„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ (Teil 5)
Jan. – August 1984
Das Leben ist mehr als nur Arbeit und Vergnügen
Anfang des Jahres besuchten wir mit unserer Klasse ein Musical vom Schnürschuhtheater, das den bezeichnenden Titel trug: „Arbeit ist das halbe Leben und der Rest ist Geld ausgeben“. Von dem Stück war mir nur noch der Titel hängengeblieben, und ich fragte mich, ob dieses resignierende Fazit tatsächlich ein unentrinnbares Schicksal für jeden Menschen sein musste. Ich erinnerte mich, dass ich während eines Schulpraktikums im Kindergarten einmal aus einem Buch vorgelesen hatte mit dem Titel „Die Maus Frederick“. Es handelte von einer Mäusefamilie, die während des ganzen Jahres fleißig Vorräte für den Winter sammelte, aber nur einer unter ihnen, nämlich Frederick, scheinbar gar nichts machte. Als sie ihn im Frühling fragten, warum er nicht helfe, antwortete er, dass er Farben sammele für die Eintönigkeit des Winters, im Sommer antwortete er, dass er Sonnenstrahlen einsammele für die Kälte im Winter, und im Herbst, dass er Gedichte erfinde für die Langeweile im Winter. Als nun der Winter kam, teilten alle Mäuse ihre gesammelten Vorräte miteinander, und als dann die Erwartungen auf Frederick gerichtet waren, konnte er die Herzen der anderen Mäuse erwärmen mit seiner Beschreibung der Farben und Sonnenstrahlen, sowie seiner Gedichte.
Tatsächlich hat der Mensch ja nicht nur leibliche, sondern auch seelische Bedürfnisse, die er durch Filme, Theater, Kunst und Kultur zu befriedigen sucht. Aber was ist mit dem Geist? d.h. der Befriedigung durch Sinn? Bei den Pfadfindern hatte ich gelernt, dass der Mensch nicht von Brot allein lebe, sondern von jedem Wort Gottes. Meine Mitschüler waren nur an guten Noten interessiert, aber sie interessierten sich gar nicht dafür, was Gott eigentlich von ihnen wollte. Schlimmer noch: sie glaubten ja noch nicht mal an Gott! Es wurde Zeit, dass ich mich für meinen Glauben engagieren sollte. Als ich an einem Vormittag mit Manfred auf dem Fahrrad unterwegs war, bekannte ich ihm, dass ich an Gott glaube. „DU AUCH?!!!“ fragte Manfred erfreut. „Ich glaube nämlich auch an Gott!“ – „Echt?“ sagte ich „das freut mich ja total!“ Und dann erzählte mir Manfred, dass er mit seiner Familie in eine christliche Freikirche gehe, die sich „Siebenten-Tags-Adventisten“ nenne. ‚Komischer Name‘, dachte ich, ‚noch nie von gehört‘. Dann erklärte mir Manfred: „Es gibt 3 verschiedene Gruppen innerhalb des Christentums, und zwar die Katholiken, die Protestanten und die Adventisten. Die katholische und evangelische Kirche tut aber nicht das, was in der Bibel steht, sondern nur die Adventisten.“ – „Wie kommst Du denn darauf? Nenn mir mal ein Beispiel!“ bat ich ihn. Dann erklärte er mir, dass Gott z.B. in den zehn Geboten nicht von dem Sonntag als Ruhetag spreche, sondern von dem Sabbat, d.h. den Samstag. „Deswegen feiern wir unseren Gottesdienst immer samstags und nicht sonntags.“ – „Echt? Ist ja ganz schön krass! Da muss ich mal Pastor Schüssler fragen, was der dazu sagt“ erwiderte ich.
Aber dann kam Manfred mit einer Neuigkeit, die ich ungeheuerlich fand: „Wusstest Du eigentlich, dass von einer Babytaufe gar nichts in der Bibel steht? Das haben sich die beiden großen Kirchen einfach nur ausgedacht, um dadurch immer wieder neue Mitglieder zu kriegen.“ – „Wie? jetzt echt? Das kann doch gar nicht sein! Bist Du ganz sicher?“ – „Ja, echt! Kannst Du mir glauben. Erinnerst Du Dich an die Jesus-Filme, wo Johannes der Täufer die Menschen im See untergetaucht hat? DAS ist eine echte Taufe. Man muss nämlich erst einmal an Jesus glauben und erst dann darf man sich taufen lassen. Aber ein Baby kann ja noch gar nicht glauben.“ – „Das stimmt“, sagte ich, „Aber das ist ja dann totaler Betrug! Wenn das stimmt, dann müsste man doch eigentlich die Kirchen verklagen, weil sie ja die Leute bescheißen! So eine Sauerei!“ Manfred freute sich, dass ich so leicht zu überzeugen war.
Kurz darauf sprachen wir in der Klasse über den Kalten Krieg zwischen den Machtblöcken, dem Aufrüsten mit Pershing-2-Raketen und dem Nato-Doppelbeschluss. Anfang der 80er-Jahre hatten die Leute in Deutschland große Angst vor einem Atomkrieg, denn sowohl die Russen als auch die Amerikaner hatten inzwischen so viele Atom-Waffen, dass sie die ganze Erde sogar mehrfach zerstören konnten. Doch mich beschäftigte auf einmal nur noch die Frage, wie ich mich zu meinem Glauben bekennen könne. Ich meldete mich herzklopfend und sagte vor der Klasse: „Ich fürchte mich vor nichts, denn ich glaube an Gott!“ Herr Schulze, unser Klassenlehrer, der ja zugleich auch als Pastor arbeitete, lächelte und bat mich, doch auch mal näher zu erklären, was mein Glaube denn praktisch für mich bedeuten würde. Nun war das Eis gebrochen und ich erzählte freimütig, dass ich mich in Gottes Händen geborgen weiß und Er auf mich achthat, dass mir nichts Böses passiere. „Und glaubst Du, dass Gott auch die Welt beschützt vor einem Atomkrieg?“ Ich überlegte kurz und sagte dann: „Keine Ahnung. Das kann nur Gott beantworten.“ Als der Unterricht vorbei war und ich nach Haus fuhr, jubelte ich innerlich, weil ich es geschafft hatte, mich zu Gott zu bekennen. Die Nachmittagssonne strahlte mich an und mir war so, als wenn Gott mich anlächelte und sich bei mir bedankte.
Ein paar Tage später, als nach einer Unterrichtsstunde die Pause begonnen hatte, drehte ich mich zu Manfred und sah, dass er in einer Bibel las. „Häh?“ fragte ich verwundert. „Du hast eine Bibel? Und Du bringst die auch noch mit in die Klasse? – Du bist wirklich ganz schön verrückt, Manni!“ – „Nö, wieso? Wenn man Christ ist, dann ist das ganz normal, dass man auch in der Bibel liest“ entgegnete er. „Jetzt spinnst Du aber echt. Man kann doch auch Christ sein, ohne in der Bibel zu lesen. Die Bibel ist doch eher etwas für die Pastoren, denn die muss man doch erstmal richtig verstehen.“ – „Nee, das stimmt nicht. Jeder kann die Bibel verstehen, und es ist auch wichtig, dass man als Christ darin liest, denn sonst weiß man ja gar nicht, was Gott von einem will. Menschen können einem ja viel erzählen – dass hast Du doch schon gesehen bei der Taufe und dem Sabbat. Entscheidend ist immer, was Gott selbst sagt in der Bibel!“ – „Aber Gott hat die Bibel doch gar nicht geschrieben, sondern Menschen, nicht wahr?“ – „Ja, aber die wurden von Gott dazu beauftragt und Gott hat ihnen ganz genau gesagt, was sie aufschreiben sollen.“ – „Ach so. Ok, das macht Sinn. Aber ich finde das trotzdem alles etwas übertrieben“ entgegnete ich. „Dann solltest Du mal meinen Bruder Florian kennenlernen, denn der ist noch viel radikaler als ich. Der hat sogar schon fast das ganze Neue Testament von Hand abgeschrieben!“ – „Echt?! Wieso hat er das denn gemacht?“ – „Weil er sich dadurch den Text besser merken kann.“
Eine neue Familie
Manfred Köhler stellte mir seinen ein Jahr jüngeren Bruder Florian vor. Er hatte genauso wie Manfred einen Topf-Haarschnitt (wie Prinz Eisenherz), ein hübsches Gesicht und eine sehr sanfte Art. Dazu trug er wie Manfred einen dicken Wollpullover und eine Mehrzweck-Hose. Man sah ihnen sofort an, dass sie Brüder waren. Nach der Schule luden sie mich zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Mutter Almut war klein und pummelig und hatte ebenso wie ihre Söhne einen Pagenschnitt. Sie redete sehr viel, von dem ich nur die Hälfte verstand, weil sie die Zusammenhänge nicht immer erklärte. Vater Jürgen hingegen war ein sehr ruhiger und fröhlicher Mann mit Vollbart und Kahlkopf. Alle waren sie locker und unkompliziert, aber auch ein wenig chaotisch. Sofort spürte ich, dass ich jetzt nicht nur einen guten Freund, sondern zugleich auch eine neue Familie gewonnen hatte.
Nun wollte Manfred, dass ich auch noch seinen bisher besten Freund Klaus Schenk kennenlernen sollte, der in Bremerhaven wohnt. Auch Klaus und seine Eltern gehörten zu den Adventisten. So fuhren wir an einem Freitagnachmittag nach Bremerhaven-Lehe, um dort auch zu übernachten. Klaus´ Vater arbeitete in der Fischerei. Nach dem Abendessen erklärte er mir, was die Adventisten von anderen Christen unterscheide. „Ich finde das nicht gut, wenn Christen nichts miteinander zu tun haben wollen“ erwiderte ich; „es ist doch viel schöner, wenn alle Christen sich zu einer Kirche vereinen, anstatt sich über irgendwelche Lehrmeinungen zu streiten!“ – „Du befürwortest also die Ökumene“ fragte mich Klaus Vater. „Ja, Ökumene find ich gut“ sagte ich. „Die Ökumene ist aber vom Teufel. Ich will’s Dir gern erklären: Schau mal, es gibt Wahrheit und Lüge, genauso wie es Licht und Finsternis gibt. Wenn man Gott dienen will, muss man sich also entscheiden, ob man für die Wahrheit oder für die Lüge ist. Man kann nicht beides zusammen haben. Wir Adventisten haben uns für die Wahrheit entschieden, und das ist Gottes Wort. Die Evangelische Kirche, der Du angehörst, nimmt die Bibel nicht mehr ernst, sondern stellt heute alles infrage. Deshalb musst Du Dich entscheiden, Simon, ob Du ihr noch weiter folgen willst. Du kannst morgen ja mal in einen Gottesdienst von uns mitgehen und schauen, ob das was für Dich ist.“
Am nächsten Morgen stellte Klaus alle möglichen Glasbehälter auf den Küchentisch, die alle voll waren mit den unterschiedlichsten Körnern, Nüssen und Trockenfrüchten. Dann beteten wir gemeinsam und jeder begann, sich von den Behältern ein paar Löffel in seine Schüssel zu tun. Als sie meine Verwunderung bemerkten, erklärte Klaus: „Das ist ein Müsli, das wir uns selber zusammenstellen. Müsli ist im Prinzip sehr gesund, weil es dem Körper Energie gibt durch gute Kohlenhydrate, die lange vorhalten und obendrein auch noch reich an Ballaststoffen sind. Du musst wissen, dass wir Adventisten uns prinzipiell immer gesund ernähren, weil der Körper ja ein Tempel Gottes ist. Deshalb verbietet uns Gott Alkohol, Zigaretten und andere Rauschmittel, aber ebenso auch Süßigkeiten oder Schweinefleisch, weil diese schädlich sind.“ Das leuchtete mir sofort ein. Klaus Vater ergänzte noch: „Nur in einem gesunden Körper kann auch ein gesunder Geist erwachsen.“
Während des anschließenden Gottesdienstes in der Adventgemeinde musste ich die ganze Zeit nachdenken über all die vielen neuen Eindrücke. Die Adventisten lebten in jeder Hinsicht ein besseres Leben. Hier war alles viel richtiger als in der evangelischen Kirche. Man redete sich als Bruder und Schwester an, und die Jüngeren nannten die Älteren Onkel oder Tante, – wie in einer großen Familie. Zu dieser Familie wollte ich auch gerne gehören. Ich fragte also Manfred, was ich machen müsse, um Adventist zu werden. „Du musst Dich taufen lassen. Aber vorher bekommst Du Taufunterricht. Aber weißt Du: Florian und ich sind auch noch nicht getauft, daher kannst Du Dich gerne mit uns zusammen taufen lassen. Der nächste Termin dafür steht aber noch nicht fest. Aber ich finde das sehr schön, dass Du jetzt bei uns mitmachen willst. Wir haben demnächst auch eine Freizeit für die Jugendlichen der Gemeinde, und zwar in Sandkrug bei Oldenburg. Es geht da über Freundschaft und Sexualität. Wenn Du willst, kannst Du gerne mitkommen.“ – „Ja, auf jeden Fall“ sagte ich.
Als ich wieder zuhause war, erzählte ich alles meiner Mutter. Sie war zunächst etwas skeptisch, weil sie von dieser Religionsgemeinschaft auch noch nie zuvor gehört hatte. Doch als sie sich bei ihrer Pastorin Eva Behrens erkundigt hatte, beschwichtigte man sie, dass die Adventgemeinde nur eine relativ harmlose Freikirche sei. So fing ich an, regelmäßig jeden Samstag mit Manfred in die Adventgemeinde am Osterdeich 42 zu gehen. Die Gottesdienste begannen um 9:30 Uhr mit der sog. Sabbatschule, wo die Stuhlreihen zu mehreren Gesprächsrunden zusammengerückt wurden. Ein leitender Bruder besprach dann in der jeweiligen Gruppe einen Hausaufgabentext aus der Bibel und alle anderen aus der Gesprächsrunde durften dann dazu etwas sagen. Nach einer Stunde war dann eine Viertelstunde Pause bis dann der eigentliche Gottesdienst losging. Für mich gingen die Vorträge und Predigten immer in das eine Ohr rein und in das andere wieder raus. Aber ich bewunderte die schönen Menschen und den schönen Gesang von professionellen Chören und Bands. Alles war so rein und liebevoll. Hier wollte ich gerne für immer bleiben. Auch der Jugendkreis war nahezu perfekt. Es gab keine Sticheleien oder Mobbing wie in der Schule oder bei den Pfadfindern, und wenn jemand sich wirklich mal danebenbenahm, konnte er durch die Erinnerung an eine biblische Vorschrift zurechtgewiesen werden.
Eines Tages gab mir Manfred eine Kassette mit dem Hinweis: „Die musst Du echt mal hören, das ist richtig heftig, was dort gesagt wird.“ Ich tat die Kassette zuhause in meinen Rekorder. Es war die deutsche Übersetzung eines zweistündigen Vortrages eines Amerikaners namens John Todd von 1978. Er war ein sog. Ex-Illuminat, d.h. ein ehemaliger Satanist, der über sein früheres Leben berichtet, bis er Jesus Christus kennenlernte. Einer seiner ersten Sätze war: „Ich gehöre einer Familie an, die das Hexentum in die USA gebracht hat…“ Der Klang der Aufnahme war sehr schlecht, und dennoch hingen meine Ohren an jedem Wort, das dort gesagt wurde, denn es war äußerst spannend. Kernaussage der Botschaft war, dass nichts so ist, wie es scheint, sondern dass hinter den Kulissen der Politik und der Kultur mächtige Satanisten heimlich die Strippen ziehen, um die Menschen zu versklaven und zu verderben. Das war für mich etwas ganz Neues, das ich noch nie so gehört hatte, aber ich mir gut vorstellen konnte.
Kurze Zeit später gingen wir mit unserem Klassenlehrer in den Kinofilm „1984“, wo eine Welt der Zukunft gezeigt wurde, wo alle Menschen kontrolliert werden von einem „großen Bruder“, d.h. einer Gedanken-Polizei, die jede noch so kleine Abweichung vom Erziehungsprogramm der Partei sofort mit dem Tod bestrafte. Alle machten mit, weil alle Angst hatten, das nächste Opfer des Staatsterrors zu werden, außer einem gewissen Winston Smith, der im sog. Wahrheitsministerium arbeitete, dessen Aufgabe es war, die Geschichtsschreibung ständig den Wünschen der Partei anzupassen d.h. zu verfälschen und der auf einmal Zweifel hat, an dem was er tut. Heimlich trifft er sich mit einer Frau außerhalb der Betonstadt und verliebt sich in diese, was aber streng verboten war. Eines Tages fliegen sie auf und werden verhaftet. Winston sollte aber nicht hingerichtet, sondern so lange gefoltert werden, bis sein Wille gebrochen ist und er nur noch das glaubt, was die Partei (das Regime) sagt. Dies geschah dann am Ende auch, und der letzte Satz des Films lautete: „Jetzt liebte er den Großen Bruder“.
Den Eindruck, dass die ganze Welt im Hintergrund von einer dunklen Macht gelenkt wird, hatte ich schon lange. Besonders fiel mir dies in der Mode auf. Anfang der 80er kam z.B. die Mode auf, dass alle einen Parker tragen sollten, also eine graue Jacke mit einer kleinen Deutschlandflagge auf den Ärmelseiten. Alle gehorchten dieser Mode, keiner wollte aus dem Rahmen fallen. Dann änderte sich auf einmal die Mode, und jetzt sollten alle schwarze Jacken tragen, – schwarz wie die Finsternis, schwarz wie der Teufel. Niemand hinterfragte, wer dies eigentlich bestimmen durfte, sondern alle gehorchten blind. Da wollte ich nicht (mehr) mitmachen. Ich ging also in einen Laden und suchte mir einen schneeweißen Parker aus. Weiß passte jetzt zu mir, denn ich wollte von nun an zu den Guten zählen, den Reinen und Gerechten.
Ist Selbstbefriedigung verboten?
Im April 1984 war ich mit Manfred auf der Jugendfreizeit der Adventisten. Der Jugendleiter Bernd Bangert sprach über die erste Liebe, über Freundschaft und über vorehelichen Sex. Doch was uns allen am meisten unter den Fingernägeln brannte, war die Frage, ob es eigentlich in der Bibel verboten sei, zu onanieren. Darüber sagte er jedoch zunächst nichts, bot uns aber am Ende seines Vortrages an, dass jeder nochmal eine Frage auf einen Zettel schreiben könne, die er dann in der Folgestunde besprechen würde. Als dann die Auswertung kam, stand auf fast allen Zetteln die gleiche Frage: „Darf ein Christ sich eigentlich selbst befriedigen?“ Nun waren alle Augen auf den Prediger gerichtet, in Anspannung auf die Antwort, die er geben würde. Von seiner Antwort würde nun abhängen, ob wir in den nächsten Jahren ein reines oder ein schlechtes Gewissen haben würden, wenn wir wieder onanierten, denn wir sahen uns ja insgeheim alle gänzlich außerstande, darauf verzichten zu können. Ich erinnere mich, wie ich etwa ein Jahr zuvor schon mal innehielt, als ich es gewohnheitsmäßig wieder tun wollte. ‚Was machst Du da eigentlich? Weißt Du, dass Du gerade von Gott dabei beobachtet wirst? Was wird Er aber davon halten?‘ Ich überlegte, was eigentlich am Onanieren falsch sein könnte. Im Sexualkundeunterricht hatte ich erfahren, dass die weiße Flüssigkeit aus vielen Millionen winzig kleinen Kaulquappen besteht, aus denen dann später nach der Befruchtung der Mensch entsteht. Wenn ich die Spermien aber einfach hervorbringe, ohne dass sie eine Chance bekämen, sich zum Menschen zu entwickeln, dann war ich doch im Grunde ein MASSENMÖRDER! Jedes Mal, wenn ich onanierte, hatte ich eine ganze Millionenstadt von potentiellen Menschenseelen in die Toilette gespült! Wie nur konnte Gott damit einverstanden sein?
Nun ging Bernd Bangert ans Mikrophon und sagte: „Selbstverständlich ist Selbstbefriedigung nicht in Ordnung vor Gott. Die Bibel bezeichnet es als ‚Unzucht‘. Die Sexualität ist nur für die Frau bestimmt und nicht zum eigenen Vergnügen. Vor allem hat man ja immer wieder auch unkeusche Gedanken dabei, so dass ihr euch auch an eurem zukünftigen Ehepartner versündigt. Also lasst es bitte sein und versucht euch zu enthalten.“ Ein Teilnehmer meldete sich: „Aber wenn ich dabei an nichts denke, sondern nur Druck ablasse?“ Bernd sagte nur: „Wie soll das denn gehen? Das funktioniert doch gar nicht“. Damit war das Thema für ihn abgehakt, aber für mich noch lange nicht. Ich hatte mich ja heimlich in ein Mädchen bei den Adventisten verliebt, an die ich ständig denken musste. Sie hieß Katy Aus dem Spring (ein komischer Nachname) und saß im Gottesdienst häufig genau vor mir. Sie hatte lange, wellige Haare und ein viel zu schönes Gesicht, als dass ich mir Chancen bei ihr hätte ausrechnen können. Sie konnte auch sehr schön singen, und sicher hatte sie jede Menge heimliche Verehrer.
Das war ja gerade das Problem, dass die Adventgemeinde so groß war, dass ich praktisch gar nicht bemerkt wurde. Andere Jungen konnten fantastisch Gitarre oder Klavier spielen, kannten die Bibel gut oder sahen wenigstens gut aus. Aber ich konnte gar nichts und hatte auch keinerlei Attraktivität. Aber ich war schon froh, dass ich überhaupt kommen durfte. Ich nahm mir vor, dass ich von nun an wieder Gitarre lernen wollte. Und auch in der Bibel wollte ich jetzt endlich mal lesen. Ich fand zuhause eine grüne Lutherbibel, die Diana zur Konfirmation geschenkt bekam. Da sie sowieso nicht darin las, konnte ich sie ja nehmen. Ich schlug die Bibel an irgendeiner Stelle auf und las:
„So höre nun, mein Knecht Jakob, und Israel, den ich erwählt habe! So spricht der HERR, der dich gemacht und bereitet hat und der dir beisteht von Mutterleibe an: Fürchte dich nicht, mein Knecht Jakob, und du, Jeschurun, den ich erwählt habe! Denn ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre: ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen…“ Ich verstand kein Wort. Wer ist Jakob? Und wer ist Jeschurun? Und was bedeutet ‚Knecht‘?“ Ich schlug die Bibel nun an einer anderen Stelle auf und begann zu lesen: „Ein jeder Mann, der betet oder prophetisch redet und hat etwas auf dem Haupt, der schändet sein Haupt. Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. Will sie sich nicht bedecken, so soll sie sich doch das Haar abschneiden lassen! Weil es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie das Haupt bedecken.“
Das hatte ich verstanden! Eine Frau soll ein Kopftuch tragen! Hier steht es ja klipp und klar! Ich lief die Treppe runter in die Küche, wo sich gerade Diana mit meiner Mutter unterhielt. „Hört mal her, ich muss euch unbedingt etwas vorlesen, und zwar aus der Bibel! Ihr werdet es nicht für möglich halten…“ Dann las ich ihnen die ganze Passage vor und stellte am Ende fest: „Ihr habt’s gehört: Gott erwartet von euch, dass ihr ein Kopftuch tragen müsst! Hier steht’s doch!“ Diana war leicht irritiert: „Wieso liest Du neuerdings in der Bibel?“ – „Lenk nicht vom Thema ab, Diana! Du musst ab jetzt ein Kopftuch tragen!“ – „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Ich werd‘ doch kein Kopftuch tragen! `Bin doch nicht bekloppt.“ – Ich lachte bei der Vorstellung, dass Diana wie eine Türkin mit einem Kopftuch rumläuft, war aber zugleich irritiert, denn es stand doch wirklich ganz klar da und musste doch befolgt werden. Oder hatte ich irgendwas übersehen? Ich nahm mir vor, die Bibel einfach mal von Anfang an zu lesen, um alles zu verstehen. Sofort legte ich mich aufs Bett und las die ersten drei Kapitel von 1.Mose. Von da an las ich fast jeden Tag drei oder vier Kapitel, so dass ich nach einem Monat schon die ersten beiden Bücher Mose geschafft hatte. Die Bücher 3. – 5. Mose übersprang ich, weil es mir etwas langweilig erschien, und machte bei Josua weiter.
Zu jener Zeit sprach mich Manfred an und sagte: „Ich habe mich mal mit Florian und einer anderen Christin aus seiner Klasse unterhalten und gefragt, ob wir nicht einen Gebetskreis in der Schule gründen könnten. Hättest Du vielleicht Lust, mitzumachen?“ – „Ja, natürlich. Aber ich kann nicht laut beten vor anderen. Da schäme ich mich.“ – „Das ist aber gar nicht so schwer. Trau dich ruhig! Wir trauen uns doch auch. Und wenn du Blödsinn betest, macht das auch nichts, denn Gott versteht das doch!“ Kurz darauf hatte Manfred einen Klassenraum organisiert, wo wir in der großen Pause gemeinsam beten und einen Text aus der Bibel lasen. Manfred spielte auf der Gitarre, und wir sangen dazu aus einem Liederbuch. Als ich an der Reihe war mit der Andacht, nahm ich wieder das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, da ich auch gar keinen anderen Text kannte. Damals wusste ich nicht, dass jene Klassenkameradin von Florian, Sonja Achtmann, uns alle mit ihrem Bibelwissen weit in den Schatten gestellt hätte, da sie aus der strenggläubigen Missionsgemeinde kam, mit der ich später noch Bekanntschaft machen sollte. Doch sie hielt sich bescheiden zurück.
Auch in diesem Jahr veranstaltete die Raiffeisen Bank wieder einen Malwettbewerb. Das Thema diesmal war Wirtschaft. Ich malte eine Collage aus fünf Bildern, in welchen mehrere Produktionsprozesse und Güterverfrachtungen zu sehen waren. In der Mitte des Bildes unterhielt sich Ronald Reagan mit dem Deutschen Wirtschaftsminister Bangemann und einem asiatischen Politiker. Es war das beste Bild, das ich bis dahin gemalt hatte. Und siehe da: ich gewann schon wieder den ersten Preis, wie ich Wochen später erfuhr, und bekam 400,-DM, die ich jedoch für Casa Materna spendete.
Manfred und ich gründen eine Schülerband
Zu meinem 16. Geburtstag schenkte mir meine Mutter eine Elberfelder Bibel (eine sog. Perlbibel von 1905). Ich hatte mir diese von ganzem Herzen gewünscht, nachdem Manfred mir diese empfohlen hatte, weil es die mit Abstand genaueste Übersetzung sei. Jetzt war ich endlich ein vollständiger Christ, wie ich glaubte. Ein Bruder der Adventisten tat mir den Gefallen, regelmäßig für mich seine christliche Musik auf Leerkassetten aufzunehmen, die ich ihm regelmäßig brachte. Er hatte etwa 100 Kassetten und Schallplatten, angefangen von Manfred Siebald über Siegfried Fietz bis hin zu Keith Green, den ich besonders mochte. Manfred und ich mochten am liebsten die Lieder von Arno und Andreas, zwei Hippies, die sehr fröhliche und lustige Lieder machten für junge Christen. Manche Lieder fand ich so genial, dass ich sie auswendig lernte. Manfred hatte auf einmal die Idee, dass wir gemeinsam eine Rockband gründen könnten mit Manfreds Bruder Christian am Schlagzeug und noch zwei weiteren Musikern. Da ich kein Instrument spielen aber dafür ganz gut singen konnte, sollte ich der Sänger sein.
Wir sprachen mit unserem Musiklehrer Dankwart Reichelt, einem Altlinken, ob er uns dabei unterstützen könnte, und er war sofort einverstanden. Dann gab ich ihm eine Kassette von Arno und Andreas, damit er sich aus diesen Liedern Stücke aussuchen möge, die er für geeignet hielt. Am nächsten Tag sagte er: „Das ist ja alles christliche Musik!“ – „Na und?“ fragte Manfred. „wir sind ja auch Christen. Wo ist das Problem?“ – „Weil ich das kalte Kotzen kriege bei den Texten. Zum Beispiel hier: ‚Ich bin nur einer von Millionen im Telefonbuch, aber ich bin ein Diener des Schöpfers dieser Welt‘.“ – „Und was ist daran jetzt falsch?“ fragte ich. Dankwart, der uns erlaubte, dass wir ihn duzen durften, lächelte: „Die Frage müsste besser lauten: Was ist daran richtig. Schon allein, dass noch nicht einmal alle Menschen im Telefonbuch stehen. Aber lassen wir das. Das einzige Lied, das mir ganz gut gefiel, ist dies hier: ‚Reißt die Götzenbilder ein!‘, denn das hat auch so ein wenig Konsumkritik. Aber die Melodie haben sie geklaut von Volker Lechtenbrink aus dem Lied ‚Leben so wie ich es mag‘. Klauen ist aber nicht gerade etwas Christliches!“ – „Stimmt. Mir kam die Melodie auch irgendwie bekannt vor“ sagte Manfred, „aber vielleicht haben sie sich ja die Erlaubnis von ihm geholt“. Ich ergänzte: „Etwas zu stehlen, ist ja nicht nur für Christen verboten, sondern auch für alle Menschen. Aber durch die Gebote Gottes wissen die Menschen ja erst, was richtig und was falsch ist.“ – „Das ist doch totaler Quatsch!“ widersprach Herr Reichelt, „denn Moral und Gesetze hat es schon lange vor den Zehn Geboten gegeben. Um das herauszufinden, brauchten die Menschen nicht erst die Bibel!“ Darauf wusste ich keine Antwort, deshalb beließ ich es dabei.
Kurz vor den Sommerferien war dann unser erster Auftritt vor Lehrern und Eltern unserer Schule. Doch anders als bei Theateraufführungen hatte ich diesmal solch ein Lampenfieber, dass ich ständig durch den Vorhang auf der Bühne schaute, um mich an den Anblick der Zuschauer zu gewöhnen. Wir sollten ja nur jenes eine Lied singen, dessen Text ich inzwischen in- und auswendig kannte; aber ich hatte panische Angst, dass mir dann im richtigen Moment nicht mehr die korrekte Zeile einfiel und wir uns dann bis auf die Knochen blamieren würden. Dann ging der Vorhang auf und unsere Band begann zu spielen. Als ich dann dran war, sang ich: „Vor fast 3000 Jahren, irgendwo in Babylon, schreit Jesaja durch die Stadt: ‚Reißt die Götzen von den Höhen, hört auf, Bilder anzuflehen, weil ein Götze weder Herz noch Ohren hat. Wollt ihr wirklich dem vertrauen, darauf eure Zukunft bauen, was zwar hilfreich aber leblos ist…“ und im Refrain sang ich dann: „Götzen sind aus Holz und Stein, Hören uns nicht wenn wir schreien, Illusionen und Projektionen – Reißt die Götzenbilder ein!…“
Während ich sang, sah ich plötzlich meine Ex-Lehrerin Frau Magnussen im Publikum und verhaspelte mich dann tatsächlich im Text, indem ich zwei Zeilen doppelt sang. Nach der Vorführung ging sie dann freudig auf mich zu und war erstaunt, wie groß ich inzwischen war. Später nahm eine Lehrerin uns dann im Auto mit zusammen mit unserem Musiklehrer. Im Auto fragte sie ihn: „Sag mal, Dankwart, Du hast ja eine geistig behinderte Tochter. Aber was ich Dich schon immer mal fragen wollte: Du engagierst Dich ja ehrenamtlich sehr für Behinderte, obwohl Du doch eigentlich schon genug Arbeit hast mit Deiner eigenen Tochter; – was würdest Du sagen ist der Grund, dass Du Dich auch noch zusätzlich so sehr für andere geistig Behinderte einsetzt?“ Dankwart Reichelt antwortete: „Damit ich mein schlechtes Gewissen loswerde.“ Diese seltsame Antwort hat mich dann jahrelang noch beschäftigt. Erst wenn Menschen selbst betroffen sind von der Not anderer, wird ihr Gewissen geweckt, dass auch sie Verantwortung für andere übernehmen sollten. Das ist also ein ganz natürlicher Mechanismus, der nicht nur bei Christen funktioniert, sondern auch bei Atheisten.
Unsere Deutschlandreise
Für die Sommerferien hatten Manfred und ich geplant, zusammen mit unserem Freund Klaus Schenk einmal mit dem Fahrrad durch ganz Deutschland zu radeln, genau gesagt durch Süddeutschland. Denn da wir ja als Norddeutsche schon oft genug das Meer und das Flachland gesehen hatten, reizte uns vor allem, mal durch die Berge zu fahren. Damals bot die Bahn das sog. „Tramper-Monats-Ticket“ an, mit dem junge Leute für nur wenig Geld einen ganzen Monat überall in Deutschland so viel reisen konnten, wie sie wollten, wenn auch nur in Regionalzügen. Wir nutzten diese Möglichkeit, um von Bremen aus erstmal runter in den Schwarzwald zu fahren. Unser erstes Ziel war Freiburg im Breisgau, und von dort ging es dann zum Titi-See. Da wir von nun an immer im Zelt schliefen und aus Kostengründen lieber nicht auf Campingplätzen übernachten wollten, wählten wir uns immer wieder Orte in der Natur, wo es einen See gab oder wenigstens ein Freibad zum Waschen und Zähneputzen. Abends machten wir uns am Titi-See ein Feuer und wollten Reis kochen. Da es uns an Erfahrung fehlte, brannte der Reis an und schmeckte entsprechend angebrannt und war viel zu hart, so dass wir den ganzen Topf wegkippen mussten, um dann im Schnellimbiss etwas zu kaufen.
Das war gar nicht so einfach, denn Klaus war Vegetarier, von denen es damals nur wenige gab. Da Klaus immer so lange brauchte auf Toilette, erklärte mir Manfred, dass das an seinem Darm liegen würde, der bei Vegetariern immer viel länger sei als bei Fleischessern. Klaus war aber von uns allen der Heiligste, denn er kannte die Bibel richtig gut und lebte auch konsequent im Glauben. Er erzählte mir, dass er sich in monatelanger Arbeit ein eigenes Super-Fahrrad zusammengebaut hatte mit den besten Komponenten. Da es nur aus Aluminium bestand, war es federleicht. Eines Abends wurde ihm dieses Fahrrad vor der Haustür gestohlen, obwohl er es angeschlossen hatte, um nur kurz etwas aus der Wohnung zu holen. In seiner Versicherungspolice stand die Klausel, dass das Fahrrad nach 18:00 Uhr nicht mehr auf der Straße angekettet sein dürfe. Klaus wusste das, hatte aber trotzdem angegeben, dass es schon 19:00 Uhr war, so dass die Versicherung sich weigerte, ihm den Schaden zu ersetzen. „Warum hast Du denn nicht einfach gesagt, dass Dir das Fahrrad um 17:30 Uhr gestohlen wurde?“ fragte ich, „denn dann hätte man Dir den Diebstahl doch sofort erstattet.“ – „Weil es eine Lüge gewesen wäre, und lügen dürfen wir nun mal nicht, weil Gott es uns nicht erlaubt“ antwortete Klaus.
Auf der Reise hatten wir viele Gespräche über den Glauben. Als wir mal abends eine Bergwanderung machten, fand ich einen toten Lurch in einer Pfütze. Ich hob ihn auf und sagte: „Schaut mal: Einer unserer Vorfahren!“ Sofort entgegnete Klaus: „Nein, Simon, die Amphibien und Reptilien waren nie unsere Vorfahren, denn Gott hat alle Tiere nach ihrer eigenen Art geschaffen“. – „Ja, weiß ich“ sagte ich, „aber doch wohl im Verlauf der Evolution.“ – „Eben nicht!“ widersprach Klaus energisch, „denn die Tiere sind alle am 5. und 6. Schöpfungstag von Gott erschaffen worden aus dem Nichts. Die Evolutionstheorie ist eine Lüge, weil die Menschen nicht an Gott glauben wollen. Deshalb haben sich die Wissenschaftler das nur ausgedacht mit der Evolution.“ – „Das glaube ich nicht“ erwiderte ich, „denn warum sollten diese Wissenschaftler alle lügen? Es gibt doch auch viele Christen unter ihnen.“ – „Aber die Bibel sagt klar, dass Gott die Menschen geschaffen hat und sie nicht von selbst entstanden sind. Simon, Du musst Dich entscheiden, ob Du an die Bibel glauben willst oder ob Du diesen Wissenschaftlern vertrauen willst. Aber beides geht nicht!“ Nun war ich ziemlich getroffen, denn den Schöpfungsbericht wortwörtlich zu nehmen, wäre mir selbst gar nicht in den Sinn gekommen. „Aber Mose war doch gar nicht dabei, als Gott die Erde erschuf; deshalb konnte er doch gar nicht so genau wissen, wie Gott es im Einzelnen tat. Mir scheint der Schöpfungsbericht eher wie eine Rekonstruktion bzw. ein Erklärungsversuch, aber doch kein Tatsachenbericht“. Nun meldete sich Manfred zu Wort: „Du musst wissen, Simon, dass es auch ganz viele christliche Wissenschaftler gibt, die längst bewiesen haben, dass die Evolutionstheorie Unsinn ist. Bei uns hat auch mal einer von denen einen Vortrag in der Gemeinde gehalten, der heißt Siegfried Scherer. Wir haben zuhause eine Kassette von dem Vortrag, die kann ich Dir mal ausleihen.“ Klaus ergänzte: „Glaubst Du wirklich, Simon, dass Gott nicht in der Lage sei, die ganze Welt in 6 Tagen zu erschaffen?“
Nach drei Tagen erreichten wir den Bodensee bei Konstanz und übernachteten auf einem Campingplatz direkt am Wasser. Überall wimmelte es nur so von Mücken, so dass wir in der Nacht vorm Einschlafen im Zelt mit unseren Taschenlampen auf die Suche gingen, um auch noch die letzte Mücke im Zelt zu töten. Am nächsten Morgen wollten wir die Insel Mainau besuchen, wo es den größten botanischen Garten Deutschlands gab. Doch da wir nicht genügend Geld hatten für den Eintritt, fuhr nur Klaus auf die Insel, während Manfred und ich zur etwa 1 km entfernten Insel rüber schwammen. In der Böschung des Ufers wartete Klaus dann auf uns mit Handtüchern und unserer Wechselkleidung. Ähnliche Abenteuer erlebten wir auch später noch in Füssen, wo wir das Schloss Neuschwanstein besuchten und dann in Garmisch-Patenkirchen, wo wir uns abends auf dem Gelände eines Freibads versteckten, um dort übernachten zu können. Dort war es auch, wo ich das erste Mal von einem 10-Meter-Brett sprang, nachdem ich sah, dass auch viel kleinere Jungen es machten. Da ich mir dabei jedoch sehr wehtat, wollte ich es nie wieder tun.
Als wir dann am Sabbat in Nürnberg ankamen, gingen wir in die dortige Adventgemeinde. Nach dem Gottesdienst fragten wir unter den Christen, ob wir irgendwo übernachten können, und eine Familie bot uns an, ein paar Tage bei ihnen unterzukommen. Es handelte sich um eine etwa 70 Jahre alte Mutter mit ihren drei erwachsenen „Kindern“ im Alter von 30 bis 45 Jahren, die alle unverheiratet im Haus ihrer Mutter wohnten. Am Sabbatnachmittag saßen wir alle faul auf der Terrasse und machten absolut gar nichts, außer dass Manfred auf der Gitarre spielte. Sogar das Essen brauchte nicht mehr zubereitet, sondern nur noch warm gemacht werden – wie es im Gesetz Mose vorgeschrieben war. Der jüngste Sohn (30) hatte als Jugendlicher einen tragischen Unfall erlebt, durch den er schwerstbehindert war. Er war im Rollstuhl und sein Kopf lag verbogen auf seiner rechten Schulter. Allzu „fromm“ im adventistischen Sinn waren die vier nicht, denn sie hielten sich nicht an die Gesundheitslehre, da ihnen die Reformkost zu teuer war. Zudem hörte Julia (ca. 40) gerne die gottlosen Lieder von Udo Lindenberg. Aber sie waren sehr lieb zu uns, und aus Dankbarkeit malte ich ein Porträt von Julia.
Als wir wieder in Bremen ankamen, mussten wir uns gleich wieder auf den Weg machen, denn in der vorletzten Augustwoche hatten wir uns für eine Jugendfreizeit der Adventisten angemeldet in Bad Bederkesa (bei Bremerhaven). Dort gab es einen großen See, wo wir Surfen lernen durften. Schon nach drei Tagen beherrschten Manfred und ich das Surfen und machten Wettkämpfe, wer von uns beiden der Schnellere sei. Meistens gewann Manfred, aber dafür besiegte ich ihn abends immer im Schach. Jeden Abend las ich weiter in meiner neuen Bibel und erzählte Manfred in der Nacht, dass ich gerne Pastor werden möchte. „Du kannst doch auf das Internat der Adventisten gehen auf die Marienhöhe in Darmstadt. Dort studieren die zukünftigen Prediger der Adventisten Theologie!“ – „Ja, das mach ich auf jeden Fall!“ Unser Gruppenleiter Bernd Bangert machte immer vormittags mit uns eine Bibelarbeit. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, dass es einmal um das Thema ging, die Zeit auszukaufen. Am Sabbat machten wir einen Gottesdienst und im Anschluss sagte Bernd zu uns: „Nach dem Mittag gehen wir zum Schwimmen. Aber ich bitte Euch, nicht so wild zu planschen, denn heute ist ja schließlich Sabbat. Und später gegen 16:00 Uhr wollen wir in der Fußgängerzone eine kleine Evangelisation machen, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Dazu habe ich mir etwas ausgedacht: und zwar bekommt jeder von Euch hier einen dieser Button mit Anstecknadel, auf dem einfach nur steht: ‚Ich hab’s!‘ Das soll die Passanten neugierig machen, damit sie Euch ansprechen und fragen, was ihr denn habt.“ Daraufhin meldete ich mich: „Und wenn mich einer fragt, was ich denn habe, was soll ich ihm dann antworten?“ …
Ja, so absurd das klingen mag, aber ich nahm an einer Evangelisation teil, damit sich Menschen bekehren, dabei war ich ja selber noch gar nicht bekehrt. In all den Monaten, die ich zuvor bei den Siebenten-Tags-Adventisten verbrachte, hatte keiner mir gesagt, dass ich mich erst mal bekehren müsse, denn alle gingen davon aus, dass ich schon einer von ihnen war. Ich war sozusagen durch die Maschen des Siebes geschlüpft. Es war auch noch nicht einmal das erste Mal, dass ich auf Freiversammlungen der Adventisten mitgemacht hatte, denn damals machten sie regelmäßig einmal im Monat eine Evangelisation in der Bremer Innenstadt. Einmal hatte ich für sie ein großes Plakat gemalt, auf dem das Standbild von Nebukadnezar aus Daniel 2 zu sehen war. Anhand dieses Plakates erklärten sie dann den Leuten, dass der HErr Jesus bald wiederkomme und sie Ihn als HErrn annehmen müssen. Auch ich unterhielt mich mit Passanten, die zu unserem Büchertisch kamen, aber das Evangelium hatte ich selber noch gar nicht richtig verstanden. Aber das sollte sich schon eine Woche später ändern…
Fortsetzung folgt…