens aus Anstandsgründen seine Kosten als Gutachter zu übernehmen, da er dies sich nun kaum mehr getraue, den Benders in Rechnung zu stellen. Ich erklärte ihm, dass ich ihn ja nicht beauftragt habe und er ihnen ja auch falsche Hoffnungen gemacht hatte, den Prozess zu gewinnen. Daraufhin beschimpfte er mich als „Pfuscher“ und prophezeite mir: „Ich gebe ihrer Firma noch maximal ein Jahr, und dann sind sie ohnehin pleite!“ Dann knallte er den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden.

Juli – Dezember 2002

Veränderungen

Die Vorwürfe von Herrn Stoiber wollte ich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie waren zwar im Falle Bender unberechtigt, aber in vielen anderen Fällen wurde mir immer mehr bewusst, dass meine Firma eigentlich doch ein ziemlich chaotischer Haufen war. Mit meinem Bruder Marco hatte ich ständig Streit, weil er meine Anordnungen nicht befolgte und sich von mir nichts sagen ließ. Aber auch über die anderen Mitarbeiter hörte ich immer wieder Klagen von den Kunden, z.B.: „Sagen Sie bitte ihrem Lehrling, dass ich nicht möchte, dass er hier in meinen Garten pinkelt!“ Besonders häufig beschwerten sich Kunden über Jörg, weil er z.B. aufgrund seiner Einfalt die schlechte Angewohnheit hatte, die Kunden immer einfach zu duzen. Jörg hatte zwar immer ein sonniges Gemüt und musste über jede Kleinigkeit jedes Mal laut lachen, aber im Umgang mit Kunden fehlte ihm leider häufig die nötige Bildung, so dass er mich oftmals bis auf die Knochen blamierte. Einmal hatte Jörg z.B. in der Villa eines Ärzte-Ehepaars gearbeitet, als mich abends der Mann anrief und sagte: „Herr Poppe, meine Frau hatte ja heute die Abnahme mit ihrem Mitarbeiter gemacht und ihm dabei noch ein paar Stellen gezeigt, wo er nachtupfen sollte. Während sie mit ihm von Raum zu Raum ging, sagte er aber plötzlich lächelnd zu ihr: ‚Das macht Dir wohl Spaß, nicht wahr?‚ – Ich muss doch sehr bitten, Herr Poppe, aber meine Frau ist 30 Jahre älter als ihr Mitarbeiter und braucht sich solche Anzüglichkeiten doch nun wirklich nicht bieten lassen!“ Ich entschuldigte mich für Jörg.

Aufgrund dieser Vorkommnisse entschied ich mich im Sommer 2002 schweren Herzens, nicht nur Jörg zu kündigen, sondern auch meinen Zwillingsbruder Marco. Er hatte ja ohnehin inzwischen ein Reisegewerbe angemeldet, so dass er auch weiterhin für mich als Subunternehmer arbeiten konnte. Wie sich später herausstellen sollte, war dies eine kluge Entscheidung gewesen, denn Marco und ich konnten seither viel besser zusammenarbeiten ohne größeren Streit – bis auf den heutigen Tag. Die Stelle von Jörg übernahm dann ein gewisser Paul Rauner (25), der ähnlich wie Jörg ein sehr fröhlicher Bursche war und die Angewohnheit hatte, auf der Arbeit immer zu singen. Er liebte die Deutsche Schlagermusik und hörte sie deshalb gerne auf den Baustellen, während er dazu mitsang. Auch die Kunden mochten Paul, weil er immer gute Laune verbreitete. Kurz darauf meldete sich auch Patrick Mücher (21), der inzwischen seine Haftstrafe abgesessen hatte, und bat mich noch mal, ihm doch eine Chance zu geben. Da er sich aber entgegen meiner Bedingung nicht zum christlichen Glauben bekehrt hatte, ließ ich ihn erst einmal nur als Praktikant arbeiten, um ihn zu testen. Da er sich jedoch vorbildlich verhielt, stellte ich ihn bald darauf wieder als Lehrling ein. Mario Lieberenz hatte inzwischen seine Ausbildung erfolgreich bestanden, wollte aber nicht übernommen werden, sondern verpflichtete sich stattdessen als Berufssoldat, „da man dort viel mehr verdiene„. Volkmar Priefer hingegen war gar nicht erst zur Prüfung angetreten, da er sich nicht fit genug fühlte, und bat mich deshalb, dass ich ihn noch ein weiteres Jahr beschäftigen solle.

All diese Personalveränderungen täuschten mich jedoch nicht darüber hinweg, dass sich so bald nichts verbessern würde in meiner Firma, wenn sich nicht der Hauptschuldige an all meinen Problemen ändern würde, und das war ich selber. Die Fehler mit den kostspieligsten Folgen lagen nicht bei irgendeinem Mitarbeiter, sondern wurden von mir selbst verursacht. Ich musste mir eingestehen, dass ich mich dringend mal um eine Fortbildung bemühen musste, um in Zukunft Probleme mit Kunden zu vermeiden. Also meldete ich mich bei der Akademie des Handwerks an, um ein einjähriges Studium zum „Betriebswirt des Handwerks“ zu absolvieren, das dreimal wöchentlich in Abendkursen stattfand. Diese Entscheidung erwies sich als Volltreffer, und die Lehrgangsgebühr von 1.100,- € hatte sich absolut gelohnt. Denn nun wurde ich zum ersten Mal mit Dingen wie Reklamations-Management, Marketing oder Personalführung vertraut gemacht, was ich alles nicht gelernt hatte in der Meisterschule. Die meisten Teilnehmer waren nur angestellte Handwerksmeister, die sich für eine spätere Betriebsübernahme vorbereiten wollten. Da ich jedoch schon etwas Erfahrung gesammelt hatte in der Selbständigkeit, bat mich die Dozentin, doch mal zu berichten, wie ich meine Mitarbeiter zu guten Leistungen motivieren würde. Ich erzählte vor der Klasse, dass ich mittags öfter mal nach Aldi fahre, um für die Lehrlinge Brötchen und Aufstrich zu kaufen, um gemeinsam zu essen; aber dass ich sie zuweilen auch von zu Hause aus dem Bett hole, wenn sie behauptet hätten, sie wären krank, um sie dann zur Arbeit zu zwingen. Der gelernten Psychologen standen die Haare zu Berge, und sie bezeichnete meine Firma als „Biotop„, in dem ich einen reaktionären, patriarchalischen Führungsstil ausüben würde, der eher in das Mittelalter gehöre, als es noch Leibeigenschaft und Frondienste gab.

Nach den Sommerferien wurde unser Tochter Rebekka (6) eingeschult in die Evangelische Bekenntnisschule Bremen, zusammen mit ihrer besten Freundin Marlene, deren Eltern Olga und Carlos aus Paraguay kamen und mit Ruth und mir bis heute eng befreundet sind. Wir waren froh, dass ihre Klassenlehrerin Sabine Linz war, die in die Gemeinde meiner Mutter ging und eine sehr engagierte Christin war. Rebekka hatte ein halbes Jahr vorher regelmäßig „Sprech-Stunden“ bei einer Logopädin nehmen müssen, da sie aufgrund ihrer zweisprachigen Erziehung viele Worte im Deutschen nicht richtig aussprechen konnte. Ungefähr zur gleichen Zeit kam auch unsere Schwägerin Rita, die Frau von Ruths Bruder Walter, aus Lima zu Besuch nach Bremen und wohnte drei Monate bei uns. Sie wollte hier in Deutschland etwas Geld verdienen und anschließend auch noch mal nach Mailand zu ihrer Freundin Rosa fliegen. Da die Ehe zwischen Walter und Rita schon seit langem kriselte, war uns nicht ganz wohl bei der Sache, dass sie so lange von ihrem Mann getrennt sein würde. Später stellte sich heraus, dass unsere Sorge überaus berechtigt war, denn Rita kam nie wieder zurück nach Peru, sondern blieb in Mailand, wo sie als Altenpflegerin Arbeit fand, einen anderen Mann kennenlernte und sich von Walter scheiden ließ. Später zog auch ihre Tochter Gina nach Italien und ließ ihren pubertären Sohn Aldahir einfach in Lima zurück bei ihrem Vater Walter. Aldahir schloss sich später einer Verbrecherbande an, erschoss einen Taxifahrer und ist heute im Gefängnis. Vielleicht wäre das alles nie passiert, wenn wir Rita nicht erlaubt hätten, uns in Deutschland zu besuchen…

Allerdings entschlossen wir uns damals wegen der Rita, wieder regelmäßig in die spanisch-sprechende Gemeinde zu gehen, die inzwischen einen neuen Pastor hatte, Burkhard Amissen. Viele Geschwister der Gemeinde wollten sich damals jedoch auch noch zusätzlich zu Bibelstunden treffen und baten mich, doch mal in der Gemeinde meiner Mutter zu fragen, ob wir uns dort sonntagnachmittags versammeln könnten. Und so absurd das klingen mag, kam es dann tatsächlich dazu, dass ich dann einige Male eine Predigt hielt vor den südamerikanischen Geschwistern im Gottesdienstraum der „Christusgemeinde“, die damals noch im Hafengebiet war, bis der Pastor Marco van der Velde uns bat, dass wir uns auch an der Miete beteiligen sollten, wenn wir schon den Raum mitbenutzten. Die südamerikanischen Geschwister hielten dies jedoch nicht für nötig, so dass wir uns in der Folgezeit in den Räumen der „Kreuzgemeinde“ trafen. Keiner der Geschwister sollte damals erfahren, dass ich eigentlich gar kein Christ mehr war, und ich gab mir solch große Mühe, dies zu vertuschen, dass sogar meine Frau glaubte, ich wäre wieder gläubig geworden.

An einem Abend besuchte ich meinen Freund Günther Dudda (68), der immer unsere Autos reparierte. Er war immer sehr depressiv, weil er allein in einem großen Haus wohnte. Er bekannte mir, dass er auf meinen Vater eifersüchtig sei, weil dieser mit seiner Mieterin Gunda eine Beziehung begonnen hatte, obwohl auch er in sie verliebt sei. Doch an jenem Abend fühlte sich Günther sehr unwohl und hatte Schmerzen. Ich empfahl ihm, zum Arzt zu gehen, aber er wollte nicht, da er schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt war. Wir verabschiedeten uns gegen 21.00 Uhr. Doch dann erfuhr ich am nächsten Tag, dass er in der Nacht zusammengebrochen war und den Notarzt rufen musste. Ich besuchte ihn im Krankenhaus, und er freute sich sehr, mich zu sehen. Seine Zunge war allerdings total dick geschwollen, so dass ich kaum verstehen konnte, was er mir sagte. Auch war er irgendwie ziemlich aufgedreht und hyperaktiv. Während die Krankenschwester seine Infusionsflasche einstellte, fragte ich ihn: „Und was denkst Du Günther, wie lange Du hier noch bleiben musst?“ – „Och nicht mehr lange“ winkte Günther ab. „Vielleicht noch 2 oder 3 Tage, maximal ’ne Woche„. Doch während ich ihn anschaute, sah ich hinter ihm die Krankenschwester, die mir wortlos ein Zeichen gab, indem sie heimlich mit dem Kopf schüttelte. Ich dachte: „Was will sie mir damit wohl sagen? Dass er noch viele Wochen bleiben müsse?“ Nach zwei Tagen stellte sich jedoch heraus, dass Günther recht behalten sollte. Denn er war plötzlich tot.

Im Herbst 2002 fand dann die Bundestagswahl statt. Kanzler Gerhard Schröder hatte ja versprochen, dass er die hohe Arbeitslosigkeit zu Beginn seiner Amtszeit deutlich senken wollte (Zitat: „An diesem Wahlversprechen werde ich mich messen lassen„). Schließlich war ihm dies aber nicht gelungen, sondern sie stieg sogar weiter auf 4 Millionen. Die rot-grüne Koalition war also in der Wählergunst stark gesunken; aber auch die CDU hatte sich noch nicht ganz von der Spendenaffäre um Kanzler Kohl erholt. Als aber dann im Sommer 2002 überall im Osten durch eine große Flut sämtliche Dämme brachen, war Schröder sofort zur Stelle und ließ sich in Gummistiefeln medienwirksam von den Helfern die Lage vor Ort erklären, wodurch er wieder an Ansehen gewann. Am Ende siegte die SPD vor der CDU mit einer hauchdünnen Mehrheit von wenigen Hundert Wählerstimmen, denn beide Parteien lagen bei 38,5 %. Dieses für damalige Verhältnisse „schlechte Wahlergebnis“ hat die SPD seitdem nie wieder erreicht (derzeit liegt die SPD bei gerade einmal nur 16-18 % !). Durch die Fortsetzung der rot-grünen Regierungskoalition konnte Schröder jedoch die Hartz IV-Gesetze und die Agenda 2010 beschließen, wodurch er die deutsche Wirtschaft nachhaltig zu dem Erfolg führte, den wir heute haben. Leider konnte die SPD 2006 nicht mehr die Früchte ihrer Weichenstellung genießen, sondern sie wurden später vom Heer der enttäuschten Stammwähler abgewählt, die zu den Nichtwählern, den Linken oder zur AfD wechselten.

Der Fall Bley

Im Herbst 2002 bekam ich von einem Kunden aus Habenhausen den Auftrag, die Fassade seines Reihen-Endhauses zu sanieren, sowie die Fenster zu streichen. Um möglichst preisgünstig zu sein, bot ich – wie immer – auch den Eheleuten Bley den Auftrag ohne Gerüst an, für gerade einmal nur 1.600,- €, inkl. vollflächigem Spachteln und Gewebearmierung. Doch als ich dem Kunden nach einer Woche eine Abschlagsrechnung in Höhe von 1.000,- € gab, wollte dieser sie nicht bezahlen, da keine Abschlagszahlung vereinbart war. Zudem bemängelte er, dass die Fassade noch nicht glatt genug sei, obwohl wir ohnehin schon dreimal so viel gespachtelt hatten, als im Angebot vorgesehen. Inzwischen war es Oktober geworden und es regnete ständig, so dass sich die Fertigstellung hinzog. Der Kunde fing nun immer wieder an, zu nörgeln und schickte mir bald alle drei Tage ein Fax mitten in der Nacht, in welchem er mich aufforderte, die Arbeiten endlich fertig zu stellen, jedoch auch immer wieder neue Mängel rügte. Ich schrieb ihm, dass wir doch so gut wie fertig seien, aber das Wetter zu unsicher sei, um die gewünschten Ausbesserungen durchzuführen. Der Ton wurde allmählich immer gehässiger: „Wir fordern Sie hiermit auf, nachdem Sie inzwischen seit mehr als 2 Wochen an dieser `Baustelle` werkeln, diesem Treiben nunmehr kurzfristig ein Ende zu setzen, spätestens jedoch bis zum 26.Oktober„.

Irgendwie fand ich dieses aggressive Verhalten des Kunden sehr seltsam. Ständig stellte er Forderungen, war aber noch nicht mal bereit, mir einen Abschlag zu bezahlen, obwohl wir doch schon 98 % der beauftragten Arbeiten erledigt hatten. Ich rief ihn an und bestand auf eine Anzahlung, da wir sonst nicht weiterarbeiten würden. „Ohne Benzin läuft der Wagen nicht!“ Kurz darauf überwies er mir 600,-€. Nachdem wir dann an einem Tag die allerletzten Nacharbeiten erledigt hatten, warf ich ihm zu Feierabend die Rechnung in den Briefkasten. Um 23.30 Uhr kam dann ein Fax von ihm: „Sehr geehrter Herr Poppe, meine Frau und ich haben herzhaft gelacht, als wir heute ihre Rechnung erhielten…“ – „Herzhaft gelacht über die Rechnung„? Was sollte das heißen? Will er mir etwa gar nichts mehr bezahlen? Ich hatte eine schlaflose Nacht. Am nächsten Tag rief ich ihn an, aber er ging nicht ran. Doch um Mitternacht schickte er mir wieder ein Fax voll mit Gehässigkeiten und Beleidigungen. Postwendend antwortete ich ihm handschriftlich, dass ich von seinen „nächtlichen Faxen allmählich die Faxen dicke habe“ und dass ich nicht mehr bereit sei, mir noch länger seine Schikanen gefallen zu lassen. Mein letzter Satz lautete: „Sie sind nicht das Maß aller Dinge!“

Wie zu erwarten, reagierte er überhaupt nicht mehr, so dass ich im Frühjahr durch meinen Anwalt Klage erheben ließ auf Zahlung der Schlussrechnung in Höhe von 1.309,36 €. Monate später erhielten wir Post von seinem Anwalt, der die Klage als unbegründet zurückwies. Das Gericht gab uns daraufhin einen Termin zur Güteverhandlung für den 04.02.2004. Doch in den Tagen darauf bekam ich eines Nachmittags Besuch von einem Vertreter der Fa. CREDITREFORM, der mir seine Leistungen vorstellte, bei denen es um Forderungsbeitreibung (Inkasso) ging, aber auch um Prüfung der Kreditwürdigkeit von potenziellen Kunden. Er erklärte mir, dass sie einen umfangreichen Datenbestand hätten von sämtlichen gewerblichen und privaten Personen in ganz Deutschland. Ich fragte ihn, ob er mir mal zum Test eine Auskunft über einen gewissen Hans-Georg Bley geben könne, für den ich gerade arbeite. Er schaute in sein Notebook und sagte plötzlich: „Volltreffer!“ Dann drehte er den Bildschirm zu mir und zeigte auf eine rote Ampel, die bei dem Kunden stand. „Und was heißt das?“ fragte ich. „Dass der Kunde zahlungsunfähig ist, weil er einen Offenbarungseid geleistet hat.“ – „Waaas???“ Jetzt wurde mir alles klar! Herr Bley hatte am 23.05.2001 eine Eidesstattliche Versicherung abgegeben! Er war also schon zum Zeitpunkt der Beauftragung zahlungsunfähig gewesen! Damit hatte er sich jedoch strafbar gemacht wegen eines Meineides.

Am Tage der Gerichtsverhandlung erschien Herr Bley nicht, war aber durch seinen Anwalt entschuldigt. Der Richter erörterte die Rechtslage und machte den Vorschlag, dass man sich doch auf einen Vergleich einigen solle, d.h. auf einen Kompromiss. Dieser sah wie folgt aus:

1. Der Beklagte zahlt an den Kläger € 654,68 bis zum 28.02.04. Sollte der Beklagte den Betrag bis zu diesem Zeitpunkt nicht gezahlt haben, zahlt der Beklagte an den Kläger insgesamt € 1.000,- zzgl. Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz ab dem 01.03.04.

2. Damit sind sämtliche wechselseitigen Ansprüche aus dem streitgegenständlichen Vertragsverhältnis erledigt.

3. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

4. Dem Beklagten bleibt nachgelassen, diesen Vergleich bei diesem Gericht bis zum 18.02.04 einzureichenden Schriftsatz zu widerrufen.“

Diese Details sind deshalb wichtig, weil Herr Bley überhaupt nicht einverstanden war mit dem Vergleich und ihn deshalb widerrufen wollte. Sein Anwalt übergab deshalb seiner Mitarbeiterin am 17.02.04 den schriftlichen Widerruf, um ihn in die Post zu geben, doch ging dieser erst am 19.02. bei Gericht ein, d.h. einen Tag zu spät, so dass der Widerruf für ungültig und das Verfahren damit für beendet erklärt wurde. Der Anwalt protestierte gegen diese Entscheidung und forderte eine „Einsetzung in den vorherigen Stand„, dem aber nicht stattgegeben wurde. Inzwischen war aber auch die 2. Frist am 01.03. verstrichen, so dass Herr Bley mir nun 1000,- € schuldete. Doch auch nach 3 Monaten erhielt ich kein Geld, sondern stattdessen einen Einschreibebrief des gegnerischen Anwalts mit der Aufforderung, noch angeblich vorhandene Farbflecken zu beseitigen, obwohl ich durch die Erledigungsklausel des Vergleichs gar nicht mehr dazu verpflichtet war. Kurz darauf teilte der Anwalt jedoch mit, dass er inzwischen das Mandatsverhältnis niedergelegt habe, vielleicht deshalb, weil Herr Bley auch ihm kein Geld mehr zahlen wollte/konnte. Später erfuhr ich allerdings, dass die Auskunft der Creditreform über Herrn Bley angeblich doch falsch gewesen war. Ein paar Monate später verstarb Herr Bley plötzlich aus mir nicht bekannten Gründen.

 

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