Januar bis Juni 2013
Die Einbruchsserie
In den Jahren 2012/13 wurde meine Firma von drei Einbrüchen heimgesucht. Alles begann durch einen kleinen Auftrag für die Christusgemeinde, meinem Vermieter. Es sollte an einer Toilettenwand ein Schaden behoben und die Glasgewebetapete erneuert werden. Diesen Auftrag ließ ich meinen Lehrling Rossano Seay ausführen und gab ihm hierfür den Schlüssel der Gemeinde. Nach 2 Tagen war der Auftrag erledigt und Rossano gab mir den Schlüssel zurück. Doch am darauffolgenden Wochenende wurde in der Gemeinde eingebrochen: die ganze Musikanlage, samt Mischpult, Scheinwerfer, Beamer und Lautsprecher – alles wurde gestohlen. Der Verlust betrug rund 7.000 €. Doch die Versicherung war nicht bereit, den Schaden zu erstatten, da die Polizei keine Einbruchsspuren fand. Der Dieb war mit einem Schlüssel in die Gemeinde eingedrungen. Sofort fiel der Verdacht deshalb auf uns, da wir ja einen Schlüssel bekommen hatten. Ich verwies die Polizei auf meinen Lehrling Rossano, doch eine Wohnungsdurchsuchung bei ihm ergab keine Hinweise. Trotzdem war ich mir sicher, dass er es gewesen sein musste, denn auf einmal besaß er ein IPhone 5 (damals das neueste Modell), das er sich von seinem Lehrlingslohn doch kaum leisten konnte.
Ich sprach mit dem Prediger und erklärte mein Bedauern, zumal mir klar war, dass der Verlust für die Gemeinde sehr schmerzhaft gewesen sein musste, da sie sich ja nur von Spenden finanzierten. Da es mir finanziell selber sehr schlecht ging (ich hatte im Januar ein Minus von 13.000 € auf dem Konto), bot ich dem Prediger an, kostenlos im Winter Malerarbeiten für die Gemeinde auszuführen, womit er einverstanden war.
Verständlicherweise verschlechterte sich in der Folgezeit das Verhältnis zwischen Rossano und mir. Als ich z.B. an einem Tag keine Verwendung für ihn hatte, brachte ich ihn morgens zur Werkstatt und gab ihm verschiedene Aufgaben. Als ich später vorbeikam, war er nicht mehr da und hatte überhaupt nichts gemacht. Dafür bekam er von mir eine Abmahnung und forderte von ihm, die vertrödelte Arbeitszeit am Wochenende nachzuholen. Am nächsten Tag ereiferte er sich über diese Strafe so sehr, dass er vor mir und den Mitarbeitern die Baustelle verlies mit den Worten: „Okay, dann hau´ ich jetzt ab, geh zum Arzt und lass mich krankschreiben!“ Er bekam eine zweite Abmahnung, und ich kürzte ihm den Lehrlingslohn. Ein paar Wochen später war ich mit ihm auf einer Baustelle am Arbeiten, musste dann aber weg zu einem Kundentermin. Ich sagte ihm, was er bis Feierabend noch machen solle und ging. Doch nach zehn Minuten kam ich zurück, weil ich meine Mappe auf der Baustelle vergessen hatte. Doch da war Rossano schon nicht mehr da. Ich rief ihn sofort an. Er sagte: „Ich wollte mir nur kurz etwas zu Essen kaufen“. – „Und warum hast Du Deine Arbeitstasche mitgenommen, das Radio und das Licht überall ausgemacht?“ fragte ich. „Du kommst jetzt augenblicklich auf die Baustelle zurück, und wenn nicht, dann brauchst Du auch nie mehr zu kommen!“ Fünf Minuten später war Rossano wieder da. Ich sagte: „Du wirst heute eine halbe Stunde länger arbeiten.“ – „Nein, das werde ich garantiert nicht!“ erwiderte er frech. „Dann bekommst Du eine Kündigung.“ Plötzlich schrie er rum und drohte mir in Gegenwart aller auf dem Bau anwesenden Handwerker, dass er mich bei der Handwerkskammer wegen Schwarzarbeit anzeigen wolle. Während er wie ein Wilder rumschrie, nahm er sein 800,-€ teures IPhone und knallte es mit aller Wucht auf den Fliesenboden, so dass es in mehrere Teile zerbarst. Ich hielt ihn am Arm fest und beförderte ihn von der Baustelle mit den Worten, dass er gerade eben seine Kündigung unterschrieb.
Als ich am darauffolgenden Montag zur Werkstatt kam, hatte jemand das Fenster, das möglicherweise auf Kipp stand, aufgedrückt und durch einen Spalt von etwa 50 cm sämtliche Wertgegenstände aus meiner Werkstatt mitgenommen, darunter zwei Schleifmaschinen, einen alten Computer und noch ein paar mehr Sachen, die ich jedoch nicht vermisst hatte, da sie schon alt waren. Die Polizei machte eine Spurensicherung am Fenster; doch obwohl man deutlich einen Schuhabdruck auf der Fensterbank erkennen konnte, gelang es ihr nicht, den Rossano als Täter zu überführen. Zwei Monate später wurde schon wieder in meiner Werkstatt eingebrochen, doch diesmal wurde scheinbar nichts gestohlen. Nur die Eingangstür war stark verbogen und ließ sich nicht mehr schließen, so dass ich einen befreundeten Metallbauer mit der Reparatur beauftragte.
Doch nicht nur Rossano, sondern auch andere Mitarbeiter hörten nicht auf, mich zu bestehlen, nicht nur direkt, indem sie Werkzeug entwendeten, sondern auch, indem sie bei Materialeinkäufen wie selbstverständlich auch für sich Dinge kauften, wie z.B. Malerjacken, Malerhosen, teure Pinsel etc., weil sie dachten, ich würde das gar nicht merken. Daraufhin befahl ich den Großhändlern, keine Werkzeuge oder Kleidung mehr an die Gesellen zu verkaufen, was sie mir versprachen. Aber es änderte sich nichts, weil die Verkäufer nicht darauf achteten. Deshalb wies ich sie nun darauf hin, dass ich ab jetzt nicht mehr bereit sei, diese Werkzeuge und Jacken zu bezahlen, so dass ich im Wiederholungsfall die abgebuchten Beträge wieder zurückfordern würde. Erst jetzt reagierten die Lieferanten und wiesen ihre Verkäufer an, meine Bitte zu respektieren, obgleich sie sich wohl wunderten, dass meine Leute so eigenmächtig waren.
In der Tat hatte sich das Betriebsklima deutlich verschlechtert. Auch untereinander brach ständig Streit aus zwischen den Mitarbeitern oder wurde hinterm Rücken über einander schlecht geredet. Besonders Andre Bindermann (48), mein bester Mann, verachtete mich und meine Mitarbeiter und redete schlecht über uns zu den Kunden, weil wir in seinen Augen nur Chaoten waren. Andersherum mochten auch sie den Andre nicht und wollten ungerne mit ihm arbeiten. Einer der Gesellen fragte mich: „Warum schmeißt Du den Kerl nicht einfach raus?“ Doch dazu kam es nicht mehr, da Andre Bindermann kurz darauf selber kündigte, weil einer meiner Stammkunden ihn als Betriebsmaler eingestellt hatte. An seine Stelle trat Matthias Lubitz (46), ein erfahrener Geselle, der durch seine fröhliche Art auch bei den Kunden einen guten Eindruck hinterließ. Auch nahm ich zwei Brüder als Lehrlinge in meine Firma auf, die aus einer christlichen, russlanddeutschen Familie kamen, und zwar Simeon (16) und Tim Berndt (19). Simeon Berndt arbeitet bis heute in meiner Firma und ist seit 2016 ein wiedergeborener Christ. Von Burhan Akkus (22), dem ich trotz seiner Frechheiten nach seiner Ausbildung noch einmal als Gesellen eingestellt hatte, musste ich mich später endgültig trennen, da er sich zu viele Freiheiten herausnahm. Da er jedoch noch den Werkstattschlüssel besaß, geschah es in den Wochen danach, dass er in Verdacht geriet, derjenige zu sein, der regelmäßig alle zwei Wochen auf den Teppich unseres Windfangs pinkelte, weshalb es irgendwann bestialisch roch, wenn man die Werkstatt betrat. Erst als ich den Teppich entfernte und ich das Schloss austauschte, hörte es auf, nach Urin zu riechen. Von dem neuen Schloss bekam aber keiner der Mitarbeiter mehr einen Schlüssel. Ich nahm mir vor, die Baustellen in Zukunft selber immer zu beliefern, da ich inzwischen endgültig die Nase voll hatte von ihrer ständigen Selbstbedienung.
Verstand oder Glaube
Inzwischen waren schon fünf Jahre vergangen, seit ich nicht mehr mit Ruth und Rebekka in den Gottesdienst ging. Neuerdings gab es aber bei uns zuhause einen Hauskreis, der sich einmal in der Woche bei uns traf. Ich begrüßte zwar die Geschwister, nahm aber nicht daran teil, sondern zog mich auf mein Zimmer zurück. Dabei sehnte auch ich mich nach Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, aber niemand interessierte sich an meiner Kritik am christlichen Glauben, und auch meine atheistische Internetseite www.zeitaufzustehen.de dümpelte ungelesen vor sich hin mit gerade einmal 10 Besuchern pro Woche, die sich dorthin verirrt hatten. Ich machte mich also selbst auf die Suche und entdeckte auf einmal eine Seite namens www.religionskritik.net, wo sich mehrere hochgebildete Atheisten über christliche Themen und Kirchen austauschten und ihre Kritik übten. Ich stellte mich als ehemaligen Christen vor und schrieb einiges aus meiner Vergangenheit. Den Atheisten sträubten sich die Haare, und sie hießen mich herzlich willkommen in ihren Reihen. Schon bald fiel mir jedoch auf, dass es gewisse Parallelen zwischen den christlichen und den atheistischen Fundamentalisten gibt, denn beiden gemein ist die Unfähigkeit, sich in die Sichtweise ihres Gegners hineinzuversetzen.
Ich nahm auch wieder Kontakt zum Prediger Marco auf, da auch ihm der intelligente Austausch gefiel und er sich die Zeit nahm, meinen kritischen Argumenten mit klugen Überlegungen zu widersprechen. Zunächst ging es dabei um die Frage, ob die Aufklärung in Europa eher Segen oder eher Fluch war. Ich schrieb: „Wenn du ernsthaft glaubst, dass die Aufklärung der Menschheit nichts gebracht habe, dann müsstest du doch eigentlich das Gemeindehaus noch viel mehr absichern, z.B. gegen sibirische Reiterhorden, die plötzlich über euch herfallen und jeden Mann abschlachten und alle Frauen vergewaltigen können. Ferner müsste deine Frau zum Beispiel aufpassen, dass sie nicht von irgendjemanden als Hexe denunziert und infolgedessen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Wie erklärst du dir überhaupt, dass ihr euch heute so friedlich versammeln könnt, anstatt von der heiligen Inquisition als Ketzer verurteilt zu werden? Dich müsste man doch eigentlich als Hauptschuldigen auf dem Bremer Marktplatz vierteilen, nicht wahr?“ Marco entgegnete: „Nimm den Westeuropäern ihren Wohlstand und dann werden wir sehen, was sich für ein Unterschied zur Geschichte ergibt. was übrigens verdächtig ist, ist, dass der aufgeklärte Westen weite Teile der Welt so sehr in der Armut und Versklavung belässt. Schöner aufgeklärter Westen!“ Da musste ich ihm recht geben.
Doch erinnerte ich ihn daran, dass wir alle heute von den Früchten der Aufklärung profitieren, nicht nur von der Gedanken- und Redefreiheit, sondern auch von der Wissenschaft und Technik: „Sämtliche Grundrechte des Menschen wurden Jahrhunderte lang mit Füßen getreten, auch und gerade von Seiten der monotheistischen Religionen. Erst die Bildung und später die Technik hat dann dazu geführt, dass die Menschheit heute ein noch nie da gewesenes Leben in Glück und Wohlstand führen kann. Die Armut in den Entwicklungsländern hat sich nicht qualitativ gesteigert, sondern nur quantitativ, d.h. es gibt leider eben immer mehr Menschen dort, die sich die knappen Ressourcen teilen müssen. Tatsächlich aber profitieren auch die Ärmsten immer mehr von den Segnungen des Fortschritts, so dass es wahrscheinlich scheint, dass Armut und Krankheit in der Zukunft eines Tages besiegt sein werden… Der Kapitalismus hat es geschafft, dass alle Ideologien und Weltanschauung integriert werden konnten, indem er durch das Internet jeweilige Marktplätze geschaffen hat. Religion hingegen bedeutet immer Rückschritt und nicht Fortschritt, denn sie ist ja eine Rückbesinnung auf eine vermeintlich verloren gegangene Einheit mit Gott oder dem Übernatürlichen, also eine Regression des verlorenen Sohnes zu seinen imaginären Vater, ein Zurückbleiben auf dem Weg, weil man Angst hat vor der Zukunft.“
Grundsätzlich hatte ich eigentlich nichts gegen einen Glauben, aber er sollte sich an den Bedürfnissen der heutigen Menschen orientieren und nicht mit 2000 Jahre alten Ängsten vor einer imaginären Hölle belastet sein. Warum sollte es nicht möglich sein, aus der christlichen Religion jene Teile herauszunehmen, die sich nicht bewährt hätten? Wenn man sich heute einen Computer kaufe, dann würde man doch auch erstmal sämtliche unnütze Vorinstallationen abändern und überflüssige Zusatzprogramme deinstallieren, die nur Speicherplatz verbrauchen. Warum aber nimmt man diese sinnvolle Anpassung nicht auch bei der Bibel vor, wo doch selbst diese empfiehlt: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“
Marco schrieb: „Für dich ist der Verstand die höchste Instanz, für mich aber nicht. Das wir deshalb zu anderen Ergebnissen kommen, ist klar. Den Verstand als höchste Instanz anzunehmen, ist genauso eine Glaubensthese, die man genauso wenig hinterfragen kann wie meine, dass Gott die höchste Instanz sei. Der Verstand wird im christlichen Glauben zwar nicht ausgeschlossen, aber er ist zweitrangig…“ Diese Schutzbehauptung wollte ich nicht gelten lassen und erwiderte: „Damit sagst Du indirekt, dass der – in der Bibel beschriebene – Gott den Überlegungen des Verstandes widerspricht, demnach also dem Verstande nicht zugänglich ist, als ob dieser Gott gar nicht verstanden werden will. Ist es aber nicht vielmehr so, dass dieser Gott nur deshalb den Überlegungen des Verstandes widerspricht, weil er ein Produkt von Menschen war, die ihren Verstand nicht ausreichend genutzt haben? Widersprüche lösen sich nicht einfach dadurch in Luft auf, indem man sie mit dem Etikett des ‚Glaubens‘ versieht… Den Verstand zu nutzen, um z.B. Widersprüche aufzudecken, hat nichts mit ‚Glauben‘ zu tun. Ich kann vielleicht glauben, dass ich meinen Verstand richtig genutzt habe; wenn ich mich irre, ist aber nicht der Verstand schuld daran, sondern meine begrenzte Fähigkeit, den Verstand richtig zu nutzen. Wenn ich jedoch Dinge für wahr halten will, die dem Verstand von vornherein widersprechen, dann setze ich mich absichtlich dem Irrtum aus.“
Marco hielt dies für einen „Zirkelschluss“, weil ich durch diese Behauptung ja nur das bestätigen würde, was ich zuvor ja als Ausgangspunkt bzw. Paradigma behauptet hatte („der Verstand ist die höchste Instanz, weil ich die Dinge nur durch den Verstand beurteilen kann“). Da sowohl sein als auch mein System in sich geschlossen sei, gelte es, eine Entscheidung zu treffen, entweder für den Glauben oder für den Verstand. Marco habe kein Vertrauen zu seinem Verstand, sondern nur „Vertrauen in Gott“. Hier erwiderte ich, dass er einem „Gott“ doch gar nicht vertrauen könne, dessen Offenbarungen sich als widersprüchlich erweisen würden. Ich stimmte ihm zu, dass wir eine Entscheidung treffen müssen, „aber die Fähigkeit zu denken, ermöglicht es uns Menschen, dass wir uns aus all den zur Verfügung stehenden Erkenntnissen und Erfahrungen eine eigene Meinung bilden können. Wir können uns darin irren, aber ein solcher Irrtum macht den Menschen nicht schuldig, sondern ehrt ihn im Gegensatz dazu, weil er trotz des Risikos, sich zu irren, den Mut hatte, eine Entscheidung für sich zu treffen. Der Satz ‚Ich habe Vertrauen in Gott‘ macht eigentlich überhaupt keinen Sinn, weil er voll ist von Voraussetzungen, die willkürlich festgelegt wurden. Der Philosoph Wittgenstein hat einmal gefordert, dass nur solche Sätze einen Sinn haben, deren Begriffe und Themen sich verifizieren lassen, d.h. ob es sie gibt oder nicht, bzw. ob sie wahr sind oder nicht. Worte wie ‚Gott‘ machen von vornherein keinen Sinn, weil es sich um Begriffe handelt, deren Bedeutung unklar und willkürlich ist (d.h. jeder legt eine eigene Bedeutung hinein).“
Der Dialog ging dann noch eine ganze Woche weiter so. Marco blieb dabei, dass ich aus meinem „Denksystem“ ihn nie verstehen könne, weil man dazu glauben müsse. Gerade weil der Mensch nicht alles verstehen könne, sei es doch vernünftiger, sich nicht auf seinen begrenzten Verstand zu verlassen, sondern auf Gottes Offenbarung. Ich entgegnete: „Der Begriff ‚Gott‘ ist nichts Eindeutiges, sondern etwas Schwammiges. Jeder Gläubige hat seinen eigenen Gott, auch wenn viele bei sich Übereinstimmungen feststellen. Eine Behauptung wie die: ‚Gott hat sich den Menschen geoffenbart‘ liefert statt Antworten nur viele neue Fragen: 1. Welcher Gott? Wer war Zeuge? 3. Wo ist der Beweis? 4. Warum glaubst Du das? 5. Was bedeutet das? Usw. Wenn es noch nicht einmal einen Beweis für die Existenz Gottes gibt, dann gibt es erst recht keinen Beweis für das Handeln Gottes? Alles bleibt nur Bestandteil der Vorstellung und Fantasie. Der Begriff ‚Vertrauen‘ verrät indes, wo der Hase im Pfeffer liegt: Der Glaube ist eine Psychopathologie, d.h. eine Störung des Gefühlslebens. Gott ist ein Teddy für Erwachsene.“ Zugleich sei sein Gottesbild aus meiner Sicht unreflektiert und geradezu verlogen. Denn während er die Religionsfreiheit in Deutschland für selbstverständlich hält, habe er kein Problem damit, an einen Diktator-Gott zu glauben, der seine Kritiker mit dem Höllenfeuer bestrafe, da er Kritik nicht dulde. Und wenn er behaupte, dass der Mensch Gott gar nicht erkennen könne mit seinem Verstand, sondern nur im Glauben, dann könnte ein solcher Gott die Ungläubigen auch nicht mehr zur Rechenschaft ziehen für ihren Unglauben, wenn er ihnen absichtlich den Glauben vorenthalte. Das könne man nicht mehr mit unterschiedlichen Denksystemen entschuldigen, sondern sei schlichtweg ein Selbstbetrug. „Mit Deinem Modell von den zwei Denksystemen versuchst Du nur, Deine Argumentationsschwäche zu verschleiern und sie als nicht weiter zu begründendem Sachzwang darzustellen.“
Die Theodizee-Frage, d.h. die Frage nach Gottes Rechtfertigung für erlittenes oder angedrohtes Leid, war für einen Atheisten wie mir die entscheidende Bedingung, um mich für den Glauben öffnen zu können. Die Unaufrichtigkeit und mangelnde Bereitschaft meiner Umgebung, mir eine plausible Antwort zu geben, hatte mich all die Jahre daran gehindert, Gott zu suchen. Auch mein Bruder Marcus versuchte immer wieder, auf mich einzuwirken, dem Glauben doch noch mal eine Chance zu geben. Ich sagte: „Wenn ich nur einen einzigen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass Gott existiert. Aber selbst, wenn es ihn gäbe, nützt mir dieses Wissen nichts, weil er schweigt und scheinbar kein Interesse hat, sich den Menschen unmissverständlich zu zeigen.“ Marcus entgegnete, dass sich Gott doch allen Menschen längst geoffenbart habe durch die Natur und sie deshalb ohne Entschuldigung seien. „Jeder Mensch weiß im Grunde, dass es einen Gott gibt“ – „Nein, das ist totaler Quatsch, was Du sagst, denn ich weiß z.B. nicht, dass es einen Gott gibt, obwohl ich es nur allzu gerne wüsste. Nur eines ist sicher, dass es den Gott der Bibel nicht geben kann, da die Bibel ihn völlig unglaubwürdig darstellt. Er verlangt von den Seinen Feindesliebe, kann aber selber seinen Feinden angeblich nicht mehr vergeben. Das macht alles doch gar keinen Sinn!“
Manische Projektionen
Seit mein kleiner (1,98 m großer) Bruder Patrick ein paar Jahren nach Vechta zog, etwa 1 Std von Bremen entfernt, sahen wir uns deutlich seltener, worunter er sehr litt. Meist war er es, der mich anrief, aber dann häufig nur von seinen Erfolgen als Küchenverkäufer sprach, was mich eher langweilte. Doch seitdem seine Frau Manuela vor drei Jahren an Magersucht erkrankt war, erzählte er mir immer häufiger von seiner Sorge, dass sie demnächst sterben könnte, da sie nur noch Haut und Knochen sei. Doch seit Beginn dieser Essstörung hatte sich Manuela auch in ihrem Sozialverhalten auffällig verändert. Patrick klagte, dass sie phasenweise völlig ausrastete und dann Patrick aufs übelste Beschimpfte mit Sätzen wie: „DU BIST EINE STRAFE FÜR MICH! DU BIST EINFACH EINE ZUMUTUNG! WAS HABEN DIE BLOSs MIT DIR GEMACHT!“ Diese plötzlichen Wutausbrüche geschahen häufig in dem Moment, wenn Patrick ein von ihr angebotenes Essen oder eine Süßigkeit ablehnte mit den Worten: „Nein Danke, ich habe gerade keinen Hunger, Liebste.“ Wenn sie dann in Rage geriet, nahm sie auch keine Rücksicht auf die beiden Kinder, Eva (9) und David (6), die völlig verstört waren. Manchmal schlug sie ihn auch, ohne dass Patrick sich wehrte oder auch nur ein einziges Wort sagte. Ganz offensichtlich litt Manuela an einer gestörten Wahrnehmung, denn das was sie dem Patrick an Beleidigungen vorwarf, das traf eigentlich viel eher auf Manuela zu und gab einen erschreckenden Einblick in die Traumata ihrer Kindheit.
Doch nicht nur ihre verbale Raserei war ungewöhnlich, sondern auch ihr völlig übertriebener Drang nach sportlicher Betätigung. So gab es kaum einen Sport, den sie nicht praktizierte und strapazierte ihren durch die Magersucht bereits geschundenen Körper bis an die äußerste Grenze der Belastbarkeit. Patrick machte sich schon keine Hoffnungen mehr, dass sie das noch überleben würde und zog sich resigniert in die Gartenarbeit zurück. Ich konnte nicht verstehen, warum er nicht mal endlich Tacheles redete und sie mit der Realität konfrontierte. Aus meiner Sicht gehörte Manuela in die Psychiatrie, aber sie nahm ihre Störung überhaupt nicht wahr. Mich wunderte auch, dass ihre Lehrerkollegen nicht merkten, dass Manuela nicht alle Tassen im Schrank hat. Wenn sie mal mit Patrick zu Besuch kam, dann redete sie ununterbrochen, ließ aber keinen Widerspruch zu. Doch in letzter Zeit mied sie sogar jeden Kontakt mit uns, weil sie vielleicht ahnte, dass wir sie ansprechen könnten auf ihre extreme Magerkeit und ihre Wahnvorstellungen.
Vor kurzem fand ich den Ausdruck eines Skype-Chats, den ich im Sommer 2013 mit Manuela führte und der deutlich macht, wie schwierig es ist, eine psychisch Erkrankte auf die Notwendigkeit einer Therapie hinzuweisen, wenn die Leugnung der Krankheit ein folgerichtiger Bestandteil des Realitätsverlustes ist. Anlass des Austausches war ein geplanter Besuch von Patrick (gekürzt):
Manuela: „Wir könnten so um 12:00 Uhr da sein, ich würde mit den Kindern aber etwas anderes unternehmen und Patrick dann später wieder abholen.“
Simon: „Ja, Freitag wäre gut, weil dann nichts mehr anliegt. Es wäre schön, wenn du auch dabei wärst und die Kinder. Findest du es nicht auch komisch, wenn du jeder Begegnung mit uns immer aus dem Wege gehst? Ich meine, wir tun doch nichts, und die Kinder haben sich auch immer wohl gefühlt bei uns.“
Manuela: „Simon, bei solch einer frechen Unterstellung, ich würde euch meiden, möchten wir alle vier gar nicht kommen, auch Patrick sagt hiermit ab. Es steht dir nicht zu, zu behaupten, ich würde euch meiden, das ist absolut nicht meine Absicht… wir möchten zu solchen Beurteilern keinen Kontakt, danke.“
Simon: „Wenn du das nur einmal oder zweimal gemacht hättest, dann würde mir das jetzt leichter fallen, das zu glauben, aber seit Monaten versuchst du, jedes Gespräch zu vermeiden, und das weißt du auch. Bitte mach dir doch nichts vor, Manuela, wir alle wissen, dass du krank bist und eigentlich Hilfe brauchst, und genau deshalb flüchtest du ja auch vor uns, weil du Angst hast, dass wir dich darauf ansprechen würden. Dir kann aber nur geholfen werden, wenn du endlich ehrlich wärst und dir nicht länger selber etwas vormachst. Es ist auch nicht gut, wenn du für Patrick sprichst, weil du ihn dadurch entmündigst. Lass ihn doch selber entscheiden, ob er kommen möchte oder nicht. Du sprichst immer von ‚wir‘ und meinst in Wirklichkeit nur ‚ich‘.
Manuela, du solltest auch nicht denken, dass ich etwas gegen dich habe. Es ist genau das Gegenteil: wir machen uns alle große Sorgen um dich, weil du so abgemagert bist. Und jetzt fürchten wir, dass auch eure Kinder unter dieser Situation leiden. Wenn ich mir David und Eva so anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass sie auch schon einen ‚Knacks‘ bekommen haben, denn ihnen ist alle Lebensfreude abhandengekommen, seit Du ständig rumschreist. Ich kann mir das Elend kaum länger mit anschauen und habe sogar schon überlegt, ob ich das Jugendamt einschalten sollte. Denn wenn Patrick nichts unternehmen will, weil er resigniert hat, dann will ich mich wenigstens nicht mit schuldig machen, wenn die Sache jetzt noch weiter eskaliert.“
Manuela: „Simon, tut mir leid, aber du leidest echt unter Minderwertigkeitskomplexen. Das habt ihr alle von eurem Vater. Ich möchte mich so wirklich nicht treffen und Patrick auch nicht. Wir distanzieren uns hiermit von euch, brechen den Kontakt ab und möchten keine weiteren Lästereien in deiner poppeschen Familie. Du scheinst vieles im menschlichen Umgang noch nicht gelernt zu haben und solltest erst mal vor dir selbst deine Rolle in den Griff bekommen, bevor du andere runtermachst. Lass uns in Ruhe und suche dir Hobbys, die dich erfüllen, damit du solch ein Abarbeiten in deiner Umwelt nicht mehr nötig hast. Du musst ständig der Vorreiter der Familie sein und das ist ein Zeichen deiner Erstgeburt und ganz normal. Ich kenne das von mir auch. Man darf nur nicht überheblich und arrogant werden … Was haben sie dir nur angetan, dass du solche Urteile fällst? Lass uns in Ruhe, du kannst doch nicht auch noch die Kinder verurteilen! Du bist krankhaft neidisch! Wir lassen das nun und brechen den Kontakt ab. Gute Nacht.“
Simon: „Manuela, ich kann dir all den Schwachsinn verzeihen, den du mir geschrieben hast, denn deine Worte sind ja ein Teil deiner kranken Wahrnehmung. Du glaubst, wenn du den Spieß jedes Mal umdrehst und diejenigen angreifst, die dir helfen wollen, dass du dich dadurch schützen könntest. Aber deine Krankheit ist ja längst allen offenbar und dein Leugnen bringt dir nichts. Wenn du dich umbringen willst (oder der Dämon in dir) dann mach es. Aber wenn du durch dein extrem gestörtes Verhalten deine Kinder gefährdest, dann ist mir das nicht egal. Ich werde morgen mal beim Jugendamt anrufen und die Sache melden. Wenn das Jugendamt nichts unternimmt, dann machen Sie sich mitschuldig.“
Manuela: „Simon, du bist krank! Was fällt dir eigentlich ein, uns zu beurteilen! Wie spielst du dich eigentlich auf – hast du keinen Respekt?!“
Am nächsten Tag wurde mir dann jedoch klar, dass ich alles nur noch schlimmer machen würde, wenn ich beim Jugendamt anriefe, zumal ich Patrick dadurch hintergehen und sehr verletzen würde. Er hatte ohnehin die Hoffnung aufgegeben und meinte, dass Manuela sowieso bald sterben würde. Deshalb hätte sie es verdient, dass wir wenigstens die letzten Tage mit ihr liebevoll umgehen und sie nicht bedrängen. Aber würde Patrick auch mit dem Vorwurf weiterleben können, nicht alles versucht zu haben? Wenn ich verhindern wollte, dass Manuela sich zu Tode hungert, dann musste ich ihr Herz gewinnen. Aber das konnte ich unmöglich mit Drohungen. War ihr überhaupt bewusst, dass sie schon bald unter der Erde liegen würde? Manuela musste meine ernste Sorge und Verzweiflung spüren, damit sie mir glaubt, dachte ich. Ich schrieb ihr also eine weitere Nachricht:
„Liebe Manuela, ich bitte dich hiermit um Vergebung für all die Heuchelei, mit der ich Dir in den letzten Monaten begegnet bin, indem ich aus falscher Rücksichtnahme auf Patrick und eure Kinder immer gute Miene zum bösen Spiel gemacht und so getan habe, als ob nichts wäre, weil ich Angst hatte, dass Du in Deinem kranken Wahn völlig ausrasten würdest, wenn ich Dir ehrlich gesagt hätte, dass wir uns alle Sorgen um Dich machen. Vielleicht hätten wir Dich noch retten können, wenn wir nur den Mut gehabt hätten, Dich rechtzeitig zu warnen, als wir bei Dir die ersten Anzeichen sahen. Wir haben uns alle schuldig gemacht an Dir, weil uns der oberflächliche Friede wichtiger war als Deine Gesundheit. Wir wollten unsere Hände in Unschuld waschen, als wir sagten: nur Gott kann Manuela jetzt noch helfen! Jetzt ist es zu spät.
Ich bitte Dich auch um Vergebung wegen all meiner Rechthaberei und Eitelkeit, die Du zurecht an mir kritisiert hast und die meinem Anliegen einen Bärendienst erwiesen hat, weil Du Dich durch diese noch mehr verhärtet und abgekapselt hast. Schau nicht auf mich denn an mir ist wirklich nichts Edles und Wertvolles. Ich bin ein Scheißkerl und ein Arschloch. – Aber trotzdem liebe ich Dich, nicht nur weil Du die Frau meines Bruders bist, sondern weil Du auch wirklich liebenswert bist. Bitte schau auch nicht auf all die anderen, die Dich in ihrer Oberflächlichkeit und falschen Betroffenheit ansehen und hinter Deinem Rücken über Dich herziehen. Nein, ich bitte Dich nur: Schau auf Deine Kinder, die noch zu klein sind, um all das ertragen zu können, was sich zu Hause bei Euch abspielt. Nimm Rücksicht auf ihre zarten Seelen, denn sie können nirgendwo hin flüchten, wenn Du Patrick anschreist und werden ihr Leben lang an den Verletzungen ihrer Seele leiden, die Du ihnen zufügst.
Ich glaube nicht, dass Du noch lange leben wirst, deshalb wünsche ich Dir und Deiner Familie für den Rest Deiner Lebenszeit von Herzen Ruhe und Frieden. Ich werde auch nicht das Jugendamt anrufen oder Deine Eltern, weil ich Angst habe, dass es Dir und Deinen Kindern nur noch mehr schaden würde. Friede Dir!
Simon“
Wider Erwarten hat Gott die Manuela auf einmal von ihrer Magersucht geheilt. Sie nahm wieder Essen zu sich und sieht heute völlig normal aus. Wir sind deshalb voller Zuversicht, dass der HErr sie auch noch von ihren manischen Wutanfällen heilen wird. Patrick wurde durch diese Erfahrung nach jahrelanger Lethargie in seinem Glauben erweckt und ist seitdem ein entschiedener Christ. Er ließ sich Ende 2013 auch noch einmal biblisch taufen. Manuela geht seit längerem mit ihm in eine evangelikale Gemeinde in Vechta.
Juli bis Dezember 2013
Ehrlichkeit
Im Sommer 2013 waren wir mal wieder in der Evangelischen Bekenntnisschule am Arbeiten, die uns fast jedes Jahr in den Ferien Klassenräume streichen ließ. Auf einmal kam ein junger Zigeuner* in die Schule und fragte mich auf Englisch, ob dies eine Freikirche sei, denn er habe draußen ein Kreuz gesehen. Ich kam mit ihm ins Gespräch, und er erzählte mir, dass er erst seit kurzem in Deutschland sei und bei seinem Onkel in einer Asylunterkunft lebe. Traian Banghios (28) war ein gläubiger Christ aus Rumänien und auf der Suche nach Arbeit. Als Zigeuner sei es für ihn trotzt seiner akademischen Ausbildung schier unmöglich, in Rumänien Arbeit zu finden, wie er mir sagte, da die Rumänen mit Zigeunern nichts zu tun haben wollten. Traian hatte irgendwie einen sehr traurigen Gesichtsausdruck – wie ein geschundener Köter, den man immer wieder getreten hatte, weshalb er mir sehr leidtat. Ich lud ihn zu mir nach Haus ein und wir freundeten uns an. Da ich 1991 mal für vier Monate in Rumänien gelebt hatte, lag mir sein Schicksal am Herzen. Deshalb versprach ich ihm, ihm zu helfen, soweit ich es konnte. Er wollte sich auch nur für ein paar Monate etwas Geld verdienen und dann am Ende des Jahres nach Rumänien zurückkehren. Er lud mich sogar ein, ihn mal in Rumänien besuchen zu kommen, wenn ich Zeit hätte. [*Traian erklärte mir, dass das Wort „Zigeuner“ auch in Rumänien gebraucht wird (tigan) und dort nicht als abwertend verstanden wird]
Da Traian kein gelernter Maler war und auch noch kein Deutsch konnte ließ ich ihn Werbezettel verteilen für 12,- €/Stunde und bot ihm an, kostenlos in meiner Werkstatt zu wohnen. Ich hatte auf dem Sperrmüll ein Sofa gefunden, das ich in das Büro der Werkstatt tat, samt einen Schrank und einen Tisch. Dann ließ ich 3000 Werbeflyer drucken und erklärte Traian, was er beim Verteilen beachten müsse. So verteilte er jeden Tag etwa 2-3 Stunden und schrieb mir die Namen der Straßen auf, wo er verteilt hatte. Da er Christ war, vertraute ich ihm blind. Doch als ich ihm nach zwei Wochen seinen Lohn zahlen wollte, machte ich einen Test, um seine Ehrlichkeit zu überprüfen: Ich gab ihm acht 50,-€-Scheine und sagte: „Hier, Traian, sind Deine 350,-€.“ Er nahm das Geld, zählte nach und steckte es ein, ohne mich darauf hinzuweisen, dass ich mich verzählt hätte. Ich sagte nichts.
Zwei Wochen später war wieder Zahltag, und ich gab ihm schon wieder 400,- € statt 350,- €, wobei ich wieder den gleichen Satz sagte. Und schon wieder zählte Traian das Geld und steckte das Geld ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch dann sagte ich: „Traian, das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich Dir absichtlich 50,-€ mehr gegeben habe, als Dir zusteht, weil ich Dich testen wollte, ob Du ehrlich bist, aber Du hast den Test leider nicht bestanden. Jetzt weiß ich, dass ich Dir nicht vertrauen kann.“ Sofort reichte mir Traian einen der 50,-€-Scheine und schaute mich beschämt an. Ich sagte: „Es ist zu spät, Traian. Wenn das Vertrauen erstmal zerstört ist, wie kann es wieder hergestellt werden?“ Traian schaute mich verängstigt aus seinen scheuen Augen an, ohne auch nur ein Wort zu erwidern. Er tat mir leid, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu kündigen. Stattdessen schimpfte ich mit ihm, dass er sich als Christ schämen sollte, so unehrlich zu sein. Er versprach mir, dass es nie mehr passieren würde, und ich wollte es glauben. Tatsächlich betrog mich Traian später noch viele Male, so dass wir ein Jahr später im heftigen Streit auseinandergingen, doch dazu später mehr.
Dass ich dem Traian verzeihen konnte, lag wohl auch daran, weil ich selber auch nicht viel ehrlicher war, sondern ständig ein Doppelleben führte, sei es in meiner Ehe oder auch den Kunden gegenüber: ich gab mich stets so, wie es meine Umwelt von mir erwartete, aber niemand durfte wissen, welche Abgründe sich auftäten, wenn sie wüssten, wer ich wirklich war. Dies war aber auf Dauer sehr anstrengend, und so nutzte ich die Gelegenheit, als mich die Psychologin meiner Tochter zu sich zitierte, um mit mir über Rebekka zu sprechen, um ihr meine Lage offen zu schildern. „Wissen Sie, ich bin im Grunde wie ein Schauspieler…“ Sie lächelte und sagte: „Ja, genau wie ihre Tochter“. Ich schaute sie überrascht an und fragte: „Wie meinen Sie das?“ – „Ihre Tochter hat doch das gleiche Problem wie Sie: Sie muss ein Doppelleben führen, weil ihre Mutter sehr streng ist und ihr nur wenig Freiheit einräumt.“– „Echt? Was tut sie denn Heimliches?“ wollte ich wissen. „Das darf ich Ihnen natürlich nicht sagen. Aber ich möchte Ihnen dringend raten, sich mehr mit Ihrer Tochter zu unterhalten, denn sie würde sich Ihnen gegenüber gerne öffnen, wenn Sie nicht immer so beschäftigt wären.“ – „Den Eindruck habe ich aber gar nicht, sondern ganz im Gegenteil: jedes Mal, wenn ich Rebekka etwas frage, weicht sie aus und verschwindet sogleich, weil sie wieder irgendein Treffen mit einer ihrer Freundinnen hat.“ – „Dann ergreifen Sie die Initiative! Unternehmen Sie etwas mit ihrer Tochter! Sie hält viel größere Stücke von Ihnen, als Ihnen vielleicht bewusst ist. Vielleicht wird sie sich Ihnen dann selbst öffnen.“
Etwas mit Rebekka unternehmen? Eine gemeinsame Reise etwa? Sie ist doch schon fast 18 und wird doch kaum mehr etwas mit ihrem Vater unternehmen wollen. Aber vielleicht irrte ich mich. Ich sprach mit Ruth darüber und fragte, ob sie eine Idee hätte. „Ihr könnt doch mal zusammen nach Mallorca reisen. Frag sie doch mal.“ Zu meiner Überraschung war Rebekka sofort bereit und sogar hoch erfreut über diesen Vorschlag. Also buchten wir einen Flug und fuhren in der letzten Ferienwoche nach Mallorca, – nur Rebekka und ich. Wir mieteten uns jeder ein Fahrrad und später auch einen Mietwagen, um die Insel auszukundschaften. Dabei war unsere Neugier so groß, dass wir keine Attraktion ausließen. Sogar an einer Höhlenwanderung nahmen wir teil und hatten gemeinsam viel Spaß. Auf dem Rückflug sagte ich zu Rebekka: „Nächstes Jahr können wir uns ja mal ein Wohnmobil leihen und damit quer durch Europa nach Rumänien fahren, denn dort wohnt ein Bekannter von mir, den wir besuchen könnten.“ Rebekka sagte: „Au ja! Gerne!“
Gute Werke
Eines Abends schaute ich mit Ruth zusammen eine Doku über eine amerikanische Aussteigerfamilie, die mich sehr berührte. Es waren strenggläubige Christen, die sich in der Abgeschiedenheit der Rocky Mountains ein Stück Land und eine Farm gekauft hatten, um dort ihre zehn Kinder vor dem Einfluss der Welt zu bewahren. Anlass für diesen Ausstieg war, dass die Ehe der Eltern vor Jahren in einer Krise war. Der Vater (50) hatte zehn Jahre zuvor in der Computerbranche gearbeitet und vertrieb seine Freizeit nur noch mit Computerspielen. Doch dann erlebte er eine Erweckung seines Glaubens und entschied sich, zusammen mit seiner Frau einen Neuanfang mit dem HErrn zu wagen. Dadurch wurde nicht nur ihre Ehe geheilt, sondern Gott schenkte ihnen auch noch viele weitere Kinder, die sie zuhause unterrichteten und mit denen sie jeden Abend zusammen in der Bibel lasen. Ich kann mich noch gut an eine Szene erinnern, als die 17-jährige Tochter mit dem Traktor von der Feldarbeit kam und am Steuer gefragt wurde, ob sie schon einen Freund habe. Sie lächelte und drehte verlegen mit der Hand in ihrem Zopf, als sie antwortete: „Nein, dafür bin ich auch noch zu jung. Aber wenn die Zeit gekommen ist, dann wird mein Vater für mich einen Mann erwählen, und darauf freue ich mich schon!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht und ich dachte: Das darf doch nicht wahr sein!
Mir war, als wenn tief in mir sich etwas geregt hatte. Eine Sehnsucht nach der heilen Welt. Aber für mich war dieses Leben unerreichbar fern. Doch schon kurz darauf erfuhr ich durch die Nachrichten, dass man in Bayern eine urchristliche Gemeinschaft, die „Zwölf Stämme“ heimlich ausspioniert habe und nach Feststellung von Kindesmisshandlungen 40 Kinder mit Polizeieinsatz vom Hof mitgenommen und den Eltern das Sorgerecht entzogen hatte. Dieses Verhalten machte mich sehr traurig, denn es erinnerte mich an die Worte meines christlichen Lehrmeisters Daniel Werner, der 20 Jahre zuvor schon in einer Predigt davor gewarnt hatte, dass die körperliche Züchtigung von Kindern – wie sie die Bibel vorsieht – eines Tages noch zum Anlass genommen werde, dass man den gläubigen Eltern die Kinder wegnehmen würde. Ich diskutierte dieses behördliche Verhalten mit der Comunity auf religionskritik.net, wobei ich die Christen in Schutz nahm. Darauf wurde ich von allen massiv kritisiert und als reaktionär beschimpft. Man warf mir vor, dass ich insgeheim immer noch an meinen christlich-fundamentalistischen Wurzeln festhalten würde, was ich jedoch vehement von mir wies. Irgendwie erschien es mir, als wenn die Atheisten genauso fundamentalistisch und gleichgeschaltet sind wie die Christen. Es gab auch bei ihnen nur eine Meinung, die man haben durfte.
Tatsächlich fühlte ich mich unter den Atheisten allmählich immer unglücklicher, denn sie waren nur eitle und arrogante Besserwisser, aber keine Vorbilder für mich. Da waren mir solche radikalen Überzeugungstäter wie jene Christen schon lieber, auch wenn ich nichts mit ihren christlichen Überzeugungen anfangen konnte. Sie waren bereit, gegen den Strom zu schwimmen und wollten nichts weiter, als nach ihrem Glauben leben. Warum mischte sich der Staat überhaupt ein? Wenn man die Ideen der Aufklärung von einer Glaubens- und Meinungsfreiheit wirklich ernst meine, dann müsse man auch solche exotischen Ansichten tolerieren und dürfe Menschen nicht vorschreiben, was sie unter Glück und Freiheit zu verstehen hätten. Und wenn man den Juden und Muslimen im Land die Beschneidung gewähre, warum dann nicht den strengen Christen die körperliche Züchtigung, die doch weit aus weniger schädlich für sie ist als die Beschneidung, bei der man die Kinder ja schließlich auch nicht fragte, ob sie damit einverstanden sind. Soll der Staat ein Recht auf die Kinder haben? Aus welchem Naturrecht leitet sich diese Ansicht ab? Ist denn der Staat etwas anderes als ein theoretisches und damit willkürliches Konstrukt? Warum sollte die Mehrheit recht haben? Die Mehrheit hat aber keine festen Werte, sondern alles ist wechselhaft und manipulierbar.
Im Hebst 2013 wurde kurz vor der Bundestagswahl die sog. NSA-Affäre bekannt. Der Whistleblower Edward Snowden (30), der zuvor für den amerikanischen Spionagedienst NSA arbeitete, hatte sich nach Russland abgesetzt und zuvor sämtliche verdeckte Abhörmaßnahmen der USA preisgegeben. Er war zwar streng genommen ein „Verräter“ wie zuvor Julian Assange (WikiLeaks), aber er handelte nach seinem Gewissen und deckte letztlich nur das Unrecht auf, an dem er zuvor selbst beteiligt war, unter Inkaufnahme dadurch nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Freiheit lebenslang zu verlieren. Solche Überzeugungstäter waren für mich echte Vorbilder. Sie redeten nicht nur, sondern handelten nach ihrem Gewissen. Wie viele Gelegenheiten aber ließen wir im Alltag ungenutzt! Oftmals begnügt man sich nur mit der Empörung über das Unrecht in der Welt, anstatt selber mal auf die Idee zu kommen, etwas dagegen zu tun.
Ich erinnerte mich wieder an Franz von Assisi und an jene Filmszene, als er eines Abends am Ufer eines Sees bei Perugia plötzlich ein Bekehrungserlebnis hatte und einem Leprakranken seinen kostbaren Mantel schenkte, damit er nicht fror in der Nacht. Dieses Bild von der tränenreichen Umarmung des Leprakranken hatte sich tief in mein Herz geprägt. Wieviel Lebenszeit vergeuden wir sinnlos mit dem Verfolgen politischer Talkrunden, die uns ungefragt im Fernsehen angeboten werden und uns die Illusion vermitteln, Akteure des politischen Geschehens zu sein, obwohl wir doch nur passive Beobachter sind ohne Einfluss! Wahlen geben uns zwar die Illusion, etwas verändern zu können, aber ihre Bedeutung steht in keinem Verhältnis zu dem Maß an Interesse, dass wir ihnen beimessen. Nach der Wahl bleibt vor der Wahl, und am Ende diente alles nur der bloßen Unterhaltung, weil sich im Grunde kaum etwas verändert. Als der Philosoph Ludwig Wittgenstein im 19. Jh. An jenen Punkt gelangt war, dass es keinen Sinn machte, ständig nur über Begriffe und Bedeutungen nachzudenken, da kündigte er seine gut bezahlte Professur in Cambridge und zog sich in ein kleines Bergdorf in Österreich zurück, um dort für ein kleines Salär als Grundschullehrer zu arbeiten, da er dies als wesentlich sinnvoller hielt.
Auch ich entschied mich deshalb, wieder ehrenamtlich tätig zu werden und schloss mich dem Verein „Fluchtraum“ an, der in Bremen-Lesum ein Flüchtlingsheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterhielt, um diese an „Paten“ zu vermitteln. Ich bot dem Verein an, zukünftig Praktika und Ausbildungsplätze bereit zu stellen, um den Flüchtlingen einen Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Dieses Engagement sprach sich dann schnell bei den Behörden Bremens herum, so dass ich in den Folgejahren regelmäßig jedes Jahr mehrere Jugendliche als Praktikanten bekam, von denen einige im Anschluss auch eine Ausbildung machten. Das Hauptproblem war jedoch oftmals nicht nur die sprachliche Verständigung, sondern auch die kulturelle. Ein Jugendlicher aus Gambia hörte z.B. den ganzen Tag seine muslimischen Predigten bei der Arbeit. Ein Senegalese, dem ich den Auftrag gab, unseren Kellerraum aufzuräumen, kam schon nach 5 Minuten wieder zurück. Ich fragte ihn: „So schnell bist Du schon fertig?!“ Er sagte: „Nein, sondern da war eine afrikanische Putzfrau im Treppenhaus, und ich habe ihr gesagt, dass sie den Keller aufräumen soll.“
Durch das Lesen der Bücher des Kapitalismuskritikers Jean Ziegler stellte ich fest, dass ich im Grunde wie die Linken dachte. Daher ging ich eines Tages zu einer Veranstaltung der Linkspartei in Bremen, um zu prüfen, ob ich mich vielleicht den Linken anschließen sollte. Der Redner, Peter Erlanson, ein Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft, hielt einen Vortrag, warum der Marxismus der einzige Weg sei, um eine gerechte Welt zu schaffen. In der anschließenden Diskussionsrunde fiel mir auf, dass ich der einzige Neue unter den dunkelroten Erzkommunisten war. Ich meldete mich und erklärte, dass das Hauptproblem der Menschheit nicht die mangelnde Gerechtigkeit sei, sondern die fehlende Liebe. Wenn die Menschenliebe wieder den Platz bekäme, der ihr zustünde, dann würden sich alle Probleme von ganz allein lösen. Eine furiose Frau fiel mir ins Wort und schrie laut: „ICH WILL KEINE LIEBE, SONDERN ICH WILL MEINE RECHTE ALS HARTZ-IV-EMPFÄNGERIN!!! Das ist doch alles leeres Gerede von Wegen LIEBE! Damit wollen die Herrschenden doch nur die Entrechteten einlullen!“
Traurig ging ich nach Haus und merkte, dass die Linken letztlich auch keine Liebe hatten, sondern voller Neid und Bitterkeit auf die Reichen schauten. Ich setzte mich an den PC und schrieb auf meine Internetseite ein emotionales Plädoyer für die Liebe mit folgendem Inhalt:
„An die Bewohner der Erde
Ich fordere die Rückkehr der Liebe. Sie ist schon seit Jahren in Verbannung, im „Exil“. Wir haben das Kind in uns verbannt. Es musste weichen, weil wir uns den gesellschaftlichen Konventionen unterworfen haben, welche uns jeden Ausdruck an Spontanität und Emotionalität verbieten. Warum gibt es zum Beispiel im Bundestag niemanden mehr, der weint? Oder warum darf auf einer Aktionärsversammlung niemand laut pupsen oder rülpsen (wo dies doch eigentlich ganz natürliche Ausdrucksformen der menschlichen Physiologie sind)? Vor allem aber: warum wird sich nicht an allen Orten und zu jeder Zeit spontan geküsst und gestreichelt, um dadurch seine Gefühle auszudrücken?
Warum ist uns das Kindliche nur so peinlich? Wovor haben wir Angst? Dass man uns nicht mehr ernst nimmt? Dass wir von anderen geringgeschätzt werden? Das mag ja alles sein. Aber zeigt solch eine Reaktion nicht ein viel gravierenderes Problem auf? : Wir werden von anderen nicht wirklich geliebt.
Über die zwischenmenschliche Liebe zu sprechen ist heute eher ein Tabu. Liebe ist zur Privatsache verkommen. Aber das ist auch die eigentliche Ursache, warum unsere Gesellschaft so sehr krankt. Die Bedeutung der Liebe wurde reduziert auf Partnerschaft, häufig sogar nur noch auf die Sexualität. Aber ist das richtig so? Geht es uns dadurch wirklich besser, wenn wir zu unseren Mitmenschen eine permanente Distanz aufrecht halten? Warum beginnen wir nicht einfach, dieses Joch der Konventionen zu durchbrechen, um der Liebe wieder den Platz einzuräumen, der ihr gebührt? Warum wollen wir uns nicht als EINE große Familie begreifen, in welcher sich zwar gestritten, aber vor allem GELIEBT wird?
Die Liebe ist eigentlich so wichtig, dass man sie zum Maßstab nehmen sollte in allen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen. Wer die Liebe zu seinem Leitmotiv macht, der wird wahrscheinlich keinen Krieg mehr als ‚gerecht‘ hinnehmen und auch keine Unterdrückung und Ausbeutung tolerieren, sondern seine Güter mit anderen teilen wollen, weil er sie als Geschwister ansieht. Viele Fragen sind natürlich sehr komplex und brauchen einer gründlichen Analyse und Abwägung. Aber die Liebe kann als Maßstab und Kompass dienen, der die Richtung angezeigt.
Liebe kann nicht von oben verordnet werden, aber sie kann als Idee in uns wachsen und Frucht bringen. Jeder von uns ist zur Liebe fähig und kann das Lieben lernen, denn wir waren alle einmal Kinder. Für viele Menschen ist das Leben auf der Erde ein einziger Albtraum, aber wir können ihnen helfen, dass sie aus diesem Albtraum erwachen und sich am Leben wieder freuen können.
Deshalb: fange heute an zu lieben! Nimm es dir für jeden Tag vor! Übe dich auch darin, die unangenehmen Menschen zu lieben. Du wirst sehen, dass sich dann auch deine Umwelt verändern wird. Andere werden dich als sympathisch empfinden, weil du ihnen zuhörst und dir Zeit nimmst. Hinterlass Spuren auf deinem Weg durchs Leben, dann werden dir andere folgen!“
Der befürchtete Hirntumor
Ende 2013 erzählte mir meine Mutter bei einem Besuch, dass ihr Krebs zurückgekehrt sei. Sie bekam ja schon vor zwei Jahren mal die Diagnose Brustkrebs und ließ sich deshalb operieren. Dabei wurden ihr vorsichtshalber auch die Lymphknoten entfernt, aber scheinbar nicht vollständig. Denn nun hatte man bei einer Nachkontrolle entdeckt, dass sie neue Metastasen hat, und zwar in der Wirbelsäule. Meine Mutter war darüber etwas traurig, aber sie hatte Vertrauen im HErrn, dass Er über ihre Gesundheit wachen würde und nichts ohne Seine wohl bedachte Zustimmung geschieht (Röm.8:32). Sie lehnte deshalb auch eine Chemotherapie oder Bestrahlung ab, weil sie lieber auf Gottes Willen vertrauen wollte. Dennoch war sie sich der Möglichkeit zu sterben bewusst, aber wollte auch dies willig aus Gottes Hand annehmen. Sie hatte uns schon als Kinder ermahnt, dass wir bei ihrem Tod nicht weinen dürften, sondern wollte statt einer Trauerfeier unbedingt ein Freudenfest bekommen, denn der Tod war ja für sie eigentlich ein Grund der Freude, da sie endlich im himmlischen Paradies bei Jesus sei dürfe.
Ich war froh, dass meine Mutter so tapfer war, wollte aber mir auch gar nicht vorstellen, dass sie wirklich sterben könnte, denn sie war ja immer voller Lebensfreude. Unterdessen waren die Schmerzen meiner Frau Ruth eine tägliche Realität, die auch mir zu schaffen machte, da sie sehr darunter litt. Inzwischen war sie noch ein weiteres Mal für eine Woche im Krankenhaus gewesen, um sich durchchecken zu lassen, aber alle Untersuchungen brachten kein Ergebnis, so dass man ihr eine psychisch bedingte Überempfindlichkeit attestierte. Erst ein eigenes Studium durch das Internet brachte Ruth auf eine Krankheitsdiagnose namens Fibromyalgie, eine schmerzhafte Erkrankung der Muskelfasern, die unheilbar sei und fortschreitend immer mehr Schmerzen verursache. Da diese Krankheit noch nicht so sehr erforscht war, gab es auch noch keine wirkliche Therapie, sondern nur die Empfehlung, sich möglichst viel zu bewegen, was aber angesichts der Schmerzen eine echte Herausforderung darstellte. Allein der Glaube an Gott ließ auch Ruth nicht verzweifeln, so dass sie es als Prüfung von Gott annahm.
Auch ich selber hatte in letzter Zeit häufiger Schmerzen, und zwar Kopfschmerzen, besonders morgens oder am Wochenende. Meistens nahm ich dann Thomapyrin und japanisches Minzöl. Mir war klar, dass diese Kopfschmerzen etwas mit meinem hohen Blutdruck zu tun hatten, der trotz der blutdrucksenkenden Medikamente noch immer nicht die Normalwerte erreichte. Da ich aber sonst keine Beschwerden hatte, störte es mich nicht. Aber Ruth machte sich Sorgen und bestand darauf, dass man mich mal am Kopf untersuchen solle. Daher schrieb mir unser Hausarzt Dr. Ferdowsy eine Überweisung für eine MRT, da er sonst auch keine andere Lösung wusste. Ich ließ mich also in die Kernspinröhre legen, und anschließend gab man mir einen Umschlag mit den Bildern, um sie mit einem Begleitbrief dem Hausarzt vorzulegen.
Auf dem Weg zum Auto wurde ich neugierig und öffnete den großen Umschlag, um mir die Bilder anzusehen. Da bekam ich einen Schock, denn auf den Schnittbildern von meinem Kopf war überdeutlich zu erkennen, dass sich da eine tennisballgroße, weiße Masse in meinem Kopf gebildet hatte hinter meinem rechten Ohr, dass schon richtig das Gehirn weggedrückt hatte. Kein Wunder, dass ich immer solche Kopfschmerzen hatte! Aber was war das? Etwa ein Hirntumor? Das wäre ja furchtbar, denn der ließ sich doch kaum mehr entfernen, weil der viel zu groß war. Da müsste man mir ja einen Großteil von meinem Kopfinhalt entfernen. Mir überkam eine tiefe Traurigkeit, denn plötzlich war mir klar, dass ich nicht mehr lange zu leben hatte. Vielleicht noch ein halbes Jahr. Oh nein! Es geht schon vor der Zeit mit mir zu Ende! Schade, dass es das jetzt schon war, dachte ich. Aber das Leben wäre so oder so irgendwann vorbei gewesen. Jetzt habe ich nun einmal Pech gehabt, dass es mich jetzt schon erwischt hat. Aber ich muss jetzt tapfer sein.
Ich fuhr nach Haus und dachte an Ruth und Rebekka. Wie würden sie damit umgehen, wenn sie das erfahren? Ich spürte Traurigkeit und Angst zugleich. Schon bald bin ich nicht mehr da, und sie müssen ohne mich klarkommen. Plötzlich überfiel mich ein Gedanke: Jetzt werden sie mich bedrängen, noch schnell zuvor an Jesus zu glauben; und ich müsste dann so tun, als hätte ich mich noch gerade rechtzeitig bekehrt. Es muss also die letzten Tage meines Lebens heucheln, weil ich es ihnen nicht antun kann, mit der Vorstellung weiterzuleben, dass ich jetzt in der Hölle wäre. So ein Stress! Und was mache ich, wenn sie merken, dass ihr nur zum Schein wieder Christ geworden bin? Noch nicht einmal sterben darf ich in Frieden! Aber was tut man nicht alles aus Liebe zu den Seinen…
Ich kam nach Hause und zeigte Ruth die CT-Bilder. Sie verglich diese mit Hirntumorbildern im Internet und stellte eine gewisse Ähnlichkeit fest. Ruth war allerdings ziemlich gefasst und wirkte fast schon apathisch. Dann kam Rebekka von der Schule nach Hause und ich fragte sie, ob sie Lust hätte, mit mir nach Aldi zu fahren. Im Auto erzählte ich dann der Rebekka, dass ich nicht mehr lange zu leben hätte. Sie fing sofort an zu weinen, und wir umarmten uns. Dann gingen in den Aldi-Markt, und tief in Gedanken ging ich – wie mechanisch – zum Brotregal, um aus alter Gewohnheit ein Vollkornbrot herauszunehmen zum Broteschmieren für die Arbeit. Doch dann dachte ich: Wozu soll ich mich jetzt noch gesund ernähren? Ich kann doch jetzt essen, was ich will! Wie wäre es mit einem kalorienreichen Berliner oder einem besonders fettreichen Blätterteig – ist doch sowieso egal! Schon merkwürdig, welche Gedanken man angesichts des nahen Todes hat. Schade, dachte ich, dass ich jetzt doch nicht mehr meine Biographie geschrieben habe…
Am nächsten Tag gingen wir zu unserem iranischen Hausarzt Dr. Ferdowsy, um über die Diagnose zu sprechen. Er kam rein, las den Bericht seines Kollegen und sagte: „Sie haben eine Raumforderung im Kopf, und zwar eine sog. Arachnoidalzyste. Das ist aber nicht weiter schlimm, solange diese sich nicht vergrößert. Damit können Sie alt werden.“ – „Was ist eine Zyste?“ fragte ich. – „Das ist so etwas wie ein Wasserbeutel, völlig harmlos.“ – „Und wiese konnte die entstehen?“ – „Ach, die haben Sie wahrscheinlich schon von Geburt an. Das ist so eine Laune der Natur und nur deshalb niemandem bisher aufgefallen, weil man nie ein Bild von ihrem Kopf gemacht hat.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich sollte also doch noch weiterleben! Falscher Alarm! Doch nur zwei Monate später im Februar 2014 stellte man bei mir tatsächlich einen Tumor fest, doch dazu später mehr.
Ich schrieb Ende 2013 in mein Tagebuch: „Ich träume jetzt schon nicht mehr von der großen Veränderung. Ich bin ängstlicher geworden, will nichts mehr dazu gewinnen, weder Geld noch Wissen, sondern nur noch meinen Besitz bewahren… Vielleicht ist in mir eine Legion von Dämonen, die mich daran hindert, wieder glauben zu können. Deshalb mag ich vielleicht die Atmosphäre von düsteren Orten und Grabstätten. Die Dämonen ließen den Gadarener häufig schreien…
Vielleicht ist es ja sogar der Teufel, der im Heilsplan Gottes das noch größere Opfer gegeben hat, indem er freiwillig die Rolle des Bösen übernommen hat, die kein anderer der Engel spielen wollte. Einer aber musste es ja machen. Er wusste doch, dass er keinerlei Chance hätte, wenn er gegen Gott rebellieren würde. Aber er akzeptiere es, seinem Bruder Jesus den Vortritt zu lassen, damit dieser einmal von allen verehrt werde, während er (der Teufel) von allen verabscheut und gemieden werden würde. Er ist wie der verbannte Kain oder der verfluchte Esau, die sich ebenfalls aus Liebe zu ihrem Bruder zurückgenommen haben, indem sie bereit waren, die Rolle des Bösewichts zu übernehmen. Es könnte auch theoretisch sein, dass der Teufel diese Rolle nicht freiwillig übernahm, sondern erst von Gott dazu überredet werden musste. Vielleicht sprach Gott zu ihm: ‚Du bist der ältere von euch beiden, deshalb sei tapfer und übernimm für ein paar tausend Jahre diese Rolle. Gönne es deinem Bruder Jesus, dass er verehrt wird, während du von mir verworfen wirst.‘“
„Ja wirklich, die Herzen der Menschenkinder sind voller Bosheit, und Tollheit ist in ihrem Herzen ihr Leben lang, und danach geht’s zu den Toten.“ (Pred.9:3)