Januar bis Juni 2010
Burhan – der nächste Katastrophenlehrling…
Im August 2009 hatte ich einen neuen Lehrling namens Burhan Akkuş (19). Doch schon gleich zu Anfang sorgte er für Irritation bei den Mitarbeitern, da er sich ihnen mit dem Namen Serkan vorgestellt hatte. Ich fragte ihn deshalb: „Wie heißt Du eigentlich richtig?“ Er sagte: „Nennen Sie mich einfach Matthias“. Ich sagte: „Ja, was denn nun: Zu den Mitarbeitern hast Du gesagt, Dein Name wäre Serkan, aber in Deiner Bewerbung steht Burhan, und jetzt willst Du, dass ich Dich Matthias nenne? Wie heißt Du denn nun richtig?“ – „Eigentlich heiße ich Burhan, aber ich mag meinen Vornamen nicht“ erwiderte er. „Ach, das ist doch albern!“ sagte ich, „Du solltest dazu stehen, denn Du bist nun einmal Türke, und dann wäre es eher lächerlich, wenn Du Dir einen deutschen Namen gibst. Sei einfach stolz auf Deinen Namen!“ Burhans Befürchtung, dass man ihn hänseln könnte wegen seines Namens, war tatsächlich unbegründet, und er war auch wirklich nicht der Typ, der sich unterbuttern ließe, sondern genau das Gegenteil. Er hatte eine starke Persönlichkeit, und nachdem ich ihm das Du anbot, hatte er auch keinerlei Hemmungen, mit mir wie zu einem guten Kumpel zu reden: „Ey, Simon, was hast Du denn da für ein bescheuertes Nokia-Handy. Das ist ja mega-out, Alda! Hier guck Dir mal mein iPhone an: Da brauchst Du nicht mehr auf Tasten tippen, sondern nur noch leicht auf das gläserne Display tippen und kannst so 10-mal schneller eine SMS schreiben!“
Burhan war von Anfang an sehr ehrgeizig und machte seine Arbeit zügig, wenn auch nicht immer mit der nötigen Achtsamkeit, wenn es z.B. um das Abdecken von Fußböden ging. Er war schon bald genauso fleißig und schnell wie der polnische Lehrling Bartosz, hatte jedoch ein Mundwerk, als wäre er schon seit 10 Jahren in der Firma. Wenn er sich gelegentlich mit dem Gesellen Andrey stritt, dann lernte ich im Nu jede Menge neue Schimpfwörter. Aber statt einzuschreiten, fand ich es eher interessant und belustigend. Als Burhan sah, dass ich ihn wegen seiner Kraftausdrücke praktisch nie zurechtwies, sondern stattdessen lachte, sagte er einmal zu mir: „Du bist echt der coolste Chef, den ich mir vorstellen kann!“ Er bewunderte mich, wegen meines vielen Wissens und wollte eines Tages so sein wie ich. Umso ernster und betroffener war er, wenn ich ihn wegen irgendwelcher Unachtsamkeiten laut kritisieren musste und entschuldigte sich immer wieder. Mir war ja immer nur wichtig, dass die Baustellen gut liefen, da nahm ich den rüden Umgangston schon gerne in Kauf. Es dauerte nicht lange, da fühlte sich Burhan sauwohl in meiner Firma und protzte damit, dass er angeblich „der beste Lehrling von Bremen“ sei. Tatsächlich war er um ein Vielfaches besser als der Lehrling Bariş Akcay (24), dem man beim Gehen die Schuhe besohlen konnte. Aber Burhan, war auch um ein Vielfaches frecher als alle Lehrlinge, die ich bisher hatte. Mein Bruder Marco hielt es kaum eine halbe Stunde mit ihm aus, weil Burhan auf perfide Weise ihn zu demütigen wusste (z.B.: „Sag mal, Marco, hattest Du eigentlich schon mal Sex mit einem Mädchen?“).
Eines Tages rief mich der Klassenlehrer von Burhan an und sagte: „Herr Poppe, ich muss dringend mal mit ihnen sprechen. Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Lehrling Burhan vor zwei Wochen aus der Klasse geworfen wurde? Und das ist jetzt schon das zweite Mal, denn auch im letzten Jahr hatte der Kollege ihn rauswerfen müssen, weil er es jedes Mal schafft, durch seine Großspurigkeit die ganze Klasse gegen den Lehrer aufzuhetzen! Dieser Lehrling ist wirklich ein Teufel, der keinen Respekt hat vor Erwachsenen. Ich bin nach zwei Wochen auch schon drauf und dran, ihn rauszuwerfen, aber wir wissen schon nicht mehr, wie wir ihn unterrichten können. Unter uns Kollegen im Lehrerzimmer rätseln wir schon, wie warum Sie ihn eigentlich immer noch beschäftigen können, denn der ist doch zu Ihnen und den anderen Mitarbeitern genauso frech, oder etwa nicht? Wie schaffen Sie das bloß, diesen Kerl zu ertragen?“ – Ich sagte, dass mir das auch schon aufgefallen sei, aber dass er zumindest zu mir recht höflich sei und ich über die gelegentlichen verbalen Entgleisungen geduldig hinwegsehen könne. Da der Klassenlehrer ansonsten gar nicht von mir wollte, wurde mir allmählich bewusst, dass dies ein Hilfeschrei war, und er mir scheinbar unausgesprochen nahelegen wollte, den Burhan zu kündigen, damit auch sie ihn endlich loswerden konnten. Aber vielleicht war dadurch erst recht mein Ehrgeiz geweckt, ihn erst recht nicht zu entlassen, zumal er mir auch irgendwie sympathisch war.
Ich redete mit Burhan über das Telefonat und rief ihn zur Mäßigung auf. „Weißt Du, Burhan, ich sehe das so, dass in Dir ganz viel Potenzial steckt, weil Du so ehrgeizig bist. Wenn Du Dich weiter so anstrengst, dann wirst Du die Gesellenprüfung locker schaffen, zumal Du ja auch sehr gute Noten hast, besonders in Mathe. Du hast auch Führungsqualitäten und könntest auch problemlos Meister werden. Aber Du musst wirklich noch an Deiner Ausdrucksweise arbeiten. Du kannst z.B. nicht zu einem Gesellen einfach ‚Arschgesicht‘ sagen.“ – „Ja, ich weiß, Simon,“ sagte Burhan reuevoll, „ich habe wirklich ein Problem mit Erwachsenen, das haben mir schon viele gesagt.“ Und dann erzählte er mir von seiner Kindheit im „Türkenghetto“ und von seiner Mutter, die „so `ne richtige Türkenmutti, so ´ne mit Kopftuch und langem Rock“, und die er wie eine Heilige verehren würde. Aber einmal, als er noch jünger war, habe er seinen noch relativ jungen Vater, dabei erwischt, wie er heimlich im Internet mit einer anderen Frau flirtete. Da habe er ihn zur Rede gestellt: „Papa, wie kannst Du der Mama das antun! Sie ist so eine Liebe und immer gut zu Dir gewesen! Ich bin echt voll enttäuscht von Dir!“ Aber dann bekannte mir Burhan, dass er selber auch seine deutsche Freundin mit einer anderen betrügen würde und sogar schon einmal in einem Bordell war mit seinen Kumpels. „Alle Frauen, die ich bisher hatte, waren alles Deutsche und alle 10 Jahre älter als ich. Die stehen auf mich, aber ich würde die nie heiraten, weil das alles Schlampen sind.“ – „Wie meinst Du das?“ fragte ich. „Ach, das ist schwer zu erklären. Weißt Du, – deutsche Frauen sind unrein. Sie sind ja keine Muslima, deshalb darf ich so eine gar nicht heiraten.“ – „Wieso nicht? Das kann Dir doch niemand verbieten.“ – „Du verstehst das nicht. Wenn man als Türke aufwächst, dann kann man sich nicht irgendeine Frau nehmen, sondern das muss immer eine Muslimin sein, weil sonst die ganze Verwandtschaft mich ausstoßen würde.“ – „Aber Du hurst doch auch mit deutschen Frauen…“ – „Ja, das schon; das wird im Islam noch toleriert. Aber man darf so eine Schlampe nicht heiraten, da sie ja keine Jungfrau mehr ist.“ – „Ach so, ihr Jungs dürft so viel rumvögeln wie ihr wollt, aber die Frauen dürfen das nicht!? Was ist das denn bitte für eine Doppelmoral?!“ – „Das ist nun einmal unsere Kultur. Die deutschen Frauen dürfen wir f…, weil das sowieso Schlampen sind. Aber dummerweise denken die Frauen immer gleich an eine feste Beziehung. Meine jetzige will mich unbedingt heiraten, deswegen versuche ich sie schon seit Wochen, wieder loszuwerden. Ich beschimpfe sie immer auf die übelste Weise, aber die hängt an mir wie ´ne Klette. Ich fühl mich selber schon scheiße, wie ich sie behandle, aber was soll ich machen? In zwei Jahren fahr ich mit meinen Eltern in die Türkei, wo sie eine Ehe für mich arrangieren, und spätestens bis dahin muss ich sie losgeworden sein. Wenn die wüsste, dass ich sie ohnehin nie heiraten werde… Aber ich bring das nicht übers Herz, ihr zu sagen.“ Ich dachte nur: Oh Mann, was für eine archaische Kultur!
Obwohl Burhan alles andere als ein frommer Muslim war, pflegte er doch ein paar abergläubische Regeln. Als ich ihm einmal mein Auto für private Zwecke auslieh, verlangte ich einen Wertgegenstand als Pfand. Ich dachte an sein Handy, aber er gab mir stattdessen seine Halskette, an der ein Koran hing in Miniformat. Er sagte: „Simon, das ist das Wertvollste, was ich besitze. Aber ich muss Dir dazu was erklären, und zwar musst Du den Koran immer oberhalb Deiner Taille hinlegen, weil der heilig ist.“ Ich nahm die Kette und sagte: „Ja, ist gut.“ Dann wollte ich ihm auf dem Handy etwas zeigen und legte die Kette kurz auf einem Stuhl ab. Da schimpfte Burhan sofort: „O nein, ich hab´ Dir doch gerade gesagt, dass der Koran nicht unterhalb der Taille abgelegt werden darf! Das ist nun mal so; ich kann Dir auch nicht erklären, warum.“ Wenn es jedoch um andere Regeln ging, z.B. um die Straßenverkehrsordnung, so setzte er sich oft problemlos darüber hinweg. Einmal fuhren wir zusammen in getrennten Wagen zum Kunden. Da ich voraus gefahren war, versuchte er, mit hoher Geschwindigkeit aufzuholen und raste grinsend an mir vorbei. Das weckte in mir den Spieltrieb, und ich versuchte, ihn einzuholen. Als mir das an einer Ampel dann gelang, lachte er und zeigte mir den Stinkefinger. Jeder andere Chef hätte sich wohl darüber echauffiert, aber ich musste darüber lachen. Zuweilen brachte Burhan aber auch mich an die Grenzen meiner Toleranz: Einmal malte ich für eine Ärztin ein Gemälde an ihre Fassade, als Burhan mich anrief, dass er mit seiner Baustelle fertig sei. Ich sagte ihm, er könne zu mir kommen und mir bis Feierabend noch helfen. Als er kam und das schöne Landschaftsbild sah, sagte er spontan: „Simon, Du bist zwar voll hässlich, aber malen kannst Du echt gut!“ Da fragte ich mich: Wer ist jetzt eigentlich der „kreativere“ von uns beiden? Wie kommt er jetzt darauf, dass ich hässlich sei?!
Eines Tages kam Burhan zu mir und erzählte, dass ein Mädchen ihn angezeigt habe, weil er sie angeblich vergewaltigt habe, aber dass er unschuldig sei, und ob ich ein gutes Wort für ihn einlegen könne. Tatsächlich wurde Burhan am nächsten Tag von der Kripo auf der Baustelle verhaftet. Wie die Sache am Ende ausging, bekam ich gar nicht mehr richtig mit, aber er wurde wohl freigesprochen.
Langfinger und Einfallspinsel
Doch dann riefen mich eines Abends Kunden an, die mir aufgeregt mitteilten, dass sie bestohlen wurden und meine Mitarbeiter verdächtigen würden. An jenem Tag hatte Burhan dort gearbeitet und ein neuer Lehrling namens Kevin Putins (18), den ich gerade erst eingestellt hatte. Kevin hatte einen Sprachfehler, war geistig etwas zurückgeblieben und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Deshalb war mir klar, dass es nur Burhan gewesen sein konnte. Ich brüllte ihn an vor Wut, aber er schwor mir bei allem was ihm heilig war (viel war es ja nicht gerade), dass er es nicht war. Er sagte: „Simon, ich bin schon so lange in deiner Firma und war schon in Dutzenden Wohnungen deiner Kunden. Wenn ich wirklich ein Dieb wäre, dann wäre das doch schon längst bemerkt worden! Du kannst mir echt vertrauen!“ Doch kurz darauf meldete schon wieder ein Kunde einen Diebstahl und drohte mir mit einer Anzeige. Diesmal hatte aber nur der kleine Kevin dort gearbeitet. Konnte er es gewesen sein? Da er in einer Art Heim wohnte, rief ich seine Betreuer an, und wir machten einen Termin. Wir setzten uns an einen Tisch und sie brachten Kevin rein. Ich sagte: „Kevin, Du musst keine Angst haben: ich werde dich nicht kündigen, aber ich möchte, dass Du jetzt ganz ehrlich bist und zugibst, dass Du die Kunden bestohlen hattest. Es ist wirklich nicht schlimm, wenn Du es jetzt bereust und das Gestohlene wieder zurückgibst.“ Da fing Kevin an zu weinen. Sein Betreuer tröstete ihn: „Wenn Du das aber nicht warst, dann glauben wir Dir das, aber sag uns bitte die Wahrheit.“ Da fing er richtig an zu schluchzen und vergrub sein Gesicht in seine Arme, die auf dem Tisch gestützt waren. Mit tränenerstickter Stimme sagte er schließlich: „Ich war es nicht. Wirklich nicht…“
Für seine Betreuer war der Fall damit klar, – aber für mich nicht. Ich musste Gewissheit haben, dass Kevin nicht so eine diebische Elster ist in meiner Firma. Vielleicht „litt“ er unter Kleptomanie? Ich beschloss, ihm eine Falle zu stellen, indem ich bei einer Kundin heimlich Schmuck von meiner Frau in offenen Schatullen deponierte, um zu sehen, ob er diesen stehlen würde. Dabei verhielt ich mich jedoch viel naiver als Kevin, denn der wollte wohl kein weiteres Risiko mehr eingehen und ließ den Schmuck links liegen. Ich deutete dies dummerweise als Zeichen seiner Unschuld und ließ ihn noch drei weitere Jahre in meiner Firma, in denen er zwar nicht die Kunden, dafür aber mich beklaute, dass sich die Balken bogen. Da er – außer die Werkstatt aufzuräumen – nicht allzu talentiert war, ernannte ich ihn zum Werkstattwart, der alle drei Wochen die Werkstatt pikobello auf Vordermann brachte. Dadurch hatte ich jedoch „den Bock zum Gärtner“ gemacht, was ich erst irgendwann im 3. Lehrjahr bemerkte, als ich in seiner Arbeitstasche jede Menge neue Werkzeuge und Geräte entdeckt hatte. Ich hatte mich schon immer gewundert, wo all meine neuen Festo-Schleifmaschinen oder teuren Lackierpinsel abgeblieben waren! Doch ich beließ es bei einer Verwarnung, und Kevin machte fleißig weiter mit dem Stehlen. Sogar noch am letzten Tag, als ich mich nach bestandener Gesellenprüfung von ihm verabschiedete und er gehen wollte, sagte ich: „Stopp! Warte mal eben! Ich will noch mal einen Blick in deine Sporttasche werfen“. Ich machte den Reißverschluss auf, und sie war voll mit neuen Pinseln, Klebebändern, venezianischen Glättekellen, Abtönkonzentraten etc. Ich fragte Kevin: „Was soll das?! Willst Du mich auch noch am letzten Tag bestehlen? Was wolltest du mit all dem Zeug?“ Er sagte nur kleinlaut: „Für meine Schwarzaufträge“ – so als ob dies eine Entschuldigung sei.
Kevin war jedoch bestimmt nicht der einzige, der sich regelmäßig in meiner Werkstatt bediente. Wenn ich – rein theoretisch – einmal die Chance bekäme, all die Geräte, Farbeimer und Werkzeuge auf einen Haufen zu sehen, die mir in all den Jahren meiner Selbständigkeit durch Diebstahl oder Nachlässigkeit abhandenkamen, könnte man damit ein 30 qm-großes Wohnzimmer bis unter die Decke füllen. Besonders hochwertige Geräte oder Spezialwerkzeuge waren schon kurz nach der Anschaffung wieder verschwunden, so dass ich schon bald nur noch Billiggeräte durch Ebay kaufte, damit ich die Verluste verschmerzen konnte. In gewisser Weise konnte ich die gelegentliche Selbstbedienung ja auch noch tolerieren, indem ich mir sagte, dass sie der Preis für ein offenes und tolerantes Betriebsklima waren. Die Mitarbeiter sollten nicht den Eindruck haben, dass ich sie ständig kontrolliere, sondern ich hoffte, dass ich die durch mein blindes Vertrauen zur Ehrlichkeit animieren könnte. Deshalb hatte jeder seinen eigenen Werkstattschlüssel, so dass er eigenständig sein Material ein- und ausladen konnte. Und wenn sie sich hin- und wieder etwas nahmen, was sie brauchten – was soll´s! Dadurch hatten sie ein gutes Gefühl, sich einen Vorteil erschlichen zu haben, ohne dass ihnen bewusst war, dass ich sie ja selbst auch regelmäßig ausbeutete, indem sie einen deutlich niedrigeren Lohn empfingen als ich, besonders die Lehrlinge. Außerdem waren die häufigen Krankheitstage der Azubis im Prinzip für mich viel verlustreicher als der gelegentliche Werkzeugklau. Ärgerlich war eigentlich nur, dass ich fehlende Dinge ständig wieder rechtzeitig nachkaufen musste oder aber, dass es genau in dem Moment fehlte, wo man es gerade mal brauchte.
Irgendwann platzte mir der Kragen und ich ließ ein neues Schloss in die Werkstatt einbauen. Von den Schlüsseln bekamen jetzt nur noch Andre Bindemann und Peter Schönholz einen, weil ich ihnen vertraute. Außerdem stellte ich die Tische in der Werkstatt vorne zusammen wie eine Barriere, damit niemand mehr sich selbst bedienen konnte. Stattdessen wollte ich die Werkzeuge schon einen Tag vorher für jede Baustelle selbst zusammenstellen und mir den Empfang von jedem Gesellen per Unterschrift bestätigen lassen, um später zu kontrollieren, ob sie es mir vollständig zurückgegeben hatten. Auch kaufte ich mir eine Stempeluhr und gab jedem Mitarbeiter eine Stempelkarte, um zu kontrollieren, dass sie nicht vorzeitig Feierabend machen würden, aber voll aufschreiben würden. Die Mitarbeiter murrten und waren genervt von diesen Innovationen. Besonders das Abstempeln war ihnen lästig, da sie nicht mehr wie früher direkt von der Arbeit nach Hause fahren konnten. Ich versuchte, es ihnen schmackhaft zu machen mit dem Argument, dass sie jetzt keine Stundenzettel mehr ausfüllen müssten. Leider fanden sie schon bald Tricks, wie sie die Feierabendkontrolle umgehen konnten, indem Luciano, der in der Nähe der Werkstatt wohnte, mit den Karten aller anderen Gesellen (die schon längst Feierabend gemacht hatten), noch mal eben zur Werkstatt fuhr, um für alle anderen noch mal eben auszustempeln, was ich erst zwei Jahre später bemerkte. Auch der Werkzeug- und Materialschwund hörte nicht auf, denn ich vergaß immer wieder, die Rückgabe zu kontrollieren.
Doch nicht nur die Mitarbeiter bestahlen mich, sondern auch einige Kunden bereicherten sich öfter mal, wenn ein Mitarbeiter vergessen hatte, eine Baustelle abzuräumen. So kam es vor, dass ich manchmal ein Jahr nach einem Auftrag erneut zu diesem Kunden fuhr, weil er einen neuen Auftrag hatte und dieser mir am Ende ganz beiläufig sagte, dass ja noch immer die ganzen Materialien vom letzten Mal bei ihm im Keller stünden, und ob ich die nicht mal mitnehmen wolle. Die meisten Verluste erlitt ich jedoch durch unvollständige Angebote: Wenn ich z.B. versehentlich nur das Gerüst für die Vorderseite angeboten hatte, anstatt auch für den Giebel und die Rückseite, dies aber im Angebot nicht erkenntlich war, dann nutzten die Kunden solche Fehler, schamlos aus, indem ich auf den Kosten für die anderen Hausseiten sitzenblieb. Oftmals war auch nur ein oder mehrere Zeilen der Excel-Tabelle bei der Addition des Angebotspreises versehentlich nicht berücksichtigt worden, so dass die Kunden sich darauf berufen konnten, dass sie beim Angebot von einem Festpreis ausgingen. Richtig ins Schwitzen brachte mich eine ältere Dame eines Tages, als wir gerade die umfangreichen Arbeiten in ihrer Wohnung beendet hatten, denn ich wusste nicht, dass sie unter Alzheimer litt. Als ich mich verabschiedete, sagte ich nur beiläufig, dass ich ihr nächste Woche dann die Rechnung zuschicken würde. „Was denn für eine Rechnung?“ fragte sie. „Na, die Rechnung für unsere Malerarbeiten.“ – „Wieso? Was denn für Malerarbeiten?“ – „Aber Frau Schröder, wir haben doch jetzt die ganze Woche ihre zu vermietende Wohnung fertig gemacht, das wissen sie doch!“ – „N E I N,“ sagte sie, „was erzählen Sie denn da für einen Unfug! Sie haben doch bei mir noch gar nicht gearbeitet!“ Jetzt wurde ich auf einmal wirklich nervös und beteuerte: „Doch! Frau Schröder, wir haben doch alle Wände hier abgekratzt, gespachtelt, tapeziert und gestrichen! Schauen Sie hier!“ Ich zeigte auf die Wände, und sie ging mit prüfendem Blick überall herum und sagte: „Sagen Sie mir auch wirklich die Wahrheit? – Nein, Sie wollen mich betrügen! Schämen Sie sich! Die Wände sind doch noch völlig in Ordnung!“ – „Ja, weil wir sie gerade erst frisch renoviert haben!“ Allmählich glaubte sie mir und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Viel schusseliger als diese alte Dame waren aber häufig meine Lehrlinge: Ich hatte Anfang November 2009 noch einen weiteren Lehrling eingestellt namens Luciano Fiorito (25), ein Italiener aus Sizilien. Er war ein ganz lieber Kerl, hatte aber absolut keine Persönlichkeit und war auch nicht unbedingt eine Intelligenzbestie. Um seine Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, war er so häufig ins Fitness-Studio gegangen, dass er enorm dicke Biceps hatte. Seine unterwürfige und schüchterne Art passte aber irgendwie gar nicht dazu. Eines Morgens schickte ich ihn mit Kevin mit dem Firmenwagen nach Oberneuland, wo unsere Baustelle war. Als er nach zwei Stunden aber immer noch nicht dort angekommen war, rief ich ihn auf dem Handy an. „Luciano, warum bist Du denn immer noch nicht beim Kunden?“ – „Ich habe mich verfahren.“ – „Und warum rufst Du nicht mal an?! Wo bist Du denn gerade?“ – „Weiß ich auch nicht genau. Ich fahr hier gerade auf der Autobahn“. – „Häh? Du musst doch wissen, wo Du bist! Was steht denn auf der Beschilderung?“ – „Warte, ich guck mal eben… Da steht nächste Ausfahrt Loxstedt…“ – „Waas? Bist Du Richtung Bremerhaven gefahren? Du solltest doch nach Oberneuland fahren, das ist genau in der entgegengesetzten Richtung!“ – „Ja, aber ich weiß ja nicht, wo das ist.“ – „Und warum fragst Du mich dann nicht?“ – „Weil ich ja kein Guthaben mehr auf dem Handy hatte und Kevin auch nicht.“ – „Ach so, wenn ich also nicht angerufen hätte, dann wäret ihr die Autobahn jetzt immer weiter gefahren bis nach Flensburg – in der Hoffnung, dass irgendwann der Name Oberneuland auftaucht?“
Arbeiten konnte Luciano aber ganz gut, besonders das Spachteln. Kurz darauf bewarb sich auch noch ein weiterer Italiener bei mir, Donato Vetta (44), ein Malergeselle aus Kalabrien. Er sprach nur sehr schlecht Deutsch, weshalb ich ihn immer mit Luciano arbeiten ließ. Normalerweise sind Italiener ja sehr fröhliche Menschen, aber Donato war das genaue Gegenteil. Er kam jeden Morgen immer mit einer so ernsten und depressiven Mine in die Werkstatt rein, so als wolle er uns signalisieren, dass er von niemanden angesprochen und mit uns nichts zu tun haben wolle. Meine Auftragslage war aber wieder sehr gut, und ich hatte inzwischen wieder 4 Gesellen und 4 Lehrlinge. Ich kaufte zwei weitere Firmenwagen, damit jeder meiner Gesellen sein eigenes Auto fährt. Da Fadi und Andrey häufig ihre Essensabfälle und Zigarettenstummel im Auto zurückließen, drohte ich ihnen, dass in Zukunft Burhan und Bartosz die Wagen fahren dürften, wenn sie nicht ihr Verhalten ändern würden. Denn auch wenn Burhan wie ein Chaot fuhr, so pflegte er die Firmenwagen gelegentlich, so als wenn sie ihm gehören würden. Dafür hatte Burhan immer die schlechte Angewohnheit, Farbwalzen eintrocknen zu lassen, so dass man sie danach wegwerfen konnte. Bartosz und Fadi vergaßen ständig, benutzte Glättekellen wieder sauberzumachen, so dass man den hart gewordenen Putzkleber am nächsten Tag nur noch mit der Schruppscheibe abbekam. Wenn ich aber fragte, wer das war, dann war es natürlich nie einer gewesen. Und obwohl inzwischen jeder Geselle seine eigene Grundausstattung an Werkzeug besaß, fehlte auf den Baustellen immer wieder das eine oder andere, so dass ich es mitten am Tag erst besorgen musste. Dann hieß es immer: „Ich hatte meine Acryl-Pistole letztens dem Andrey geliehen, aber er hat sie mir nicht wiedergegeben!“ – „Stimmt ja gar nicht! Ich hab‘ immer meine eigene!“ usw.
Diese sich ständig wiederholenden Probleme raubten mir den letzten Nerv. Hinzu kam auch noch die unvollständigen oder fehlerhaften Stundenzettel, die willkürliche und überzogene Pausenmacherei, Arzttermine oder angeblich notwendige Behördengänge der Lehrlinge während der Arbeitszeit, Reklamationen aufgrund von nachlässiger oder unterbliebener Schlusskontrolle und vor allem die ständige, unglaubwürdige Krankmacherei der jungen Lehrlinge, während die Altgesellen quasi nie krank waren. Einmal kam Andre Bindemann (44) zu mir und beschwerte sich darüber, dass er viel mehr leisten würde als die anderen Gesellen, aber trotzdem als Vorarbeiter nur einen Euro mehr pro Stunde bekäme. „Aber Andre, vergiss bitte nicht, dass Du der einzige bist, der noch zusätzlich eine betriebliche Rentenversicherung hat, in die ich jeden Monat einzahle!“ – „Ja, aber das würde ich auch in anderen Firmen bekommen. Du weißt genau, dass Du ohne mich schon viele Kunden verloren hättest, denn Du schickst mich ja immer wieder zu den reichsten und pingeligsten Kunden, weil Du genau weißt, dass die anderen solche Aufträge versauen würden. Eigentlich müsste ich schon fast ein Meistergehalt bekommen!“ – „Dann mache ich Dir einen Vorschlag, Andre: Mach Dich doch einfach selbstständig und arbeite für mich als Subunternehmer! Dann würdest Du deutlich mehr verdienen.“ Andre winkte ab: „Weißt Du, Simon, solange ich kleine Kinder habe und das Haus noch nicht abbezahlt ist, wäre mir das zu riskant; ich sehe ja, wie oft Du schon nahe an der Pleite warst.“ – „Aber wenn ich jetzt pleiteginge, dann wärest Du doch ebenso Deinen Job los. Als Selbstständiger hast Du aber die Möglichkeit, Dir noch zusätzliche Kunden zu suchen und wärest nicht so abhängig von mir.“ – „Nein, Simon, lass mal gut sein. Sei froh, dass ich mich nicht selbstständig mache, denn dann würden fast all Deine Kunden nur noch mir die Aufträge geben, denn schon jetzt wollen die Dich ja nur wegen mir!“
Eigentlich ging es Andre gar nicht so sehr um mehr Geld, sondern vor allem um Anerkennung. Er war frustriert, weil er keine Aufstiegs-Chancen sah, sondern stattdessen das tägliche Einerlei, das ihm keine Möglichkeit gab, seinen Ehrgeiz zu entfalten. Mir wurde allmählich klar, dass ich die Motivation der Mitarbeiter nur durch finanzielle Anreize steigern konnte, also durch Extraprämien, damit der Schlendrian und die Ressourcenvergeudung endlich aufhören. Die Mitarbeiter sollten nicht länger nur auf die größtmögliche Bequemlichkeit fixiert sein, sondern merken, dass sich Leistung und Engagement für die Firma lohnen. So begann ich, alle paar Monate einen „Mitarbeiterbrief“ zu schreiben und an alle zu verteilen, in welchem ich neue Regeln aufstellte und ihnen ein Prämienangebot machte, bei dem ich ihnen genau vorrechnete, wie sie in Zukunft mehr Geld verdienen könnten, sei es durch Verzicht auf Krankheitstage oder durch vorzeitige Fertigstellung der Baustelle etc. Dies würde natürlich nur funktionieren, wenn es künftig eine viel präzisere Dokumentation gäbe, z.B. von allen Extraarbeiten, die sie für die Kunden erledigt hatten, aber oftmals gar nicht extra aufschrieben. Bisher interessierten sich die Mitarbeiter ja nur dafür, dass der Tag möglichst stressfrei vorübergehe und sie, wenn möglich, frühzeitig Feierabend machen konnten. Aber wenn die „Peitsche“ nicht wirkte, dann tat es vielleicht das „Zuckerbrot“, um sie zu mehr Eigenverantwortung zu bewegen.
Juli bis Dezember
Satanismus
Wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag abends im Badezimmer in den Spiegel schaute, dann sagte ich mir: „Simon, Du bist sehr tapfer! Du hast es bis hierhin geschafft, sogar die Beinahe-Pleite von 2007 zu verhindern, und das ganz ohne Gottes Hilfe!“ (wie ich glaubte). Früher als Christ war ich ein Schwächling, aber jetzt hatte ich gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen ohne Angst zu spüren. Endlich suchte ich nicht mehr außerhalb von mir irgendeinen Sinn für mein Leben, sondern ich selbst war der Schöpfer meines Lebens geworden. Damals gab es ein Lied im Radio, „Geboren, um zu leben“, in welchem der Sänger (zu Gott?) sagt: „Ich sehe einen Sinn, seitdem Du nicht mehr bist, denn Du hast mir gezeigt, wie wertvoll mein Leben ist“. Ich machte mir darüber Gedanken: „Früher hatte ich nur für Gott und andere gelebt, aber heute lebe ich für mich selbst und muss mich dessen nicht mehr schämen. Niemand sollte mir mehr einreden können, dass es noch irgendeinen übergeordneten Sinn gäbe, als jenem Sinn, den ich selbst dem Leben gebe. Und niemand konnte mir mehr weismachen, es gäbe noch irgendeine andere Wahrheit außer jener, die ich selbst für wahr hielt! Es ist ja ohnehin alles vergänglich und damit auch sinnlos, aber sich dieses immer wieder einzugestehen, motiviert mich nicht, sondern lähmt mich eher im Vorankommen.“
Als ich an einem Samstag mittags in die Küche kam, hörte Ruth beim Kochen eine Predigtkassette, wo ein Prediger berichtete: „Damals, 1969, als die Rolling Stones ein Konzert gaben beim Woodstock Festival, sangen sie ein Lied mit dem bezeichnenden Titel „Sympathy for the devil“. Dabei gerieten die Menschenmassen so sehr in Aufruhr, dass sie vor der Bühne einen Schwarzen abschlachteten. So sehr hat das Lied ihren Geist in den Bann gezogen, dass sie einem Taumel von Mordlust verfielen.“ Diese Darstellung hatte mich ziemlich überrascht und neugierig gemacht. Ich ging in mein Zimmer und recherchierte im Internet über dieses Ereignis. Neben diversen Berichten fand sich sogar bei Youtube eine Videoaufzeichnung über den Vorfall. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass dieser sich völlig anders zugetragen hatte: Erstens fand das Konzert nicht in Woodstock (New York) statt, sondern im kalifornischen Altamont. Zweitens geschah der Zwischenfall nicht während des Liedes „Sympathy for the devil“, sondern während eines anderen Liedes („Under my Thumb“), und Drittens handelte es sich nicht um den Lynchmord einer aufgebrachten Menge, sondern um die Notwehr eines Ordners, der beim Anblick der Pistole in der Hand des Schwarzen ein Attentat vermutete und dieses durch sein Eingreifen mit dem Messer zu verhindern suchte. Dass der Schwarze am Ende seinen Verletzungen erlag, wurde allgemein als tragischer Unfall gewertet und führte schließlich sogar zu einem Ende der friedliebenden Hippiebewegung. Aber was hat die echte Tatsachenfeststellung noch mit der völlig entstellten Darstellung dieses Predigers zu tun? Hier drängt sich die Frage auf, ob es nur bloße Unkenntnis der tatsächlichen Details war oder ganz bewusste Geschichtsverfälschung. Der Prediger hatte eine Idee im Kopf, und als er merkte, dass seine Idee nicht übereinstimmte mit den tatsächlichen Ereignissen, änderte er nicht etwa seine Idee, sondern stattdessen die Darstellung der Ereignisse!
Was nicht passt, wird einfach passend gemacht. So ist z.B. das „Woodstock Festival“ allgemein ein Begriff für den Gipfel der verwahrlosten, drogenkonsumierenden Jugend der Hippie-Ära. Den Altamont Speedway hingegen kennt niemand, also wird aus Altamont plötzlich Woodstock, denn es passt besser ins Bild. Und da die Stones auch das berüchtigte Lied „Sympathy for the devil“ gesungen haben, in welchem es weniger um „Sympathy“ als vielmehr um „Mitleid“ bzw. „Verständnis“ für den Teufel geht, musste der „Mord“ natürlich am besten bei diesem Lied geschehen. Und schließlich wurde aus einem – vom Publikum kaum wahrgenommenem – Handgemenge zwischen einem Ordner (der übrigens Mitglied im Motorradclub „Hells Angels“ war) ein angeblich vom gesamten Publikum inszeniertes „Abschlachten“ eines ach so unschuldigen Schwarzen, sozusagen als Opfergabe für den Teufel! Ich wurde den Verdacht nicht los, dass diese Art von „Stille-Post-Geschichtsverfälschung“ im Grunde genau die gleiche Art ist, wie auch die Bibel geschrieben wurde: Von Anfang an gab es da die großartige Idee von einem Schöpfungsmythos und einem Sündenfall, der erklären soll, warum die Dinge nicht so sind, wie sie eigentlich sein sollten. Dann folgt die Geschichte Israels mit einem glorreichen Beginn und einem tragischen Ende, den aber jeder nachvollziehen konnte. Und schließlich ist da eine Person, die von Gott als einziger Retter gesandt wurde, und der Glaube an diesen einen Retter solle die ganze Welt einen, bevor das Endgericht käme. Bis dahin sollten aber alle schön brav und gehorsam sein, denn sonst kommen sie für immer in eine brennende Hölle!
Die Christen taten mir im Grunde aufrichtig leid, weil sie ihre wertvolle Lebenszeit verschwendeten durch Pflichtbesuche und unterdrückte Lustbefriedigungen, ohne dass sie je etwas dafür bekommen würden. Im Grunde waren sie aber genauso egoistisch wie auch alle anderen Menschen, weil sie alles, was sie taten, ja nur für einen Lohn taten, den sie am Ende trotzdem nicht bekommen würden, da es ja reiner Wahn war. Wenn ein Atheist hingegen etwas Uneigennütziges für andere tut, dann hat es wirklich wert, weil es aus reiner Nächstenliebe geschieht. So hatte ich z.B. damals von einem Mann gehört, der aus Enttäuschung über bestimmte Beamtenentscheide eine Gesetzeslücke ausgenutzt hat, um sich durch die wahllose Adoption von Kindern aus 3.Welt-Ländern zu rächen. So hatte er schon bald 300 Kinder adoptiert, besonders aus Paraguay, die er dadurch zu deutschen Staatsbürgern machte und sie somit aus der Armut befreite. Auch wenn seine Motive fragwürdig waren und er selbst dadurch kein Opfer brachte (denn mehr als die Adoption konnte er aufgrund seiner kleinen Rente nicht für die Kinder tun), hatte er doch etwas Gutes getan, ähnlich dem Oscar Schindler. Ein richtiges Opfer hingegen brachte ein anderer Mann, der damals in eine Talkshow eingeladen wurde, weil er nur von einer DM pro Tag lebte, und das schon seit Jahren. Als die Moderatorin ihn fragte, warum er so geizig sei, wo er doch als Chirurg über 6000,- DM im Monat verdiene, erklärte er, dass er sich mit einem Freundeskreis von Gleichgesinnten zusammengeschlossen habe und sie all ihren überschüssigen Reichtum in Lebensmittel und Kleidung für die Bedürftigen im Irak spenden würde. Die Waren würden sie selber regelmäßig dorthin bringen und vor Ort verteilen. Dass sie selbst dafür so asketisch leben, sei deshalb, weil sie nicht besser leben wollen als jene Menschen in der 3. Welt, um sich mit ihnen zu solidarisieren in der Armut. Als er das sagte, war das Publikum sprachlos und keiner kritisierte ihn mehr. Und dabei war er noch nicht einmal religiös, sondern tat es aus reiner Menschenliebe!
Nun sind die wenigsten Menschen zu solchen heroischen Leistungen imstande, da sie schon genug damit zu tun haben, für sich und ihre Familie zu sorgen. Viele Menschen sind aber durch Krankheiten oder andere Schicksalsschläge dermaßen gebeutelt, dass sie sich noch nicht einmal allein um sich selbst kümmern können, sondern auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Dennoch aber kümmern sich auch die meisten Christen oder andere religiöse Menschen lieber nur um ihre eigenen Leute und sehen das Leid in der Welt als gottgewollt. Kein Wunder, denn nach ihrer Auffassung – so dachte ich damals – kümmert sich ja auch Gott nicht um sie, sondern lässt zu, dass sie ein glückloses, elendiges Dasein fristen und frühzeitig sterben, ja danach sogar noch in die Hölle kommen, weil ihnen niemand sagte, dass sie an Jesus glauben sollen! Wie kann man aber dann noch von einem „Gott der Liebe“ sprechen?! Für mich war diese Vorstellung nichts anderes als Faschismus, wenn nicht sogar Satanismus. War es nicht auch bei den Satanisten so, dass das Schwache verachtet wurde? Hatte nicht Aleister Crowley (1875-1947), der Gründer des modernen Satanismus, der sich selbst als „das Tier“ bezeichnete, mal sein Credo so formuliert: „Tu was du willst, sei das ganze Gesetz!“ Nach dieser Maxime handelten ja de facto mehr als 95 % aller Menschen, egal ob nun materialistisch oder religiös; nur dass die Religiösen ihren Egoismus fromm zu tarnen wussten. Für mich war Religion nichts als Heuchelei.
Da ich zu jener Zeit viele Hörbücher aus dem Netz hochlud und auf CD brannte, kam mir auf einmal die Idee, mal nach der berüchtigten „Bibel Satans“ von Antony LaVey zu suchen, um sie mir anzuhören. Vom Rocksänger Marilyn Manson hatte ich mal gehört, dass LaVey, der Gründer der kalifornischen Church of Satan, selbst gar nicht an die Existenz Satans glaubte, sondern den Satanismus nur als eine Art Philosophie sah, in der es darum ging, dass der Stärkere auch das Recht habe, seinen Nächsten zu beherrschen. Tatsächlich begründete LaVey diese Überzeugung denn auch mit den Gesetzen der Evolution, nach der nur der Stärkere überlebe. Für ihn waren die Schwachen nur „psychische Vampire“, die den Starken die Kraft raubten, die sie für ihren eigenen Erhalt brauchten. Verständlicherweise sei deshalb das Christentum mit seinem Gebot der Nächstenliebe und dem „Hinhalten der anderen Wange“ genau das Gegenteil und deshalb der Erzfeind aller Satanisten. Das Christentum sei verlogen und voller Scheinheiligkeit – das konnte ich ja bestätigen – und an dessen Stelle solle die vollkommene Lusterfüllung treten, die zwar egoistisch, aber dafür ehrlich sei. Die okkulten Rituale dienten nur dazu, dass der Satanist sich seines tierischen Wesens bewusstwerde und es willig bejahe, indem er durch den Genuss von Blut u.a. ekeligen Dingen seinen Willen stärke und rituell Kraft schöpfe. Satan sei letztlich nur ein Symbol, nämlich der Inbegriff des Rebellen, der sich gegen die moralische Bevormundung auflehnte und sich selbst zum Gott ernannte.
Der Sinn des Lebens solle also darin bestehen, dass der Mensch sich zurückbesinne auf seine tierische Herkunft? Wozu dann die Aufklärung und die zivilisatorischen Errungenschaften? Der Satanismus wäre im Grunde ja dann kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in steinzeitlichen Kannibalismus oder in die Bronzezeit, als man noch den Dämonen Menschenopfer brachte! Nein, das war ganz und gar nichts für mir. Da ist ja sogar das Christentum mit seiner Sühneopfer- Lehre noch klüger und fortschrittlicher! Wenn es überhaupt eine bessere Alternative zur Religion gab, dann müsse diese in der Humanität und im aufgeklärten Denken liegen. Der Mensch muss befreit werden von seinem Aberglauben und seinen urkindlichen Ängsten vor einem strafenden Gott, der die Menschen in die ewige Verdammnis schickt. Aufgrund meines Wissens über das Christentum, sah ich meine Berufung darin, die Christen von der Absurdität ihres Glaubens zu überzeugen, und dann würde auch eine bessere Welt ohne Religion entstehen, in welcher alle Menschen eins werden, wie es John Lennon sang in seinem Lied „Imagine“.
So fing ich wieder an, mir durchs Internet Gesprächspartner aus der christlichen Szene zu suchen, die ich vermeintlich „aufklären“ wollte. Einer von diesen war ein gewisser Martin Borst vom mabo-verlag in Pforzheim. Ich erzählte ihm zunächst meine Geschichte und begründete dann meinen Abfall vom Glauben. Er schrieb: „Man darf die Fehler, die man bei Christen sieht, … nicht Gott oder der Bibel anlasten.“ Ich schrieb: „Da stimme ich natürlich mit Dir überein. Aber in meiner Kritik am Christentum ging es mir nie um das persönliche Versagen einzelner, sondern allein um die Glaubwürdigkeit der Bibel als solcher.“ Dann schrieb er mir von der Schöpfung: „Es gibt allerdings (und das müsstest du auch wissen) auch hochwissenschaftliche Bücher (Werner Gitt, Wilder-Smith, Wort und Wissen etc.), deren Inhalt keinen anderen Schluss zulassen als: Die Bibel hat recht!“ Darauf erwiderte ich: „Na, wenn das wahr wäre, dann würden sich ja auch alle anderen Wissenschaftler den Ausführungen der Schöpfungsgläubigen anschließen müssen. Tatsache ist jedoch, dass mehr als 95% aller Wissenschaftler nicht überzeugt sind von den Beweisen der Kreationisten. Das sollte einem doch zu denken geben. Ich bin zwar kein Biologe oder Evolutionsforscher, aber Ich habe keinerlei Grund, diesen Wissenschaftlern ihre Fachkompetenz abzusprechen, genauso wenig, wie ich dies bei meiner Friseuse oder meinem Kfz-Mechaniker tun würde. Dass es aber überhaupt so etwas wie Schöpfungsforschung gibt, ist für mich eine ziemlich offensichtliche und leicht durchschaubare Mogelpackung: Da wird doch nur krampfhaft versucht, den biblischen Schöpfungsbericht mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft in Einklang zu bringen, weil man partout an der Irrtumslosigkeit der Bibel festhalten will. Würde aber die Bibel die Evolutionslehre vertreten, dann würden selbst Werner Gitt und seine Leute keinerlei Zweifel aufkommen, weil sie gar keinen Anlass hätten, an der Evolution zu zweifeln. Und wenn im Gegensatz die ganze ungläubige Welt an eine Schöpfung in 7 Tagen glauben würde, dann hätten dieselben Forscher, die jetzt an der Evolution zweifeln, auf einmal ganz viele Beweise für die Evolution, nur weil sie in der Bibel gelehrt wird. Mit anderen Worten: die Schöpfungsforscher sind voreingenommen und deshalb schon allein unobjektiv und parteiisch.“
Martin hatte mich zunächst nur für einen abgeirrten Christen gehalten, der „mit Gott wieder ins Reine kommen“ müsse. Er hatte mein Bekenntnis zum Agnostizismus offensichtlich gar nicht richtig ernst genommen. Deshalb war er dann auch „etwas enttäuscht“ von meinen Ausführungen, weil ich trotz meiner früheren Ablehnung der Evolutionstheorie diese auf einmal blind für wahr hielt und keine Bereitschaft hatte, mich mit den begründeten Gegenargumenten zu befassen. „Chaos oder Zufall kann keine Intelligenz oder Ordnung entstehen lassen“. Das hatte ich aber auch gar nicht behauptet: „Der Zufall spielt bei der Evolution auch keine Rolle, sondern es gibt eine ganz zwangsläufige Entwicklung, die auf den Naturgesetzen beruht… Mit den Widersprüchen in der Bibel verhält es sich m.W. so wie mit der Evolutionsskepsis: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein. Wer keine Widersprüche sehen will, der wird sie auch nicht sehen. Irgendwie findet sich doch immer irgendeine Erklärung für die Widersprüche, und wenn man sich nur ausreichend einnebeln lässt, dann verschwinden auf einmal die Konturen der Gegensätze, und alles wird hell und weiß vor Augen.“ Martin antwortete: „Deine Worte machen mich traurig. Ich nehme Dir das auch alles nicht ab. Entweder Du möchtest mich provozieren oder einfach mal testen oder aber Du wurdest von Christen zu sehr enttäuscht… Du weißt doch ganz genau, dass wir Gott keine Bedingungen stellen können, zumal jeder der Milliarden Menschen andere Vorstellungen und Wünsche hat. Aber bei Gott gibt es kein Wunschkonzert!!! Er ist es, der den Weg vorgibt, aber Er ist auch ein Gott, der uns liebt.“ – „Nein,“ entgegnete ich. „Gott selbst ist ein Wunschkonzert, bzw. eine Projektionsfläche für all unsere Wünsche und Vorstellungen von ihm. Aber ob es Gott überhaupt wirklich gibt, weiß nach wie vor keiner, geschweige denn wie er ist und was er von uns will. Das ist reine Spekulation. Und das sage ich nicht, um Dich zu verletzen oder aus Verbitterung. Ich bin von niemanden enttäuscht worden, sondern habe mich selbst ent-täuscht, indem ich mir jahrelang eingebildet habe, die Wahrheit zu besitzen, obwohl es nur Wunschdenken war.“
Ägypten
Ende 2010 wollten Ruth, Rebekka und ich eine Reise in den warmen Süden machen. Deshalb hatten wir eine Nilfahrt durch Oberägypten gebucht, also dem Süden von Ägypten, um die ganzen Tempel und Gräber der Pharaonen zu besichtigen. Bevor die eigentliche Nilfahrt losging, sollten wir die ersten zwei Tage in Luxor verbringen, dem alten Theben, die damals die Hauptstadt Ägyptens war. Vormittags besuchten wir den 260 m großen Tempel des Gottes Amun, den Thutmosis III. um 1.400 v.Chr. bauen ließ. Überall waren Säulengänge und riesige Statuen zu sehen und ein langer Gang mit widderköpfigen Spinxen, die furchterregend von oben herab auf die Besucher blickten. Weiter hinten war die beeindruckende Tempelanlage von Karnak, dem mit 30 ha größten Monumentalkomplex der Welt mit vielen Obelisken und einem Säulensaal von über 20 m hohen Säulen, die etwa 2 m dick waren und mit vielen Reliefs verziert waren. Vor den Toren des Tempels gab es zwei riesige Statuen von zwei sitzenden Männern, etwa 20 m hoch und viele Tonnen schwer, die sog. Memnonkolosse, die aber schon stark abgewittert waren. Was für ein unvorstellbarer Aufwand, den die Ägypter damals betrieben. Aber immerhin haben diese Bauwerke über 3000 Jahre überstanden.
Am Nachmittag hatten wir frei und fuhren mit einer Kutsche in die Innenstadt von Luxor. Da es sehr viele Straßenhändler und nur sehr wenige Touristen gab, buhlte man mit allen Mitteln um unsere Gunst. Ein ruhiger Straßenbummel war also kaum möglich, weil man sofort von den Händlern umzingelt wurde, die einem alles Mögliche anbieten wollten und uns kaum weitergehen ließen. Ruth reagierte meistens ziemlich harsch und unfreundlich, was mir nicht gefiel: „Du solltest nicht so hart sein mit den Ägyptern, denn sie sind sehr arm und leben ja vom Tourismus, deshalb sollten wir wenigstens höflich bleiben, wenn wir schon nichts kaufen.“ Doch am Abend geriet auch ich selbst bei Ruth in Ungnade wegen irgendeines nichtigen Anlasses, und ich versuchte mit vielen Worten ihre schlechte Laune abzumildern. Während wir am Straßenrand lang gingen und ich auf Ruth einredete, fragte ein Kutscher uns, ob er uns nicht mitnehmen dürfe. Ich hatte ihm jedes Mal höflich abgewiesen, aber er folgte uns auf Schritt und Tritt, indem er immer wieder beharrlich seine Dienste anbot. Da Ruth nicht auf mich hören wollte, wurde ich immer ungehaltener, so dass mich die Bettelei des Kutschers allmählich auf die Palme brachte. Als er dann irgendwann zum 25. Mal fragte, ob er uns nicht doch mitnehmen dürfe, wandte ich mich zu ihm und schrie aus Leibeskräften: „N E I N ! LASSEN SIE UNS ENDLICH IN RUHE !!!“. Da mussten Ruth und Rebekka plötzlich laut lachen, und auf einen Schlag war ihre schlechte Laune vorbei. Auch der Kutscher grinste, aber mir tat richtig die Kehle weh vom Schreien.
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus zur Abu-Haggag-Moschee, die auf den Ruinen des Götzen-Tempels von Amenophis III erbaut wurde. Wir mussten unsere Schuhe ausziehen und betraten die große Halle, die mit einem riesigen Gebetsteppich ausgelegt war, wo viele Muslime gerade ihr Gebet verrichteten. Der muslimische Touristenführer erklärte uns mit flüsternder Stimme auf Englisch die Besonderheiten der Moschee und auch die islamischen Traditionen. Anschließend konnten wir Fragen stellen. Ich meldete mich und fragte, warum die Nichtmuslime von Mohammed als „Götzendiener“ bezeichnet werden, wo doch Mohammed selber auch ein Götzendiener war. Daraufhin regte sich der Touristenführer sehr auf und behauptete, dass der Prophet nur Allah allein verehrt habe. Dem widersprach ich, weil ich gerade ein Buch über den Islam las, in welchem es hieß, dass Mohammed, trotz seines Glaubens den heidnischen Kult auf den Hügeln As-Safā und Al-Marwa praktizierte, wo den Götzen Isaf und Naila geopfert wurde, und dass Mohammed diesen Götzendienst sogar ausdrücklich noch den Muslimen erlaubte in Sure 2:158 und dieser Götzendienst auch Teil der Hadsch sei. Leider fiel mir in diesem Moment nicht die genaue Stelle im Qur´an ein, was insofern bedauerlich war, da mir der Touristenführer und auch andere Muslime lauthals widersprachen. „Aber ist denn nicht schon allein das Küssen der Ka´aba ein Götzendienst, denn wo ist denn da der Unterschied zu jedem anderen Götzendienst?“ fragte ich. „Weil der Gesandte Allahs (sallAllahu alayhi wa sallam) uns befohlen hat, ihn zu küssen, denn der Schwarze Stein kam direkt aus dem Paradies. Ursprünglich war er weiß, aber er ist durch die Sünden der Menschen schwarz geworden“. „Aber das ist doch Humbug („nonsens“),“ erwiderte ich. „Es ist doch viel naheliegender, dass Mohammed es sich nicht verscherzen wollte mit den Götzendienern und ihnen deshalb entgegenkam“.
Nun redeten mehrere Muslime gleichzeitig auf mich ein, so dass sich Ruth beunruhigte. Sie verstand zwar kein Englisch, aber sie sah, wie alle wütend gestikulierten, weshalb sie mich am Arm zog, um den Streit zu beenden. Ich wollte noch fragen, was es mit den sog. „Satanischen Versen“ auf sich habe (in welchen Mohammed in Sure 53:20-21 ursprünglich empfahl auch die heidnischen Göttinnen al-Lāt, al-Uzzā und Manāt um Fürsprache anzurufen, bis er dies später widerrief, indem er einräumte, dass Satan ihm diese Sätze diktiert habe), aber der Touristenführer brach die Debatte ab, da sie in einer Moschee nicht erlaubt sei und wir den Dialog gerne später im Bus weiterführen könnten. Ruth fragte mich, worüber ich mit ihm gesprochen hätte, und als ich es ihr bekannte sagte sie wutschnaubend: „¡Qué te ocurre! („Was fällt dir ein“, i.S.v. „Bist du noch zu retten!“, „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ oder „Hast Du noch alle Tassen im Schrank!“). Du kannst doch nicht in einer Moschee gegen den Islam debattieren! Die hätten Dich verhaften können, weil Du ihren Propheten beleidigt hast! Und was wäre dann aus UNS geworden?!“ – „Tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.“ – „Mir scheint, Du denkst überhaupt nicht, wenn Du erstmal angefangen hast mit Deinem Lieblingshobby, nämlich des Debattierens! Irgendwann wird es Dich noch mal richtig in Schwierigkeiten bringen!“
Im Anschluss war nun eine Fahrt ins berühmte „Tal der Könige“ geplant. Dieses befand sich in den Bergen hinter Theben und sollte von Thutmosis I. eigentlich als Versteck vor Grabräubern in den damals kaum zugänglichen Schluchten angelegt werden. In den 1.700 Jahren zuvor war es ja bei den Pharaonen Tradition, sich während ihres Lebens eine Pyramide als Grabstätte bauen zu lassen. Doch trotz all der ausgeklügelten Gänge und Verstecke in den Pyramiden gelang es den Grabräubern immer wieder, die Schätze zu finden und zu plündern. Als Howard Carter 1922 im Tal der Könige grub, waren schon alle Gräber längst ausgeraubt, und es waren nur die z.T. tonnenschweren Sarkophage übriggeblieben. Doch obwohl er jahrelang nichts als Tonscherben fand, verlor er bis zuletzt nicht die Hoffnung. Im November 1922 stießen seine Arbeiter schließlich auf eine zugeschüttete Treppe, die in einen Schacht unter das Grab von Ramses IV. führte, und stießen auf eine Kammer voll mit Schätzen aus Gold, sowie Möbelstücken, Gegenstände und Spielsachen aus Holz, die trotz der 3.000 Jahre noch völlig unversehrt geblieben waren. Kurz darauf entdeckte man dann hinter einer Wand die eigentliche Grabesgruft mit vier Sarkophagen. Carter ließ sie öffnen und entdeckte hinter der Totenmaske aus reinem Gold die Gebeine von Tutenchamun, einem Pharao, der nur 19 Jahre alt wurde – Eine absolute Sensation. Über dem Grab stand in Hieroglyphen geschrieben, dass jeder verflucht sei, der es wagen würde, die Totenruhe des Pharaos zu stören, und tatsächlich starben in der Folgezeit sämtliche Beteiligte an der Expedition, wie z.B. Lord Carnarvon, der Geldgeber, und mehrere Arbeiter, die sich wahrscheinlich durch die Mikroben in der Lunge infiziert hatten. Auch Carter selbst wurde todkrank.
Was uns faszinierte, war die Frage, wie die Ägypter überhaupt all die Reliefs und Verzierungen an den Wänden tief unter der Erde herstellen konnten, denn es war ja stockdunkel, und der Rauch eines Feuers hätte sie am Atmen behindert. Ebenso faszinierend war auch der Grabestempel von Dêr-el-Bahàri, den die Königin Hatschepsut errichten ließ und aus einer riesigen Felswand gehauen wurde. An den Wänden sah man trotz der über 3000 Jahre immer noch die farbigen Abbildungen der Pharaonen mit ihren Dienern und Göttern. Es waren überall so zahlreiche Verzierungen, dass die Ägypten tausende an Stunden daran gearbeitet haben mussten. In späteren Jahrhunderten hatten dann fanatische Muslime viele der Gesichter der Reliefs zerkratzt, weil man sich nach ihrer Überzeugung ja auch kein Bild machen sollte, so wie es auch in der Bibel steht. Viele Bilder waren auch wirklich furchterregend, denn die dämonischen Wesen hatten verschiedene Tierköpfe wie der Gott Sobek (Krokodilkopf), Horus (Falkenkopf), Seth (Erdferkel?), Anubis (Schakalkopf), Thot (Ibiskopf) und Knuhm (Widderkopf). Und alle diese Gottheiten hatten das Ankh-Symbol in ihrer Hand, wie ein Schlüssel, von dem man bis heute nicht genau die Bedeutung weiß. Aber so beeindruckend all die Abbildungen auch waren – irgendwann wurde es uns auch langweilig, denn es wiederholte sich immer wieder. Auch die ganzen Namen und Legenden konnten wir uns nicht merken. Aus Überdruss machten Rebekka und ich uns lustig, z.B. über die Königin Hatschepsut, deren Name wie ein Niesen klang („Ha-a-a-tschepsut!“), oder der ständig wiederholte Name „Thutmosis“, bei dem Rebekka sich fragte: „Tut Mose es nun oder tut er‘s nicht?“
Aber die Reise sollte noch weiter gehen. Auf dem Programm stand noch der Horus-Tempel Edfu, der mit seinen 137 m Länge und seiner 80 m hohen Fassade zu einem der größten und best-erhaltensten zählt, und der Sobek-Tempel Kom-Ombo mit seinen tonnenschweren Säulen. Dann kamen wir zum berühmten Assuan-Staudamm, der in den 60er Jahren unter Präsident Nasser mit Hilfe der Russen gebaut wurde, um die starken Schwankungen des Nils zwischen Hochwasser und Niedrigwasser auszugleichen. Dazu mussten zahlreiche altägyptische Tempel verlegt werden, d.h. in Einzelteile zerlegt und dann an höherer Stelle wieder zusammengebaut werden, um sie vor der Überflutung zu schützen. Einer der größten unter diesen war Abu Simbel des Ramses II. mit seinen vier 30 m hohen sitzenden Pharaonen, die aus einer Felswand gemeißelt wurden. Für die Wiedererrichtung musste also auch der ganze Berg abgebaut werden – eine unvorstellbare Leistung. In Assuan sahen wir in einem Granitsteinbruch auch einen unvollendeten Obelisken, der waagerecht aus dem massiven Granit herausgemeißelt wurde, aber dann plötzlich Risse bekam, so dass sich die Fortsetzung der Arbeiten nicht mehr lohnte. Dieser Obelisk wäre mit seiner Höhe von 41,75 m und seiner Basis von 4,2 x 4,2 m, sowie seinem Gewicht von 1.168 Tonnen der größte Obelisk des Altertums geworden. Entlang des Obelisken hatten die ägyptischen Arbeiter auf beiden Seiten einen 60 cm breiten Graben in den Granit geschlagen. Da Granit aber viel härter ist als Beton oder Aluminium, hätte man damals selbst mit dem härtesten Stein, den es damals gab, Dolerit, Jahre gebraucht, um diesen Graben herauszufräsen. Selbst heutige Ingenieure würden mit modernen Diamantbohrern mit 1500 Umdrehungen/Minute gerade einmal nur wenige Millimeter vorankommen. Hier stellt sich einmal mehr die Frage, ob die Ägypter vor 3000 bis 4000 Jahren überhaupt dazu imstande waren. Beim Bau der Pyramiden wurden allein schon 2,3 Millionen Steine von 1 m³ Größe und einem Gewicht von 2,5 Tonnen/Stein verarbeitet. Selbst wenn man für die Errichtung der Cheops-Pyramide 100 Jahre verwendet hätte, müsste man jeden Stein innerhalb von 8,5 Minuten herstellen und an seine jeweilige Stelle hochtragen, nämlich fast 600.000 Tonnen bis zu einer Höhe von 146 Metern. Bis heute haben Bauingenieure keine Ahnung, wie sie das hinbekommen haben. Waren da vielleicht wieder die Nephelim aus 1.Mose 6:1-4 im Spiel?
Als wir nach 8 Tagen wieder zurück nach Deutschland flogen, war unterdessen ein Schnee-Chaos ausgebrochen. Es muss wohl die ganze Zeit über nur geschneit haben, denn weder Busse noch Straßenbahnen fuhren mehr, so dass wir am Flughafen Hannover festsaßen. Es war 23.00 Uhr, und selbst die Taxis waren rar, da sie sich um Hunderte von Passagieren kümmern mussten, um sie vom Flughafen nach Langenhagen bis zum Hbf. Hannover bringen mussten. Erst gegen Mitternacht kamen wir am Hauptbahnhof an, aber es fuhr kein Zug mehr, da Schneeverwehungen die Bahnstrecke nach Bremen unpassierbar gemacht hatten. Erst nach zwei Stunden hatten Räumfahrzeuge die Strecke so weit frei geschaufelt, dass uns ein Regionalzug schließlich nach Bremen fahren konnte, wo wir in den frühen Morgenstunden todmüde ankamen. Was für eine Reise