Januar bis März 2014
Von der Winterwanderschaft ermüdet
Im Winter 2014 stieß ich auf ein Gedicht von Friedrich Nietzsche (1844-1900), der – wie ich – in seiner Jugend mal gläubig war, aber dann seinen Glauben an Gott verlor:
„Die Krähen schrei’n und ziehen schwirren Flug’s zur Stadt, bald wird es schnei’n, wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.
Nun stehst du starr, schaust rückwärts, ach, wie lange schon! was bist du, Narr, vor Winters in die Welt entfloh’n?
Die Welt – ein Tor zu 1000 Wüsten, stumm und kalt.
Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich, zur Winterwanderschaft verflucht, dem Rauche gleich, der stets nach kälter’n Himmeln sucht.
Flieg, Vogel! schnarr dein Lied im Wüstenvogelton!
Versteck, du Narr, dein blutend‘ Herz in Eis und Hohn.
Die Krähen schrei’n und ziehen schwirren Flug’s zur Stadt, bald wird es schnei’n – Weh‘ dem, der keine Heimat hat!„
Dieses Gedicht beschrieb sehr gut meine Situation: Auch ich war ein Narr gewesen, dass ich damals die warme Stadt des Christentums verlassen hatte und mich lieber von der winterkalten Klarheit des Verstandes leiten lassen wollte. Ich hatte Gott, die Quelle lebendigen Wassers, verlassen und mich auf eine endlos lange Wanderschaft begeben in eine seelenlose und gottverlassene Winterwelt. Die „weite Pforte“ erwies sich als ein „Tor zu 1000 Wüsten, stumm und kalt“. Aber da ich keinen Glauben mehr hatte, gab es für mich kein Zurück mehr. Ich fühlte mich orientierungslos und gottverlassen, so wie Nietzsche es in einem anderen Gedicht, „Der tolle Mensch“, an einer Stelle beschrieb:
„Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?
Rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“
Meine Freunde aus dem Religionskritik-Forum hatten kein Verständnis für meine Wehmut. Sie waren froh, dass sie nie von diesem „Virus eines irrationalen Glaubens infiziert“ wurden und fühlten sich den „Religioten“ haushoch überlegen. Sie waren sich absolut sicher, dass es außer den physikalisch nachweisbaren Phänomenen nichts weiter gab und hielten sogar die Liebe bloß für einen evolutionären Überlebenstrieb. Auch wenn noch nicht alles naturwissenschaftlich erforscht sei, so hielten sie doch alles prinzipiell für materialistisch erklärbar. Und solange Gott für sie nicht nachweisbar war, konnte es ihn auch nicht geben.
Aufgrund meiner Vergangenheit hatte ich bei mir eine gewisse „Fundamentalismus-Allergie“ festgestellt, so dass ich auf vermeintliche Sicherheiten immer ein wenig rebellisch reagierte. Isaak Newton hat ja mal gesagt: „Was wir wissen, ist ein Tropfen, und was wir nicht wissen, ist ein Ozean„. Ich sah Fundamentalismen nicht nur in den Religionen, sondern genauso auch bei jenen, die sich zwar bescheiden als „Agnostiker“ bezeichneten, aber in Wirklichkeit viel mehr zu erkennen glaubten, als sie bereit waren, zu bekennen. In seinem Höhlengleichnis hatte Platon aus meiner Sicht zu Recht angenommen, dass die von uns erfahrbare Welt nur ein Bruchteil dessen sein kann, was es in Wirklichkeit gibt, so wie er es mit Menschen verglich, die angekettet in einer Höhle leben und nur eine blasse Ahnung haben, dass es außerhalb dieser Höhle noch eine andere Welt geben muss.
Ich schrieb den Teilnehmern im Religionskritik-Forum: „Wissen ist Illusion und Wahn. Es gibt schließlich andere Welten, die in unseren Köpfen entstehen, aber die genauso wirklich sind wie die äußere Wirklichkeit, aber viel, viel schöner und lebendiger als diese. Wenn es also einen Gott gibt, dann erwartet Er von mir, dass ich mich auf diese Fantasiewelten in meinem Kopf einlasse, damit Er mich von Seiner Weisheit belehren kann. In diesen Welten gibt es keine Grenzen, weil es auch keine Ängste mehr gibt. Dort ist nur Licht und Wärme, denn Gott durchflutet alles. Ich habe gelernt, dass die Liebe Gottes und das Wissen, von Ihm getragen zu sein, selbst in den schwierigsten Momenten Halt und Kraft gibt. Ihr schaut verächtlich auf die Christen und haltet den Glauben für einen Wahn. Ich hingegen empfinde Mitleid mit Euch, weil ihr keine Ahnung habt, wie sich das anfühlt, – die Liebe Gottes…“.
Eines Abends sah ich dann eine Sendung zum Thema „Wissen und Glauben“ mit Eugen Drewermann. Ich hatte von ihm schon mal gehört und wusste, dass er ein ehemaliger katholischer Priester war, der 1991 exkommuniziert wurde, weil er die katholischen Dogmen ablehnte. In dieser Runde wurde Drewermann gefragt, wie er seinen Glauben an Gott heute beschreiben würde. Und dann gab er eine Antwort, die so perfekt formuliert war, als hätte er sie von einem Blatt abgelesen oder sie zuvor auswendig gelernt, und die mich so sehr beeindruckte, dass ich sie mir aufschrieb:
„Ich glaube, dass Gott gegenwärtig ist in den Tränen, die eine Frau zum ersten Mal weint nach einer zerbrochenen Ehe.
Ich glaube, dass Gott gegenwärtig ist in dem Mut, den ein Kind besitzt, sich zu wehren gegen die Tyrannei seiner Eltern.
Ich glaube, dass Gott gegenwärtig ist in der Schönheit einer Koralle oder einer Muschel am Strand oder in der Bemusterung einer Antilope in der Serengeti.
Ich glaube, dass Gott gegenwärtig ist in der Größe der Spiralnebel und der Winzigkeit der Atome.
Ich glaube vor allem, dass er gegenwärtig ist in jeder Regung der Liebe, die wagt, sich zu leben, mitunter sogar gegen den Einspruch heiliger Gesetze.
Ich glaube, dass Gott da ist, wo Menschen den Mut gewinnen, lieber eine Ordnung zu zerbrechen als das Herz von Menschen. Ich glaube, dass Gott allmächtig ist in dem Sinne, dass Gott ständig neu schafft, dass Er Altes aufgibt, dass sich überlebt und dass Er sich ergießt wie Wein in alte Schläuche.
Ich glaube, dass Gott hörbar wird im Schweigen, gegenwärtig wird im Mitleid und stark sein kann im Widerstand. Und ich denke, dass wer sagt, er glaubt an Gott, gleichzeitig sagt, es gibt eine andere Welt der Logik, die sagt, dass 2 x 2 gleich 4 ist. Es gibt eine andere Realität als die, die wir sehen können. Es ist besser, als Traumwandler des Nachts auf Dächern zu gehen und nach einem fernen Stern zugreifen, lieber, als mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und ewig sicher zu sein. Es ist möglich, nach den Illusionen und Träumen, die im unseren Herzen verborgen liegen, nach der Weise der Künstler der Realität zu zusprechen, als der dauernden Dreinrede: die Wirklichkeit aber ist blutig, grausam und roh. Es gibt etwas zu hoffen jenseits der Menschen. Es gibt etwas zu glauben jenseits der menschlichen Geschichte. Es gibt Wahrheiten, die lebendig machen und in Dienst nehmen und Verantwortung schenken, außerhalb dessen, was pragmatisch vernünftig ist. Es ist möglich, Menschen so zu lieben, dass sich ihre eigene Person darunter formt; und sie werden entdecken, dass das, was sie trägt, selber eine Person sein wird jenseits aller menschlichen Vermittlung. Daran glaube ich, denen zu Liebe, die ich liebe.“
Dieses Glaubensbekenntnis berührte mich sehr und auch die Art, wie er es vortrug mit seiner ruhigen und sanften, aber auch etwas traurigen Stimme. Ich wollte mehr von Drewermanns Ansichten wissen und kaufte mir innerhalb von drei Wochen an die sechs Bücher von ihm. Meist ging es in diesen darum, dass er biblische Geschichten, aber auch Grimms Märchen, „tiefenpsychologisch auslegte“, wie er sagte. Auf der Rezension eines seiner Bücher hieß es: „Drewermann hat wie kaum ein anderer es verstanden, dieses tragische Missverständnis aufzudecken, dass zwischen Theisten und Atheisten besteht, nämlich die Missdeutung der Mythen und Märchen als bloße Irrtümer, anstatt ihre innere Wahrheit zu begreifen“. Schon bald wurde mir klar, dass Drewermann nicht an die „Historizität“ der biblischen Geschichten glaubte. Aber das schien ihn nicht zu stören, da er die Weisheit Gottes schon allein durch die Dichtung dieser Geschichten am Wirken sah. Ich war wie gefesselt von dieser neuen Perspektive und dachte, dass ich nun endlich einen Ausweg gefunden hätte, um der Tristesse meines Unglaubens zu entfliehen. Ich ahnte jedoch nicht, dass Gott schon kurz davorstand, sich mir zu offenbaren.
Meine Mutter
Anfang 2014 hatte meine Mutter Renate Poppe (70) von ihrem behandelnden Arzt erfahren, dass sich ihr Krebs inzwischen ausgebreitet und nun die Knochen befallen habe. Dabei merkte sie davon gar nichts, außer dass sie immer so einen salzigen Geschmack im Mund spürte und ständig so einen trockenen Husten hatte. Ein Behandlungserfolg sei wohl relativ gering, aber meine Mutter lehnte ohnehin eine Chemotherapie ab, da sie ihr Vertrauen ganz auf den HErrn setzen wollte. Nicht erst seit ihrer Bekehrung im Oktober 1986, sondern auch schon von ihrer Kindheit an habe sie Gott immer nur als treu sorgenden Vater erlebt, der sie auch jetzt in der Zeit des Abschiednehmens nicht verlassen würde, sagte sie mir. Immer wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, war ich – mehr als ein Sohn – wie ein Freund und Vertrauter, dessen Ratschläge sie sehr schätzte. Als Ruth einmal meiner Mutter am Telefon ihr Leid klagte, dass ich nicht mehr an Gott glauben würde, sagte sie zu ihr: „Mach Dir keine Sorgen, Ruth. Ich bete jeden Tag für Simon, und ich vertraue Gott, dass Er ihn eines Tages wieder zum HErrn führt.“ Aber würde das noch zu ihren Lebzeiten sein? Wir konnten uns aber als Kinder auch gar nicht vorstellen, dass unsere Mutter irgendwann in den nächsten Jahren sterben würde, zumal sie immer noch gut zuwege war. Wir ahnten nicht, dass sie nur noch ein Jahr zu Leben hatte.
Meine Mutter wurde 1943 geboren als einzige Tochter des Klempners Fritz Ahldag und seiner Frau Irmgard in Bremen-Gröpelingen. Ihre Eltern waren während des Krieges arm und wohnten deshalb im Hause der Großeltern. Sie erzählte, dass die Familie im zerbombten Bremen sich meist den ganzen Tag in der warmen Küche im Keller aufhielt, wo alle rauchten und die Wände schwarz vor Ruß waren. Ihre Mutter war sehr streng und bestrafte meine Mutter oft mit Liebesentzug, indem sie zu ihr sagte: „Du bringst mich eines Tages noch mal ins Grab!“ Dabei liebte meine Mutter sie über alles, sogar so sehr, dass sie im Kunstunterricht einmal genau in dem Moment in Ohnmacht fiel, als ihre Mutter gerade zuhause in ein Koma fiel (was sie erst nachträglich erfuhr). Darauf wurde ihre gläubige Oma ihr zum Mutterersatz, die ihr immer wieder von Gott und dem HErrn Jesus erzählte. Sie schrieb ihr damals ins Poesie-Album: „Wenn du denkst: Es geht nicht mehr! Kommt von irgendwo ein Lichtlein her, das leise zu dir spricht: Vergiß mein nicht!“
Für meine Mutter war dies immer Gott gewesen, den sie nicht vergessen sollte. Sie hatte immer die Vorstellung, dass sie in einem finsteren Wald sei, aber ganz weit weg ein kleines Licht erblickte, wo Gott in einer Hütte auf sie warten würde. Ihre Mutter war an Tuberkulose erkrankt und verbrachte viele Monate im Krankenhaus. Die Zuversicht, dass Gott am Ende alles gut machen würde, half ihr dann auch die vielen Male zu ertragen, als sie in der Folgezeit dann von ihrem Vater missbraucht wurde. Er sagte zu ihr: „Renate, jetzt wo deine Mutter nicht da ist, musst du das tun, was sonst deine Mutter getan hätte“. Meine Mutter war in ihrer geistigen Entwicklung stark zurückgeblieben und spielte mit 17 Jahren noch mit Puppen. In der Schule wurde sie wegen ihrer Größe von 1,80 m immer von den Mitschülern gehänselt und sogar von ihrem Lehrer als „lange Ahldag“ bezeichnet. Mit 18 erkrankte dann auch meine Mutter an TBC und war fast ein halbes Jahr im Krankenhaus. Die Liebe der Krankenschwestern muss es gewesen sein, dass meine Mutter sich entschied, auch selbst Krankenschwester zu werden. Als sie sich 1961 um eine Ausbildung zur Krankenschwester bewarb, sagte sie zur Oberin vom Diakonissenkrankenhaus: „Ich weiß, dass Sie mich nehmen werden, denn Gott hat mir das gesagt!“ Darauf sagte diese ihr: „Na, wenn das so ist, dann habe ich ja auch gar keine andere Wahl, wenn Gott das so entschieden hat, sonst würde ich mich ja Gottes Plan widersetzen.“
Nachdem ihre Mutter mit 39 Jahren an TBC verstarb, verliebte sie sich in meinen Vater Georg und heiratete ihn im Sommer 1965. Aus Liebe zu ihr hatte er seinen Beruf als Maschinenschlosser aufgegeben und nochmal eine neue Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen, um meiner Mutter nahe zu sein. Mein Vater war ein sehr schöner Mann, und meine Mutter war regelrecht vernarrt in ihn. Als sie ihre erste kleine Dachkammerwohnung hatten, kaufte meine Mutter eine Dose mit rotem Lack und bemalte das ganze Treppenhaus mit Herzen und Kussmündern. Dazu schrieb sie mit großen Buchstaben: „1000 Küsse“. Sie wollte meinem Vater damit eine Freude bereiten, aber als er am Nachmittag nach Hause kam, war er entsetzt und schimpfte mit meiner Mutter: „RENATE, WAS HAST DU GEMACHT! Das müssen wir alles wieder weiß übermalen, denn sonst bekommen wir Ärger vom Vermieter!“ Meine Mutter weinte bitterlich, weil mein Vater sich gar nicht über diesen Liebesausdruck gefreut hatte.
Doch meine Mutter hatte das Trauma aus ihrer Jugendzeit nicht verwunden und wandte sich deshalb an einen Psychologen. Günther Rudolph empfahl ihr die Teilnahme an einer so genannten „Selbsterfahrungsgruppe“, wo auch andere traumatisierte Erwachsene einmal wöchentlich bei psychedelischer Musik und Tanz das Berühren fremder Menschen erlernen konnten. Zu dieser Selbsthilfegruppe ging meine Mutter in den 70er Jahren und freundete sich mit den Teilnehmern auch privat an. Doch irgendwann spürte sie, dass diese Gruppe ihr nicht half auf der Suche nach Gott, sondern sie vielmehr weiter von Ihm entfernte. Sie fing daher an, regelmäßig mit uns in die Kirche zu gehen und sich für ein Kinderheim in Italien zu engagieren. Anfang der 80er Jahre entdeckte sie ihr Talent, Menschen durch ihre herzliche Begeisterungsfähigkeit zu gewinnen. So ging sie z.B. zum Spendensammeln einfach so in eine Bank und wollte mit dem Direktor persönlich sprechen. Dem erzählte sie dann herzergreifend von der Situation der armen Kinder in Casa Materna, einem methodistischen Waisenhaus in Neapel, und bekam dann mal eben eine Spende von 1.000, – DM. Oder sie ging nach Karstadt, um mit dem Geschäftsführer zu sprechen und erhielt kurz danach einen Warengutschein über 5.000, – DM. Um die Spende nach Neapel zu bringen, erbat sie kurzerhand die Hilfe der Brauerei Beck’s, die ihr einen Lkw samt Fahrer zur Verfügung stellte, um die Waren dorthin zu bringen. Oder sie organisierte ein Musik- und Theaterfestival, dessen Erlös für das Kinderheim war. Auch machte sie einen Spendenaufruf über Radio Bremen, so dass die Leute wochenlang Kartons mit gebrauchter Kinderkleidung brachten. Sie hatte auch keinerlei Berührungsängste, auf den Manager von Werder Willi Lemke zuzugehen, mit dem sie schnell per Du war, um von ihm einen zu versteigernden Fußball mit den Unterschriften aller Werderspieler zu bekommen. Ja, meine Mutter hatte so viel Liebe und Heiterkeit, dass sie problemlos die Herzen von Menschen gewinnen konnte.
Als die Ev. Kirche in Bremen-Hemelingen 1982 eine neue Pastorin bekam, Eva Behrens, wurde sie eine der besten Freundinnen meiner Mutter. Doch irgendwann merkte sie, dass die neue Pastorin gar nicht so gläubig war, wie meine Mutter dachte: So verweigerte sie z.B. mal ein Abschlussgebet am Ende einer Frauenrunde, um das meine Mutter sie bat und schimpfte sogar später mit ihr: „Renate, wie konntest Du mich nur so bloß stellen vor allen Frauen!“ – „Aber Eva, ich bat Dich doch lediglich um ein Gebet; immerhin betest Du doch sonst auch immer im Gottesdienst…“ – „Ja, aber da lese ich das Gebet von einem Zettel ab. Aber am Frauenabend war ich völlig unvorbereitet.“ Doch richtig irritiert war meine Mutter dann, als sie eines Tages von Eva Behrens und dem Pastor Triebel ausgelacht wurde, weil sie die Jungfrauengeburt und die Wundertaten des HErrn Jesus für echt hielt. Sie sagte: „Aber Eva, wenn Du nie an die Jungfrauengeburt geglaubt hast, warum sagst Du dann jeden Sonntag im Glaubensbekenntnis: …geboren von der Jungfrau Maria?“ An jenem Tage endete ihre Freundschaft.
Verletzt und orientierungslos versuchte meine Mutter nun ihr Glück in der Katholischen Kirche. Sie besuchte damals regelmäßig ein Kloster in Süddeutschland, wo eine Ordensschwester war, die meiner Mutter etwas Orientierung gab. Damals im September 1984 kam ich zum Glauben an den HErrn Jesus und ging regelmäßig in eine Missionsgemeinde, von der meine Mutter erfuhr, dass sie eine Sekte sei. Sie machte sich Sorgen um mich, dass ich vielleicht verführt worden wäre, weil sie diesen Glauben nicht verstand. An einem Wochenende fuhr meine Mutter dann mit einer Freundin zu einem Seminar in einer katholischen Einrichtung in Damme, wo ein jüdischer Religionspädagoge einen Kurs anbot der sich „Hinwendung zu Zen“ nannte. Die Teilnehmer sollten sich auf den Boden legen und den Anweisungen dieses Seelen(ver)führers lauschen: „Ich atme in die Erde ein… ich atme in die Erde aus…“ Meine Mutter protestierte dagegen und rief laut: „Was hat das noch mit der christlichen Botschaft zu tun?!“ – Die anderen versuchten, auf sie einzuwirken: „Renate, Du musst Dich einfach mal mehr öffnen und Dich auf das Neue einlassen.“ Aber meine Mutter weigerte sich und brach das Seminar vorzeitig ab.
Im März 1985 lernte ich Daniel Werner kennen beim Besuch einer Hausgemeinde in Bremen-Blumenthal, wo ich fortan regelmäßig hinging. Auch meine Mutter wollte diese seltsamen Christen kennenlernen und brachte bei ihrem ersten Besuch einen Blumenstrauß mit. Schwester Hedi lächelte meine Mutter an und sagte: „Ach, liebe Renate, das kann ich aber gar nicht annehmen.“ Meine Mutter strahlte übers ganze Gesicht: „Das ist schon in Ordnung, liebe Hedi, denn ich möchte dadurch meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen!“ Doch Hedi erwiderte ihr noch immer lächelnd: „Nein, Renate, das KANN ich nicht von dir annehmen, weil Du noch nicht dem HErrn Jesus gehörst.“ Meine Mutter war entsetzt. Was für ein Affront! Erwartete Hedi etwa allen Ernstes, dass meine Mutter ihren Blumenstrauß wieder nach Hause mitnehmen sollte? Für sie war in diesem Moment klar: Hier gehe ich nie wieder hin! Die sind ja hier alle verrückt geworden!
An einem Wochenende, als ich mal wieder in Blumenthal übernachtete, klingelte um 23:30 Uhr das Telefon zuhause bei meinen Eltern. Es meldete sich ein Polizist, der meiner Mutter mitteilte: „Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Poppe, aber wir haben heute Abend Ihren Sohn Simon verhaftet, da er zusammen mit einer Gruppe religiöser Fanatiker auf dem Bremer Marktplatz ein Tier geopfert und verbrannt hat. Ihm droht jetzt eine Strafanzeige wegen Tierquälerei und Landfriedensbruch. Er ist hier bei uns auf der Wache am Doventorsteinweg, und sie können ihn hier abholen. Wir haben allerdings den Eindruck, dass er etwas unter Drogeneinfluss steht, weil er undeutliches und wirres Zeug daherredet.“ Meine Mutter war ganz aufgeregt und ließ sich die Adresse geben. Doch als das Telefonat beendet war, kam meine Schwester Diana die Treppe runter und beruhigte sie: „Mama, da hat sich doch jemand einen Scherz erlaubt! Glaubst Du allen Ernstes, dass Simon auf dem Marktplatz ein Tier opfern würde?! Und auch das mit dem Drogeneinfluss ist doch völliger Quatsch, denn Simon würde nie Drogen nehmen. Da wollte sich irgendeiner über Dich lustig machen, der uns kennt. Weiter nichts.“ Meine Mutter ließ sich überzeugen, rief aber am nächsten Morgen vorsichtshalber bei Böhnkes an, um mich zu fragen, wo ich die letzte Nacht verbracht hätte. Erst danach hatte sie volle Gewissheit, dass das ein Telefonstreich war.
Als 1986 auch noch mein Vater regelmäßig mit mir nach Blumenthal fuhr und mit mir zuhause auf den Knien betete, bevor wir die Predigtkassetten von Daniel Werner zusammen hörten, da hatte meine Mutter endgültig zu viel und warf uns beide vor die Tür. Mein Vater wohnte fortan in einer Parzelle auf dem Land, und ich zog kurz nach meinem 18 Geburtstag bei Edgard und Hedi ein, die mich wie ihren Sohn aufnahmen (Mark.9:37). Nach einem Monat rief mich meine Mutter an und warf mir vor, dass ich sie bisher nicht ein einziges Mal angerufen habe. Ich erklärte ihr, dass ich keine Gemeinschaft mehr mit ihr haben dürfe, da sie nicht wirklich gläubig sei. Darauf brach sie in Tränen aus und sagte schluchzend zu mir: „Wie kannst Du mir nur so etwas sagen?! Schließlich bin ich Deine Mutter!“ Ich sagte: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder und meine Schwester? Die den Willen Gottes tun! Aber Du suchst Gott nicht wirklich, sondern nur religiöse Befriedigung. Deshalb müssen sich jetzt unsere Wege trennen.“ Heute wundere ich mich selber, wie ich damals so rigide und herzlos sein konnte. Aber überraschenderweise kam meine Mutter schon kurz darauf zum echten Glauben an den HErrn Jesus und rief mich freudestrahlend an, um mir dies mitzuteilen. Ich war sehr skeptisch und glaubte ihr nicht, ließ mir jedoch nichts anmerken. Doch meine Mutter war tatsächlich gläubig geworden und ging von nun an regelmäßig in den Hauskreis einer evangelikalen Gemeinde, wo sie schnell viele Freunde fand und sich auch sozial dort engagierte. So arbeitete sie von 1986-1989 im christlichen Behindertenheim Bethesda als ehrenamtliche Hauswirtschafterin und danach noch ein Jahr als Krankenschwester im Pflegeheim Elim.
1987 schlug ihr das Gewissen, und sie entschied sich, die einjährige Verbannung meines Vaters aufzuheben und ließ ihn wieder nach Hause kommen. In den ersten zwei Jahren erlebten die beiden dann auch eine Wiederbelebung ihrer Liebe zueinander, und alles schien sich wieder zum Guten zu wenden. Aber dann ging es erneut los, dass meine Mutter sich immer wieder über meinen Vater beklagen musste, weil er aus ihrer Sicht keine Rücksicht auf sie nahm und ihre Kritik einfach ignorierte. 1990 lernte meine Mutter aber dann eine Freikirche kennen namens Bibelgemeinde, eine Art offene Brüdergemeinde. Mit deren Prediger Michael Penning führte sie dann viele Eheberatungsgespräche. Da sich mein Vater jedoch wiederholt nicht an gemeinsam getroffene Vereinbarungen hielt und meine Mutter schon am Rande des Nervenzusammenbruchs war, riet der Prediger ihr zur Trennung von meinem Vater, was sie dann 1995 auch tat. Da die Ältestenschaft jedoch dagegen war, verließ meine Mutter damals zusammen mit ihrer besten Freundin Iris die Gemeinde, und bald darauf ging auch der Prediger.
Im Jahr 1998 schlossen meine Mutter und Iris sich dann einer Freien evangelischen Gemeinde in Bremen an, die damals gegründet wurde. Meine Mutter arbeitete nun wieder in der ambulanten, d.h. häuslichen Altenpflege und sah ihre Aufgabe in der neuen Gemeinde vor allem darin, jungen Brüdern bei sich eine Art Zuflucht zu bieten, wo sie jederzeit mit ihren Problemen (aber auch ihren leerem Mägen) hinfahren konnten, um bei ihr sowohl Geborgenheit als auch ein warmes Mittagessen oder Abendbrot zu erhalten. Da meine Mutter immer sehr herzlich und unkompliziert war, ihr Herz also „auf der Zunge trug“, geschah es von Zeit zu Zeit immer häufiger, dass die jungen Christen zu meiner Mutter sagten: „Renate, ich hab‘ mal eine Frage: Darf ich Dein Sohn sein? Würdest Du mich adoptieren?“ Und so geschah es, dass im Laufe der nächsten 15 Jahre meine Mutter immer mehr Söhne und Enkel in ihr Herz schloss, unter anderem auch den Prediger ihrer Gemeinde. Als dann eines Tages die gegenüberliegende Wohnung bei meiner Mutter frei wurde, zog ihre Freundin Iris dort ein, so dass sie von nun an jeden Tag gemeinsam aßen und gemeinsam Dinge unternahmen. Das war sicherlich ein großes Geschenk von Gott für meine Mutter, aber auch für Iris (Ps.68:5 ELB).
April – Juni 2014
Die Reise nach Rumänien
Inzwischen war Rebekka 18 Jahre alt, und sie hatte immer noch keinen Freund, obwohl sie bildhübsch war. Woran lag das nur? fragten wir uns. Ist sie zu wählerisch? Oder hatte sie vielleicht nur Pech? Doch Anfang März bekam Rebekka auf einmal eine Messanger-Nachricht von einem Jungen namens Dennis G. (17), der Rebekka auf einer Theaterveranstaltung ihrer neuen Schule gesehen und sich nach ihrem Namen erkundigt hatte. Zufälligerweise wohnte Dennis in unserer Nachbarschaft, und so verabredeten sich die beiden heimlich eine ganze Woche jeden Tag, um miteinander spazieren zu gehen und Albernheiten auszutauschen. Ganz so unbemerkt blieben ihre Verabredungen indes doch nicht, denn Ruth hatte die beiden von weitem beobachtet und mich schnell zu sich ans Fenster gerufen. Wir sahen diesen schlanken, muskulösen jungen Mann mit Lockenkopf und waren richtig aufgeregt, als er auf einmal unserer Tochter zur Verabschiedung ein Küsschen auf die Wange gab. Wir ahnten zu diesem frühen Zeitpunkt jedoch nicht, dass dieser erste Freund unserer Tochter später auch ihre große Liebe und ihr Ehemann werden würde.
In den Osterferien beschlossen Rebekka und ich, dass wir gemeinsam eine Osteuropareise machen wollten, d.h. mit einem gemieteten Campingbus quer durch Tschechien, Österreich und Ungarn bis nach Rumänien, wo mein Freund Traian wohnte und wo es auch jenes christliche Kinderheim gab, für dessen Verein ich 23 Jahre zuvor einmal tätig war. Rebekka wollte nach der Schule ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland verbringen, und so bot sich die Gelegenheit, dass sie dieses Kinderheim einmal kennenlernen konnte, um zu prüfen, ob das etwas für sie sei. So mieteten wir uns ein Wohnmobil für 10 Tage á 60,-€ zzgl. einer Kaution von 1.000,-€ und fuhren Anfang April von Bremen aus los auf gerader Strecke ins 1.765 km entfernte Făgăraş, am Fuße der rumänischen Karpaten. Die Reise sollte drei Tage dauern, wobei wir auch Übernachtungen und Stadtbesuche unterwegs mit eingeplant hatten. Unsere erste Übernachtung war in der Nähe von Bad Schandau in der sächsischen Schweiz, ganz in der Nähe der tschechischen Grenze. Dann fuhren wir vormittags weiter nach Prag, wo wir in der Innenstadt spazieren gingen und Fotos machten. Am Abend erreichten wir Ungarn, wo wir auf einem Campingplatz übernachteten. Ungewohnt war für uns, dass wir ständig Mautgebühren bezahlen mussten, weshalb wir nach Möglichkeit das Fahren auf den Autobahnen vermieden.
Rebekka hörte die meiste Zeit über Kopfhörer Musik und las dabei in dem Buch „Kleiner Mann, was nun?“ von Hans Fallada, über das sie eine Hausarbeit schreiben musste. Es war daher nicht leicht für mich, mit ihr ins Gespräch zu kommen, zumal wir ja auch ganz unterschiedliche Interessen hatten. Also unterhielten wir uns über ihr Buch, und sie berichtete mir von der Handlung. Ich erzählte ihr dann alles, was ich über die 20er Jahre und der Weimarer Republik wusste, und so vertrieben wir uns die Zeit. Rebekka hatte genauso wie ich eine ausgeprägte Gabe zum assoziativen Denken, d.h. zum Erkennen und Verknüpfen von Ähnlichkeiten und Zusammenhängen, so dass es ihr leicht fiel, Texte zu verstehen und deren Botschaft mit eigenen Worten auf den Punkt zu bringen. Ihr Deutschlehrer schrieb einmal unter eine ihrer Klausuren, dass es ihm „Spaß mache“, ihre Aufsätze zu lesen – was für ein Kompliment! Schon mit 11 Jahren schrieb Rebekka z.T. hochphilosophische Lyrik, dass Ruth und mir die Kinnlade runterfiel. So ließ sie z.B. auf einem ihrer Bilder die Erde zum Mond sagen: „Was weinst du, mein Mond, und träumst von einer Welt, die nie mehr wiederkehren wird?“ Oder sie schrieb damals: „Nur im Himmel sind die Toten endlich frei“. Ich dachte damals: Welches 11-jährige Mädchen befasst sich denn mit dem Tod?! Habe ich sie etwa damals irgendwie beeinflusst?
Am späten Nachmittag des 3. Tages kamen wir endlich in Rumänien an. Zwei Polizisten hatten mich zuvor angehalten wegen zu schnellen Fahrens und von mir gleich ein Bußgeld kassiert. Wir fuhren an Sibiu (Hermannstadt), der Hauptstadt Transsylvaniens (Siebenbürgen), vorbei und kamen gegen 17:00 Uhr an in Făgăraş (ausgesprochen Fögörasch). Traian wohnte in einem kleinen, idyllischen Dorf namens Recea, direkt mit seiner Familie in ärmlichsten Verhältnissen in einem uralten, heruntergekommenen Haus am Dorfesrand am Fuße des Hochgebirges. Das winzige Haus das man ihnen als Zigeunern scheinbar zugewiesen hatte, bestand nur aus zwei Zimmern: rechts hausten seine Eltern und zwei erwachsene Geschwister auf 20 qm in einem karg möblierten Raum mit einem Kamin, zwei Betten, einem Schrank und einem Tisch. Links daneben war das etwa 10 qm-große Zimmer von Traian, das nur mit einem Ehebett, dem Kamin und einem Kleiderschrank ausgestattet war. Sie hatten noch nicht einmal einen Fernseher, um sich in den langen Wintern wenigstens die Zeit zu vertreiben. Sie luden uns zum Essen ein, das aus einer Knödelsuppe mit Brot bestand, aßen aber selbst nicht mit. Dann gab die Mutter der Rebekka ein Zigeunerkleid, dass sie sofort anprobieren sollte. Rebekka lächelte die ganze Zeit, aber versuchte dadurch – wie ich – nur ihre Bestürzung und Verlegenheit zu verbergen. Ich fand es aber pädagogisch sehr wertvoll, dass Rebekka auch einmal richtige Armut sehen sollte.
Da es zum Schlafen viel zu eng war, übernachteten wir im Wohnwagen. Am nächsten Tag wollte Traian mit uns seinen besten Freund besuchen, ein anderer Zigeuner, der durch den Verkauf von Autos und Drogen zu Wohlstand gelangt war. Er hatte einen Garten, der voll war mit Gartenzwergen und anderen Tonfiguren. Sein Wohnzimmer ähnelte eher der Lounge eines Nachtclubs mit riesigen Sofas und einer üppig ausgestatteten Bar. Auch sein Bad protzte nur so von Luxus, aber die goldfarbigen Armaturen der 4-qm großen Badewanne waren eher geschmacklos als geschmackvoll. Sein materialistisch gesinnter Freund hielt es scheinbar für wichtiger, mit seinem Reichtum anzugeben, als seinem Freund Traian mal finanziell unter die Arme zu greifen. Traian erzählte mir, dass die Zigeuner von den Rumänen verachtet werden und ihnen deshalb keine Arbeit gäben. Deshalb bliebe ihnen oftmals gar nichts anderes übrig, als illegal ihr Geld zu verdienen, um nicht zu verhungern. Sein Studium zum Verwaltungsfachangestellten habe ihm im Grunde nichts genützt, da er schon seit 10 Jahren keine Arbeit fände. Jetzt sei aber auch noch sein Vater schwer krank, und er müsse ihn pflegen, habe aber kein Geld für Medikamente. Traian tat mir sehr leid, weshalb ich ihm eine Spende gab und ihm eine Anstellung bei mir versprach
Am Nachmittag sind wir dann mit dem Wohnmobil in die Karpaten hochgefahren bis zu einem Punkt, wo man nur noch zu Fuß weiterkonnte. Es fing stark an, zu schneien. Wir kletterten zwei Stunden lang den Wald hoch, aber es ging immer weiter hinauf und nahm kein Ende. Da wir gar nicht passend gekleidet und unsere Schuhe inzwischen vom Schnee durchnässt waren, beschlossen wir, umzukehren, zumal es auch allmählich dunkel wurde. Als wir auf der Rückfahrt eine Anhöhe hochfahren mussten, drehten die Reifen auf der matschigen Piste durch, so dass wir weder nach vorne noch zurück konnten. Ich ließ die beiden aussteigen, um Gewicht zu verlieren, aber es ging noch immer nicht. Dann legte ich Steine unter die Reifen und bat Traian, der nicht so viel wog, einmal mit Schmackes durchzustarten. Er ließ den Motor aufheulen und schaffte es dann tatsächlich, das Wohnmobil aus dem Matsch zu befreien; allerdings war es nun voll und ganz mit Schlamm befleckt.
Am nächsten Tag wollten wir einkaufen und waren überrascht, dass es in Sibiu überall Aldi, Lidl und Kaufland gab, so als ob wir in Deutschland wären. Was für ein Unterschied zu 1991, als ich das erste Mal in Rumänien war, um dort vier Monate lang beim Aufbau eines Kinderheims in Tălmaciu zu helfen. Damals waren die Läden fast leer; es gab nur ein paar wenige Konserven aus Ostblockpruduktion, und einmal in der Woche hielt ein Lkw im Dorf an, der voll beladen war mit bereits trockenem Brot, das an die arme Bevölkerung für umgerechnet 30 Pfennig verkauft wurde. Vier Monate lang ernährte ich mich nur von Trockenbrot, Knoblauch und Dosenfleisch, das wir Kartonweise aus Deutschland mitgebracht hatten. Nun aber gab es alles in Hülle und Fülle, und die Rumänen verdienten auch endlich wieder ein ausreichendes Einkommen. Dennoch war natürlich alles sehr billig, und wir deckten uns ordentlich ein mit Proviant für die Weiterreise. Wir verabschiedeten uns von Traian und verblieben so, dass er im Sommer bei mir offiziell angestellt werden könne, sobald genug Arbeit war.
Als nächstes fuhren wir nach Tălmaciu, einem kleinen Dorf südlich von Cisnădie, wo einst das Kinderheim war. Inzwischen war aus dem Waisenhaus jedoch ein Altenheim geworden. Ich erkundigte mich nach den damaligen Besitzern Christian und Bela, und man teilte mir mit, dass nur noch Bela hier wohne, aber gerade zu Besuch in Deutschland sei. Das alte Ehepaar, mit dem ich auf Deutsch sprach, war aber sehr freundlich, und sie luden uns zum Mittagessen ein. Es waren strenggläubige Christen, und so gab ich mich aus alter Gewohnheit als einer der Ihrigen aus, um zu vermeiden, dass sie mit mir Bekehrungsgespräche führten. Wir unterhielten uns über die gute alte Zeit, bis Rebekka mir Handzeichen gab, dass sie gerne weiterwollte, da sie sich langweilte. Wir fuhren also weiter nach Petresti, einem kleinen Dorf in der Nähe von Alba Iulia, wo mein damaliger Freund und Glaubensbruder Hans-Udo aus Berlin 1994 ein neues Kinderheim gegründet hatte, nachdem das Projekt in Talmăciu gescheitert war. Inzwischen hatte der Verein im Lauf der Jahre sämtliche Gebäude an der Hauptstraße erworben, so dass man die Kinder getrennt nach Alter und Geschlecht dort bedarfsgerecht betreuen konnte.
Wir klingelten an der Tür und fragten nach dem Heimleiter Matthias Müller, von dem ich gehört hatte, dass er und seine Familie sich völlig für dieses Projekt aufgeopfert hatten, oftmals unter schwierigsten Bedingungen. Ich erklärte kurz, wer ich sei (wir kannten uns bisher nicht), und als ich den Namen Hans-Udo erwähnte, fasste Matthias sogleich Vertrauen. Ich erklärte ihm den Wunsch meiner Tochter, dort für ein paar Monate ehrenamtlich arbeiten zu wollen, aber er hob sofort hervor, dass ein Praktikum grundsätzlich mindestens ein Jahr dauern würde, da die Kinder zu den Betreuern ja auch eine Beziehung aufbauen würden. Da auch in Rumänien gerade die Osterferien waren, bekamen wir die Kinder nicht zu Gesicht, da sie gerade zuhause bei ihren Eltern oder Verwandten waren. Er zeigte uns nach einander die Zimmer und auch die Unterrichtsräume, und wir waren schwer beeindruckt, was für eine Ordnung und Disziplin vorherrschte. Man lud uns zum Abendessen ein mit dem derzeitigen Personal, das aus 5 oder 6 jungen Frauen bestand, die teilweise aber auch Töchter von Matthias waren. Am Abend spielten wir mit ihnen dann noch einige Runden Tischtennis, bevor wir zu Bett gingen.
Die Aussicht, ein ganzes Jahr dort bleiben zu müssen, war für Rebekka dann doch nicht mehr so verlockend, zumal das Dorf relativ weit entfernt von großen Einkaufszentren lag (sie war ja in der Stadt geboren und liebte den Einkaufsbummel). Bevor wir weiterfuhren, schrammte ich beim Rückwärtsfahren mit dem Wohnmobil noch die Dachrinne, die ich im Rückspiegel gar nicht gesehen hatte, mir aber am Ende die Kaution von 1000,-€ kosten sollte. Unser nächstes Ziel war nun Wien, wo ich einen Bekannten besuchen wollte. Wir fuhren quer durch Ungarn, machten einen Zwischenstopp in Budapest, wo ich einen Strafzettel fürs Falschparken erhielt, und übernachteten schließlich mitten im Wald, da wir keinen Campingplatz fanden. Am nächsten Vormittag erreichten wir Wien, wo wir zunächst das prächtige Schlossgelände in der Innenstadt besuchten, wo einst Königin Maria Theresia residierte und Wolfgang Amadeus Mozart seine großen Werke vorführte. Als wir dann schweißgebadet etwa 2 km zurück zu unserem Wagen liefen – ich wollte pünktlich bei meiner Verabredung sein – entzündete sich aus einem völlig nichtigen Anlass ein heftiger Streit zwischen Rebekka und mir, der uns den ganzen restlichen Tag vermasselte (Rebekka hatte ein starkes Deo benutzt, obwohl ich sie bat, dies wegen der Geruchsbelästigung nicht zu verwenden). Am Abend campten wir dann am Neusiedler See, wo wir auch endlich Wasser und Benzin tankten, sowie das Brauchwasser entsorgten.
Am darauffolgenden Sonntag fuhren wir vormittags nach Tschechien. In der Nacht war jedoch meine Brille zerbrochen, so dass ich bei meinen 4 Dioptrien größte Mühe hatte, ohne meine Brille zu fahren. Zu allem Übel hatte ich mich dann im Süden Tschechiens total verfahren, da wir kein GPS und Internet hatten. Die endlos vielen kleinen Ortschaften waren für mich im wahrsten Sinne des Wortes nur „Böhmische Dörfer“, und die Einheimischen konnten wir auch nicht nach dem Weg fragen. Meine Nerven lagen also blank, zumal noch zwei Tage Autofahrt vor uns lagen und ich den Mietwagen pünktlich am Dienstag zurückgeben musste. Rebekka spürte meine Anspannung und nahm auffällig Rücksicht auf mich. Als wir nachmittags in Prag ankamen, gab es dort so viele Baustellen, dass ich mehrfach im Kreis fuhr und nicht wusste, wie ich aus der Stadt hinauskäme. Ich klebte meine gesprungene und in der Mitte gebrochene Brille mit Tesafilm um meinen Kopf herum, um die Straßenschilder besser zu erkennen. Endlich erreichten wir abends einen Campingplatz im Norden der Tschechei, der von einem Deutschen betrieben wurde und an einem idyllischen See lag. Als ich am nächsten Tag in der Früh aufwachte, machte ich ein Foto vom Sonnenaufgang, das heute auf meiner Hahnenschrei-Seite zu sehen ist. Und dann fuhren wir geradewegs nach Bremen zurück, wo wir am Abend ankamen. Mittlerweile lagen schon über 4000 km Fahrt hinter uns. Aber trotz der eingebüßten Kaution hatte sich die Reise für uns gelohnt.
Meine Rückkehr zum Glauben
Bereits Anfang Februar hatte ich einen Termin im Krankenhaus, wo man mich eine Woche lang mal gründlich durchchecken wollte, um herauszufinden, warum ich trotz all der vielen Medikamente noch immer einen viel zu hohen Blutdruck hatte. Nachdem ich einige Belastungstests absolviert hatte, kam der Arzt an mein Bett und erklärte mir, dass er fündig geworden sei: In meiner rechten Nebenniere befände sich ein erbsengroßer, gutartiger Tumor, der die Produktion des Hormons Aldosteron steigern würde, sodass ich ständig zu viel Kochsalz im Blut hätte und in dessen Folge eine erhöhte Wasseransammlung im Gewebe und ein zu hoher Blutdruck. Diese Krankheit nenne sich das Conn-Syndrom und sei durch die Entfernung des Tumors u.U. heilbar. Bis zum OP-Termin sollte ich jedoch noch ein paar starke Medikamente nehmen und sollte vorsichtshalber nicht mehr auf hohen Leitern oder Gerüsten arbeiten.
Nach den Osterferien waren mittlerweile auch alle meine Mitarbeiter wieder da, denn wir hatten voll zu tun. Nachdem mein Stellvertreter Andreas im Jahr zuvor gegangen war, kehrte auch wieder Frieden in die Firma ein, und es lief wieder rund. Fadi und Bartosz hatten zusammen mit den Lehrlingen Tarek, Marco, Tim und Simeon in der Firma überwintert; und jetzt im Frühjahr waren auch Matthias, Luciano, Andrej und Peter wieder zurück, also 6 Gesellen und 4 Lehrlinge. Bartosz, der ja ursprünglich ein Katholik aus Polen war, interessierte sich auf einmal für die Bibel und ließ sich von meinem Zwillingsbruder Marco vieles erklären. Wenn ich mich dann aber mit ihm unterhielt und ihm die Widersprüche darlegte, widersprach er mir nicht, sondern hörte mir stets aufmerksam zu. Tim erzählte mir, dass er und sein Bruder in einem christlichen Elternhaus aufwuchsen und deshalb nie Fernsehen schauten. Allerdings sei die Ehe ihrer russlanddeutschen Eltern vor ein paar Jahren zerbrochen, weil der Vater dem Alkohol verfiel. Dadurch habe die ganze Familie ihren Halt verloren und mit dem Rauchen und Kiffen angefangen. Auch laufe gegen die beiden Brüder ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung, da sie sich mit einer verfeindeten Ausländerbande geprügelt hatten. Simeon hatte große Schwierigkeiten in der Schule, war aber wie sein Bruder ein fleißiger Arbeiter.
An einem Samstag Anfang Mai erhielt ich auf einmal Besuch. Es war ein Christ aus Hanau, der übers Internet von mir gehört hatte und mich einmal kennenlernen wollte. Frithjof (40) hatte wie ich seine Jugend in einer christlichen Sekte verbracht, wo er auch seine Frau kennengelernt hatte. Von Beginn der Ehe an übte jedoch sein Schwiegervater, der einer der Ältesten dieser Pfingstgemeinde war, einen sehr autoritären Einfluss auf das junge Paar aus und mischte sich ständig in die Ehe ein. Doch vor ein paar Monaten kam es dann plötzlich zum großen Krach: seine Frau beschuldigte Frithjof, sich an den eigenen Kindern vergangen zu haben und flüchtete mit diesen nach Österreich. Auf Druck des Vaters ließ sie sich dann scheiden und erstattete Anzeige gegen ihren Mann. Frithjof beteuerte jedoch immer wieder seine Unschuld, aber keiner glaubte ihm. Gegen ihn wurde nun wegen Kindesmissbrauch ermittelt. Er wurde auch aus der Versammlung geworfen, verlor seine Arbeit und schließlich auch allen Halt im Leben. Für ihn war das alles ein einziger Alptraum. Wir unterhielten uns den ganzen Tag auf Spaziergängen über den christlichen Glauben. Ich gab ihm Ratschläge und tröstete ihn, soweit ich es konnte. Als ich ihn spät am Abend zum Zug brachte, sagte Frithjof zu mir: „Es ist seltsam, Simon, dass Du Dich selbst als Agnostiker bezeichnest, denn obwohl ich Dich bisher nicht kannte, spüre ich mit Dir so eine brüderliche Verbundenheit, wie ich sie all die Jahre unter Christen nie hatte. Ich kann eigentlich gar nicht glauben, dass Du kein Christ bist. Du hast auf jeden Fall nach all den Jahren noch immer diesen typisch christlichen Nestgeruch.“
Was meinte Frithjof damit? fragte ich mich. Wie konnte er in mir einen christlichen Bruder sehen wollen, wo ich doch eigentlich ein absoluter Antichrist war? Auch ihm hatte ich ja ausführlich an Hand von Beispielen gezeigt, dass der Glaube absolut irrsinnig sei und auf einem nur allzu leicht durchschaubaren, kindlichen Wunschdenken beruhte. Und hatten nicht auch die Erfahrungen von Frithjof mal wieder bewiesen, dass die Christen doch alle nur eine verlogene Scheinfrömmigkeit an den Tag legten, aber in Wirklichkeit genauso verdorben waren wie alle anderen Menschen? Aber warum wollte Frithjof noch immer an diesem illusorischen Glauben festhalten? Hatte Gott ihn etwa bewahrt, damit er seine Frau und Kinder nicht verlieren würde? Was hat ihm sein Glaube genützt? War es vielleicht diese familiäre Geborgenheit, die er all die Jahre hatte? Ja, das hatte wirklich etwas Anziehendes. Aber durch diese Geborgenheit werden die Menschen irgendwie auch verzärtelt. Dieses strenge Christentum macht Männer wie Frithjof doch auf Dauer zu weinerlichen „Weicheiern“. Aber dass er sich an seinen Kindern vergangen hätte, war wirklich eine bösartige Verleumdung. Das glaubte ich nie und nimmer. Aber warum wehrte er sich nicht mit aller Kraft dagegen? Ich hätte diese ganze Gruppe verklagt und öffentlich an den Pranger gestellt, wenn ich er wäre. Aber Frithjof war so weich und sanft, dass man jede Schandtat gegen ihn verüben konnte, ohne dass er sich wehren konnte.
Und dann kam jener Dienstag, der 07.05.2014, von dem ich nie geahnt hätte, dass Gott mein Leben so vollkommen verändern würde. Eigentlich hätte ich es erwarten können, denn bisher war ja alle 6 Jahre ein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben gewesen: 1978 kam ich zu den christlichen Pfadfindern und hörte zum ersten Mal das Evangelium, 1984 nahm ich den HErrn Jesus in mein Leben auf und wurde ein radikaler Christ, 1990 nabelte ich mich von jenen Christen ab, die mich jahrelang bevormundet hatten und nahm mir eine erste eigene Wohnung, 1996 verlor ich meinen Glauben an das Wort Gottes, 2002 verlor ich meinen Glauben an Gottes Existenz, 2008 wurde ich allmählich zum Antichristen und wollte das Christentum bekämpfen, und jetzt – im Jahr 2014 – griff völlig unvermittelt Gott selbst in mein Leben ein:
Ich war am Vormittag mit Ruth beim Endokrinologen Dr. Ventzke gewesen, der mir ein sehr starkes Medikament verschrieben hatte. Am Nachmittag wollte ich dann Büroarbeit erledigen, aber ich war wie gelähmt. Mein Kreislauf war zusammengebrochen, und ich fühlte mich ziemlich mies und elend. So lag ich da auf meinem Sofa im Büro und dachte nur: „Das kann nicht so weitergehen! Ich habe so viel zu tun, aber kann mich kaum bewegen!“ Aber auch seelisch ging es mir schlecht. Es war so eine Mischung aus Angst und Schuldgefühlen. Ohne dass ich überhaupt nachdenken konnte, rollte ich mich vom Sofa auf die Knie und begann auf einmal zu beten. Ich hatte schon Jahre lang nicht mehr gebetet, aber die Worte kamen auf einmal von ganz allein aus mir heraus. Ich hatte irgendwie die Kontrolle über mich verloren, war in Tränen ausgebrochen und bat Gott flehentlich um Vergebung für all meine Sünden und meine Untreue all die Jahre. Mein verfinsterter Verstand war dabei völlig ausgeschaltet, so dass ich nicht in der Lage war, mich zu fragen: Was machst Du da eigentlich gerade? Stattdessen bettelte ich Gott um Gnade und Kraft an, dass Er mir doch all meine Schuld vergeben möge und sich noch einmal meiner erbarme. Ich weinte unaufhörlich und lag da wie benommen.
Auf einmal hörte ich eine Stimme. Es war keine akustische, sondern eine innere Stimme, die zu mir redete. Ich erschrak und war wie gelähmt. Es war wie ein Wach-Traum. Mein Körper war völlig regungslos, nur mein Geist lauschte wie gespannt auf die Stimme. Es waren liebevolle Worte, aber ich wusste schon bald darauf nicht mehr, was die Stimme zu mir sagte – wie, wenn einer morgens aufwacht und einen Traum hatte, aber sich nicht mehr daran erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass ich mich innerlich fragte, ob das gerade meine eigene Stimme war oder ob es Gott sei, der zu mir redete. Doch je mehr ich über diese Frage grübelte, desto sicherer wurde ich mir, dass es Gott gewesen sein musste. Denn die Stimme sagte mir ja Dinge, die mir nie selbst eingefallen wären. Das musste Gott sein! sagte ich mir. Noch immer kniete ich regungslos wie angewurzelt und zitterte innerlich, obwohl es auch ein wohliges Gefühl war. Gott redete immer noch zu mir. Nicht zu fassen! GOTT REDET ZU MIR! Sogar mein Herzschlag schien mir fast zum Erliegen gekommen. Ich gab keinen Mucks von mir, sondern lauschte nur ganz still. Ich konnte mich vor Ihm ja ohnehin nirgends verstecken. Aber Er hatte nun einen Zugang zu mir gefunden, als wenn ich in einer Höhle verschüttet war, in tiefster Finsternis und ganz leise die Stimme vom Bergungsteam vernommen habe. Ich wollte am Liebsten sagen: „Hier bin ich!“, aber Er hatte mich ja ohnehin schon geortet. Und jetzt brauchte ich nur noch auf meinen Retter warten. Gott war in meine geistliche Finsternis eingedrungen, um mich dort herauszuholen.
Dann sprang ich auf und gewann meinen Verstand wieder. Was war da gerade eben passiert? Wenn das Gott war, der eben gerade zu mir geredet hat, dann konnte ich ja jetzt nicht mehr Gott leugnen. Aber was war mit meinem Unglauben? Ich versuchte, mich an all die Argumente zu erinnern, die doch gegen den Glauben sprechen… aber da war nichts mehr. Dieser Bereich in meinem Kopf war auf einmal völlig leer, so als wenn einer die Festplatte in meinem Kopf gelöscht hatte. Ich konnte nicht mehr ungläubig sein! Gott hatte ja zu mir geredet! In diesem Moment ging die Tür auf und Ruth kam herein. Sie hatte bemerkt, dass ich geweint hatte, denn meine Augen waren noch tränenverquollen. Ich sagte schluchzend: „Ruthi, ich glaube, Gott hat gerade zu mir geredet.“ Sie umarmte mich, während ich noch immer wie benommen war. Plötzlich klingelte das Telefon. Zum Glück war’s nur meine Mutter. Ich legte mich mit dem Hörer aufs Sofa und plauderte wie gewohnt mit ihr, ohne mir anmerken zu lassen, was gerade geschehen war. Doch während sie mir etwas erzählte, schaute ich aus dem Fenster und dachte: Kann ich jetzt noch behaupten, dass es Gott gar nicht gibt, wenn Er sich mir doch jetzt gerade eben gezeigt hat? Und wenn ich mir das alles nur eingeredet habe? Ich muss es wieder tun, um mir ganz sicher zu sein. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, beendete ich das Telefonat und betete wieder. Und schon wieder war da diese Stimme, und sprach mir sanft und liebevoll zu.
Von nun an betete ich jeden Tag, und es machte mir regelrecht Freude, dass ich jedes Mal mit Gott im Dialog sein durfte. Sobald ich still wurde im Gebet, begann die Stimme zu mir zu sagen: „Ich bin da“. Das war der Name Gottes (JaHWeH). Es machte mich sehr glücklich, dass Gott mich gefunden hatte. Nach so vielen Jahren, die ich weit entfernt von Ihm war, durfte ich Ihm nun nicht nur nah sein, sondern Er sprach sogar zu mir. Oder war es der HErr Jesus? Oder war es der Geist Gottes? Spielte das überhaupt eine Rolle? Ich versuchte, mir im Klaren zu werden, was das jetzt bedeutete. Mein Leben als Atheist war nun schlagartig und unerwartet beendet; aber wie würde es jetzt weitergehen? Dass ich jetzt wieder an Gott glauben würde, bedeutet doch noch lange nicht, dass ich wieder Christ geworden sei. Oder doch? Wie könnte ich auf einmal an die Bibel glauben mit all ihren Widersprüchen? In diesem Taumel von Gedanken gab es nur eine Sache, die mir Halt gab, und das war das Gebet. Jedes Mal, wenn ich wieder auf die Knie ging, war es so, als würde ich im Geist auf den Stufen zum Haus Gottes im Himmel stehen. Das Haus war wie ein riesiger Tempel, der von innen hell erleuchtet und der von Engelwächtern umgeben war. Ich sah den Tempel, aber war unfähig, die Stufen hinaufzugehen, weil ich zu unwürdig war. Jedes Mal weinte ich dann und bat Gott, dass Er mich doch hinauflassen möge. Ich würde mich auch nur mit der Schwelle begnügen (Ps.84:10), oder vielleicht einer winzigen Kammer.
Erste Gehversuche
So richtig fassen konnte Ruth ihr Glück noch nicht, dass ich wieder zu Gott umgekehrt war. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass dies auch für Ruth und unsere Ehe eine ganz wunderbare Wende bedeuten würde, dass ich jetzt aus den Toten erwacht war. Endlich hatten Ruth und ich wieder etwas Gemeinsames, und nicht nur irgendwas, sondern das Wichtigste überhaupt. Das Trennende zwischen uns war auf einmal verschwunden, und wir konnten uns endlich wieder völlig ungehindert und uneingeschränkt lieben. Ab jetzt konnte es nur noch besser werden. Aber ich fühlte mich geistlich noch ganz wackelig auf den Beinen, denn außer Beten konnte ich noch gar nichts anderes in diesem neuen geistlichen Leben. Und selbst das Gebet fiel mir noch schwer, und ich zitterte innerlich jedes Mal, wenn ich mir der Gegenwart Gottes bewusst wurde. Hatte der HErr mir wirklich schon alles vergeben? Wie konnte Er mich lieben? Wie konnte mich überhaupt noch irgendjemand lieben. Am liebsten hätte ich mich tief unter der Erde vergraben, wo es keinen Spiegel gab für mein Gesicht.
Aber Gott war es ja, der mich aus der Finsternis herausgezogen hatte; ich habe mir das ja gar nicht ausgesucht. Also hatte Er auch jetzt etwas mit mir vor, vielleicht sogar irgendeinen Plan. Wenn Er mich nicht lieben würde, warum hat Er sich mir dann geoffenbart? Er muss es gut mit mir meinen. Seine Liebe ist noch größer als meine Schuld. Aber noch immer drückte meine Gewissenslast schwer auf mir, und ich musste jedes Mal Schnotten und Tränen heulen, wenn ich betete. Ich dachte: Selbst wenn Er mir noch nicht vergeben hat, so will ich von nun an Ihn immer wieder darum bitten. Ich sehnte mich danach, Sein Erbarmen zu finden. Doch das Gefühl, Vergebung erlangt zu haben, stellte sich noch lange nicht ein. Wie konnte ich nach so vielen Jahren auch erwarten, dass alles wieder so sein würde wie früher! Nach all dem Spott, der Häme und den Lästerungen, die ich über Ihn und die Christen verbreitet hatte! Jetzt wollte ich auf ewig nur noch ganz still sein und alles befolgen, was Er von mir will. Mir kam jenes Lieblingslied meiner Mutter in den Sinn: „So nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig‘ Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt; wo Du wirst steht und gehen, da nimm mich mit…“ Ja, Gott sollte mich nun an die Hand nehmen und mich führen, wo auch immer Er wollte!
Unter den zahlreichen Büchern in meinem Zimmer hatte ich noch immer meine alte Elberfelder Bibel, die mir meine Mutter 1984 zu meinem 16.Geburtstag geschenkt hatte (ich hatte sie mir damals gewünscht). Sie war inzwischen schon so zerlesen, dass ich mir 1986 eine neue kaufen musste. Doch Edgard hatte mir immer gesagt, dass man Bibeln nie wegwerfen dürfe, selbst wenn sie noch so zerfleddert sind, denn sie sind ja das Wort Gottes. Nun war ich froh, dass ich sie noch hatte und begann, darin zu lesen. Obwohl ich sie schon so viele Jahre nicht gelesen hatte, kamen mir die Sätze noch alle bekannt vor. Trotzdem konnte ich (noch) nichts damit anfangen. Es lag noch immer eine Decke auf meinem Herzen, und ich erinnerte mich wieder an jene Frage, die mir der Hans-Udo damals stellte. „Wer ist Jesus für Dich?“ Keine Ahnung. Musste ich denn überhaupt an das Evangelium glauben? Mir genügte eigentlich doch schon der wiedergewonnene Glaube an Gott. Mir ging es in dieser Zeit wohl noch wie jenem Blinden, der vom HErrn schon berührt wurde, aber der noch immer keinen klaren Durchblick hatte: „Ich sehe Menschen, wie sie umhergehen, aber sie sehen aus wie Bäume“ (Mark.8:24).
Ich erzählte nun meiner Mutter und meinen Brüdern, dass ich jetzt wieder an Gott glaube. Patrick kam mich spontan besuchen übers Wochenende und freute sich sehr, dass ich mich bekehrt hatte. Als wir dann spazieren gingen, hielt ein Lehrer aus der Bekenntnisschule neben mir an, um mich zu begrüßen. Ich hatte mich schon oft mit Thorsten Busse über den Glauben unterhalten, aber nun war es Zeit, dass er die Wahrheit erfahren sollte: „Thorsten, ich habe Dich immer glauben lassen, dass auch ich Christ sei, aber das war nur geheuchelt. In Wirklichkeit war ich die ganzen Jahre Agnostiker. Aber vor vier Tagen ist mir Gott begegnet und seither glaube ich auch an Gott!“ Thorsten sagte: „Ehrlich gesagt, weiß ich jetzt gar nicht, ob ich mich eher darüber ärgern sollte, dass Du mich angelogen hast, oder ob ich mich über Deinen neuen Glauben freuen sollte. Ich freu mich natürlich, aber wie konntest Du mich nur so täuschen, wo wir doch schon so viele Male miteinander geredet haben!“ – „Ja, das stimmt“ räumte ich verlegen ein. „Glaubst Du denn auch jetzt an das Evangelium, an die Auferstehung und das ewige Leben?“ fragte er mich. Jetzt hatte er genau den wunden Punkt getroffen. Ich wollte ihn nicht wieder täuschen, deshalb gab ich ehrlich zu: „Weißt Du, Thorsten, für mich ist das jetzt schon das größte Geschenk, dass es Gott gibt. Das habe ich mir all die Jahre gewünscht, und jetzt habe ich Gott endlich gefunden. Aber das reicht mir im Grunde schon. Mehr brauche ich nicht. Ich bin so glücklich! Was soll ich denn jetzt noch mit der Auferstehung und dem ewigen Leben? Das wäre schon zu viel des Guten. Mir reicht es schon, dass ich den Rest meines Lebens jetzt an Gottes Hand gehen darf. Auferstehen muss ich jetzt nicht mehr unbedingt noch zusätzlich.“ – Thorsten schaute mich misstrauisch an und sagte: „Na, Du bist mir aber jetzt ein merkwürdiger Christ. Du glaubst ja noch nicht mal an die Auferstehung. Das ist für mich eine falsche Bescheidenheit. Entweder glaubt man ganz oder gar nicht!“ Seine Worte verunsicherten mich. Aber ich konnte nun einmal nicht mehr vorweisen, als ich besaß.
Am Sonntag lud mich Patrick in seine Gemeinde ein. Die Paulusgemeinde war gerade einmal nur 5 Minuten von unserem Haus entfernt, etwa 2 km, in unserem Stadtteil Habenhausen. Der Prediger Klaus Pache predigte an jenem Morgen ausgerechnet über das Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Das konnte doch kein Zufall sein! Mir liefen die Tränen herunter, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Als er aber dann am Ende dazu aufforderte, dass doch jeder aufstehen möge, der sein Leben dem HErrn Jesus übergeben wolle, hielt mich nichts mehr zurück und ich stand auf. Er sah mich und wunderte sich vielleicht, denn ich hatte ihm vor Jahren mal in einem seelsorgerlichen Gespräch anvertraut, dass ich kein Christ mehr sein könne. Aber mir war egal, was er jetzt dachte. Mit tränennassen Augen betete ich die Worte nach, die er vorbetete. Schließlich war ich ja der verlorene Sohn an diesem Tag, der zum Vater zurückwollte, und das sollte jeder nun wissen.
Als nächstes wollte ich es allen meinen Geschwistern von früher mitteilen, dass ich wieder zurückgekehrt sei. Ich suchte im Internet nach Bruder Bernd Fischer, aber er war von Eisenach unbekannt weggezogen. Dann schrieb ich dem Hans-Udo Hoster und auch dem Tobias Schaum, dass ich wieder zurück sei. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie sich freuen würden, aber sie reagierten äußerst skeptisch und zurückhaltend. Tobias hielt es für möglich, dass ich mich wieder nur bei ihm anbiedern wollte, um ihn für ein neues Buchprojekt auszuspionieren. Seiner Ansicht nach sei es gemäß Hebr.6 „unmöglich“, dass jemand wie ich, der schon einmal „geschmeckt hatte“ vom christlichen Glauben „wieder zur Buße erneuert werden“ könnte. Die Tür sei nun für immer zu, egal wie oft ich auch jetzt noch um Einlass betteln würde. Etwas anderes wäre es, wenn ich jetzt bekennen würde, dass ich früher noch nie wirklich gläubig war, sondern alles nur eine Heuchelei. Um dies zu prüfen, stellte er mir drei Fragen, durch deren Beantwortung er dann prüfen könne, ob ich wirklich von Gott erneuert sei.
Mir gefiel dieser inquisitorische Stil von Tobias gar nicht und ich merkte, dass er sich im Grunde in all den Jahren nicht verändert hatte. Er wollte wieder über meinen Glauben herrschen und würde dieses kleine Pflänzchen gleich wieder zertreten. Er stellte mir ja schon jetzt in Aussicht, dass es nach seinem Bibelverständnis „unmöglich“ sei, dass ich wieder Christ werden konnte, nachdem ich ja schon einmal gläubig war. Und was war ich dann? Sollte ich also nach seiner Auffassung wieder in die Welt zurückkehren? Tobias vermittelte mir – wie damals – wieder so einen grausamen und unerbittlichen Gott, der sich mit einem kleinen Klüngel an Getreuen zufriedengebe und dann die Tür für immer abschließe. Aber so war nicht der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Und was heißt für Gott schon „unmöglich“. Was bei Menschen unmöglich ist, ist für Gott noch lange nicht unmöglich. Aber ich wollte mich nicht schon wieder bei Tobias unter ein Joch sektiererischer Knechtschaft begeben. Er war von sich selbst so eingenommen, dass er mein Freundschaftsangebot als Anbiedern interpretierte und mich sogar als „Stalker“ bezeichnete! Was für eine Naivität von mir, dass ich glaubte, noch einmal sein Freund und Bruder werden zu können!
Ruth lud mich nun zu ihrem Hauskreis ein, der sich ja schon seit über einem Jahr einmal in der Woche bei uns im Wohnzimmer traf. Ich erklärte allen, dass ich jetzt auch wieder an Gott glauben würde. Sie freuten sich und nahmen mich sofort als ihresgleichen auf. In den 80ern in meiner ersten Zeit als Christ hatte ich immer auf solche Freikirchen-Christen von oben herabgeschaut, da sie für mich insgeheim Christen 2. Klasse waren, die kaum Ahnung hatten von der Bibel. Aber nun war aller Hochmut verflogen und ich war froh, dass ich überhaupt angenommen wurde und dabei sein durfte. Mir war klar, dass ich mich jetzt wieder ganz hinten in die Reihe anstellen musste, um ganz kleine Brötchen zu backen. Nie wieder wollte ich mich über andere überheben. Gott hatte mir noch mal eine letzte Chance gegeben.
An einem Abend las ich zusammen mit Ruth in der Bibel. Ich las ihr aus dem Buch Sacharja vor. Auf einmal stockte ich bei den Worten und konnte nur mit größter Mühe weiterlesen, denn die Worte stachen mir ins Herz. Unter Tränen und Schluchzen las ich die Worte: „»Ist dieser nicht wie ein Brandscheit, das im letzten Moment aus dem Feuer herausgerissen wurde?« Joschua war aber mit verdreckten Gewändern bekleidet, während er vor dem Engel stand. Dieser sprach nun zu den vor ihm stehenden Dienern: »Ziehet ihm die schmutzigen Kleider aus!« Zu ihm aber sagte er: »Siehe, ich habe deine Verschuldung von dir weggenommen und lasse dir Prachtgewänder anlegen!« Hierauf befahl er: »Man setze ihm auch einen reinen Kopfbund aufs Haupt!« … Und der Engel des HERRN bezeugte dem Joschua: »So spricht der HERR der Heerscharen: ›Wenn du auf Meinen Wegen wandelst und Meinen Dienst gewissenhaft versiehst, sollst du sowohl Mein Haus verwalten als auch über Meine Vorhöfe die Aufsicht führen, und Ich will dir freien Zutritt zu Mir gewähren unter diesen, die hier (als Diener vor mir) stehen…«“ (Sach.3:3-8).