Juli – September 1995
Mein neuer Job bei einem Betrüger
In den ersten Tagen nach unserer Rückkehr nach Deutschland war ich sehr beschäftigt mit dem Beantworten der zahlreichen Post und den vielen Behördengängen (Arbeitsamt, Bank, Meldestelle etc.). Mein Vater leihte uns Geld, damit wir in den ersten Wochen über die Runden kamen. Mitte Juni wurde ich von einem Malerbetrieb der sich „FineArt GmbH“ nannte, eingeladen. Die Firma lag in einer kleinen Wohnung in einem Hochhaus, die spärlich eingerichtet war, was mir etwas merkwürdig vorkam. Der Geschäftsführer, Herr Tönjes, war freundlich und bot mir einen Platz an. Überall lagen Stapel mit Zetteln auf dem Fußboden, die seine Freundin hastig aufsammelte. Er erklärte mir, dass die Firma, die auf den Namen seiner Verlobten läuft, seit knapp einem Jahr existiere und etwa 50 Mitarbeiter beschäftigen würde, es aber immer ein Kommen und Gehen gebe, da viele den harten Anforderungen nicht gewachsen seien. Er würde hauptsächlich in den neuen Bundesländern Wärmedämm-Aufträge ausführen im Rahmen des Aufbaus Ost und suche daher einen qualifizierten Malergesellen, der auch Erfahrung mit WDVS (Wärmedämm-Verbundsysteme) habe und auch ungelernte Mitarbeiter schulen könne. Uwe Tönjes war ein schlanker Kettenraucher, hatte aber ein außergewöhnlich selbstsicheres Auftreten (wie Donald Trump). Nachdem wir eine Weile geplaudert hatten, gab er mir die Hand und sagte: „Ich nehme Sie, Herr Poppe. Sie machen auf mich einen guten Eindruck. Ich habe für Sie auch eine ganz besondere Aufgabe: Wir beziehen zum 01.08. ein neues Bürogebäude in der Bleicherstr., und das können Sie dann gleich von oben bis unten renovieren, und zwar in der absoluten Luxusklasse. Ich möchte, dass jeder Besucher sofort unseren gehobenen Anspruch erkennt und gleich beeindruckt wird. Ich hoffe, dass Sie der richtige Mann dafür sind!“
Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte, war, dass Herr Tönjes nicht nur ein größenwahnsinniger Psychopath, sondern auch ein professioneller Hochstapler war, der wegen diverser Betrügereien erst kurz zuvor aus der Haftanstalt entlassen wurde. Durch seinen Charme und sein großspuriges Auftreten hatte er bei sämtlichen Banken und Leasingfirmen einen solchen Eindruck hinterlassen, dass er wie der Baulöwe Jürgen Schneider viele Kredite bekam, mit denen er auf mehreren Baustellen in Berlin und Brandenburg riesige Mehrfamilienhäuser mit Styroporplatten dämmen ließ. Seine Leute waren billige Arbeiter aus dem Osten, die er in Kolonnen organisiert hatte; so gab es eine Polen-Kolonne, eine Jugoslawen-Kolonne, eine Türken-Kolonne und eine DDR-Kolonne. Ich war einer der wenigen „Wessis“ in seiner Firma. So arbeitete ich zunächst zwei Monate ganz alleine in seiner neuen Büroetage und merkte schon bald, dass Herr Tönjes so unberechenbar war wie der KZ-Aufseher Amon Göth aus dem Film „Schindlers Liste„: während er mich an manchen Tagen über den Klee lobte, gab es Tage, an denen er z.B. früh morgens auf die Baustelle kam und statt mich zu begrüßen, mich laut mit etwa 120 dB anschrie: „GEHEN SIE SOFORT VON MEINEN MARMORFLIESEN RUNTER MIT IHREN BESCHISSENEN ARBEITSSCHUHEN, SIE TROTTEL! SIND SIE DENN TOTAL BESCHEUERT, EINFACH MIT IHREN DRECKIGEN SCHUHEN MEINEN MARMOR ZU BETRETEN!“ Und am selben Tag kam er um 17.00 Uhr zu mir und sagte mit sanfter Stimme: „Ach, Herr Poppe, Sie sind ja immer noch fleißig am Arbeiten. Sie müssen jetzt aber wirklich schnell nach Haus zu ihrer schwangeren Frau. Warten Sie, ich bestelle Ihnen mal eben ein Taxi! Hier, nehmen Sie das Geld; ich spendiere Ihnen das Taxi!“ So ging es jeden Tag, so dass ich ständig seinen Launen ausgesetzt war. Ende August sprach ich mit Herrn Tönjes über meine wirtschaftliche Situation, dass ich ziemlich verschuldet sei und meine Frau ebenso eine Beschäftigung suche. Er bot mir an, dass meine Frau für ihn ab 01.09. für 300,-DM im Monat ein- bis zweimal in der Woche zum Putzen kommen könnte. Ich erzählte dies der Ruth, und sie war einverstanden. Und so geschah es, dass meine Frau und ich Anfang September auf einmal Seite an Seite für denselben Chef gearbeitet hatten, sie beim Putzen und ich beim Malern. Was wir jedoch noch nicht ahnten, war, dass wir beide von ihm über Monate keinen Lohn mehr bekommen sollten.
Spendenverwaltung nach Gutsherrenart
Bruder Hans-Udo beglückwünschte uns zu unserer neuen Wohnung und teilte uns mit, dass er Post aus Ecuador erhalten habe, sogar auf Deutsch übersetzt: Dr. Galo Granados hatte inzwischen ein starkes Misstrauen gegenüber unserem Anwalt, da dieser schlechte Arbeit gemacht habe, und wünschte sich einen neuen. Viele Punkte waren in der Satzung der Stiftung ungeklärt geblieben, z.B. die Finanzierung der Mitarbeiter etc., so dass die Satzung neu geschrieben werden müsse. Auch mit der großzügigen Ver(sch)wendung der Spendengelder durch Bruder Nelson war er nicht einverstanden. Als ich ihm in Ecuador mal verriet, wie viel Geld bereits in die Fertigstellung des Hauses geflossen sei, fasste er sich an den Kopf und sagte: „Für das Geld hätten wir zwei neue Häuser bauen können!“ Er fragte Hans-Udo, ob dieser ihm ein Deutschkursbuch mit Kassetten empfehlen könne, weil er gerne Deutsch lernen wolle, um zukünftig direkt mit Hans-Udo zu korrespondieren. Über so viel Engagement zeigte sich Hans-Udo hoch erfreut und sandte mir einen Antwortbrief zum Übersetzen. Er schlug vor, dass der Bruder Felix Ramirez (24), der als Buchhalter in einer Bank arbeitete, doch ehrenamtlich als Wirtschaftsprüfer der Stiftung arbeiten könnte, um sich mal ein neutrales Bild von den Geldausgaben zu machen und seinen Eindruck zu schildern.
Das tat dieser dann auch bereitwillig, doch als Wochen später sein „Untersuchungsbericht“ vorlag, war dieser nicht nur ernüchternd, sondern niederschmetternd: Felix fragte zu Recht, wie es möglich sein könne, dass Nelson sowohl Schatzmeister als auch Aufseher über die Geldausgaben in einer Person sei. „Es besteht überhaupt keine Kontrolle über die Ausgaben, die vermeintlich für die Stiftung verwendet wurden, so dass die Leichtigkeit und die Wahrscheinlichkeit bestehen, dass diese auch für persönliche Zwecke verwendet wurden… Herr Nelson Mogollón versteht noch nicht einmal die Grundprinzipien der Kontrolle, so dass weder die Transparenz noch die Vertrauenswürdigkeit gewährleistet sind…“. Zudem hätten die meisten Ausgaben gar nicht belegt werden können, da hierfür die Quittungen fehlten. Seine Kritik an Nelson war jedoch aus meinen Augen interessegeleitet, da seine Eltern ohnehin mit Nelson im Clinch lagen, so dass ich den Eindruck hatte, dass Felix´ Bericht respektlos sei, weil er dem ehrwürdigen Bruder Nelson indirekt Mauschelei unterstelle. Auch Nelson war äußerst pikiert über den Bericht und reagierte entsprechend beleidigt, indem er sich verwahrte, dass man seine untadelige Reputation doch nicht in Frage stellen dürfe, erst recht nicht von einem solchen Jungspund, den er noch als Baby kannte. Für die meisten Dienstleistungen bekomme man in Ecuador nun einmal keine Quittung, sondern nur einen Händedruck mit Dankeschön.
Da ich immer nur am Wochenende Zeit hatte, nahm das ständige Übersetzen der Briefe aus Ecuador an Hans-Udo und seine Antworten an die Geschwister viel Zeit in Anspruch. Deshalb war es eine große Erleichterung, als Hans-Udo mitteilte, dass er junge Brüder aus den USA kennengelernt habe, die bereit waren, beim Übersetzen zu helfen. Es meldeten sich auch immer mehr Jugendliche beim Hans-Udo, die gerne ihren Zivildienst in einem seiner Kinderheime machen wollten, vorzugsweise in Ecuador. Ich sah also immer mehr die Notwendigkeit, den Hans-Udo in Berlin zu besuchen, um ihm mitzuteilen, dass ich zukünftig nicht mehr für dieses Projekt zur Verfügung stehen würde, denn ich hatte ihm ja aus Scham noch immer nicht „reinen Wein eingeschenkt“. So fuhr ich Anfang September mit Ruth nach Berlin, wo wir dann schweren Herzens dem Hans-Udo und seiner Frau Elsbeth unsere Situation gebeichtet haben. Doch all das Zureden und Mutmachen half am Ende nichts, denn Ruth sah sich außer Stande. Sie gab aber ein wenig Hoffnung, dass sie ginge, wenn der HErr sie wieder vollkommen gesund machen würde. Ich wiederum versprach, dass ich Ende 1995 erst mal notfalls alleine nach Ecuador reisen würde. Doch ich ahnte nicht, dass das Jahr noch mit großen Turbulenzen enden würde…
Besuch aus Asmushausen
und Geburt unserer Tochter
Irgendwann meldeten sich damals auch Rolf Schiemann und Tobias Schaum bei mir und fragten, ob sie mich besuchen kommen könnten, um über ihre Kritik an Hans-Udo zu sprechen. Ich hatte eigentlich dem Hans-Udo versprochen, dass ich den Kontakt zu diesen Brüdern abbrechen werde, da ihre Selbstgerechtigkeit und Kritiksucht eher schädlich als förderlich sei für das Volk Gottes. Aber meine Sehnsucht nach Harmonie und meine Hoffnung auf Entspannung waren dann doch so groß, dass ich dachte, ich könnte diese beiden Haudegen irgendwie zähmen und ihren glühenden Eifer vom Hans-Udo weglenken, und so lud ich sie ein nach Bremen. Inzwischen aber war Mitte August auch meine Schwiegermutter Lucila (62) aus Peru gekommen, um für drei Monate bei uns zu wohnen und um der Ruth bei der nahe bevorstehenden Geburt zur Hand zu gehen. Da der Platz also in unserer kleinen Wohnung zu eng war, fragte ich meinen Bruder Marco, ob Tobias und Rolf nicht bei ihm übernachten könnten. Da er sie nicht kannte, erklärte ich ihm, welchen Bezug ich zu ihnen hatte und hoffte, dass Marco psychisch stabil genug sei, um deren kompromisslose Art ertragen zu können. Immerhin war es gerade mal erst 2 ½ Jahre her, dass Marco wegen einer starken Psychose seinen Job als Erzieher von schwer erziehbaren Jugendlichen an den Nagel hängte und sich – durch Charismatiker beeinflusst – im religiösen Wahn beinahe das Leben nahm. Zu meiner Überraschung war das Treffen außerordentlich friedlich und auch Marco verstand sich bestens mit diesen beiden vollbärtigen Brüdern. Sie erzählten ihm, dass sie aus ihrem Haus in Bebra-Asmushausen eine Art Brüderhof machen wollten, um mit ihren Familien zusammen mit anderen Gleichgesinnten eine biblische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft haben könnten nach dem Vorbild der Mennoniten oder Hutterer. Marco war von der Idee begeistert, und da er nicht gebunden war, packte er spontan seine Koffer, um mit ihnen nach Asmushausen zu ziehen.
Am Freitag, den 22.09.95 hat der HErr uns dann eine gesunde Tochter geschenkt, das 1000. Baby, das in jenem Krankenhaus in diesem Jahr geboren wurde, weshalb Ruth einen großen Blumenstrauß und 100,- DM vom Oberarzt geschenkt bekam. Rebekka hatte schon bei ihrer Geburt den Kopf voller Haare, die später schnell wuchsen und kupferbraun wurden, genau die Mischung zwischen Ruth und mir. Leider gab mir mein Chef am darauffolgenden Montag keinen „Babyurlaub„, weil ein Treppenhaus unbedingt fertig werden musste. Doch am Dienstag rutschte auf einmal meine Schiebeleiter weg und ich stürzte 6 m die Treppe herunter, wobei mein rechtes Auge gegen die Halterung des abgebauten Handlaufs stieß und innerhalb von wenigen Minuten dick anschwoll. Dank sei Gott, dass es nur das Oberlid war, das einen Riss bekam, so dass mein Auge wie durch ein Wunder unversehrt blieb. Dafür wurde ich aber für den Rest der Woche krankgeschrieben, so dass ich bei meiner Frau, meiner Schwiegermutter und unserer Tochter sein durfte.
Oktober – Dezember 1995
Auf Montage in Berlin
Am darauf folgenden Montag teilte mir Herr Tönjes mit, dass er mich von nun an „auf Montage“ in den neuen Bundesländern einsetzen wolle. Das hieße, dass ich immer zwei Wochen von zu Hause weg sei und mit den Arbeitskollegen in einem Wohncontainerdorf in Geltow (Brandenburg) übernachten würde, um dann tagsüber auf Großbaustellen in Berlin zu arbeiten. Dafür bekäme ich aber zusätzlich zu meinem Arbeitslohn noch einmal 25,-DM/Tag an „Auslöse“ (Verpflegungsmehr-aufwand), also im Monat rund 600,-DM mehr. Da wir hoch verschuldet waren, nahm ich dieses Angebot an, und er bot mir an, mich am darauffolgenden Tag mitzunehmen. Er fuhr einen nagelneuen, knallgelben Mitsubishi Sportwagen, der aussah wie ein Ferrari, und während der ganzen Autofahrt erzählte er mir von seinem Luxus und Erfolgen, um mich einzuschüchtern. Doch mir war klar, dass er damit nur seine Minderwertigkeitsgefühle überspielen wollte.
Als wir bei einer Raststätte anhielten und er mich auf einen Kaffee einlud, sagte ich ihm: „Wissen Sie Herr Tönjes: all das, was sie mir aufgezählt haben, beeindruckt mich nicht, denn ich bin viel reicher als Sie. Ich besitze Dinge, die Sie nicht haben und die man nicht mit Geld kaufen kann. Nicht nur habe ich eine Frau, die mich liebt und ein gesundes Kind, sondern vor allem habe ich von Gott das ewige Leben geschenkt bekommen durch den Glauben an Seinen Sohn Jesus! Das ist doch viel mehr wert als aller Reichtum der Welt!“ Daraufhin entgegnete er: „Ach wissen Sie, da sage ich mir: Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach! All das, was Sie mir immer erzählen von der Bibel, das ist doch alles Glaubenssache, aber sicher können Sie sich nicht sein, ob es stimmt.“ Darauf ich: „Ja, ich glaube es, aber das heißt nicht, dass es für mich nicht auch sicher wäre. Glaube ist wie der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. Dem Noah hat auch niemand geglaubt, als er die Arche baute mitten in der Wüste, aber als der Regen kam, war er und seine Familie in Sicherheit, samt all den Tieren, während die ungläubigen Menschen umkamen. Ihr Reichtum ist zudem nicht von Bestand. Sie müssen ständig darauf achten, ihn nicht zu verlieren und können ihn deshalb auch nicht genießen. Ich hingegen bin zwar arm, aber ich bin frei. Ich war schon dreimal in Südamerika und könnte jederzeit wieder dorthin fliegen, wenn ich wollte, und dort für 3 oder 6 Monate bleiben. Das können Sie nicht, weil Sie zu viele Verpflichtungen hier haben. Wann haben Sie z.B. das letzte Mal einen längeren Urlaub gemacht?“ Er hatte mir nachdenklich zugehört, trank seinen Kaffee aus und sagte: „Ach wissen Sie, Herr Poppe, ich denke, dass es nur noch etwa ein oder zwei Jahre dauern wird, dann habe ich so viel Geld verdient, dass ich mich zur Ruhe setzen kann. Dann kaufe ich mir eine große Yacht und werde nur noch über die Weltmeere reisen. Dann kann mir keiner mehr was, noch nicht einmal Caudia Schiffer!“ Dann stand er auf und ließ mich verwirrt zurück. Was hatte jetzt das Model Claudia Schiffer damit zu tun??! Ich fragte ihn, und er merkte, dass er gerade dummes Zeug geredet hatte und sagte nur lapidar: „Na ja, oder eben irgend ein anderer Promi, der immer mit seinem Geld protzt!„
Wir fuhren schweigend weiter. Nach einer Weile sagte mir Herr Tönjes: „Ich will ehrlich sein zu Ihnen, Herr Poppe: Dieser ganze Glaubenssch… interessiert mich nicht, denn ich halte das alles für Humbug. Aber eine Sache, die beeindruckt mich wirklich, und das sind SIE! Sie sind der einzige Mensch, den ich bisher kennengelernt habe, der innerlich völlig ausgeglichen ist. Nichts und niemand kann sie offensichtlich erschüttern. Solch eine Ruhe hätte ich auch gerne.“ Aber bevor ich ihm darauf etwas sagen konnte, fügte er nach ein paar Sekunden hinzu: „Aber kommen Sie mir jetzt nicht gleich wieder mit ihrem Glauben, denn das hat damit gar nichts zu tun, sondern eher mit ihrem stabilen Charakter!“ Ich sagte nichts weiter, denn ich spürte, dass er innerlich verstockt war und sein Leben auch nicht ändern wollte.
Ein „Pastor“, der sich prügelt?
Meine neuen Kollegen kamen größtenteils aus Brandenburg, aber es waren auch viele von weiter weg, die mit mir im Containerdorf lebten. Zusammen fuhren wir früh morgens um 6.00 Uhr ca. 45 Minuten zu den Baustellen nach Berlin-Pankow und später in der Nähe von Potsdam, ein kleiner Ort namens Caputh. Es war alles erstaunlich gut organisiert, denn wir hatten einen Vorarbeiter mit starker Persönlichkeit, der uns alle fest im Griff hatte, so dass sich Herr Tönjes um nichts kümmern brauchte (sein Name ist mir entfallen, deshalb nenne ich ihn im Folgenden einfach mal Jens). Jens hörte den ganzen Tag nur seine Haevy-Metal-Musik, während ich Kassetten mit christlicher Musik hörte oder auch der Kelly Family. Doch allmählich spürte ich den Neid und die Verachtung meiner Kollegen, vielleicht weil ich ein Wessi war und ihnen manchmal widersprach in technischen Fragen (?). Einmal kam ein junger Kollege zu mir und sagte: „Simon, weißt Du eigentlich, dass alle hinter Deinem Rücken über Dich herziehen?“ – „Echt? Wieso, was sagen sie denn?“ – „Sie nennen Dich immer den ‚Pastor‘, weil Du immer so komisch redest.“ – „Häh? Wie rede ich denn?“ – „Ich weiß nicht, Du redest irgendwie immer so geschwollen. Ich finde Dich eigentlich ganz nett, aber Du bist irgendwie total anders als die anderen. Irgendwie gehörst Du gar nicht hier her. Das meinen auch die anderen.“ Ich war etwas verwundert darüber, aber mir fiel ein, dass das schon ein Chef bei einem Vorstellungsgespräch sagte, um zu begründen, warum er mich nicht einstellen wolle, weil ich dadurch nur „unnötig Unruhe“ in seinen Betrieb brächte.
Im November waren die Temperaturen auf ungewöhnliche -5 bis -10 ˚C in der Nacht gefallen. Es war eigentlich völlig absurd, dass wir bei solchen Minustemperaturen noch draußen arbeiten sollten. Bei dieser klirrenden Kälte fragten wir uns, was wir denn früh morgens um 7.00 Uhr im Dunkeln machen sollten, denn um den Putz anzurühren, war es viel zu kalt. Aber Jens hatte immer irgendeine Aufgabe für uns, ob Sockelschienen setzen oder dübeln, solange bis es allmählich milder wurde. Wenn wir dann abends zurück nach Geltow fuhren, waren wir alle kaputt und durchgefroren. Eines Abends rauchten mal wieder alle im Kleinbus und ich machte wie immer das Fenster auf, um atmen zu können. Doch dann eskalierte die Situation: „Ey, Poppe, mach das Fenster zu!“ – „Nein, es stinkt zu sehr, ich brauche Luft.“ – „Ach was, mach wieder zu, es wird kalt!“ – „Euch mag das ja egal sein, aber ich bin Nichtraucher und mich stört das nun mal!“ – „Hör mal, Poppe, du musst dich der Mehrheit anpassen, sonst nehmen wir dich nicht mehr mit, dann kannst du in Zukunft zusehen, wie du nach Geltow kommst!“ – „Ach ja, Ihr wisst genau, dass Herr Tönjes euch verboten hat, im Firmenwagen zu rauchen, weil der nur geleast ist. Soll ich ihm vielleicht mal erzählen, dass Ihr Euch alle darüber hinwegsetzt?“ – „Du bist doch ein Arschloch, Poppe! Willst uns also verpfeifen, toller Kollege!“ – In diesem Moment schob einer der Kollegen das Fenster neben mir wieder zu. Ich machte es sofort wieder auf. Er drohte mir und machte es wieder zu. Ich schob es wieder auf und stemmte meinen Arm ins Fenster, so dass man es nicht mehr zumachen konnte. Daraufhin knurrte mich dieser an: „Du wirst schon sehen, Poppe, wenn wir gleich ankommen, dann kriegst du eins auf´s Maul!“
Als wir kurz darauf ankamen, schob er die Seitentür auf, so dass meine Arbeitstasche aus dem Auto fiel. Ich war mir nicht sicher, ob er das mit Absicht gemacht hatte, aber ich sagte ihm ein Schimpfwort und bückte mich, um meine Sachen aufzuheben, die herausgefallen waren. In diesem Moment nahm er mich schon in den Schwitzkasten und wir rauften uns. Da ich größer war, hatte er kaum eine Chance, aber er hatte vielleicht auch nicht damit gerechnet, dass ich mich wehren würde. Da ging einer zwischen uns, der aber in Wirklichkeit ihm helfen wollte und mir ein Bein stellte, so dass ich nach hinten fiel. Dann stürzte sich der andere wieder auf mich, doch ehe er sich versah, hatte ich ihm mit der Faust auf die Nase geschlagen, so dass er von mir abließ und ich mich aufraffen konnte. Inzwischen hatten alle um uns einen Kreis gebildet, um uns beim Kampf zuzuschauen. Mein Herz raste, doch ich wollte nicht mehr kämpfen, sondern schrie dem Jens zu: „WER HAT JETZT ANGEFANGEN?! WER HAT JETZT ANGEFANGEN?! WARUM SAGST DU NICHTS!? ENTWEDER ER WIRD GEKÜNDIGT ODER ICH GEHE!!“ Daraufhin rief Jens: „Das hast Du gar nicht zu entscheiden, Poppe!“ Ich nahm meine Sachen und ging in meinen Wohncontainer. Eine halbe Stunde später nachdem ich mich geduscht und wieder angezogen hatte, kamen ein paar meiner Kollegen in den Wohncontainer, setzten sich an den Tisch und sagten: „Wow, Simon, dem hast Du’s aber gezeigt! Da hast Du Dich aber gut verteidigt!“ – Ich merkte, dass sie etwas von mir wollten, und tatsächlich: „Du Simon, falls der Chef Dich fragen sollte, was passiert ist, bitte sage nicht, dass wir im Wagen geraucht haben, ok?“ Ich sagte, dass ich es nicht von mir aus erzählen würde, aber wenn er mich direkt fragen würde, dann würde ich auch nicht lügen, da ich als Christ immer die Wahrheit sagen muss. Dann gingen sie wieder und kurz darauf kam die Verlobte von Herrn Tönjes, Frau Chlebusch, in den Bauwagen: „Herr Poppe, was habe ich denn da von Ihnen gehört, dass Sie sich geprügelt hätten? Das konnte ich gar nicht glauben! Das hätte ich von Ihnen gar nicht gedacht. Wie konnte das passieren?“ Ich erklärte ihr, dass es Streit gab, ich aber nicht angefangen hätte, sondern mich nur verteidigt habe. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich ein schlechtes Zeugnis als Christ gegeben hatte, denn der HErr Jesus hatte uns ja gelehrt, dass wir jedem, der uns auf die rechte Wange schlägt, auch die linke hinhalten sollten (Mt.5:40). Jetzt aber hatte ich meinem alten Wesen wieder Raum gegeben in mir und hatte noch nicht einmal den Mut, meinen Feind um Vergebung zu bitten.
Überhaupt hatte ich mein geistliches Leben in den letzten Wochen völlig vernachlässigt. Anstatt regelmäßig zu beten und in der Bibel zu lesen, schaute ich abends mit meinen Kollegen Filme im Bauwagen. Ich vermisste Ruth und auch meine kleine Rebekka. Gerade die ersten Wochen sind ja für ein Baby wichtig, dass es die Liebe und Wärme seiner Eltern spürt. Ich bereute schon, dass ich nicht lieber auf diesen Job und den höheren Verdienst verzichtet hatte, um Ruth und Rebekka nicht alleine zu lassen! Als ich an einem Donnerstag nach den zweiten zwei Wochen meine Sachen packte, um am nächsten Tag nach Bremen zu reisen, teilte mir mein Zimmergenosse mit, dass alle diesmal eine weitere Woche bleiben sollten, weil auch am Samstag gearbeitet werden solle. Daraufhin ging ich zu Jens, der mit mehreren anderen am Tisch saß und Bier trank. Ich erklärte ihm, dass ich wie vereinbart am morgigen Tag abreisen würde, aber er lehnte dies ab, weil der Chef ein Bleiben für alle angeordnet hatte. Ich erklärte ihm höflich: „Ich muss aber nach Hause!“ – „Und warum musst Du das?“ – „Weil meine Frau und mein Kind mich brauchen.“ – „Ach wie süß!“ höhnte er, und alle lachten, „er will zu seiner Mami zurück, weil sie ihn braucht! Was bist du nur für ein Weichei! Dann geh doch morgen schnell wieder zu deiner Mutti, wenn sie dich doch braucht!“
Die Meuterei
Als ich Ruth anrief, sagte sie mir, dass mein Lohn für Oktober noch immer nicht überwiesen sei und auch sie noch von Herrn Tönjes keinen Lohn erhalten habe für ihren Minijob. Ich rief Herrn Tönjes an, und er versicherte, dass er sich umgehend darum kümmern würde. Aber auch Mitte November war noch nichts auf dem Konto, so dass wir uns wieder von meinem Vater Geld leihen mussten, um unsere Miete und Lebensmittel zu bezahlen. Ich schrieb einen Brief an Herrn Tönjes, in dem ich ihn aufforderte, mir binnen einer Woche meinen noch offenen Lohn von 1,5 Monaten zu zahlen, da ich ansonsten kündigen würde. Diesen Brief übergab ich ihm persönlich und er las ihn in meiner Gegenwart. Dann steckte er ihn in sein Revers und sagte: „Herr Poppe, diesen Brief werde ich als Beweisstück verwenden, denn ich behalte mir vor, Sie auf Nötigung zu verklagen! Ich hatte Ihnen allen bereits gesagt, dass ich selber noch auf eine höhere Summe warte von meinem Kunden und rechne jeden Tag damit, dass diese eingeht. Aber ich verbiete Ihnen, dass Sie mich mit solchen Briefen erpressen, denn ich kann auch noch ganz anders! Passen Sie bloß auf, dass Sie mich nicht zum Feind haben!“ Dann schritt er davon, und ich dachte: „Was denkt der nur, wer er sei!“ Aber ich hatte nicht den Mut, etwas zu entgegnen.
Zwei Tage später gab Herr Tönjes uns endlich den noch ausstehenden Lohn in Form von Schecks über zwei Monatsgehälter (fast 5000,- DM), die wir allerdings nicht sofort einlösen konnten, solange wir nicht zuhause waren, sondern erst eine Woche später, etwa Ende November. Doch Mitte Dezember war noch immer kein Geld auf dem Konto und wir erfuhren, dass die Schecks gar nicht gedeckt waren. Herr Tönjes hatte uns also nur hinhalten wollen, damit wir weiter arbeiten würden. Jetzt aber brach eine Meuterei auf der Baustelle aus, denn die Mitarbeiter merkten, dass die Firma vor dem Aus stand. Bevor sie alle nach Hause fuhren, nahmen sich viele noch alles Mögliche vom Firmeneigentum mit und bestahlen so Herrn Tönjes als Ausgleich für ihren geprellten Lohn. Jens hatte sich sogar schon ein paar Tage vorher aus dem Staub gemacht, angeblich weil seine Freundin ihm am Telefon gesagt hatte, dass sie mit ihm Schluss machen wolle und er sie zur Umkehr überreden wollte. So war die Firma auf einmal führerlos und jeder tat, was recht war in seinen Augen. Ich fuhr nach Bremen und rief Herrn Tönjes an, doch nur sein Anrufbeantworter ging an. Später erfuhr ich, dass Herr Tönjes kurz zuvor seine Verlobte geheiratet hatte und nun über die Weihnachtstage seine Flitterwochen auf den Seychellen verbringen würde. Wie wir indes über die Runden kommen sollten, war ihm offensichtlich vollkommen egal.
Der Eklat
So verbrachte ich die letzten zwei Wochen des Jahres bei meiner Familie. Aus Bebra-Asmushausen erhielten wir Post von Marco, der inzwischen schon rund zwei Monate in der christlichen WG zusammen mit den Brüdern Rolf Schiemann und Tobias Schaum und ihren Familien lebte. Sein Brief war äußerst fromm und demütig. Er bekannte darin, dass er die letzten 9 Jahre seit seiner Bekehrung geistlich geschlafen habe, nun aber zu neuem Leben erweckt sei durch den Einfluss der Brüder. Er erzählte mir, dass sie wie in der Urgemeinde alles miteinander teilen würden und niemand ein Geheimnis hätte, von dem die anderen nichts wüssten. Er lud uns ein, doch auch nach Asmushausen zu ziehen und bei dieser christlichen Wohngemeinschaft mitzumachen, zumal er mitbekommen hatte, dass ich geistlich gerade ziemlich in den Seilen hing. Doch hatte sich inzwischen ein Hoffnungsschimmer am Horizont gezeigt, was die Ecuadorarbeit anging: Ein paar Wochen zuvor hatte ich mich an einem Wochenende mit Rubin Rousseau (42) getroffen, einem deutsch-südafrikanischen Bruder aus der Bibelgemeinde, in die meine Eltern jahrelang gingen. Ich hatte ihm von unserem Kinderheimprojekt erzählt, und er erklärte sich bereit, mit seiner Frau Edith zusammen die Nachfolge als künftige Heimeltern zu übernehmen. Ich hatte also Hans-Udo angerufen und mich mit ihm für Mitte Dezember verabredet, dass er mit seiner Frau Elsbeth zu uns nach Bremen kommen möge übers Wochenende, damit er Rubin und Edith kennenlernen und mit ihm über die Details verhandeln könne. So war es eine große Freude, als schließlich dieses Treffen zustande kam in unserem Wohnzimmer. Hans-Udo berichtete Rubin über die Hintergründe, wie der HErr ihn 30 Jahre zuvor berufen habe, als Missionar in Pakistan zu arbeiten und erklärte ihm dann seine Aufgaben und die Bedingungen. Doch schon nach einer halben Stunde erklärte Rubin, dass er seine noch nicht volljährigen Kinder seiner 9-köpfigen Familie in ein Internat geben wolle in Deutschland, damit sie eine gute Ausbildung erhielten. Und noch bevor Hans-Udo dazu etwas sagen konnte, klingelte es plötzlich an der Tür…
Als ich aufmachte, stand auf einmal Tobias Schaum und Rolf Schiemann vor der Tür, zusammen mit meinem Bruder Marco, der sich inzwischen einen kleinen Vollbart hatte wachsen lassen. Sie fragten, ob sie reinkommen dürften, und ich erklärte ihnen, dass ich gerade Besuch habe. „Das wissen wir„, sagte Tobias, „denn Marco hat es uns erzählt, und gerade deshalb sind wir ja auch jetzt ganz aus Bebra angereist.“ – „Ihr hättet aber wenigstens vorher mal anrufen können, denn eigentlich ist es jetzt gerade etwas ungünstig.“ Trotzdem ließ ich sie rein, und sie gingen die Treppe hinauf ins Wohnzimmer. Ich stellte sie meinen Gästen vor und besorgte noch schnell ein paar zusätzliche Stühle. Hans-Udo dachte, dass ich die Brüder absichtlich eingeladen hätte und war sehr verwundert, warum ich dies angeblich verheimlicht habe. Ich erklärte ihnen, dass dies jetzt nicht geplant sei, aber dass der HErr vielleicht Gnade schenken würde zu einer gemeinsamen Verständigung. Hans-Udo hielt dies nicht für eine passende Idee und bat mich, den Brüdern vorzuschlagen, dass sie doch ein andern mal wiederkommen könnten. Da ich jedoch gegenüber Rolf und Tobias den Eindruck vermeiden wollte, ich sei unmündig und würde immer nur das tun, was Hans-Udo sagt, schlug ich indes vor, doch gemeinsam miteinander über alle Probleme zu reden. Eine fatale Fehlentscheidung – wie sich dann leider herausstellte…
Tatsächlich hatten Tobias und Rolf dem Hans-Udo eine Falle stellen wollen, indem Tobias einen kleinen Kassettenrekorder versteckt hatte, um ohne unser Wissen und Erlaubnis, sozusagen in „Stasi-Manier„, das Gespräch heimlich aufzunehmen. So wie die Pharisäer damals den HErrn Jesus in Seiner Rede fangen wollten, um einen Anklagegrund gegen Ihn in der Hand zu haben, so hoffte auch Tobias, dass er durch Fangfragen den Hans-Udo in Widersprüche verwickeln könnte, damit er einen Anklagegrund gegen ihn hätte. Um sich nichts anmerken zu lassen, verhielt sich Tobias zunächst höflich und stellte ein paar Fragen, die ihm Hans-Udo zwanglos beantwortete. Doch als es immer mehr Fragen wurden, fragte Hans-Udo: „Was soll das hier werden? Ein Verhör? Simon, Du solltest als Hausherr jetzt mal ein Machtwort sprechen und mal klarstellen, wer heute Deine eigentlichen Gäste sind!“ Tobias erwiderte laut: „Nach dem Wort Gottes sind Sie verpflichtet, sich zu verantworten gegenüber jedem, der Rechenschaft von Ihnen fordert. Und ich möchte auch nicht, dass Sie immer wieder ausweichen, sondern meine Fragen einfach nur mit JA und NEIN beantworten!“ Daraufhin stand Elsbeth auf, die die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt hatte, und sprach mit einer zarten und brechlichen Stimme: „Hören Sie, junger Mann, was erlauben Sie sich, in diesem Ton zu meinem Mann zu reden! Haben Sie denn keinen Respekt?!“ – Tobias unterbrach Sie: „Entschuldigen Sie, liebe Schwester, aber ich rede gerade mit Ihrem Mann, und ich denke, Sie sollten sich als Schwester ohnehin zurückhalten, wenn Brüder miteinander reden!“ Darauf stand auch Hans-Udo auf und sagte: „Simon, ich merke, dass es Dir schwer fällt, hier mal ein klärendes Wort zu sprechen, deshalb mache ich einen Vorschlag: Bruder Rubin hatte ja schon angedeutet, dass wir die Nacht auch bei ihm verbringen können, deshalb wird er uns jetzt zu sich nach Hause fahren und Du kannst Dich hier noch weiter mit Deinen Brüdern unterhalten. Morgen früh reden wir dann weiter über unser Projekt! einverstanden?“ Ich war wie gelähmt, denn mir war klar, dass ich als Hausherr gerade völlig versagt hatte. Daher entschuldigte ich mich immer wieder für meine enttäuschende Nachgiebigkeit und verabschiedete Hans-Udo und seiner Frau.
Der Verrat
Als ich wieder oben war, nahmen mich Tobias und Rolf ins Kreuzverhör und redeten lange auf mich ein, dass ich mich doch von Hans-Udo trennen müsse, da dieser doch ein „falscher Fufziger“ sei, der nur an Macht und Geld interessiert sei und dem dazu jedes Mittel recht sei. Ich verteidigte den Hans-Udo, so gut ich konnte, doch nach einer Stunde war ich dermaßen „weichgekocht„, dass ich ihnen nichts mehr zu entgegnen wusste. Ich versuchte einen Befreiungsschlag, indem ich sagte: „Ihr beide kommt mir vor wie zwei Männer, die auf einer Müllhalde sind und sich darüber aufregen, dass eine einzige Dose umgekippt rumliegt und wollt sie unbedingt gerade aufrichten. Es gibt heute so viele Probleme unter uns Christen, aber Ihr tut so, als ob es genügen würde, dass man hier und da mal etwas mit dem Staubwedel rübergeht! Merkt Ihr nicht, dass Ihr völlig übertreibt und dass ihr versucht, an einem X-Beliebigen ein Exempel zu statuieren, indem Ihr bei ihm das Haar in der Suppe sucht? Ich kenne den Hans-Udo viel besser als Ihr und weiß auch um seine Fehler, aber er ist im Vergleich zu den meisten anderen Christen ein wirklich treuer Diener des HErrn, weil er nicht redet, sondern tut. Wo gearbeitet wird, da fallen aber auch mal Späne. Ich könnte Euch Sachen erzählen über den Hans-Udo, wo Eure Vorwürfe läppisch wären im Vergleich, aber obwohl ich das weiß, halte ich ihm die Treue, denn das ist wahre Bruderliebe!“
Sie schauten sich an, und Rolf sagte behutsam: „Was weißt Du denn noch über den Hans-Udo, was wir noch nicht wissen?“ – „Das werde ich Euch natürlich nicht auf die Nase binden, denn Ihr würdet ihm daraus nur einen Strick drehen! Ihr wollt ihn ja nur zur Strecke bringen, aber die Liebe deckt die Fehler des anderen zu!“ – Tobias entgegnete: „Jaaaa, wenn jemand seine Fehler BEREUT! Wenn jemand aber in Sünde lebt und man überführt ihn nicht, dann macht man sich nach Hesekiel 3 mitschuldig an seiner Sünde! Also wenn Du etwas weißt, solltest Du das jetzt offen bekennen.“ – „Nein, das werde ich nicht tun, denn ich kenne Euch, und Ihr wollt ihn nur ans Messer liefern!“ – „Simon, hast Du etwa kein Interesse daran, dass Hans-Udo zur Buße kommt? Komm, – sag uns die Wahrheit! denn die Wahrheit allein macht frei!“ – „Nein, das wäre eine weitere Treulosigkeit gegen diesen Bruder, und er hat schon genug gelitten, das kann ich nicht machen.“ – Tobias: „Simon, wir können nur Gemeinschaft miteinander haben, wenn wir im Licht wandeln. Wenn Du aber Sünde verbergen willst, dann wirst Du auch weiterhin kein Gelingen haben (Spr.28:14). Frag Dich doch mal, warum diese ganze Arbeit jetzt auf der Kippe steht. Liegt es nicht genau daran, dass Ihr irgendetwas vertuschen wolltet? Gott will aber, dass wir ein reines Gewissen haben sollen und dass wir uns keiner Sache schämen müssen. Deshalb: Stell Dich ins Licht!“ – Ich bereute, dass ich sie überhaupt auf diese Fährte gelockt hatte, denn jetzt kam ich nicht mehr so einfach aus dieser Nummer raus. Tobias würde keine Ruhe geben, bis er es herausgefunden hat, und ich könnte nicht „frei den Blick erheben“, solange ich noch ein dunkles Geheimnis mit mir tragen müsste. Unter der Bedingung, dass sie nichts unternehmen mögen, entschied ich mich schließlich, ihnen die Wahrheit zu sagen, indem ich ihnen von dem Schmu des Anwalts berichtete und dass wir letztlich mit unserer Unterschrift darin eingewilligt hatten.
Die Reaktion von Tobias war zu erwarten und erinnert mich im Nachhinein an die des Hohenpriesters bei der Verurteilung Jesu: „Was bedürfen wir noch weitere Zeugen. Jetzt habt ihr´s doch alle gehört!“ Ich erinnerte Tobias noch einmal an sein Versprechen, dass er den Hans-Udo in Ruhe lassen wolle und vereinbarte mit den Brüdern, dass ich selbst dem Hans-Udo schreiben würde, um ihn zur gemeinsamen Buße zu bewegen. Tobias war jedoch nicht so naiv wie ich und fügte hinzu: „Wir versprechen Dir, nichts zu unternehmen, bevor Du ihm geschrieben hast, sondern wollen erst einmal seine Reaktion abwarten.“ – „Ihr werdet sehen, dass Bruder Hans-Udo seinen Fehler einräumen wird, zumal es ja auch nur etwas Geringes ist, das jedem von uns mal passieren kann. Ich kenne diesen Bruder jetzt schon seit vier Jahren und weiß deshalb, dass es ihm immer nur um die Ehre Gottes ging. Den Eindruck, den Ihr von ihm habt, ist einfach völlig falsch und verzerrt. Ihr müsstet mal seine Briefe lesen, wenn er an mich schreibt, dass er immer nur den HErrn Jesus groß macht!“ Daraufhin Tobias: „Ach, Simon, wo Du das gerade ansprichst: Macht es Dir was aus, wenn Du mir mal die Briefkorrespondenz zwischen Euch zu lesen geben könntest?“ – Ich überlegte kurz und sagte: „Nur unter der Bedingung, dass Du mir versprichst, dort nicht nach weiteren Anklagegründen gegen Hans-Udo zu suchen! Außerdem darfst Du Dir auch keine Kopien daraus machen, denn unser Briefwechsel ist vertraulich!“ – Tobias antwortete: „Ich verspreche es Dir.“ Dann gab ich ihm die Mappe mit den Briefen und wir verabschiedeten uns. Nachdem sie gegangen waren, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Es kam mir vor, als wenn ich wie Judas gerade meinen besten Freund verraten hätte…
An dieser Stelle wird sich wohl jeder Leser an den Kopf fassen, wie ich nur so naiv sein konnte; und auch ich selbst muss mich das heute selbstkritisch fragen. Dass Tobias sich letztlich nicht an sein Versprechen gebunden fühlen würde, war letztlich abzusehen, wenn man seinen „Killerinstinkt“ einmal kennengelernt hatte. Aber letztlich war es dem Tobias gelungen, mich zu beschwatzen, indem er „Kreide gefressen“ hatte, um mich zu täuschen (wie in der Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein). Nach Heiligabend erfüllte ich mein Versprechen und schrieb dem Bruder Hans-Udo einen 6-seitigen Brief, in welchem ich ihm in aller Unterwürfigkeit bat, auf die Forderung der Brüder einzugehen, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, damit endlich Ruhe einkehre. Am liebsten wäre mir ja gewesen, dass sich alle Seiten wieder miteinander vertragen würden und wieder alles so harmonisch sei wie früher; aber Tobias war kein Mann des Friedens, sondern gehörte zu der Sorte streitsüchtiger Menschen, die die Bibel als „Söhne der Zeruja“ bzw. als „Donnersöhne“ bezeichnet. Selbstverständlich machte sich Tobias von den Briefen Kopien, weil er darin wieder Anhaltspunkte zum öffentlichen Verklagen des Bruders fand und fertigte eine umfangreiche „Ermittlungsakte“ an, die er dann u.a. an einen Bruder namens Michael Nagel zur Prüfung sandte. Dieser aber konnte die Vorwürfe nicht teilen und fand sie ebenso wie ich übertrieben. Und so erwies sich Tobias Schaum schließlich als Schaumschläger, und die ganze Sache verlief nach ein paar Monaten im Sand.