Was ist in Matth. 5:22 mit „Narr“ gemeint ?
Das in Matth. 5:22 gebrauchte Wort für MORä’H ist abgeleitet von MaRa´H: widerspenstig sein, Widerspenstiger (wörtl. Erbitterter, Rebell, Unbändiger, Rebelierer gegen Gott, Antigöttlicher; Feind d. Menschheit, der kein Mensch mehr ist. Also ein Totalverwerfungsurteil über den Bruder).
MOoRÄ‘ würde als griechisches Wort (Ruffall von MOoRO’S, töricht) „Du Törichter/ Tor“ bedeuten und wird leider von vielen Übersetzern auch so aufgefasst. M.E. konnte, ja musste jeder denkende griechische Leser erkennen, dass, wenn das erste Wort RAKA´aus dem Aramäischen ReQa´H (= leer) transkribiert ist (d.h. RAKA´= Inhaltsloser, Wertloser, Wertloses Produzierender), es das zweite ebenfalls sein muss. Selbst der HErr Jesus hätte sich ja sonst durch die Anrede an die Pharisäer „Ihr Toren!“ in Mat.23:17 schuldig gemacht.
Widerspenstig sein gegen Gott ist eine krasse Form der Abweisung Gottes, die nach Hebr.12:25 im Neuen Bund noch viel schwerer wiegt als im Alten. Deshalb stellt das Urteil „MORä’H, Widerspenstiger“ über den Bruder im Glauben, den Bruder in Christus, diesen als einen dar, der die Unterordnung unter Gott und Christus ablehnt, sich rebellisch gegen sie auflehnt, der den Treuebund mit Ihnen gebrochen und praktisch aufgekündigt hat und somit gar kein wirklicher Bruder mehr ist.
Mit „Bruder“ meint der HErr hier aber nicht nur den Glaubensbruder, den Bruder in Christus, sondern darüber hinaus auch den Bruder in Adam, den Nächsten, den Mitmenschen. In diesem Fall kennzeichnet ‚MORä’H, Widerspenstiger‘ den Mitmenschen als einen, der sich gegen jede menschliche Ordnung auflehnt, sich außerhalb der menschlichen Gesellschaft, ja des Menschseins überhaupt stellt und nicht mehr als Mitmensch anzusehen und zu behandeln ist. Antichristliche ldeologien, wie Nationalsozialismus und Kommunismus, haben über ganze Menschengruppen solche Urteile ausgesprochen und verbreitet und in millionenfachen physischen Mord umgesetzt. Der uns gebotene Gegensatz zu MORä’H steht in 1.Petr.2:17: „Allen Menschen erweist Wertschätzung“.
Im Textzusammenhang von Matth.5:21-22 ist RAKA‘ Kennwort für ein Abwertungeurteil bzw. Teilverwerfungsurteil und MORä’H für ein Totalverwerfungsurteil über den Bruder.
Ein Synedrium setzte sich aus mindestens 71 dazu berufenen Christen zusammen als eine gewisse Entsprechung zum Synedrium der Juden. Jemand, der ein RAKA´-Urteil gefällt hat, konnte im Einzelfall auch freigesprochen werden, wenn es von der vom Synedrium vertretenen Gesamtgemeinde entsprechend geprüft wurde. Aber weil diese Prüfung praktisch heute kaum verwirklichbar ist, sollte man das hohe Risiko eines Abwertungs- oder Totalverwerfungsurteils über den Bruder lieber nicht eingehen bzw., wenn es einem doch unterlaufen ist, es der Liebe gemäß abmildern oder widerrufen. Maßvolle und sachliche brüderliche Kritik am Bruder ist jedoch kein schuldhaftes RAKA´-Urteil. Wenn sie das öffentliche Wirken des Bruders betrifft, kann oder muss sie auch unmittelbar öffentlich geäußert werden wie z.B. Gal.2:14. Nur wo ein Wahn herrscht, kann sogar sachlich-brüderliche Kritik zum ‚Zeugnis des Wahnhaften‘ (5.Mos.5:20) werden und zum Brudermord beitragen.
Für ein Totelverwerfungsurteil (MORa’H-Urteil) über den Bruder oder Mitmenschen gibt es prinzipiell keine Möglichkeit der Rechtfertigung, sondern damit spricht man sich zugleich selbst das Urteil für das Feuergericht. Ein MORä’H-Urteil sollten wir auch im Herzen nicht dulden, und wenn es schon unter die Leute gekommen ist, sollten wir es bald und intensiv widerrufen.
Ein Urteil über den Bruder oder Mitmenschen kann auch viel schwerwiegender aufgefasst werden, als es gemeint ist. Wenn man z. B. sagt, die Kirchenväter Clemens von Alexandria († vor 215 n.Chr.) und Origenes (†254 nChr. an den Folgen der Folter) seien Gnostiker gewesen, so kann das in den Augen derer, die nichts von einer christlichen Gnosis wissen, ein MORä’H-Urteil sein. Wenn sie dies so aufassen und übernehmen, sind sie zu schwerster Sünde verleitet („verstrickt, in eine Falle geführt“) worden. Weil wir laut einhelliger Aussagen des AT und NT nach unseren Worten und Werken gerichtet werden, aber nicht unmittelbar nach unseren Motiven (diese werden nur ans Licht gebracht: Matth. 25:24; 1.Kor.4:51), gilt hier nicht das, was man damit meinte, sondern das, was man damit bewirkte: Verleitung zur Sünde (vgl. Matth. 18:6; Luk.17:2). Der irrtümlich zur Ungerechtigkeit Verleitete bekommt zwar Strafmilderung wegen seines Unwissens (vgl. Luk. 12:48), aber keinen Freispruch. Auch der nicht gewarnte Ungerechte geht durch seine Ungerechtigkeit verloren (s. Hes. 3:20). Wir sind also auch für die Urteile verantwortlich, die wir unabsichtlich in anderen erzeugen.
(gekürzter Kommentar von B. Fischer aus der „Grundtextnahen Übersetzung“, S. 793-794)