Mündigkeit
In fast zwei Jahrtausenden christlicher Kirchengeschichte hat eine relativ kleine Zahl von Menschen ihre Glaubensgenossen immer wieder bevormundet. Auch heute noch ist ein Großteil der Christenheit so daran gewöhnt, dass sie sich das mehr oder weniger gern gefallen lässt. Dabei wird oft übersehen, dass gerade die Apostel Christi ihre Brüder trotz geistlicher Unvollkommenheit als mündige Himmelsbürger behandelten. Bezeichnend hierfür ist ein Pauluswort: „Nicht dass wir über euren Glauben herrschen, sondern wir sind Mitarbeiter an eurer Freude (2.Kor.1:24). Das war nicht bloße Rhetorik, sondern entsprach ihrer tatsächlichen Einstellung.
Dass die Apostel ihren Brüdern solche Achtung erwiesen, war das Ergebnis ihrer Erziehung durch den HErrn Jesus. Er hatte den Jüngern am Beispiel weltlicher Herrschsucht gezeigt, dass sie allen diktatorischen Gelüsten absagen müssen (Matth.20:20-28). Sie sollten einander als Brüder unter einem gemeinsamen Meister achten (Matth.23:8-11). Schließlich hatte der HErr Jesus ihnen in der Nacht vor Seinem Tod eine unvergessliche Lektion erteilt, als Er ihnen ihre Füße wusch (Joh.13:1-20, 1.Thess.2:6-7).
In der Praxis sah das so aus: die Apostel trafen keine Gewissensentscheidungen für die einzelnen Gläubigen (Röm. 14 + 15). Sie schrieben ihre Briefe meistens nicht an die Leiter der örtlichen Versammlungen, sondern an die ganze Versammlung an einem Orte. Auch wanden sie sich an das Urteilsvermögen aller Christen (1.Kor. 10:15, 11:13, 14:29). Sie beteiligten sie sogar maßgeblich an der Wahl derjenigen, die in der Gemeinde ein Amt ausüben sollten (Apg.6:1-6). Nicht nur die Vor-steher durften predigen, sondern alle bewährten Christen hatten das Recht, in der Versammlung das Wort zu ergreifen (1.Kor.14:26+31). Aus dem Verhalten der Apostel spricht beständig die Achtung vor der Mündigkeit ihrer Mitchristen.
Dieses Zutrauen zeigt auch die Art, wie sie durch die Führung des Heiligen Geistes die Versammlungen organisierten. In jeder Versammlung wurden mehrere Älteste und Vorsteher eingesetzt, um die Machtbestrebungen eines einzelnen zu verhindern (2.Mo.18:13-27, Spr.11:14). Auch war jede Versammlung unter ihren eigenen Vorstehern völlig selbständig. Sie unter-stand direkt Christus, wobei das Wort der Apostel den Willen des Herrn verbindlich aufzeigte. Diese Ordnung beugte im ersten Jahrhundert der Herrschsucht einzelner sowie der Ausbreitung von Irrlehren wirksam vor.
Sicherlich machen wir es uns zu leicht, wenn wir die heutige Entmündigung der Gemeinde allein auf menschlichen Geltungsdrang zurückführen. Ebenso beeinflusste die Auseinandersetzung mit der Verweltlichung und den Irrlehren den Lauf der Dinge. Aber grundsätzlich darf die Aufsicht über eine Versammlung nie so weit führen, dass die Christen ihre eigene Verantwortung in die Hände starke Persönlichkeiten legen und damit ihre Gültigkeit einer hierarchischen Diktatur opfern (Es ist ja so bequem, anderen das Denken und Kämpfen zu überlassen! Trägheit und Gleichgültigkeit trugen wesentlich dazu bei, die Machtübernahme von Päpsten zu ermöglichen). Andererseits sollten die von Gott eingesetzten Führer ihre Verantwortung nie so weit ausdehnen, dass sie über ihre Mitbrüder bestimmen, sondern sollten Vorbilder der Herde sein (1.Petr.5:1-4).
Mündigkeit bedeutet ja nicht, nach seinem eigenen Willen zu handeln, sondern es bedeutet, aufgrund biblischer Weisungen sich selbst befehlen und gehorchen; Mündigkeit heißt, seine eigene Verant-wortung zu erkennen und sie willig auf sich zu nehmen. Die Korinther waren „unmündig“, weil sie sich von ihrem Fleische beherrschen ließen und irriger-weise meinten, die Apostel wären für Sie verantwortlich (1.Kor.3:1, 2.Kor.12:19). Paulus wollte ihnen gerne Verantwortung übertragen und selber als ihr Diener in den Hintergrund treten (1.Kor.4:8-16). Aber sie empfanden das als Torheit und wollte sich lieber von Prahlern bevormunden lassen, um sich ihrer zu rühmen (2.Kor.11+12). Mündigkeit aber bedeutet Mitarbeit am Bau Gottes, die Lasten anderer mitzutragen, mit anzupacken, Geschwister zu besuchen und durch eigene Bibelkenntnis den Irrlehrern entgegenzutreten.
Da schon durch die römisch-katholische Kirche sehr früh die unbiblische Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien Einzug genommen hatte in die Verwaltung und die Gewohnheit der christlichen Gemeinden, hat sie sich auch trotz Reformationen und Erweckungen immer weiter fortgesetzt in das Bewußtsein der Gläubigen. Das Neue Testament kennt eine solche Unterteilung jedoch nicht. „Was ist es nun, Brüder? Wenn ihr zusammen-kommet, so hat ein jeder von euch einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprache, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung; alles geschehe zur Erbauung“ (1.Kor.14:26). Alle Brüder trugen also irgendetwas zum Gottesdienst bei, ähnlich wie bei einem fröhlichen Picknick. Und dem Geiste Gottes wurde auf diese Weise Raum gegeben, dass Er sich zuweilen auch durch unauffällige Brüder zu Wort melden konnte, um zur Bereicherung beizutragen.
„Den Geist unterdrücket (o. dämpfet) nicht; Weissagungen verachtet nicht; prüfet aber alles, das Gute haltet fest“ (1.Thess.5:19-21). Nachdem Gott durch Judas Makkabäus im 2.Jh.v.Chr. eine Erweckung geschenkt hatte im jüdischen Volk, erkannten die Schriftgelehrten, dass es nicht klug wäre, dass nur die Rabbiner das Volk in den Synagogen belehren sollten, sondern auch jedem Juden, der sich durch den Geist Gottes gedrängt sah, etwas zu sagen, sollte die Möglichkeit dazu geboten werden. Nur dadurch wurde es dann überhaupt möglich, dass der HErr Jesus, als Er kam, direkt zu dem Volke reden durfte, obwohl Er nur ein Gast war (Matth.4:23). Auch Paulus und die anderen Jünger nutzten diese Möglichkeit und konnten auf diese Weise die Heilsbotschaft völlig ungehindert von einer Synagoge zur anderen verbreiten. Wir sehen hier also, dass Gott durch diese Regel den Weg vorbereitet hatte, damit Sein Wort laufe und verherrlicht werde (2.Thess.3:1).
Es gibt heute Gemeinden, die zwar eine sehr umfangreiche Liturgie anbieten, aber bei denen jede Minute oder sogar Sekunde bis ins Kleinste genau verplant ist und nichts dem Zufall überlassen wird. Wie bei einer Broadway-Inszenierung achtet jeder Akteur genau darauf, wann er was zu sagen hat. Würde ein Mann Gottes plötzlich aufstehen und spontan eine Botschaft des HErrn verkünden, dann würde man ihn sofort als Störenfried mit Polizeigewalt hinauswerfen und ihm Hausverbot erteilen. Deshalb sagt der HErr Jesus ja auch von den heutigen Laodicäa-Gemeinden, dass Er draußen vor der Tür steht und anklopft (Offb.3:20), nur dass sie es bisher noch gar nicht bemerkt haben. Im Grunde sind solche Gemeinden tot, weil der Heilige Geist gar nicht mehr die Möglichkeit hat, einzuschreiten. Eine spontane Offenbarung sollte aber an sich immer den Vorrang haben vor einer allgemeinen Belehrung (1.Kor. 14:30).
In den Hauskreisen ist es übrigens nicht anders. Auch dort gibt es diejenigen, die immer reden und die anderen, die immer schweigen. Es ist so, als gäbe es eine unausgesprochene Abmachung, dass manche Brüder sich von jeglicher Verpflichtung zu reden, entbunden fühlen dürfen. Und weil sie sich über Jahre darauf berufen haben, trauen sie sich schon allein deshalb nicht mehr, etwas zu sagen, weil es dann Auf-sehen erregen könnte. Wenn aber auf einmal jeder reihum verpflichtet wäre, etwas beizutragen, dann würden die ewig Stummen auf einmal wieder reden können. Und dann würde auch keiner mehr heimlich „abschalten“, weil er sich voll und ganz auf seinen Part konzentrieren müsste. Ja, dann wäre das ständige Schweigen endlich überwunden, so wie Mose sagte: „Möchte doch das ganze Volk des HErrn Propheten sein, dass der HErr Seinen Geist auf sie legte!“ (4.Mo.14:29).
Natürlich muss es auch in einer mündigen Versammlung Älteste, Diener, Lehrer und Aufseher geben, um die Arbeit der Gemeinschaft zu koordinieren und zu fördern. Das heißt aber nicht, dass die anderen Geschwister ihnen alle Lasten zuschieben. Ich war schon mal in einer Gemeinde, wo die Frau des Predigers den gesamten Ablauf des Gottesdienstes so dermaßen engagiert gestaltete, dass die Gemeinde sich bequem zurücklehnen und völlig passiv verhalten durfte. Doch dann bekam die Schwester Krebs, und mir wurde klar: Wenn sie jetzt heimgeht, dann wird es keine Gottesdienste mehr geben können, denn wer sollte sich darum kümmern? Mündigkeit fordert ein großes Maß an Überzeugung, Fleiß und Selbstverleugnung. Nur wer wirklich zu Christus gehört, wird sich neben den irdischen Aufgaben auch für den HErrn und Seine Gemeinde einsetzen, wird Freizeit und Geld, Kraft und Privatleben der Sache Christi opfern.
Exkurs: Von Menschen gewählte und bezahlte Prediger
Bevor der HErr Jesus vor den Augen seiner Jünger hinweg in den Himmel empor gehoben wurde, befahl Er ihnen, dass sie warten sollten, bis der Heilige Geist auf sie kommen würde (Apg.1:4+9). Doch selbst diese 10-tägige Frist bis Pfingsten wollten die Jünger nicht abwarten, um einen neuen Apostel zu wählen, der die Lücke des Judas Iskariot ausfüllen sollte. So wählten sie sich zwei aus, baten den HErrn um Seine Wahl zwischen den beiden und warfen Lose (Apg.1:15-26). Wir lesen von Matthias aber später nicht, dass er ein „auserwähltes Gefäß“ war, wie der HErr von Paulus Zeugnis gab (Apg.9:15). Sollte Paulus ein 13. Apostel geworden sein? Das würde aber nicht mit Gottes Wort übereinstimmen (Offb.21:14). Also müssen wir zugeben, dass Matthias von Menschen gewählt wurde, obwohl alles den Anschein haben sollte, als wenn Gott entschieden hätte.
Aber braucht Gott unsere Hilfe? Ist Er von uns abhängig oder wir von Ihm? Er selbst will entscheiden, wer in Seinem Hause vorstehen soll (Eph.4:11). Er allein kennt die Herzen und kann es deshalb am besten entscheiden (1.Sam.16:16). Paulus war ein Apostel, aber „nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott…“ (Gal.1:1).
Jakobus warnte die Heiligen im Anfang: „Seid nicht viele Lehrer, meine Brüder, da ihr wisset, dass wir ein schwereres Urteil empfangen werden; denn wir alle straucheln oft“ (Jak. 3:1). Doch in Zeiten religiöser Verflachung und Eigenmächtigkeit wurde diese Warnung nicht beachtet bis zum heutigen Tag. Wie Aaron und Mirjam oder wie die Rotte Korahs (4.Mo.12+14) verachtet man Gottes Herrschaft (2.Petr. 2:10) und will sich den von Gott ausgewählten Lehrern nicht unterwerfen, sondern selber lehren bzw. sich einen eigenen Prediger mieten. Einige zitieren dabei sogar die Bibel: „Wie aber werden sie hören ohne einen Prediger?“, aber sie lesen nicht weiter: „Wie aber werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?“ (Röm.10:14-15). Oder man begründet sein Gelüst mit Worten wie: „Wenn jemand nach einem Aufseher-dienst trachtet, so begehrt er ein schönes Werk“; aber man liest nicht weiter: „Der Aufseher nun muss untadelig sein…“ (1.Tim.3:1+2). Man pickt sich also nur die Rosinen aus dem Kuchen und ignoriert dabei die Verantwortung Gott gegenüber, weil man meint, man hätte es mit Menschen allein zu tun.
Trefflich wird diese Zeiterscheinung in Richter 17 und 18 beschrieben, in einer Zeit, wo „jeder tat, was recht war in seinen Augen.“ Dort hatte sich ein Mann namens Micha seinen eigenen Hauspriester gemietet, der ihm jedoch nur solange treu blieb, bis ein anderer ihm einen besser bezahlten Priesterjob anbot (vergl. Joh.10:13). Auch für die Endzeit wurden uns solche mit heute vergleichbaren Zustände bereits angekündigt:
„Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen Lüsten sich selbst Lehrer aufhäufen werden, indem es ihnen in den Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und zu den Fabeln sich hinwenden“ (2.Tim.4:3-4). Schon ein weltliches Sprichwort lehrt uns: „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing‘.
Sicherlich ist es nur recht, wenn ein Bruder, der vollzeitig für den HErrn arbeitet, von den anderen Gläubigen unterstützt wird (Gal.6:6, 3.Joh.6-7). Wer aber darauf spekuliert, sich durch den Predigtdienst ein bequemes Leben und Ansehen zu erwerben, der sollte sich mal an Johannes dem Täufer oder an Paulus ein Beispiel nehmen: Letzterer hat trotz vollzeitigem Einsatz für den HErrn nebenbei auch noch handwerklich gearbeitet und für seinen Predigtdienst kein geregeltes Gehalt empfangen, auf dass er „zum Vorbild sei und der Dienst nicht verlästert werde“ (Apg.20: 33-35, 1.Kor.9:7-19). Schließlich hielt er sich getreu an das Gebot des HErrn Jesus: „Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es“, und an die damit verbundene Verheißung, dass er wie Elia von Gott versorgt würde, „denn der Arbeiter ist seiner Nahrung (nicht seines Mercedes!) wert“ (Matth.10:8+10). So konnte er in kindlicher Erwartung den HErrn durch Glauben verherrlichen, indem er nie Mangel hatte (Ps.23:1).