Juli – September 1997
Der Tod von Lady Diana
Ende August 1997 starb die englische Prinzessin Lady Diana bei einem Autounfall in Paris zusammen mit ihrem Geliebten Dodi Al-Fayed. Doch nicht ihr Tod als solcher war so bemerkenswert, sondern die völlig übertriebene Trauer um sie, die plötzlich ganz Europa wie einen Schleier der Schwermut ergriff. Diese echte Trauer – auch der Deutschen – hatte gar keinen rationellen Grund mehr, denn kaum einer hatte sich zuvor besonders für Lady Diana interessiert, außer vielleicht die Leser der Klatsch- und Tratschpresse. Nein, dieses Trauergefühl hatte sich völlig abgelöst von der eigentlichen Ursache und sich verselbstständigt. Der Tod von Lady Diana stand symbolisch für einen Opfertod des Guten durch das Böse, ähnlich vergleichbar wie der Tod von John-F. Kennedy 1963, als sogar mein Vater spontan anfing zu weinen, als er damals als 22-Jähriger im Radio davon erfuhr.
Was aber war der Hintergrund? Lady Diana Spencer hatte 1981 als 19-Jährige den um 13 Jahre älteren Prinz Charles geheiratet, ohne zu wissen, dass dieser damals schon eine heimliche Jugendfreundin hatte namens Camilla, von der zu trennen er es aber nicht übers Herz brachte. So führten sie also in den ersten 10 Jahren im Grunde eine „Ehe zu Dritt„, unter der Diana zunehmend litt. Ganz ähnlich und parallel war aber auch die Ehe von meinem Schwager Israel verlaufen, als er 1984 als 30-Jähriger die 11 Jahre jüngere Alexandra heiratete, nur dass Israel keine heimliche Jugendfreundin besaß, dafür aber durch eine vererbte Schilddrüsenunterfunktion etwas in seiner Libido eingeschränkt war. Und so wie Lady Diana sich dann aus Frust in ihren Reitlehrer verliebte und später in den arabischen Millionärssohn Al-Fayed, so ging auch Alexandra während ihrer unglücklichen Ehe immer wieder heimlich fremd, bis sie sich dann endgültig in den – damals noch – Dozenten eines Computerkurses verliebte. Prinz Charles stand für den Zwang und Lady Diana für die Freiheit. Man hatte also unbewusst den Eindruck, dass die Freiheit von dem Zwang getötet wurde. Und tatsächlich wollten schon damals viele notorische Verschwörungstheoretiker nicht an einen plumpen Autounfall eines betrunkenen Fahrers glauben, sondern an einen heimtückischen Mord.
Der Tod von Lady Diana 1997 löste ähnlich wie der Tod von Che Guevarra 50 Jahre zuvor auch eine Welle der Wut und Empörung gegen das „alte System“ und die „verknöcherten Strukturen“ aus. Manche verlangten sogar, dass man die englische Monarchie ganz abschaffen sollte, zumal Königin Elisabeth kaum ehrliche Trauer zeigte über den Tod ihrer Ex-Schwiegertochter. Zunächst wurde ihr sogar von königlicher Seite ein Staatsbegräbnis verweigert, weil die Ehe ja bereits rechtmäßig geschieden war. Lady Diana, die sich zu Lebzeiten auch für die weltweiten Opfer von Tretminen eingesetzt hatte, wurde derweil posthum zu einer Heiligen hochstilisiert und ihr Tod als heldenhafte Tragödie betrauert, so als ob sie mit sämtlichen Menschen Europas persönlich verwandt war. Zur selben Zeit lief ironischerweise gerade der Film „Titanic“ in den Kinos, wo ebenso der Held am Ende sein Leben ließ für seine verbotene Geliebte, in der Hoffnung, sie dermal einst im Totenreich wieder zu sehen. Der Taschentuchverbrauch bei diesem Herzschmerz-Blockbuster war so groß, dass viele Frauen den Film bis zu 50-mal hintereinander anschauen wollten.
Parallel zur Empörung gegen das englische Königshaus war auch der Groll gegen die neoliberale Politik sämtlicher Regierungen Europas in den letzten 15 Jahren. Man wollte auch in Deutschland endlich einen Politikwechsel, weil die Leute allmählich „die Birne“ Helmut Kohl leid waren. Das CDU-Argument, dass dem Kohl doch die Deutsche Einheit zu verdanken sei, hatte allmählich an Strahlkraft verloren, zumal von den versprochenen „blühenden Landschaften“ im Osten auch sieben Jahre nach der Vereinigung nichts zu sehen war, sondern im Gegenteil nur Stilllegungen von unrentablen Industrien und Massenarbeitslosigkeit. Die Kohl-Regierung hatte in den Augen vieler das Land abgewirtschaftet und gehörte deshalb endlich abgewählt. Man träumte schon ein Jahr vor der Bundestagswahl von einem glorreichen Neuanfang durch eine rot-grüne Koalition, durch die endlich mehr soziale Gerechtigkeit, aber zugleich wirtschaftlicher Aufschwung kommen solle. Bei den Aktienkonzernen sollte nicht länger nur der „Shareholder Value“ im Vordergrund stehen, d.h. Gewinne durch sog. „Konsolidierung“ ( = Massenentlassung), sondern eine Win-Win-Situation durch Förderung und Forderung der Verantwortlichen.
Auch ich selbst hatte damals diese Aufbruchsstimmung gespürt und dachte, es sei langsam an der Zeit, mit auch einmal Aktien zu kaufen. Durch den Börsengang der Deutschen Telekom waren viele Deutsche 1996 zu Kleinaktionären geworden, so dass der Gesamtmarkt allmählich angestiegen war. Die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank und auch der EZB trieb zudem immer mehr Anleger ins Aktiengeschäft, denn der Renten- und Anleihenmarkt brachten längst nicht so hohe Gewinne ein. Vor allem war es aber das Aufkommen der Internet- und Telekommunikationsunternehmen, die den Aktien auf einmal einen regelrechten Boom bescherten. Viele kleine Start-Ups, wie IT-, Biotech oder High-Tech-Unternehmen, die gerade erst an die Börse gegangen waren, hatten innerhalb von wenigen Monaten eine so hohe Kapitalisierung erreicht, dass sie bereits den Wert riesiger Altkonzerne überschritten. Für solche überbewerteten Hoffnungsträger schuf man ein ganz neues spekulatives Anleger-Segment, nämlich den sog. „Neuen Markt“, wo sich die Jäger nach dem schnellen Geld austoben konnten. Ich selbst wollte aber erst mal nicht so viel riskieren und investierte nur 500,- DM in einen sog. „Blue-Chip“ (sichere Anlage), indem ich 300 Aktien von Daimler kaufte. Mit großer Freude stellte ich dann fest, dass meine Aktien jeden Tag ein wenig stiegen.
War Jesus etwa „größenwahnsinnig“?
Zur selben Zeit beschäftigte ich mich aber auch weiterhin intensiv mit der Frage, wie ich denn von nun an das Reden und Wirken Jesu für mich einordnen konnte. Wenn es keine Rettung vor einer ewigen Verdammnis mehr gab, dann bedurfte es aber auch keines Retters mehr. Wenn aber Jesus nicht der von Gott gesandte Retter und Erlöser war, der für unsere Sünden am Kreuz starb, wer war Er dann? fragte ich mich. Und wozu starb Er dann am Kreuz? War alles nur ein tragisches Missverständnis? Eine Wahnidee? Aber wer denkt sich so etwas aus? Wie kommt jemand auf den Gedanken, dass er von sich selbst sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, als nur durch mich.“ (Joh.14:4). Lag es vielleicht daran, dass Jesus als Jude ein so frommes Leben führte, dass er irgendwann dachte, dass vielleicht er der verheißene Messias war? In der Psychiatrie findet man ja häufig solche größenwahnsinnigen Narzissten oder schizophrene Paranoiker, die die Ablehnung durch andere als Beweis für ihre Auserkorenheit und ihren speziellen Sendungsauftrag werten. Viele von diesen waren außerordentlich scharfsinnige Dichter oder Denker, denn man sagt ja auch, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen. Aber konnte ich so weit gehen und dem HErrn Jesus eine Geistesgestörtheit unterstellen? Nein, das wollte ich nicht.
Zu jener Zeit unterhielt ich mich mit einer Christin, die eifrig davon überzeugt war, dass Gott, der Vater, und Jesus, der Sohn, ein und dieselbe Person waren, die unterschiedliche Rollen spielte. Auf der einen Seite war man durch solch eine Meinung natürlich das Logik-Problem der Dreieinigkeit los, hatte sich aber dadurch noch viel größere Probleme aufgehalst. Zunächst fragte ich sie, ob sie glaube, dass der HErr Jesus bei Seinen Gebeten zum Vater Selbstgespräche geführt habe. Und speziell wallte ich auch wissen, wie Er dann sagen konnte: „Nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille“, wenn es doch ohnehin ein und derselbe Wille sei. „Nein, sondern Gott war ja in Ihm, so dass Er ein inneres Zwiegespräch führte.“ – „Also doch mit sich selbst!“ antwortete ich. „Ja, wenn man so will…“ Wie es aber möglich gewesen sein sollte, dass Gott aus dem Himmel zu Seinem Sohn sprach und dieser Ihm antwortete, konnte sie mir nicht erklären. „So etwas kann man nicht mit dem Kopf verstehen, sondern nur mit dem Herzen“. Besonders kompliziert wurde es dann, als ich sie an die Stelle erinnerte, dass der HErr Jesus jetzt „zur Rechten Gottes sitzen“ würde. „Kann denn jemand zur Rechten seiner selbst sitzen?“ fragte ich sie. „Nun ja, das bleiben Geheimnisse, die wir nie ergründen können“, bekam ich zur Antwort. In mir aber wuchs dabei immer mehr der Verdacht, dass der Mensch die Gabe besaß, sich alles Mögliche vorzustellen, wenn es seinen Wünschen und Bedürfnissen entsprach, selbst wenn es fern von jeder normalen Logik war. Zugleich aber konnte er alternative Möglichkeiten, die viel naheliegender waren, einfach völlig ausblenden, wenn sie sein Wunschbild auch nur im Geringsten ins Wanken bringen würden.
Im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ war es aber die Unbedarftheit und Unvoreingenommenheit eines Kindes, das die nüchterne Feststellung machte: „Der Kaiser ist ja nackt!“ Deshalb nahm ich mir vor, einmal alle geistlichen Behauptungen und Deutungsversuche einfach zu ignorieren, um dadurch endlich mal „nüchtern“ – wie ich meinte – und ohne Tabus auf die Person Jesu zu schauen. So schrieb ich damals – für mich heute erschreckend Lästerliches – dem Hans-Udo: „Jesus kam und nötigte arbeitende Familienväter, mit ihm durch die Lande zu wandern. Dabei ließ er ihnen nicht einmal die Zeit ihre Verwandten zu begraben. Objektiv gesehen brachte er den Menschen keine ‚frohe Botschaft‘, sondern verbreitete mit seinen Höllenandrohungen Angst und Schrecken. Seine Worte waren durchaus nicht immer ‚voller Gnade‘, sondern häufig von einer ungewöhnlichen Gereiztheit und Aggressivität. So verflucht er Chorazin und Kapernaum, weil sie nicht an ihn glauben konnten, er verflucht die Pharisäer und Schriftgelehrten, nur weil sie ihn ablehnten und er verflucht sogar einen Feigenbaum, nur weil er ihm zur Frühlingszeit keine Frucht bringen konnte. Ebenso wurden auch harmlose Schweine, die Haustiere der Gadarener, auf Jesu Geheiß in den Abgrund getrieben. Die Wechsler und Taubenverkäufer wurden von Jesus aus dem Tempel vertrieben, obwohl diese im Gegensatz zu ihm wenigstens bemüht waren, selber ihren Lebensunterhalt zu verdienen und nicht auf Kosten anderer zu leben. Ist es bei allem ein Wunder, wenn die Menschen damals sagten: Wir wollen nicht so einen verbiesterten und größenwahnsinnigen Störenfried!“ Dass dies eine völlig einseitige und entstellte Darstellung des Lebens und Wirkens des HErrn Jesus war, bei der ich sämtliche Begründungen, Erklärungen und Aussagen des HErrn und der Heiligen Schrift einfach außer Acht ließ, zeigt mir heute, wie sehr ich schon damals unter einen dämonischen Einfluss gekommen war.
Mein Freund Hans-Udo sagte mir später am Telefon, dass er schockiert war, mit welch einer Unverfrorenheit ich auf einmal über den HErrn Jesus schrieb. Ich räumte jedoch am Ende meines Briefes ein, dass ich keinesfalls stolz darauf sei auf meine neu gewonnen Erkenntnisse: „Durch meine neu erlangte Freiheit bin ich nicht etwa glücklicher geworden, eher fühle ich mich heute ziemlich allein. Weder unter meinen Familienangehörigen, noch unter meinen Arbeitskollegen finde ich wirkliche Gleichgesinnte. Mir fehlt die christliche Bruderschaft (Ps.42:4). Ein wenig habe ich davon bei den Freimaurern gespürt, aber ich bin bei manchem von ihnen nicht einverstanden. Sie haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit gewissen Allversöhnerkreisen, wie z.B. dem von F.-H. Baader: viel Theorie und wenig Praxis. Aber auch mit sozialistisch-humanitären Aktivitäten kann ich wenig anfangen, weil sie ähnlich mit Vorurteilen und naiven Denkklischees hantieren wie die Christen. Daher leide ich zur Zeit an einer inneren Leere. Ich vertreibe mir die Zeit mit Wirtschaftsliteratur, speziell über Aktien, von denen ich mir vor einigen Monaten ein paar gekauft habe. Es ist eher ein Spiel als ein ernsthaftes Interesse. Ich komme mir vor, als würde ich auf etwas warten, aber ich weiß nicht, was. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser Zustand von Dauer sein wird. Ich habe auch Probleme mit meinen Arbeitskollegen. Es ist, als ob wir einfach verschiedene Sprachen sprechen; ich kann mich einfach nicht richtig anpassen, weil wir in ganz verschiedenen Welten leben. Sie interessieren sich für LKW und Kräne, weil dies ihr Job ist (es ist nämlich eine Kran- und Schwertransportfirma), ich hingegen interessiere mich für Geschichte, Politik, Philosophie und Psychologie. Heute bereue ich es, dass ich nicht studiert habe, und es gibt jetzt kein zurück mehr. Ich werde versuchen, mich so bald wie möglich selbständig zu machen…“ (Brief vom 27.08.1997).
Israels Besuch in Deutschland
Inzwischen hatte Alexandra (32) die Scheidung beantragt und zugleich sich verlobt mit ihrem heimlichen Geliebten, einem Richter namens Hipólito, von dem sie ein Kind erwartete. Auf das Sorgerecht für die Kinder hatte Alexandra nach mehreren zähen Verhandlungen am Ende verzichtet, zumal sie sah, wie sehr Israel seine Kinder brauchte. Auch willigte sie ein, dass ihre Söhne den Israel begleiten dürfen bei seiner Besuchsreise nach Deutschland, weil die Behörden eine solche Einwilligung von ihr forderten. Bei der Beantragung der Visa für Israel, Jonathan und Joel hatte man uns dann jedoch mitgeteilt bei der Deutschen Botschaft in Lima, dass die beiden Jungen nicht ausreisen dürfen, da sie noch schulpflichtig seien. Deshalb machte Israel den Vorschlag, dass in diesem Fall nur er käme und seine beiden Söhne in der Zwischenzeit von den Großeltern betreut und versorgt werden. Insgeheim hatten wir gehofft, dass Israel in Deutschland vielleicht eine andere Glaubensschwester in seinem Alter (43) kennenlernt und sie heiratet, damit er und seine Söhne dann dauerhaft bei uns in Deutschland bleiben könnten. Die einzige, die wir kannten, war Elena (ca. 42), weshalb wir sie immer wieder zu uns einluden, damit der Funke überspringe. Doch so sehr Israel sich auch bemühte, der Elena seine Aufwartung zu machen, verhielt sich Elena leider sehr zurückhaltend wie ein „kalter Fisch„, zumal sie so viel Aufmerksamkeit nach Jahren der Ablehnung gar nicht gewohnt war.
Da wir inzwischen 6 Leute waren in unserer 60 qm-Wohnung und die Verbrauchskosten deutlich gestiegen waren, hatte ich schon einige Wochen zuvor begonnen, frühmorgens um 4.00 Uhr den Weser Kurier an die Briefkästen der Abonnenten eines Bezirks zu verteilen. Nachdem ich mit der Arbeit ausreichend vertraut war, nahm ich auch Israel mit, um ihn einzuarbeiten, bis er schließlich den Job unter meinen Namen voll und ganz übernahm, damit er sich dadurch etwas Geld verdienen konnte. Desweiteren versuchte ich, mir durch Malerarbeiten am Wochenende etwas nebenbei zu verdienen. Ich machte mir einen Flyer mit der Aufschrift „Malerarbeiten vom Fachmann zum Sparpreis“ und gab darauf meine Adresse und Telefonnummer an. Diesen Werbezettel verteilte ich überall in unserem Stadtteil Kattenesch. Es dauerte nicht lange, da bekam ich nicht nur jede Menge Anrufe von interessierten „Kunden“, sondern auch einen Anruf vom Zoll-Amt „zur Bekämpfung von Schwarzarbeit„, das mich bat, dort vorstellig zu werden. Ich erklärte dem ermittelnden Beamten, dass ich demnächst meinen Meistertitel hätte, aber schon einmal vorab auf der Suche nach potentiellen Kunden sei. Er erklärte mir, dass schon allein die Werbung für Handwerksleistungen ohne gültigen Meistertitel eine strafbare Handlung darstelle. Er fragte mich, ob ich denn schon Aufträge erhalten habe, und ich verneinte dies (obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach). Da ich bisher nicht aufgefallen war, beließ es der Beamte mit einer Verwarnung, wies mich aber darauf hin, dass ich im Wiederholungsfall mit einer empfindlichen Geldstrafe zu rechnen habe.
Israel hatte unterdessen ein Buch geschrieben über die Geschichte seiner Familie mit dem Titel „Auferstiegen aus der Asche“ und versuchte es nun, als Geschenk unter das spanisch sprechende Volk zu bringen, u.a. auch in unserem spanischen Bibelkreis. Auch nahm er in jener Zeit an einer Konferenz sämtlicher spanisch sprechender Pastoren aus Deutschland teil, die sich in Hannover trafen. Damit er ein wenig von Deutschland sehen könne, machte ich mit ihm an einem Wochenende eine Reise nach Berlin, wo wir das Brandenburger Tor und den Reichstag besuchten sowie einige andre Sehenswürdigkeiten. Unversehens durften wir dabei auch zusehen, wie gerade eine Szene für einen Kinderfilm gedreht wurde. Auf der Rückreise bekannte ich dem Israel, dass ich meinen Glauben verloren hatte. Er weinte ein wenig, sagte aber kein Wort dazu. Auch plante ich mit ihm in den Herbstferien eine Reise nach Sachsenheim, damit er auch mal Daniel Werner und die anderen Geschwister kennenlernte. Während des Besuches in Sachsenheim verband sich die Seele von Schwester Elisabeth Warnke (64) mit der von Israel, und sie liebte ihn von da an wie einen Sohn. Diese enge Freundschaft dauert noch bis heute an, so dass Jonathan und Joel fortan die Elisabeth als ihre Oma betrachteten. Jahrelang hat Elisabeth von ihrer kleinen Rente nach Lima überwiesen, und freute sich, dass sie nun eine neue Familie gefunden hatte. Sie lernte aus Liebe zu Israel sogar Spanisch und hat danach Hunderte von Briefen mit Israel und den Söhnen ausgetauscht und Dutzende an Paketen zu ihnen geschickt.
Das Haus in Parcona, wo Israel wohnte und sich auch die kleine Versammlung traf, war über die Jahre heruntergekommen und brauchte dringend eine Renovierung. Wasser gab es dort nur eine Stunde am Tag und wurde dann in den Behältern gesammelt. Auch der Strom fiel ständig aus, weil die Infrastruktur in dieser ländlichen Gegend noch nicht richtig ausgebaut war. Israel hatte deshalb den Wunsch, in ein anderes Haus umzuziehen, das näher bei Ica liegt und auch größer ist, um Gäste zu beherbergen. Sein Vater Luis half ihm und kaufte im Vorort San Joaquin ein kleines Grundstück von 30 x 40 m, auf dem er ein Haus bauen könne. Auch wir versprachen Israel Hilfe, indem Ruth von nun an das Kindergeld für Rebekka sowie auch alle Einnahmen durch ihre Tätigkeit bei ihrem Chef, Dr. Koch. So schickten wir alle zwei Monate etwa 1.500,-DM nach Peru, die Israel für den Bau des Hauses ansparte. Aber auch die Geschwister Elisabeth Warnke und Karl-Heinz Schubert (57) aus Sachsenheim überwiesen in etwa ebenso viel, so dass Israel beim Baubeginn zwei Jahre später über eine Summe von etwa 36.000,- DM verfügte, was einer Kaufkraft von etwa 180.000,-DM für peruanische Verhältnisse entsprach. Am Ende entstand ein Bungalow von etwa 200 qm mit großem Versammlungsraum, großer Wohnküche, 4 Schlafzimmern und zwei Badezimmern.
Oktober – Dezember 1997
Mein neues „Glaubenskonzept“
Anfang Oktober bat mich mein Chef, Herr Wittmann, in sein Büro. Dieser Freitag war genau der letzte Tag meiner 6 Monate Probezeit in der Firma, und ich ahnte schon, dass er mich möglicherweise kündigen wolle, zumal ich inzwischen auch wirklich alles gemalt und lackiert hatte, was es überhaupt in der Firma zu streichen gab, und auch schon viele Male bei Herrn Wittmann die privaten Räume seines Hauses in Ganderkesee gemalert hatte. Und tatsächlich teilte mir Herr Wittmann mit, dass er mich über die Probezeit hinaus nicht weiter beschäftigen wolle. Ich fragte ihn, ob er mir vielleicht aus Kulanz noch wenigstens eine Verlängerung von zwei Monaten geben könne, da ich ja ohnehin aus Bremen wegziehen wolle, aber bis dahin noch etwas arbeiten könne. Er war so freundlich, dass er meine Bitte gewährte und einen neuen Zeitvertrag für zwei Monate mit mir ausmachte.
Inzwischen hatte ich auch einen „modus vivendi“ gefunden, wie ich meinen Glaubensabfall für mein gläubiges Umfeld nachvollziehbar nach außen vertreten konnte, ohne dabei für sie als „Ungläubiger“ zu gelten. In einem Brief an meinen Schwiegervater Luis vom 14.11.1997 schrieb ich: „Es trifft schon zu, dass ich mich ziemlich weit von meinem bisherigen Glauben entfernt habe, da sich in vielen Dingen meine bisherige Denkweise verändert hat. Deshalb glauben viele Geschwister inzwischen, dass ich kein Kind Gottes mehr sei, aber das stimmt nicht. Ich liebe meinen himmlischen Vater noch genauso wie bisher, aber ich habe inzwischen eine andere Vorstellung [„concepto„] von Ihm, d.h. ich glaube nicht mehr, dass Gott sich wirklich so sehr für die noch so kleinsten Problemchen unseres Alltags interessiert, sondern es geht Ihm um das große Ganze, d.h. Er überwaltet unsere Wege und gibt uns auch dann noch Gelingen, selbst wenn wir es gar nicht verdienen. Ich glaube auch nicht mehr, dass Er uns ständig bestraft für jeden kleine Fehler, den wir begehen, denn Er ist souverän und hat auch keinen Bedarf daran, dass wir Ihn ständig loben müssten, denn Er weiß ja, dass wir Ihm dankbar sind für alles und völlig von Ihm abhängig sind. Ich sehe die Ungläubigen auch nicht mehr als meine Feinde an, sondern als Leidensgenossen, da Gott ja jedem Seiner Geschöpfe Leiden auferlegt hat. Hierin gibt es also im Prinzip gar keinen Unterschied, aber es gibt leider nur wenige Gläubige, die diese Wahrheit annehmen wollen. Deshalb bitte ich Sie, dass Sie meine Überlegungen nicht mit anderen, schwachen Brüder teilen sollten wie z.B. mit Bruder Samuel Franco. Jene sind nicht würdig, von meinen persönlichen Problemen zu erfahren, da sie diese Informationen zu ihren eigenen Zwecken missbrauchen würden.“
Im Wesentlichen hatte mein neues Glaubenskonzept also eher rationalistische und deistische Züge, die vom Humanismus der Aufklärung geprägt waren. Die unbewusste Absicht, die hinter dieser Wunschkonstruktion steckte, war die: Wenn es stimmt, dass Gott sich nicht allzu sehr für uns interessiere, dann brauchen wir uns im Umkehrschluss auch nicht mehr allzu sehr für ihn interessieren. Tatsächlich kam ich mir ja vor wie ein Kind, das eines Morgens aufsteht und feststellen muss, dass seine Eltern spurlos verschwunden sind, ohne irgend einen Zettel zu hinterlassen. Ich verglich die Welt und ihre Religionen damals mit einem Maurer-Lehrling, der neu auf eine Baustelle kommt und der feststellen muss, dass zwar alle Bauleute irgendetwas tun, aber niemand eigentlich wirklich einen Plan habe, wie das Gebäude weitergebaut werden müsse, weil weder der Architekt, noch der Bauleiter und noch nicht einmal der Firmenchef anwesend waren, aber auch nie wirklich auftauchten. Allmählich dämmerte dem Lehrling, dass es in Wirklichkeit nie einen Firmenchef gab, sondern die Arbeiter nur einer Illusion erlegen waren, dass man sie eingestellt habe, sich aber jeder geweigert habe, seine Rolle zu hinterfragen. Das würde dann nämlich auch erklären, warum so viele Regeln im Christentum eigentlich gar nicht zuendegedacht wurden, weil man sich fürchtete, auf ein unerfreuliches Denkergebnis zu stoßen. Wozu musste z.B. der Sohn Gottes sterben, wenn Gott doch einfach die Regel der Sühnenotwendigkeit hätte abschaffen können? zumal doch niemand im gesamten Universum auf die Einhaltung der Sühneregel hätte bestehen können, wenn Gott selbst sie für unnötig erachtet hätte. Oder warum müsse man Gott immer wieder danken, wenn Er doch unsere Gedanken lesen kann und weiß, dass wir Ihm dankbar sind? usw.
Unser Umzug nach Hannover
Nachdem Israel wieder zurückgereist war nach Ica, begannen Ruth und ich unseren Umzug nach Hannover zu planen für Mitte Dezember. Ich hatte mich in der Meisterschule in Garbsen angemeldet, um von Januar bis Juni 1998 dort in Vollzeit die Teile 1 (Fachtheorie) und 2 (Fachpraxis) zu belegen. Wenn ich bestehen würde, hätte ich Anfang Juli meinen Meistertitel. Ruth wiederum hatte sich für das Wintersemester in der Tiermedizinischen Hochschule Hannover einschreiben lassen, um in sämtlichen Fächern nachgeschult zu werden, damit sie am Ende ihre Anerkennung als Tierärztin in Deutschland hätte. Aus der Zeitung hatten wir uns auch schon einige Wohnungsanzeigen in Hannover herausgesucht und sie vor Ort besichtigt, aber meistens stimmte das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht. Denn da das Meister-BAföG trotz gewährter Vollförderungsbedürftigkeit niemals ausreichen würde, um alle Kosten zu decken, mussten wir eine Wohnung nehmen, deren Miete noch einigermaßen erträglich war. Dies war aber in Hannover sehr schwierig, weil die wenigen billigen Wohnungen meist zu schlecht waren, als dass man dort zu Fünft hätte wohnen können (Ruth, ich, Rebekka, Rossana und Moses). Schließlich fanden wir eine maklerfreie 100 qm-Wohnung in Neustadt am Rübenberge für 1000,-DM Warmmiete im Monat, die uns sehr gut gefiel und nur 15 Min. von der Meisterschule in Garbsen und etwa 30 Minuten von der Tierärztlichen Fakultät in Hannover entfernt war. Zugleich erhielten wir auch einen Bescheid vom BAföG-Amt, dass man mir ein zinsfreies Darlehen von monatlich 1000,-DM geben würde zzgl. einer Förderung von 313,-DM/mtl., die ich aber nicht zurückerstatten müsse. Wir freuten uns über die Hilfe, waren uns aber auch bewusst, dass wir von 300, -DM + 150,-DM Kindergeld allein nicht leben könnten.
Mitte Dezember liehen wir uns dann einen kleinen Lkw aus, luden alle unsere Möbel ein und fuhren dann in unser neues Zuhause nach Neustadt am Rübenberge in die Saarstr. 21, 1.OG rechts. Da die neue Wohnung viel größer war, als die bisherige, mussten wir uns später noch einige gebrauchte Möbel dazukaufen, damit sie nicht so leer aussah. Da die Meisterschul-Lehrgänge erst im Januar losgingen, hatte ich auch noch genügend Zeit, die Wohnung zu streichen. Über Weihnachten gab es allerdings dann eine Woche lang überfrierende Nässe, so dass die Straßen stellenweise unpassierbar waren. Bei der Ausfahrt Neustadt bin ich daher mit dem Wagen aus der Kurve geschleudert und ohne Kontrolle über den Wagen an mehreren Bäumen vorbei geflogen, wobei sich der Wagen mehrfach um seine Achse drehte. Gott sei Dank, dass mir damals nichts passiert war.
Januar – März 1998
Mein Schwiegervater
Luis Condori Palacios (1920-2006) wurde in einem Dorf namens Huaychuacho geboren im Bundesstaat Ayacucho und wuchs dort zusammen mit seinem Bruder Alejandro (1924- 1997) bei der alkoholsüchtigen Mutter auf (der Vater war schon früh gestorben). Als er 11 Jahre alt war, schickte die Mutter Luis mit seinem Bruder in die Küstenstadt Ica hinab, um dort zu arbeiten und spanisch zu lernen (im Gebirge sprach man damals nur die Inka-Sprache Quechua). Sie wohnten dort im Haus eines Großgrundbesitzers, eines tyrannischen Offiziers, der sie ständig misshandelte und z.T. auch sexuell missbrauchte. In den 40er Jahren wollte sich Luis in der neuen Fabrik des amerikanischen Reifenherstellers Goodyear bewerben und stellte sich in eine lange Schlange zur Musterung an. Als er dann an der Reihe war, wurde er einfach aussortiert, weil er durch seine stark indianischen Gesichtszüge und seinen Igelhaarschnitt auf die Amerikaner trottelig wirkte. Luis ließ sich jedoch nicht unterkriegen, sondern stellte sich einfach nochmal in die Schlange an. Als er dann wieder dran war, sagte man zu ihm: „Kapierst du es nicht, dass wir so einen Cholo wie dich nicht wollen? Du bist wirklich ein beharrliches Kerlchen. Vielleicht sollten wir dir einfach mal eine Chance geben.“ Luis wurde also eingestellt und arbeitete so hart er konnte, auch wenn der geringe Lohn nur für einen kärgliches Dasein reichte. Es gelang ihm, auch Alejandro in die Firma hineinzubringen. Luis sagte damals zu seinem jüngeren Bruder: „Lass dich nicht von den Kollegen für irgendwelche Drecksarbeit missbrauchen, sondern konzentriere dich allein auf die Reifenproduktion„. Kurz darauf kam einer der Firmenchefs zu Alejandro und sagte: „Wie könnt ihr in diesem Dreck überhaupt arbeiten?! Hey, du da, feg hier doch mal den Fußboden, ja!“ Darauf sagte Alejandro: „Nein, das werde ich nicht tun, denn ich bin hier nicht zuständig, um hier irgend eine Drecksarbeit zu machen, sondern nur um Reifen herzustellen.“ Der Chef sagte: „Ach SO ist das also!“ und notierte sich Alejandros Namen. Kurz darauf war Alejandro wieder gefeuert.
1948 heiratete Luis eine Frau in Ica, die ihm einen Sohn namens Walter schenkte. Doch sie trank viel, so dass die Ehe nach kurzer Zeit zerbrach und Luis mit dem Kind allein blieb. Luis zog deshalb in sein Heimatdorf Hauycahuacho, um sich von dort eine neue Braut zu suchen. Man empfahl ihm ein damals 16 jähriges Mädchen aus der Familie Curo. Da diese jedoch aus lauter Angst und Schüchternheit bei den Verhandlungsgesprächen mit den Eltern kein Wort sagen konnte, wollte Luis sie zuerst nicht haben, weil er dachte, sie sei taubstumm. Da Lucila kein Spanisch sprach, begriff sie erst am Hochzeitstag, dass man sie an einen 30-Jährigen verheiraten wolle und lief schnell davon, da Luis in ihren Augen alt und hässlich war. Als man sie in ihrem Versteck gefunden hatte, überredeten die Eltern sie, mit dem Mann mitzugehen, zumal sie auch schon den Brautpreis erhalten hatten. So reiste Luis mit Lucila auf einem Esel reitend vom Gebirge in die Hauptstadt Lima. Dort mietete er sich in dem Slumviertel Magdalena del Mar ein kleines Haus ohne Fenster, das nur aus zwei Zimmern bestand. Die Gemeinschaftstoilette im Slum war ein Donnerbalken, der fürchterlich stank, da es noch keine Kanalisation gab. Die Armut war groß und das Leben trist.
Eines Tages unterhielt sich Luis mit einem Arbeitskollegen über den Glauben an Jesus Christus. Luis war damals noch ein frommer Katholik, der sich zuhause einen Altar gebaut hatte für die Jungfrau Maria. Doch der Kollege überzeugte Luis, dass nur Jesus der einzige Mittler sei zwischen Gott und uns Menschen. Luis bekehrte sich und ging darauf regelmäßig in die Pfingstgemeinde. Im Jahr 1954 bekam auch Lucila ihren ersten Sohn, und er bekam den Namen Israel. Immer häufiger nahm Luis dann an Evangelisationseinsätzen in Lima teil und entdeckte sein Talent des freien Sprechens. Während seines Urlaubs reiste er dann in sein Heimatdorf Huaycahuacho und predigte dort auf dem Marktplatz das Evangelium, das in diesen Bergdörfern damals noch völlig unbekannt war. Schon bald darauf bekam der Dorfpfarrer dies mit und fing an, das Dorf gegen Luis aufzuhetzen, dass er ein „Anhänger Luthers“ sei und damit ein Abgesandter des Teufels. Die Leute wollten ihn daraufhin lynchen, aber der Dorfpolizist konnte dies gerade noch verhindern, indem er Luis in Schutzhaft nahm. Kurz zuvor hatte Luis jedoch dem Pfarrer in Gegenwart des ganzen Dorfes eine prophetische Ankündigung zugerufen: „Weil du mich daran gehindert hast, dass die Menschen die Wahrheit aus dem Wort Gottes erfahren, wird Gott dich bestrafen. Du wirst noch in diesem Jahr sterben. Und daran werden alle erkennen, dass ich vom HErrn gesandt bin und nicht aus mir selber rede!“ Die Dorfbewohner standen indes draußen vor dem Pferdestall, in welchem der Polizist ihn gefangen hielt und forderten mit lauten Rufen, dass man Luis hängen sollte, da er ein Ketzer sei. In der Nacht ließ der Dorfpolizist Luis dann wieder frei, ermahnte ihn aber, vorerst nicht wieder in das Dorf zurückzukehren, da er nicht für seine Sicherheit garantieren könne. Im gleichen Jahr starb dann der Priester tatsächlich in der Weihnachtsmesse, als er gerade den Kelch der Eucharistie hielt, an einem Herzinfarkt. Die Dorfbewohner erinnerten sich dann an das prophetische Wort von Luis und viele bekehrten sich dann in der Folge zu Christus, so dass eine Gemeinde im Dorf entstand, die der Luis dann über Jahre besuchte und dort predigte.
Von diesem Erlebnis mit Gott angespornt, fuhr Luis Anfang der 60er Jahre nun regelmäßig ins Gebirge nach Ayacucho und predigte das Evangelium in die entlegensten Bergdörfer, die man nur noch mit dem Pferd erreichen kann. Dabei nahm er auch immer seinen ältesten Sohn Walter mit, den er auf diese Weise zum Evangelisten ausbilden wollte. Gott segnete ihn und seine Arbeit, indem nacheinander viele kleine Gemeinden entstanden. Einmal ist Luis mit einem Bruder sogar über Pucallpa weit in den Amazonas-Urwald gereist, um auch den einheimischen Urwald-Indios die Evangeliumsbotschaft zu bringen. Er erzählte mir, dass er den Frauen im Dorf am Nachmittag beim Essen machen zusah. Dabei verwunderte er sich, dass sie die im Regenwald wachsenden Maniok-Wurzeln roh kauten und dann den zerkauten Brei in einen Topf spuckten. Dies taten viele Frauen zugleich über zwei Stunden lang, bis schließlich der große Topf voll war mit Spucke und zerkautem Maniok. Er dachte: „Was soll das werden?“ doch als der Abend kam, reichte man ihm eine große Schale, den man für ihn mit diesem Spuckebrei gefüllt hatte. Alle aßen dann diese Suppe und beobachteten Luis dabei, ob es ihm auch schmecken würde. Luis schaute verlegen in die Runde in die Gesichter der größtenteils zahnlosen Indios, die ihm freundlich zulächelten und sich fragten, ob er denn keinen Hunger habe. Der einheimische Bruder, der den Luis begleitet hatte und ihm als Übersetzer diente, bemerkte seine Verlegenheit und erklärte seinen Angehörigen, dass Bruder Luis von der Küste käme und daher diese – im Urwald übliche – Speise nicht gewohnt sei. Sofort zeigte der Indio-Stamm Verständnis, so dass man Luis etwas anderes zum Abendessen gab.
An einem Tag hatte die Pfingstgemeinde angekündigt, dass ein großer Evangelist aus den USA nach Lima kommen würde und dass möglichst viele zum Flughafen kommen mögen, um ihn zu empfangen. Luis stellte sich deshalb in eine Reihe mit seinen Geschwistern, damit der Evangelist jedem nacheinander die Hand geben könne. Als Luis aber an der Reihe war, fasste der Amerikaner die Hand von Luis nur mit seinen Fingerspitzen an, was dieser als einen Affront erlebte. Traurig wandte sich Luis ab und dachte bei sich: „Was kann ich dafür, dass ich nun einmal ein Indio bin?“ Plötzlich sah er einen älteren schlanken Gringo, wie er auf dem Flughafen Traktate verteilte. Es war der kanadische Kardiologe Dr. Arthur Vincent (1897-1991). Er hatte die Zeit für einen Zwischenstopp in Lima nutzen wollen, musste aber auch schon wieder zum Flugzeug zurück. Luis stellte sich kurz als Bruder in Christus vor und fragte ihn, ob er ihn denn nicht mal besuchen könne. Während Arthur zu seinem Flugzeug rannte, rief er Luis zu: „Sagen Sie mir eben ihre Postadresse!“ Luis lief ihm hinterher und rief: „Jirón Junín 37b, Magdalena del Mar„. – „Alles klar, hab ich mir gemerkt!“ sagte Arthur.
Eigentlich hatte Luis nicht damit gerechnet, dass er irgendwann noch mal etwas hören würde von diesem Gringo. Umso überraschter war er, als er plötzlich ein Telegramm erhielt, in welchem Arthur Vincent seinen Besuch in Peru ankündigte. Seither ist „Bruder Arturito“, wie sie ihn liebevoll nennen, 30 Jahre lang fast jedes Jahr für ein paar Wochen nach Peru gereist, um den Indios im Gebirge die „gesunde Lehre“ zu bringen. Stundenlange Fußmärsche machten ihm dabei trotz seines hohen Alters nichts aus. Er umarmte die nach Schweiß und Lama riechenden Brüder, als wenn er ihresgleichen wäre und schlief auf harten Strohballen in den Lehmhütten bei 10 ˚C Grad Kälte ohne zu jammern. Dadurch gewann er trotz seines stark amerikanischen Dialekts im Laufe der Jahre die Herzen aller indianischen Geschwister. Es war im Jahr 1962, als Lucila ihm eine Tochter gebar, der sie den Namen Ruth gaben (meine Frau). Um die höheren Kosten zu decken, kaufte Luis sich einen Marktstand, wo Lucila vormittags Reis und Bohnen verkaufte. Ruth wurde als Kleinkind in dieser Zeit meist zuhause eingesperrt, was umso grausamer war, da sie unter schwerem Asthma litt. Ohnehin aber war die 2-Raum-Wohnung im Slum allmählich zu klein für 5 Personen, so dass Luis sich nach einer besseren Bleibe umsah. Da erfuhr er, dass die Militärregierung ein Investitionsprogramm beschlossen hatte, um u.a. eine Mehrfamilienhaussiedlung im Stadtteil La Victoria zu errichten mit 400 günstige Wohnungen für Arbeiterfamilien. Die Siedlung wurde nach dessen italienischem Architekten Matute benannt. Luis kaufte eine 45 qm-Wohnung im Block 59 mit einem 18 qm großen Vorgarten, den er mit vielen Blumen bepflanzte.
Doch schon bald gab es Streit mit seinem gleichaltrigen Nachbarn Rigoberto, der einen Teil des Vorgartens für sich beanspruchen wollte. Eines Morgens war über einem Teilstück von Luis Garten mehrere Wäscheleinen gespannt, an denen die Wäsche des Nachbarn hing. Darauf nahm Luis kurzerhand eine Schere uns schnitt die Leinen ab, so dass die Wäsche auf den Boden fiel. Da kam der Nachbar hinausgelaufen und schubste Luis, was ihm denn einfiele. Die beiden erwachsenen Männer rauften sich auf dem Fußboden, und im Nu schauten sämtliche Nachbarn dabei zu und amüsierten sich. Diese Prügeleien zwischen den beiden wiederholten sich noch viele Male, weil Rigoberto immer wieder neue Wäscheleinen spannte, die Luis immer wieder abschnitt. Öfters kam auch Rigobertos Frau mit einem Besen hinausgelaufen, den sie dem Luis auf den Kopf schlug, um ihren Mann zu unterstützen. Dann kam auch Lucila ihrem Mann zu Hilfe und schlug ebenso mit dem Besen drein. Schnell wurden alle Nachbarn gerufen, um sich das Spektakel mit anzusehen.
Während so jahrelang Krieg herrschte zwischen den Nachbarn, hatte der 14-jährige Israel Condori sich in die gleichaltrige Nachbarstochter Isabel verliebt. Als Luis dies mitbekam, forderte er von seinen Kindern, dass sie alle spätestens um 18.00 Uhr zuhause sein sollten. Sobald sie sich auch nur um 5 Minuten verspäteten, schlug er sie mit seiner Rute. Walter hat sich dann meistens unter dem Bett verkrochen, wo Luis ihn nicht erreichte. Überhaupt schlug er die beiden Söhne regelmäßig frühmorgens nach dem Aufstehen, nachdem er ihnen die Verfehlungen des Vortages vorgehalten hatte; denn so verstand er das Gebot im Sprüchebuch: „Wer seinen Sohn liebt, der sucht ihn am Morgen heim mit Züchtigung.“ Um Kosten für den Friseur zu sparen, schnitt Luis seinen Söhnen auch immer selbst die Haare, indem er sie ganz kurz schnitt. Als Walter 16 Jahre wurde, wehrte er sich dagegen: „Ich will nie wieder, dass sie mir die Haare schneiden. Ab jetzt will ich sie mir lang wachsen lassen, wie meine Klassenkameraden!“ Vater Luis ließ ihn gewähren, zumal er stolz war auf Walter, der inzwischen schon auf dem Weg war, ein Profifußballer bei der Alianza Lima zu werden. Einen Fernseher gab es indessen nicht im Hause der Condoris, weshalb die Kinder heimlich bei den Nachbarn ihre Lieblingsserien schauten. Nach 10 Jahren Streit unternahm Lucila schließlich einen Versöhnungsversuch mit den Nachbarn, der zu einem dauerhaften Frieden führte. Luis trat dem Rigoberto einen Teil des vorderen Grundstücks ab, während dieser dem Luis ein gleich großes Stück im hinteren Garten schenkte. Jahre später baute Luis auf diesem einen Kiosk, der bis heute noch da ist und seit 1996 seinem Sohn Walter gehört.
Anfang der 70er Jahre kamen dann Cubaner nach Matute und handelten mit Drogen. Es dauerte nicht lange, da gab es keinen Jugendlichen mehr in Matute, der nicht kiffte oder kokste. Auch Israel, der im Viertel von allen Mädchen umschwärmt wurde, hatte heimlich regelmäßig Marihuana geraucht, was wohl erklären dürfte, warum er die Schläge seines Vaters immer mit einer stoischen Gelassenheit über sich ergehen ließ. Tatsächlich waren die beiden Söhne von Luis verhältnismäßig wohlerzogen. Die einzig Rebellische in der Familie war Ruth, die schon sehr früh mit 13 J. ihrem Vater widersprach und sich vor die Mutter stellte, wenn der Vater auch sie schlagen wollte. Ruth hielt die Rute fest und sagte: „Ich verbiete, dass Sie meine Mutter schlagen!“
Doch nicht nur zuhause, sondern auch auf der Arbeit hatte Luis ein starkes Durchsetzungsvermögen. Da er sich in seiner Freizeit viel mit dem Zivil- und Arbeitsrecht beschäftigt hatte, kamen die Arbeitskollegen zu Luis, wenn sie sich rechtlich beraten lassen wollen. Luis wurde zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt und trat auch der Gewerkschaft bei. Als 1970 ein neuer Militärputsch den General Velasco Alverado an die Macht brachte, verwies dieser die ausländischen Firmenbesitzer des Landes und verstaatlichte die Betriebe, „um dem Volk wieder ihren Besitz zurückzugeben“ wie es hieß. Das führte dazu, dass nun die Arbeiter, die keinerlei kaufmännische Erfahrung hatten, an die Spitze der Unternehmen gesetzt wurden, so dass schon bald das totale Chaos ausbrach. Während die Amerikaner den Arbeitern noch recht auskömmliche Gehälter gewährt hatten, wurden die Löhne nun drastisch gesenkt, um Kosten zu sparen. Die Folge war, dass überall im Land gestreikt wurde, und einer dieser Streikführer war Luis. Er hielt große Reden vor der Belegschaft, ließ das Werksgelände besetzen und rief die Fabrikarbeiter sogar zum gemeinsamen Hungerstreik auf, über den dann in den Medien berichtet wurde. Mutter Lucila brachte in jener Zeit dem Luis immer heimlich Butterbrote vorbei, so wie es auch die anderen Ehefrauen heimlich taten. Als der monatelange Streik dann endlich beendet war, wurden die Arbeiter begnadigt, aber die Streikanstifter verloren ihren Job. Somit wurde auch Luis arbeitslos. Von seiner Auslöse kaufte er sich einen zweiten Marktstand, in welchem er Papier verkaufte, dass man damals, als es noch keine Plastiktüten gab, zum Einwickeln gebrauchte. Aber er war kein guter Verkäufer, weil er zu knauserig war. Seine warmherzige Frau Lucila hingegen hatte sich inzwischen bei allen Kunden beliebt gemacht, so dass Luis nur noch sie verkaufen ließ. Viele Kunden kauften nur noch, wenn Lucila da war.
Walter Condori hatte 1977 eine Arbeit als Hotelpage gefunden und seine Freundin Rita geheiratet, nachdem diese von ihm ein Kind erwartete. Die 45 qm-Wohnung war nun mit 7 Personen endgültig zu klein, so dass Walter und Rita auszogen. Sein Bruder Israel, der beim Militär beschäftigt war und nebenbei ein Studium in Publik Relations absolvierte, heiratete auf Anraten der Brüder Arthur Vincent und Nelson Mogollón 1984 die 11 Jahre jüngere Ecuadorianerin Alexandra, und auch sie zogen aus und wohnten fortan in Ica-Parcona. Da die Arbeitslosigkeit Anfang der 80er Jahre überhandnahm, wollte Ruth nach dem Ende ihrer Schulzeit Medizin studieren, aber ihr Vater erlaubte es ihr nicht, weil kein Geld da sei. Deshalb arbeitete Ruth einige Zeit als Verkäuferin, um sich ein Studium zu leisten. Ihr Vater schaltete ihr indessen abends immer das Licht aus, indem er sagte: „Wenn du unbedingt abends noch Bücher studieren musst, dann kannst du es auch bei Kerzenschein machen!“ Aus seiner Sicht gehörten Frauen in die Küche und nicht in die Uni. Er verlangte auch von Ruth, dass sie immer nur einen Rock tragen solle, was Ruth allerdings spätestens mit 18 J. peinlich wurde. Sie ging deshalb zur Uni immer morgens mit Rock aus dem Haus und zog sich dann unter einer Treppe draußen heimlich eine Hose an. Wenn sie dann wieder nach Hause kam, zog sie sich schnell wieder um, so dass ihr Vater nichts mitbekam. Eines Tages erfuhr Luis dann durch Zufall von einem ehemaligen Arbeitskollegen, dass er nach dem Ausscheiden aus der Firma einen Anspruch auf Rente habe. Sofort beantragte Luis diese, und auf einmal war die Zeit der Knappheit endlich vorbei. Luis sah nun auch ein, dass es gut sei, wenn seine Tochter Tiermedizin studiere, da man sonst kaum Chancen auf einen Job habe. Unterdessen gingen bei den Condoris viele Brüder ein und aus, sogar aus den USA und Kanada. Sie alle unterstützten Luis bei den Besuchen der neu gegründeten Gemeinden in Collique, Abancay und Ayacucho. Immer wenn ein ausländischer Bruder kam, waren bei den Versammlungen alle anwesend. Denn eines war allen klar: Diese Brüder brachten Geld mit, und zwar nicht wenig. Luis hatte dieses dann immer unter die Bedürftigen verteilt, so dass er über eine gewisse Macht verfügte. Dies führte Anfang der 90er Jahre dann zu Neid und Streit.
Als ich im Januar 1992 zum ersten Mal nach Peru kam, stand die Versammlung in Lima kurz vor der Spaltung. Mehrere Brüder meuterten gegen die Vorherschaft von Bruder Luis, darunter Maximo Carmen (61), Raul Bendezú (57), Mateo Asto (48) und Ricardo Pineda (35). Sie warfen Luis Veruntreuung und eine ungerechte Verteilung der Spendengelder vor. Als Luis dann auch noch anfing, frei erfundene Gerüchte über diese Brüder zu verbreiten, sprachen sie ihm gänzlich den Glauben ab und gründeten eine neue Versammlung. Ich geriet damals mit meinen 23 Jahren zwischen die Fronten und versuchte, es beiden Seiten recht zu machen, was mir aber nicht gelang. Luis führte die Versammlung noch zehn Jahre weiter, bis er schließlich im leicht dementem Zustand 2006 heimging.