»Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte« (Teil 9)
Oktober – Dezember 1985
Gewogen und für zu leicht befunden
In jenen Tagen erhielt ich immer wieder Briefe aus der Heimat. Sogar mein Französischlehrer Herr Jentzsch schrieb mir und sandte mir ein Taschenbuch vom atheistischen Schriftsteller Isaac Asimov über den biblischen Schöpfungsbericht. Ich las nur die erste Seite, auf der ein Satz stand wie: „Der Monotheismus ist eine späte Erfindung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ und dann warf ich es gleich in den Müll. Immer das gleiche, dachte ich mir: Erst heißt es, dass man weder die Existenz noch die Nichtexistenz eines Gottes beweisen könne, aber dann ist man sich angeblich doch so sicher, dass Er angeblich eine Erfindung sei! Für mich waren all diese Gottesleugner nur dumme Schwätzer, die von Dingen redeten, von denen sie keine Ahnung hatten. Traurig war ich über einen Brief von Florian, dem Bruder von Manfred, der mir schrieb, dass er jetzt endgültig seinen Glauben verloren habe und daher nicht mehr in die Adventgemeinde gehe. Auch Manfreds Briefe waren für mich sehr traurig, weil ich merkte, dass er gar nicht mehr von der Bibel her argumentierte, sondern anfing zu philosophieren. Es war für mich alles dummes Zeug, was er schrieb. Alle sieben Tage schrieb mir meine Mutter, aber auch mit den Glaubensbrüdern Edgard Böhnke und Daniel Werner stand ich im regen Briefkontakt. Meine Mutter erzählte mir, dass sie den Edgard und Hedi in Blumenthal besucht hatte, einfach so, um sie mal kennenzulernen, und der beiderseitige Eindruck soll durchaus positiv gewesen sein. Während ich mich in meinen Briefen an Edgard und Daniel bemühte, mich genauso geistlich und bedächtig auszudrücken, wie sie es taten, schrieb ich meiner Familie ganz locker und jugendlich, so wie sie mich kannten und es gernhatten. Mit der Zeit widerte mich jedoch diese Zweigleisigkeit an. Ich konnte mich nicht den Geschwistern gegenüber immer als feinen Jungen darstellen, während ich mich meiner Familie so gab wie immer. Mir war klar: ich musste mich endlich entscheiden, wer ich wirklich sein wollte und dies konsequent nach außen hin darstellen. Ich wollte kein mittelmäßiger Christ sein, weil ich dadurch Gott betrüben würde, und auch die Geschwister würden meine Heuchelei irgendwann entdecken. Daher entschied ich mich, meine Albernheiten in den Briefen an meine Familie zu unterlassen und ihnen stattdessen vielmehr evangelistische Briefe zu schreiben mit vielen Bibelstellen – so wie Daniel und Edgard dies immer taten – schließlich war meine Familie ja noch ungläubig und damit ewig verloren, wenn sie nicht umkehrten.
Seit Anfang September fuhren wir regelmäßig an den Wochenenden nach Le Sueur, um das alte Landhaus zu renovieren, das mein Gastvater John Greenway geschenkt bekommen hatte. Als wir es das erste Mal sahen, mussten wir alle innerlich lachen und weinen zugleich. Wir haben fortwährend immer nur ironische Witze über dies seit Jahren verlassene Geisterhaus gemacht, denn es war wirklich völlig heruntergekommen. Der ganze Hof außen war mit hohem Gestrüpp umgeben. Bei jedem Schritt hüpften Hunderte von Grashüpfern davon. Im Haus waren überall Spinnengewebe und es roch stark nach Moder. Das Waschbecken und die Dusche hatten braune Rostränder, denn das Grundwasser der Umgebung war stark eisenhaltig. Es lag weitab vom Highway (Landstraße), umgeben von weiten Feldern und vereinzelten Bäumen. Wir dachten uns jedoch: Einem geschenkten Gaul, guckt man nicht ins Maul. Wir verbrachten die Nacht immer im Haus und fuhren Sonntagmorgens zur Baptistengemeinde von Le Sueur. Da diese Gemeinde gerade erst entstanden war durch die Arbeit eines texanischen Missionars und noch nicht genügend Geld vorhanden war, um sich eine eigene Kapelle zu bauen, versammelte sich die Gemeinde in einer angemieteten Schul-Turnhalle. Auch diese Gemeinde war für mich eine Zumutung und ihr ganzer Gottesdienst ein gotteslästerlicher Gräuel, für den ich nur Abscheu empfand. Verglichen mit all den biblischen Normen, die ich in diesem vergangenen Jahr gelernt hatte, konnte diese Gemeinde keineswegs vor Gott bestehen. Sie war durch und durch babylonisch. „Gewogen und für zu leicht befunden“, wie der Prophet Daniel sagte (Dan.5:27). Schon allein, dass sie alle beim Gebet sitzen blieben, anstatt ehrfurchtsvoll zu knien oder mindestens zu stehen beim Gebet, ganz zu schweigen davon, dass sich die Frauen kein Kopftuch aufsetzten und sogar Hosen trugen! Und dann war auch die Predigt völlig hohl und inhaltslos. Ich hatte den Eindruck, als wenn hier nur eine oberflächliche Show abgezogen wird, um sein Gewissen zu beruhigen, dass man ja im „Gottesdienst“ gewesen sei. Nein, so eine Heuchelei konnte ich nicht unterstützen. Ich kniete mich beim Gebet demonstrativ hin und nahm mir vor, dass dies das letzte Mal war, dass ich an solch einem Gottesdienst teilnahm. Schließlich würde Gott hier nicht geehrt, sondern verunehrt. Gerade zuvor hatte ich in Hesekiel Kapitel 12 gelesen, dass der Gottesmann vor ihren Augen die Gemeinde verlassen solle wegen ihrer Gesetzlosigkeit. Also hatte ich das auch so zu tun!
Am darauffolgenden Wochenende teilte ich Familie Greenway meinen Entschluss mit, dass ich nicht mehr mit ihnen nach Le Sueur fahre, da ich nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen wolle. Sie waren zwar sehr geschockt darüber, beharrten aber darauf, dass ich in jedem Falle mitkommen müsse, schon allein um bei den Renovierungsarbeiten zu helfen. Insgeheim hofften sie, dass sich meine Meinung doch noch ändern und ich auch am Gottesdienst teilnehmen würde, schon allein, um ihnen eine Blamage zu ersparen. Sie nahmen mich am Sonntagmorgen im Wagen mit bis zur Sporthalle von Le Sueur, wo sie ihren Gottesdienst hielten. Beim Aussteigen fragte mich John noch einmal, ob ich meine Meinung nicht doch noch einmal überdenken wolle. Doch ich blieb hart und bat ihn, meine Entscheidung zu respektieren. So blieb ich im Wagen zurück und las in meiner Bibel. Kurz nach Beginn des Gottesdienstes kam John auf einmal raus und bat mich ein letztes Mal mit bebender und emotionaler Stimme, ich möge doch reinkommen. Aber ich wollte mich nicht durch mein Mitleid verunsichern lassen und erklärte ihm, dass es sich um eine Gewissensentscheidung handle und dass ich Gott nicht durch meine Inkonsequenz verunehren wolle. Er knallte wortlos die Wagentür zu. Ich begann zu weinen und betete so lange, bis ich Trost und Zuspruch fand beim HErrn. Nach ihrem Gottesdienst kamen sie alle heraus, und eine ältere Dame stieg prompt zu mir in den Wagen und fragte mich unvermittelt:
„Simon, do you think, you’re perfect?“ („Simon, hältst Du Dich für vollkommen?“).
„Not at all. But this is not the point!“ („Nein, aber darum geht es doch auch gar nicht!“).
„Aber warum erwartest Du dann von uns, dass wir vollkommen sein müssen?“
„Das erwarte ich ja gar nicht“.
„Und warum kommst Du dann nicht zu uns in den Gottesdienst? Weißt Du, dass Du John das Herz brichst, wenn Du nicht mit hineingehst? Wieviel haben sie schon für Dich getan! Das kannst Du ihnen doch nicht antun! Wir sind doch alle nur Menschen und machen Fehler. Du solltest nicht so hochmütig sein, auf uns herabzuschauen!“
„Das stimmt. Aber wenn wir unsere Fehler wirklich einsehen, dann müssen wir sie auch sein lassen und uns nach Kräften bemühen, den Willen Gottes zu tun. Wenn Ihr aber den Willen Gottes nicht tut, dann ist auch Euer Gottesdienst vergeblich, und ich mache mich vielleicht mitschuldig, wenn ich alles toleriere, was Ihr macht.“
„Du übertreibst ja. So ein Unfug! Wir singen Gott Loblieder und lesen in der Bibel. Was soll daran denn falsch sein?“
„Das sicher nicht, aber Sie sind ja z.B. geschminkt und tragen kurze Haare, obwohl die Bibel sagt, dass Frauen eigentlich lange Haare tragen sollten. Ich glaube, das gefällt Gott nicht, und auch vieles andere nicht. Aber persönlich habe ich nichts gegen Sie, zumal ich Sie ja auch sonst gar nicht kenne und mir kein Urteil über Sie erlauben kann.“
„Simon!“ rief sie empört. „Deine Frechheiten kann ich nur mit Deiner jugendlichen Unreife entschuldigen!“ Dann stieg sie aus dem Wagen aus, und das Gespräch war beendet.
Am Abend desselben Tages, als wir wieder in Huntley waren, schrieb ich einen Brief an meine Mutter. Plötzlich kam Ann mit tränennassem Gesicht in mein Zimmer und sagte weinerisch: „Simon, was Du heute getan hast, das darfst du nie wieder tun. Wenn Du wüsstest, wie Du John damit verletzt hast! Ich bitte Dich, dass Du wieder mit uns in die Gemeinde gehst. Du brauchst es nicht um meinetwillen tun, aber tu es John zuliebe, denn er hat es nicht verdient, dass er wegen dieser Sache so leiden muss. Ich kann das nicht mit ansehen, wie er sich gedemütigt fühlt, und Du selbst weißt ja, wie gern er Dich hat. Tue es um Johns willen!“ Während sie so vor mir weinte und schluchzte, tat es mir richtig leid, was ich getan hatte, und auch ich fing an zu weinen. Ich ging hinaus und wollte eine Weile allein sein im Gebet. Dann ging ich wieder ins Haus zu John, der im Keller beschäftigt war und bat ihn um Vergebung. Ich sagte ihm, dass es mir leidtut, dass ich ihn so verletzt hatte und dass ich von nun an wieder mit in die Gemeinde gehen würde. John umarmte mich und sagte mit ruhiger und väterlicher Stimme: „Simon, Du solltest nicht denken, dass Du um unseretwillen zum Gottesdienst gehen musst. Der Gottesdienst soll ja keine Pflichtübung sein, sondern etwas, dass wir alle gerne tun. Wenn Dir unsere Versammlungen nicht gefallen, dann kannst Du gerne Änderungsvorschläge machen. Du kannst auch gerne selber mal eine Predigt halten, denn Du kennst die Bibel ja schon sehr gut, und die Gemeinde würde sich sicherlich sehr darüber freuen.“ Ich hätte ihm vieles erwidern können, aber ich zog es vor, still zu bleiben. Wer war ich überhaupt, dass ich mich zum Richter über sie aufspielte!? Wenn sie nicht auf mich hören wollten, was meine Lehrüberzeugungen angeht, dann müssen sie das eben selbst vor Gott verantworten, dachte ich mir. Schließlich war ich ja meiner Verpflichtung nachgekommen, sie auf die rechte Lehre hinzuweisen. Nun musste ich mich ihnen als Gasteltern auch fügen und mich anpassen, schon allein der Höflichkeit wegen.
Dies fiel mir jedoch nicht immer leicht, zumal es auch erhebliche Mentalitätsunterschiede gab. Ich erinnere mich z.B. an einen Sonntagmorgen im Gottesdienst in Le Sueur, als der texanische Missionar predigte über Psalm 78, wie wichtig eine richtige, christliche Kindererziehung sei. Er machte dies mit einem so übertriebenen Pathos, dass man den Eindruck hatte, er würde jeden Moment anfangen zu heulen. Am Ende der Predigt mahnte er noch an unsere Verantwortung, dass wir einander die Sünden vergeben müssten, so wie auch der HErr sie uns vergibt. Um als gutes Beispiel voranzugehen, nannte er eine alte Schwester im Rollstuhl, die an der Seite der Bühne stand. Er beugte sich mit seinem Mikrofon in der Hand zu ihr herab und bekannte vor allen, dass es ihn reue, der alten Dame in letzter Zeit mit so viel Gleichgültigkeit und Herzenskälte begegnet zu sein. Die alte Schwester – selbst noch ganz überrascht von diesem offenen Bekenntnis, sah sich plötzlich in seinen Armen wieder. Beide waren innerlich so erregt, dass sie tränenüberströmt einander um Vergebung baten.
Dann bat der Pastor auch die ganze Gemeinde, dass jeder seinem Sitznachbarn Vergebung aussprechen möge. Plötzlich brachen alle im Saal in Tränen aus und fielen sich in die Arme. Man hörte von allen Seiten her – wie auf Knopfdruck – ein Heulen und Schluchzen, so dass ich mir nur mit großer Mühe ein Grinsen verkneifen konnte. Doch nun geriet ich selbst in Zugzwang, denn indem ich mich umdrehte, drückte mich schon Mutter Greenway weinend an ihre stattliche Brust. Sie war so in Tränen aufgelöst, dass sie kaum ein Wort hervorbrachte. Um mich nicht zu blamieren, tat ich so, als ob auch ich von diesem Theater gerührt sei und gab weinerische Laute von mir. Zu meiner Überraschung schloss sich dann auch Heather kommentarlos der Umarmungsprozedur an, wobei ich nur zu gern gewusst hätte, was genau ich ihr denn vergeben sollte. Nach dem Gottesdienst ging ich in Gedanken versunken zum Wagen. Ich fragte mich, ob dieses gefühlsduselige Treiben alles nur Show war oder ob die Predigt wirklich eine so tiefgreifende Wirkung auf die Gemeinde hatte, dass sie tatsächlich einsichtig wurden über ihre Versäumnisse in der Vergangenheit. Während ich noch so überlegte, fauchte mich plötzlich die Heather von der Seite an (wie ich es von ihr gewohnt war) und stellte gebieterisch fest: „Ich sitze wie immer vorne, das ist ja wohl klar!“ Es hatte sich also doch nicht so viel verändert.
Ein Fremder aus einer anderen Welt
Was mich bei den Greenways ziemlich befremdete, waren ihre Essgewohnheiten. Zum Frühstück gab es Weißbrot mit Ernussbutter, die ich sehr mochte. Statt eines normalen Mittagessens, wie ich es gewohnt war, stellte Ann mittags und abends jede einzelne Zutat (wie Reis oder Bohnen) in kleinen Tupperschalen auf den Tisch, die sie zuvor in der Mikrowelle warm gemacht hatte. Nach dem Abräumen wurden sie dann einfach wieder in den Kühlschrank getan, so dass das Essen bis zu 4-oder 5-mal aufgewärmt wurde. Zu jeder Malzeit gab es ein kaltes Getränk mit Eiswürfeln in 0,5 Liter großen Bechern. Da das Leitungswasser sehr stark nach Eisen schmeckte, mischten sie es mit einen Sirup, der sich Kool Aid nannte. Heather hatte ihr Leben lang nur Wasser mit Eisengeschmack getrunken, so dass sie reines Mineralwasser aus der Flasche als „ekelig“ empfand. Ich nahm mir immer heimlich Orangensaft oder Milch aus dem Kühlschrank, aber wenn ich dabei erwischt wurde, schimpfte Ann mit mir: „Simon, hast Du wieder aus dem Milchgalon getrunken? Ich merke das sofort! Wie oft habe ich Dir schon gesagt, dass die Milch nicht zum Trinken gedacht ist, sondern nur für die Corn Flakes! Milch ist teuer! Du kannst sie doch nicht einfach so trinken!“
An einem Tag fuhr ich mit John allein nach Le Sueur zum Renovieren. Da er sehr still war, fragte ich ihn, an was er gerade denke. Er erzählte mir, dass er sich Sorgen mache, wie wir den Winter überstehen würden, denn seine Ersparnisse seien fast aufgebraucht und es sei für ihn nicht einfach, so bald neue Aufträge zu bekommen, da er ja in Le Sueur ein Unbekannter sei. Von seinem Honorar als Pastor könne er die Familie nicht ernähren, zumal er sich die Stelle auch noch mit dem Texaner teile. Der Wassertank im Haus sei völlig verrostet, aber er habe kein Geld für einen neuen. Ich fragte ihn, ob er nicht Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld beantragen könne, musste ihm dann aber erstmal erklären, was das ist.
„Ja, Ihr habt in Deutschland solche Sozialversicherungen, aber sowas haben wir hier noch nicht. Jimmy Carter wollte sie einführen, aber wir hatten in den 70ern eine Wirtschaftskrise und konnten uns das nicht leisten. Jetzt haben wir einen Aufschwung unter Ronald Reagen, aber von diesem profitieren nur die Reichen. Reagen macht eigentlich gar nichts, erst recht nicht für die Armen, sondern kann nur schöne Reden halten, weil er ein Schauspieler ist. Trotzdem haben ihn jetzt fast alle Staaten wiedergewählt – außer Minnesota. Wir wollten ihn nicht, denn er ist ein Kriegstreiber und wird noch einen Dritten Weltkrieg provozieren“. – „Das ist gut möglich. In Deutschland mögen wir ihn auch nicht. Die Leute machen sogar einen Witz über ihn: ‚Immer noch schlechtes Wetter – weitere vier Jahre Regen!‘“ John lächelte, wurde aber dann wieder ernst: „Schau mal dieses Gebäude hier!“ Er zeigte auf eine Art Tempel – „Dort treffen sich die, die hinter den Kulissen die Fäden in der Hand halten, nämlich die Freimaurer. Weißt Du, was Freimaurer sind?“ – „Nein. ‚Freie Maurer‘? Kann ich mir nichts drunter vorstellen.“ – „Das hat mit Maurern nichts zu tun. Das sind die Reichsten der Reichen, die heimlich die Geschicke der Politik lenken.“ – „Aber ist Gott nicht der, der alles lenkt?“ – „Ja natürlich, Gott lässt alles zu, was sie heimlich planen.“ – „Und deswegen brauchen wir uns ja auch keine Sorgen machen, denn uns kann nichts passieren, wenn Gott es nicht will. Und Er wird uns auch in diesem Winter mit allem versorgen, was wir brauchen.“
Anfang November zogen wir dann schließlich um. Am letzten Schultag in Huntley bekam ich ein Zwischenzeugnis, in das jeder Lehrer mir eine Note hineingeschrieben hatte zur Vorlage in der neuen Schule. Um mir zu schmeicheln, hatten sie mir alle eine viel bessere Note gegeben, als ich eigentlich verdient hätte. Als ich an diesem Tag mittags in der Schulkantine mein Essen auf dem Tablett bekam, tippte mich eine Mitschülerin auf die Schulter und bat mich, ich möge mich doch an ihren Tisch setzen. Ich hatte nichts dagegen, doch als sie sich an jenen Tisch setzte, an dem auch ganz viele andere Mädchen dicht an dicht saßen und man mir eine Sitzlücke am Tisch anbot, die sie für mich reserviert hatten, ahnte ich schon, was auf mich zukam. Ich hatte mich gerade gesetzt, da ging schon die Fragerei und das Gekichere los: wie alt ich sei, ob ich denn schon eine Freundin hätte und ob mir ein Mädchen in der Schule gefallen würde etc. Manch ein anderer Junge hätte sich sicher sehr wohl gefühlt, wenn man von so vielen Mädchen umgarnt würde, aber für mich war dies alles eine dumme Kinderei, und mein einziges Problem war, eine Gesprächspause zu nutzen, um mein Tischgebet zu sprechen. Als diese Wortpause von zwei Sekunden kam, beugte ich mich schnell und faltete die Hände, so dass alle kurz warteten, bis ich mit dem Beten fertig war.
Das andere Geschlecht war mir zu jener Zeit nicht ganz geheuer. Von der Bibel her war ich ja belehrt, dass eine jugendliche Liebelei ungebührlich für einen Christen sei, und so vermied ich es von vornherein, mich auf diesem Gebiet auf etwas einzulassen. Auch in der neuen Schule bot sich mir so manch eine Gelegenheit, die ich bewusst ungenutzt verstreichen ließ, indem ich den Mädchen die kalte Schulter zeigte. An einem Tag saß ich in der Mensa beim Mittagessen. Nach dem Essen pflegte ich immer, meinen Mittagstext zu lesen, der laut Bibellesekalender gerade dran war. Doch auf einmal setzten sich zwei hübsche Girls an meinem Tisch, mir direkt gegenüber, um sich mit mir zu unterhalten. Sie gefielen mir eigentlich und waren auch in meinem Alter, doch als ich mit dem Essen fertig war und wir uns immer noch unterhielten, kam in mir der Gedanke auf, ob dieses Gespräch nicht eine teuflische Versuchung sei, um mich vom Lesen der Bibel abzuhalten. Aber wie konnte ich Ihnen diesen Wunsch erklären, ohne dabei äußerst unhöflich zu sein? Schließlich hatten sie sich ja extra zu mir gesetzt, weil sie mich näher kennenlernen wollten. Aber war dies nicht gerade ein teuflisches Manöver, dem ich nicht widerstehen sollte? Nein, ich durfte nicht zulassen, dass mir Satan hier eine Falle stellt! So unterbrach ich die Mädchen und erklärte ihnen freundlich, aber bestimmt, dass ich nach dem Mittagessen immer meine Bibel zu lesen pflege und dass ich auch jetzt vorhätte, dies zu tun. Dann holte ich meine Elberfelder Bibel aus der Tasche, öffnete sie und begann zu lesen. Die Mädchen guckten sich verdutzt an, flüsterten sich etwas zu und gingen dann weg. Ich fragte mich nur: Was mögen sie jetzt von mir denken? Aber das war mir damals an sich auch nicht so wichtig.
Heute kann ich mich selbst nur an den Kopf fassen, wie ich nur so kaltherzig sein konnte zu meiner Umwelt. Aber damals empfand ich mein Verhalten als völlig folgerichtig, nämlich der göttlichen Norm entsprechend. Das Leben war für mich ein ständiger Kampf des Heiligen Geistes gegen die Mächte der Finsternis. Diesen Kampf konnte ich nur überstehen durch die – wie Bruder Daniel immer sagte – gehorsame Treue zu Gottes Wort, d.h. durch das tägliche Lesen in der Bibel. So kam es nicht selten vor, dass ich mein Bibelbuch wie einen Teddy mit ins Bett nahm im kindlichen Vertrauen, dadurch gut einschlafen zu können. An eine Anekdote erinnere ich mich noch aus jener Zeit, die in besonders übertriebener Weise meine Bibellese-Disziplinen veranschaulicht: an dem Tage, als wir die Umzugskartons in den Lkw luden, ordnete Mutter Greenway beim Lunch an, ich solle nach dem Essen die Keramik-Kartons aus dem ersten Stock in den Lkw laden. Diese an und für sich einfache Bitte stellte mich jedoch innerlich vor ein Problem: ich musste ja nach dem Mittagessen den Mittagstext in der Bibel lesen! In diesem Interessenkonflikt sah ich nur eine Lösung, um allen Verpflichtungen gerecht zu werden, ohne Aufsehen zu erregen. Ich legte mir nach dem Essen die Bibel oben im Obergeschoss auf die Fensterbank, schlug das entsprechende Kapitel auf, das gerade dran war und begann damit, die ersten zwei Verse zu lesen. Dann schnappte ich mir schnell die ersten Kartons und brachte sie nach unten. Als ich wieder oben war, las ich schnell die nächsten zwei Verse und trug dann wieder Kartons nach unten, usw. Während des Rauf- und Runtersteigens hatte ich ja immer noch genug Zeit, über den Inhalt des Textes nachzudenken. Es war ein Kapitel aus dem Propheten Hesekiel. Plötzlich schöpfte meine Gastmutter Verdacht und rief mir nach, ich solle da oben nicht rumbummeln, weil noch viel zu tun sei. Nach weiteren Kartons, die ich runtergetragen hatte, war ich auch schon mit dem Bibeltext zu Ende und freute mich, dass ich dadurch sowohl Menschen als auch Gott gefällig war. Ein Psychiater hätte mich wohl als gesetzlichen Neurotiker betrachtet.
Wahrscheinlich hätte ich meinen Rechtgläubigkeitswahn kaum lange aufrechthalten können, wenn ich nicht ständig durch meine Glaubensbrüder aus Deutschland Zuspruch und Rückendeckung bekommen hätte. Die Briefe von Bruder Daniel und Bruder Edgard bestärkten mich in meiner Wahrnehmung, dass ich völlig normal sei, aber in feindlicher Umgebung. Sie wären gewiss beeindruckt, wenn sie meinen Eifer für Gott sehen könnten! dachte ich damals. Unbemerkt ahmte ich mit der Zeit sogar ihre Art nach, Briefe zu schreiben: Statt meinen Eltern ausführlich von meinen Erlebnissen in den USA zu berichten oder ihnen wenigstens über mein Wohlbefinden Auskunft zu geben, waren meine Briefe von nun an angefüllt mit Bibelversen und evangelistischen Aufrufen zur Umkehr. Kein Wunder, dass sich meine Mutter Sorgen machte über meine zunehmende Radikalisierung. Indes rief mir Br. Daniel in seinen Briefen immer unverhohlener ins Gewissen, dass meine USA-Reise von Anfang an nicht Gottes Wille war. Dabei ließ er sich kaum überzeugen oder beirren von meiner Erklärung, dass bei einem vorzeitigen Abbruch meines USA-Aufenthalts ich die Kosten für den Rückflug möglicherweise aus eigener Tasche bezahlen müsste. Br. Edgard bot mir sogar an, dass in diesem Falle er bereit wäre, die Flugkosten zu übernehmen. Diese Großzügigkeit offenbarte mir nicht nur das große Interesse, dass die Brüder an meinem geistlichen Wohlergehen hatten, sondern brachte mich auch wieder in einen gewissen Zugzwang. Wollte Gott mir durch sie vielleicht klarmachen, dass ich mich durch meinen „eigenen Weg“ der Führung Gottes entzogen hatte? Mir kam dabei der Gedanke an den Propheten Jona, der sich ebenso dem Willen Gottes widersetzt hatte und statt nach Ninive zu gehen, einfach auf ein Schiff geflohen war, um Richtung Westen nach Tarsis zu reisen, in die entgegengesetzte Richtung, als wolle er mal ausprobieren, was passiert, wenn ein Diener Gottes den Befehlen seines HErrn nicht mehr folgt. Das Ergebnis war, dass Gott einen Sturm schickte, der das Schiff, auf dem Jona Passagier war, in Schwierigkeiten brachte, bis Jona den Matrosen erklärte, dass er selbst die Ursache für ihr Unglück war und ihn auf seinen Wunsch über Bord warfen. Jetzt wurde mir auch klar, warum ausgerechnet zu der Zeit, wo ich nach Amerika gekommen war, die Familie Greenway eine Hiobsbotschaft nach der anderen verkraften musste. Gott strafte sie für meinen Ungehorsam!
In der Dunkelheit verlaufen – bei -10°C
Auch in der neuen Schule durfte ich mir neben den Pflichtfächern Mathe und Englisch noch fünf weitere Fächer auswählen. Dabei gab es eine viel größere Auswahl, bei der mir z.T. nicht klar war, welchen Nutzen sie hatten. Neben meinem Lieblingsfach Kunst wählte ich diesmal noch „Child Development“ (Kindesentwicklung) und „Choir“ (Chorgesang). Bei Letzterem wunderte mich, dass wir Lieder mit hochgeistlichen Texten singen sollten, die eigentlich nur für Gläubige bestimmt sind, z.B. „Let us break bred together on our knees“ („Lasst uns zusammen das Brot brechen auf unseren Knien“). Aber in Minnesota gehörte beinahe jeder irgendeiner Kirche an, deswegen war das für die Schüler ganz normal. Trotzdem oder wohl gerade deshalb hatten meine Mitschüler kaum Interesse, wenn ich ihnen von meinem christlichen Glauben erzählen wollte. Stattdessen wollten sie alles über Deutschland wissen: „Gibt es in Deutschland noch echte Nazis?“ „Stimmt es, dass es auf den ‚Highways‘ in Deutschland keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt?“ Und dann wollten sie natürlich immer, dass ich mal einen Satz auf Deutsch sagen sollte. Einer bat mich, mal einen Satz auf Deutsch zu schreiben. Als er ihn dann sah, sagte er: „Das ist ja gar kein Deutsch!“ – „Doch!“ sagte ich. – „Aber das sind ja englische Buchstaben, – wie kann das dann Deutsch sein?“ – Dass die Amerikaner nicht besonders intelligent sind, war mir schon oft aufgefallen. Da ich häufig der Einzige war, der sich bei den Fragen der Lehrerin meldete, sagte sie irgendwann zur Klasse (als schon wieder keiner außer mir sich meldete): „Sagt mal, wie kann das sein, dass keiner von Euch die Frage beantworten will außer der Deutsche in unserer Schule?!“ Daraufhin antwortete einer aus der ersten Reihe: „Well, perhaps he’s smart…“
An einem Tag sollten sich sämtliche Klassen in der großen Aula treffen. Es ging um den Abschiedsball, der am Ende des Schuljahrs veranstaltet wurde und der bei den Amerikanern einen sehr hohen Stellenwert hat. Obwohl es noch sechs Monate hin war, wurde schon über jedes noch so kleine Detail gesprochen. Unter anderem war dort der Chef einer Druckerei, der die Einladungen für die Verwandten und Bekannten der Schüler drucken sollte. Als die Schüler dann über die Helligkeitsstufe des Rosafarbtons der Einladungskarte abstimmen sollten, dachte ich nur: Oh nein, wie oberflächlich! Als wenn das überhaupt wichtig wäre! Ich fragte mich ohnehin, wie ich mich vor diesem Schulball drücken konnte, denn das war mir ein Graus, ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, aber für meine Gastfamilie ein absolutes Muss. Als ich an einem Tag nach Hause kam, sagte Ann zu mir: „Simon, wir gehen heute Abend ins Kino, und zwar Du auch, ob Du willst oder nicht!“ – „Nein, auf keinen Fall!“ entgegnete ich. „Doch, auf jeden Fall! Wir gehen alle ohne Ausnahme, denn das ist ein christlicher Film!“ – „Ein christlicher Kinofilm? Das ist ja ein Widerspruch in sich…“ – „Das ist ein evangelistischer Film, – also etwas ganz anderes als das, was Du vielleicht denkst.“ Ich ließ mich überreden.
Der Film hieß „Cry from the mountain“ („Schrei aus den Bergen“) und handelte von einer Familie, die aus Lebensgefahr gerettet wurde. Anschließend hielt Billy Graham eine Predigt. Ich erinnere mich noch, wie er sogar einen Witz einbaute: „Letztens fragte ich meine Frau, ob sie jemals daran gedacht hatte, das siebte Gebot zu brechen, um sich von mir scheiden zu lassen, und sie antwortete: ‚Nein, das nicht, aber ich habe schon öfter mal erwogen, das sechste Gebot zu brechen: Du sollst nicht töten‘…“ Am Ende lud er die Leute, die ihr Leben dem HErrn übergeben wollten, ein, nach vorne zu kommen im Kino, damit sich engagierte Christen um sie seelsorgerlich kümmern könnten. Tatsächlich gingen dann auch mehrere junge Leute nach vorne, und ich sah, wie sie dann beteten.
Ende November waren die Temperaturen tagsüber auf -5°C gefallen und nachts sogar auf -10°C bis -15°C gefallen. Der 1 km-lange Weg von der Bushaltestelle zum Haus war schon eine Tortur, denn die Kälte schmerzte richtig im Gesicht. Es gab auch schon eine Schneedecke von etwa 15 cm, aber Heather meinte, dass der Schnee oftmals schon über einen Meter hoch war. Sie hatten mir Fotos gezeigt, wo man beim Öffnen der Haustür aufgrund der Schneeverwehungen bis oben hin den Schnee sah, so dass man erst einen Tunnel schaufeln musste, um überhaupt das Haus verlassen zu können. Da die Heizung im Haus nicht richtig funktionierte, hatten wir nachts höchstens 10°C im Zimmer. An den einfach verglasten Scheiben hatten sich Eisblumen gebildet und mir klapperten die Zähne beim Einschlafen.
An einem Nachmittag ging ich mal wieder mit unserem Pudel Jacque Gassi. Wie immer nahm ich mir dabei eines der grünen Daniel-Werner-Hefte zu Lesen mit, während Jacque ohne Leine an den Bäumen schnüffelte, um seine Markierung zu hinterlassen. Wir gingen über die Felder, während die Sonne am Horizont in orangem Abendlicht allmählich unterging. Während wir so spazierten, war ich so sehr in den Text vertieft, dass ich überhaupt nicht mehr auf den Weg achtete. Es wurde immer dunkler, so dass mir das Lesen allmählich schwerfiel. Als ich nach etwa einer Stunde aufschaute, sah ich plötzlich Jacque nicht mehr. Ich rief ihn immer wieder, konnte ihn aber in der hereingebrochenen Dämmerung nirgends sehen. War er vielleicht einfach zum Haus zurückgelaufen? Aber wie hätte er allein den Weg finden können, da ja auch für ihn die Gegend noch völlig unbekannt war? Es wurde immer dunkler und nirgendwo war eine Straße, sondern nur Wald- und Feldwege. Hier auf dem Land gab keinerlei Beleuchtung und noch nicht einmal ein wenig Mondlicht. Bald würde ich gar nichts mehr sehen können, und es wurde von Mal zu Mal kälter. Ich hatte mir die Pudelmütze komplett über das Gesicht gezogen wegen des eisigen Windes und konnte gerade noch so durch die Maschen blicken. Da endlich kam ich auf eine Straße. Aber kein einziges Auto fuhr darauf. Ich ging etwa eine halbe Stunde die Straße entlang, da sah ich von hinten einen Wagen kommen. Ich stellte mich winkend auf die Straße, so dass er anhielt. Der Mann ließ mich einsteigen, aber ich konnte ihm noch nicht einmal erklären, wie die Adresse unseres Hauses lautete, denn wir waren ja erst gerade in die Gegend hergezogen. Der Mann bot mir an, mal in der nächsten Ortschaft zu fragen, ob sie mir helfen könnten. Während wir die Straße in der Dunkelheit entlangfuhren, blickte der Mann durch ein etwa 10 cm großes Loch, das er sich in der vereisten Windschutzscheibe freigekratzt hatte.
Da sah er auf einmal einen Wohnwagen, der von innen beleuchtet war. Wir stiegen aus, klopften an die Tür und fragten die Bewohnerin, ob sie etwas von einem verlassenen Landhaus in der Gegend wüsste, in das vor kurzem jemand eingezogen sei. „Ja, da gibt es ein Haus, etwa eine oder zwei Meilen die Straße runter und dann eine halbe Meile links die Zufahrt rein. Das müsste es sein.“ Netterweise fuhr mich der Mann dorthin, und tatsächlich war es unser Haus! Der Familie Greenway fiel ein Stein vom Herzen, als sie mich wohlbehalten wiedersahen. Mutter Greenway schimpfte aber auch: „Du hättest erfrieren können, Simon, denn draußen sind es nur 5° Fahrenheit (ca.-10°C)! Und wo ist Jacque überhaupt?“ – „Ach, ich hatte gehofft, dass er vielleicht alleine zurückgelaufen ist… Ich habe ihn leider aus den Augen verloren. Tut mir leid ...“ Sofort machte sich John zusammen mit einem Bekannten auf den Weg, um die Landstraßen abzufahren in der Hoffnung, Jacque in der Dunkelheit zu finden. Ich sollte dableiben und mich erstmal aufwärmen im Haus. Ich hatte starke Schuldgefühle und betete, dass Gott mir vergeben und nicht zulassen möge, dass Jacque etwas zustoße, sondern dass John ihn finden möge. Und tatsächlich: gegen 22:00 Uhr kamen die Männer nach Haus und hatten Jacque gefunden! Dem HErrn sei Dank!
„Werft mich ins Meer!“
Anfang Dezember hielt ich es nicht länger aus. Wie konnte ich noch länger an einem Ort verweilen, wo Gott mich nicht segnen konnte. Schlimmer noch: Je länger ich in den USA verweilte, desto mehr würde ich die arme Familie Greenway ins Unglück stürzen! Denn all die Probleme, unter den sie litten, waren doch nur wegen mir, – weil Gott ihnen zeigen wollte, dass sie mich wieder nach Deutschland zurückschicken müssen. Ich hatte schon öfter versucht, durch Andeutungen meinen Rückkehrwunsch zu äußern, aber jedes Mal verstanden sie mein Heimweh als Vorwurf, so als ob sie die Ursache wären. Deshalb bat ich John an einem Nachmittag, ob er mal mit mir spazierengehen könne, weil ich etwas auf dem Herzen hätte. Und dann platze es aus mir heraus: Unter Tränen erklärte ich ihm, dass ich wie Jona Gott ungehorsam gewesen sei, und dass ich unbedingt wieder nach Deutschland zurückmüsse, um wieder auf den Weg Gottes zurückzukehren. Ich versicherte John immer wieder, dass es überhaupt nichts mit ihnen zu tun hätte, sondern dass es allein meine Schuld sei, dass sie in diesen Sturm von Problemen geraten seien. „John, bitte versuche nicht, mich umzustimmen, denn es gibt keine andere Möglichkeit mehr für mich als zurückzukehren, sonst wird Euch alle Gottes Zorn treffen! Werft mich ins Meer, so wie sie es mit Jona taten. Erst dann wird Gott aufhören, Euch wegen mir zu bestrafen. Bitte, John, bitte, bitte!“
Als wir wieder im Haus waren, ging ich tieftraurig auf mein Zimmer und kniete mich am Fenster nieder, um zu beten. Ich weinte und flehte über eine Stunde lang, wobei ich Gott immer wieder um Vergebung bat für meinen Eigenwillen. Irgendwann sank ich nur noch wimmernd zusammen und konnte schon nichts mehr sagen. Weit hinten sah ich in der Dunkelheit die Scheinwerfer von Autos und bildete mir ein, dass jetzt ein Wagen käme, um mich mitzunehmen. Ja, so irre war ich schon geworden vor Sehnsucht! Und dann hörte ich am Abend, wie John einen Brief schrieb auf der Schreibmaschine. Als er einmal kurz wegging, schlich ich mich ins Wohnzimmer, um zu lesen, was er schrieb: „Dear Mr. Jacobsen, no matter what we think or what we say…“ Dann lief ich schnell wieder nach oben, denn ich hatte genug gelesen. Er schrieb an meinen Betreuer, um ihm mitzuteilen, dass es keine andere Lösung gab, als dass man mich zurückschickte. Ich fiel auf die Knie und betete: „HErr, ich danke Dir, dass Du meine Not gesehen und eingegriffen hast. Bitte mach doch, dass ich schon bald wieder in Deutschland sein kann bei meinen Geschwistern! Ich danke Dir, Vater!“ Eine Woche später kam dann die erlösende Nachricht: Man hatte alles in die Wege geleitet, dass ich wieder zurückdurfte! Ich jubelte. Nur noch wenige Tage, dann konnte ich zurück!
Um mir eine Freude zu bereiten, ließ mich John zum Abschied meine erste eigene Bibelstunde halten. Ich sprach über 4.Mose 11, wo die Kinder Israel jammerten und murrten, weil ihnen das Manna Gottes zum Hals raushing. „Ist es nicht heute auch so, dass uns Christen das gute Wort Gottes nicht mehr schmeckt und wir alles Mögliche damit anstellen, damit es uns nicht so fade erscheint? Wir verdünnen es, drücken es platt, dann kneten und biegen es uns so hin, wie wir es gerne haben, fügen noch eigene Zutaten hinzu, damit es unserem Gaumen mundet. Dabei hat das Wort Gottes doch so wie das Manna einen ganz feinen und lieblichen Geschmack, an den wir uns wieder gewöhnen müssen. Es sind die heiligen Worte Gottes, die aus Seinem Mund hervorgegangen sind und uns Leben schenken! Aber wie verachten wir diese wunderbare Speise Gottes!“ Auf einmal brach ich in Tränen aus und hielt meine Bibel an die Brust, als würde ich sie umarmen. Minutenlang konnte ich nichts mehr sagen. Alle schauten bedrückt nach unten. Dann stand John auf und sagte mit gedämpfter Stimme: „Lasst uns mal alle an die Hand fassen und beten“.
Kurz darauf erhielten wir den Brief mit dem Flugticket. Mr Jacobson hatte meinen Rückflug umbuchen können, ohne dass dadurch Kosten entstanden waren. Schon in einer Woche war es so weit! Aber wie konnte ich meine Eltern benachrichtigen? Denn ein Luftpostbrief nach Deutschland dauerte damals noch bis zu zwei Wochen. Frau Greenway erklärte, dass ich am Abend in Deutschland anrufen könne. Aber wie sollte das gehen? Ich konnte mir das beim besten Willen nicht vorstellen, denn ich war doch auf der anderen Seite des Atlantiks. Am Abend saßen wir dann alle in der Küche und John hatte für mich die Nummer gewählt. Was wir jedoch nicht bedachten, war die Zeitverschiebung, so dass es in Deutschland schon spät in der Nacht war. Es klingelte in der Leitung. Mein Herz klopfte. Ich konnte es kaum fassen, als ich plötzlich glasklar die Stimme meiner Mutter hörte, als wäre es ein Ortsgespräch. Mir schossen sofort Tränen in die Augen. Schnell erzählte ich meiner Mutter, die ebenso völlig perplex und erfreut zugleich war, dass ich nach Deutschland zurückkäme. Schnell gab ich noch die Ankunftszeit in Frankfurt bekannt und verabschiedete mich, denn eine einzige Minute kostete damals noch viele Dollar. Ich war überglücklich. Und obwohl John arm war, lud er uns am Tag vor der Abreise noch in ein großes Buffet-Restaurant ein, wo man für einen festen Preis pro Person so viel essen konnte, wie man wollte („All you can eat“).
Nachdem die Familie Greenway mich am nächsten Tag unter vielen Tränen verabschiedet hatte, flog ich wie beim Hinflug zunächst mit einem Kleinflugzeug von Mankato nach Minneapolis, wo ich dann umstieg in eine größere Maschine nach New York. Als das Flugzeug landete, nahm ich mein Handgepäck und stieg aus. Da der Anschlussflug nach Deutschland erst in vier Stunden sein würde, hatte ich noch etwas Zeit, um mir den Flughafen anzuschauen. Nachdem ich etwa eine halbe Stunde rumgeschlendert war, fragte ich eine Buchverkäuferin, ob sie einen Stadtplan von New York habe. „Nein, einen solchen haben wir nicht“ – „Aber wie kann das sein, dass Sie keinen Stadtplan von New York haben, wo wir doch hier in New York sind!?“ – „Nein, junger Mann, wir sind hier nicht in New York, sondern in Connecticut, Ohio.“ Ich erschrak. „Waaas?! Wie? Wir sind nicht in New York?“ Schnell rannte ich die langen Korridore auf dem Flughafen zurück in der Hoffnung, dass mein Flugzeug noch nicht weitergeflogen sei. Aber Gott sei Dank stand es noch immer dort, und wie ich später erfuhr, hatte es nur einen unplanmäßigen Zwischenstopp gemacht, um aufzutanken.
Doch als ich in Frankfurt ankam und von meinem Vater und meinen beiden Brüdern abgeholt wurde, gab es schon die nächste Überraschung: ich konnte kein Deutsch mehr! Nach vier Monaten, in denen ich nur Englisch gesprochen hatte, konnte mein Gehirn nicht mehr so leicht umschalten ins Deutsche, so dass ich nur sehr langsam und konzentriert reden konnte. Aber sobald ich spontan etwas sagte, sprach ich unbemerkt wieder Englisch. Doch das war nur am ersten Tag so, denn schon bald gewöhnte ich mich wieder an die Heimatsprache. Überrascht war ich besonders über meinen kleinen Bruder Patrick, der gerade 13 geworden war, aber den ich kaum wiedererkannte, denn er war schon fast so groß geworden wie ich mit meinen 1,90 m und würde mich demnächst noch überholen. Mein Vater war aber gar nicht so glücklich über meine vorzeitige Rückkehr: „Ich habe 6.900,- DM für Dich bezahlt, damit Du zwölf Monate in den USA bleibst und einen Highschool-Abschluss machen kannst, und jetzt bist Du schon nach vier Monaten wieder zurück! Ärgerlich ist das! Eine Blamage! Und ich war so stolz auf Dich. Was soll ich jetzt den Nachbarn erzählen, wenn sie Dich jetzt sehen?“ – „Tut mir leid, Papa, aber ich hielt es wirklich nicht mehr aus dort. Ich kann das nicht erklären, aber ich will das wieder gut machen.“
Umso mehr freuten sich aber die Geschwister in Blumenthal, dass ich wieder da war. Vor der versammelten Gemeinde durfte ich ein Zeugnis geben, was ich alles dort erlebt hatte und warum ich wieder zurück sei. Als ich mich wieder gesetzt hatte, sagte Schwester Martha auf einmal: „Ich finde das nicht gut, dass der Daniel den Simon so beeinflusst hat! Warum hätte er nicht in den USA bleiben dürfen bis zum Schluss? Simon ist doch gar nicht freiwillig zurückgekehrt, sondern wurde von Bruder Daniel unter Druck gesetzt und dazu genötigt. Das ist aber nicht in Ordnung so, sondern Manipulation!“ Edgard unterbrach sie: „Nun sei doch auch mal froh, Martha, dass Simon wieder hier ist und suche nicht immer einen neuen Grund, um über Bruder Daniel zu schimpfen. Lasst uns heute lieber feiern, dass unser verlorener Sohn wieder zurückgekehrt und ihm nichts zugestoßen ist!“ Martha schwieg, doch hegte sie weiter heimlich einen Groll im Herzen gegen den alten Bruder Daniel, weil er alle und jeden in seinem Sinne beeinflusste und dadurch eine große Macht ausübte auf alle Geschwister. Schon einen Monat später stand Harry, der Mann von Martha, in der Bibelstunde auf und erklärte, dass sie und ihre beiden Kinder, Joachim und Sylvia, von nun an nicht mehr kommen würden, weil sich unsere Hausgemeinde unter der Führung von Bruder Daniel Werner immer mehr zu einer Sekte entwickle. Für Edgard war diese Ankündigung wie Hochverrat. Harry und Martha gingen von nun an in einen Hauskreis der Maranatha-Mission.
Auch meine Mutter war auf einmal nicht mehr gut zu sprechen auf unsere Hausgemeinde. Denn sie war mittlerweile ein zweites Mal nach Blumenthal gefahren, um Edgard und Hedi zu besuchen und hatte diesmal einen großen Blumenstrauß mitgebracht. Als sie ihn Hedi übergeben wollte, sagte Hedi: „Aber Renate, das hätte doch gar nicht nötig getan. Das kann ich doch gar nicht von Dir annehmen!“ Meine Mutter lächelte und versicherte voller Freude: „Doch, liebe Hedi, den Strauß hast Du Dir wirklich verdient!“ Doch zur Überraschung meiner Mutter wiederholte Hedi ihren Satz: „Nein, Renate, ich kann diesen Strauß nicht annehmen, denn Du bist ja noch nicht errettet, und wir dürfen keine Geschenke von Unerretteten annehmen. Aber sobald Du dem HErrn Jesus angehörst, wäre das etwas anderes…“ Meine Mutter war entsetzt und empört zugleich. Hatte Hedi sich jetzt allen Ernstes vorgestellt, dass meine Mutter die Blumen wieder die 30 km nach Hause mitnimmt, quer durch Bremen mit Bus und Bahn??! Kannte sie denn noch nicht einmal die einfachsten Regeln menschlichen Anstandes?! War ihre Glaubensüberzeugung ihr am Ende wichtiger als der Gedanke, wie sich meine Mutter dabei gedemütigt fühlt? „Da geh ich nie wieder hin, Simon! Die ist ja völlig undankbar! Was bildet sie sich eigentlich ein?! Ich wollte Hedi eine Freude machen, und sie weist mein Geschenk ab, als hätte ich sie damit bestechen wollen!“ – „Sie meint das nicht so, Mama. Bitte verzeih‘ ihr. Sie ist eigentlich eine ganz Liebe…“ – „Du kannst ja gerne weiter zu ihnen gehen, Simon, aber für mich hat sich das Thema endgültig erledigt. Ich habe jetzt schon genug Probleme mit Deinem Vater, sowas brauche ich nun wirklich nicht noch zusätzlich.“