Januar 2020
Augustos Zerbruch
Nachdem wir inzwischen schon sechs Wochen in Peru waren, beschlossen wir, auch mal einen Ausflug ins Hochgebirge zu machen. Doch am Abend zuvor wollte Ruth nochmal kurz ihren kranken Nachbarn Eulogio (92) aufsuchen. Während ich im Flur wartete, sah ich im Zimmer nebenan durch die halboffene Tür den Schwager von Eulogio, Don Augusto (74), der nach einem Schlaganfall vor sechs Jahren die meiste Zeit des Tages im Bett verbrachte, da er nur mit Mühe gehen konnte. Von Ruth wusste ich, dass er ein eingefleischter Atheist war, mit dem Ruths Freundin Raquel, d.h. Augustos Nichte, schon viele Male vergeblich Gespräche über den Glauben geführt hatte. Ich klopfte an die Tür und fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Sofort fing er an zu weinen und dankte mir immer wieder, dass ich ihn besuchen wolle. Ich spürte einen stechenden Uringeruch im Zimmer, weshalb ich mich nahe ans Fenster setzte. Er klagte mir, dass er seit sechs Jahren wie in einem Gefängnis völlig alleine sei und nur morgens und abends mal Besuch von seinem Nachbarn Felix (62) bekäme, einem Schwarzen, der sein Pfleger sei und ihn bei den körperlichen Bedürfnissen behilflich sei. Mit diesem teile er sich seine geringe Rente, habe aber ansonsten absolut keine Freunde, die sich mal nach ihm erkunden würden. Er weinte wie ein kleines Kind, so dass ich ihn streichelte und mit liebevollen Worten tröstete. Ich sagte: „Der HErr Jesus liebt Sie, deshalb hat Er es so geführt, dass ich Sie besuchen komme. Wollen Sie nicht auch an den HErrn Jesus glauben?“ Er verzerrte sein Gesicht zu einem wimmernden Weinen und sagte: „Ja, ich glaube jetzt auch an Jesus Christus!“ Ich war etwas verwundert und fragte weiter: „Beten Sie auch zu Gott?“ – Wimmernd und stotternd sagte er: „Ja, ich bete immer wieder zu Gott, dass Er mir doch meine Sünden vergeben möge und mir gnädig sei, denn ich fühle mich so unendlich elend hier...“ Ich dachte: Diese Einsamkeit muss für ihn die Hölle geworden sein, die sein Herz gebrochen hat. Sein ganzer Stolz ist jetzt zerbrochen und er ist weich geworden wie ein kleines Kind. All dies musste passieren, damit der HErr ihn zur Buße führen konnte. Aber jetzt wurde mir klar, dass ich mich um ihn kümmern sollte.
Ich fragte Don Augusto, ob ich ihn mal spazieren fahren dürfe im Rollstuhl. Er sagte sofort: „Ja, das wäre ganz lieb von Ihnen, bitte, bitte!“ Dann hob ich ihn aus dem Bett und schnürte ihm die Schuhe an. Vorsichtig zog ich ihn hoch und ging mit ihm in langsamen Schritten auf den Flur. Nun mussten wir die Treppe runter, was nicht ganz einfach war. Als wir endlich unten waren, rief ich Ruth hoch, dass ich mal eben mit Augusto im Rollstuhl spazieren fahren würde. Sofort schlug Eulogio Alarm und sagte: „Auf keinen Fall!“ Ich könne unmöglich mit ihm von der 3. Etage zu Fuß die Treppen runtergehen, da dies viel zu gefährlich sei. Zu Augusto gewandt sagte Eulogio: „Por favor, Augusto, no abuses de la situación!“ („Bitte, Augusto, nutz die Gelegenheit nicht aus!“). Ruth ermahnte mich eindringlich, dass ich ihn mit dem Rollstuhl nur auf der 20 m langen Loggia (Balkongang) hin- und herschieben dürfe, aber nicht die Treppen hinunterbringen solle. Ich schob ihn etwas hin und her und ging dann wieder mit ihm in die Wohnung. Dann setzte ich ihn auf das Sofa und fragte ihn, ob ich ihm etwas aus der Bibel vorlesen dürfe. Er bat darum. Zuerst las ich ihm die Geschichte vom barmherzigen Samariter vor und erklärte ihm, dass dies auch seine Geschichte sei, da auch er gerade „halbtot“ am Boden liege und der HErr ihn retten wolle. Dann las ich ihm die Geschichte des Gelähmten von Bethesda vor, der 38 Jahre keine Hilfe bekam bis der HErr Jesus ihn von seiner Krankheit heilte. „Möchten Sie, dass der HErr Jesus Sie retten soll?“ fragte ich ihn. „Ja, das möchte ich.“ sagte er unter Tränen. „Darf ich für Sie beten?“ – „Ja, bitte“. Ich kniete mich nieder und bat den HErrn, dass Er Augusto doch retten und wenn möglich auch heilen möge. Dann las ich ihm noch die Geschichte vom Blindgeborenen vor und von Lazarus in Joh. 9 und 11, aber ihm überkam immer wieder die Müdigkeit, so dass er nicht lange zuhören konnte. Als Ruth dann gehen wollte, verabschiedete ich mich von Augusto und bot ihm an, dass ich morgen wiederkommen würde zusammen mit Bruder Ricardo. Er freute sich sehr und wir gingen.
Am nächsten Morgen rief ich Ricardo an und bat ihn, mich bei einem weiteren Besuch bei Augusto zu unterstützen. Mir ging es darum, dass auch Ricardo die Notwendigkeit erkennen möge, dass Augusto nun möglichst jeden Tag Besuch bekommen sollte. Als er kam, gingen wir hoch in die dritte Etage und klopften. Felix machte uns die Tür auf, weil er zufällig gerade da war. Wie selbstverständlich setzte sich Felix zu uns ins Wohnzimmer, um mitzuhören, was wir dem Augusto sagen wollten. Ich begann, indem ich Augusto noch einmal eine Zusammenfassung der Evangeliumsbotschaft gab und auch ein persönliches Zeugnis. Dann machte Ricardo weiter, der sehr bewegend und nachvollziehbar von der Tristesse des menschlichen Lebens sprach um dann überzuleiten zu der Freude und dem Frieden, den der Mensch erfährt, wenn er sich unter die Herrschaft des HErrn Jesus stellt. Die beiden hörten die ganze Zeit aufmerksam zu. Am Ende fragte ich den Felix, wie denn sein Verhältnis zu Gott sei. „Ich bete immer jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe“ – „Bist Du Katholik?“ – „Ja natürlich“ – „Aber Dir ist klar, dass nicht die Kirche Dir die Sicherheit des Heils vermitteln kann, wie sie behauptet, sondern allein der HErr Jesus?“ – Er nickte, schaute mich aber unsicher an. Ricardo erzählte dann, dass die katholische Kirche die Menschen durch viele Riten in einer falschen Sicherheit wiegen würde, indem sie ihn glauben ließe, er könne sich das Heil durch bestimmte Übungen selbst verdienen. Wir wechselten uns so noch eine Weile ab, bis Ruth vorbeikam, da wir zu unserer Abreise aufbrechen mussten. Ich verabschiedete mich schnell, aber Ricardo blieb noch, um weiter über den Glauben zu sprechen. Am Abend kamen wir dann durch Gottes Güte wohlbehalten in Arequipa an. Wir fanden ein Hostal, gingen auf die Knie und dankten Gott für alle Bewahrung und Seinen Segen.
Abenteuer in Arequipa
Arequipa liegt im Süden von Peru im Gebirge auf etwa 2.300 m in einem Tal, das von drei 6000 m hohen schneebedeckten Vulkanen umschlossen ist. Da das Klima hier das ganze Jahr über mit 23 °C sehr angenehm ist, haben die Spanier im 17. und 18. Jahrhundert diese Stadt als bevorzugten Wohnort gewählt, so dass heute 70 % der 55.000 Einwohner eher hellhäutig sind. Die Stadt ist durch den Abbau von Kupfer, Silber und Gold reich geworden; heute sind es aber auch Fleisch- und Käseprodukte, Kartoffeln, Zwiebeln und Spargel (Peru ist der größte Spargelexporteur der Welt), die den Bewohnern ein überdurchschnittliches Einkommen beschert haben, sodass sich die Stadt in der Vergangenheit sogar schon vom restlichen Peru für unabhängig erklären wollte.
Als wir am Sonntagmorgen in der Herberge aufwachten, hatte Ruth starke Kopfschmerzen, was wohl an der Höhenluft lag, die deutlich dünner ist, d.h. sauerstoffärmer. Nach dem Frühstück gingen wir ins historische Stadtzentrum auf der Suche nach einer Gemeinde. Als wir plötzlich vor einer katholischen Kirche standen, fragte ich Ruth: „Was hältst Du davon, wenn wir uns mal solch einen Gottesdienst anschauen?“ Wir gingen hinein. Die Kirche war zwar alt, aber weiß gestrichen und hell erleuchtet. Rechts und links standen auf Säulenpodesten lebensgroße Statuen der Apostel und Propheten. Einige Besucher standen oder knieten andächtig vor dem goldglänzenden Altar. Dann fing die Messe an und ein junger Priester erschien in weiß gekleidet und begann mit der Liturgie. Ich versuchte mich auf den HErrn zu konzentrieren, aber da kam mir plötzlich Psalm 1:1 in den Sinn, dass wir nicht auf dem Sitz der Spötter sitzen sollen. Verspottet die RKK den HErrn? Nein, aber sie verspottet die Seinen, indem sie auf alle Evangelikalen und freikirchlichen Christen verächtlich mit Spott und Hohn herabschaut und nur sich als legitimiert ansieht (so wie die Pharisäer sich damals auf Abraham beriefen und nicht erkannten, dass Gott sich aus Steinen Kinder zu erwecken vermag). Auf einmal konnte ich nicht länger in der Katholischen Kirche sein, sondern bat Ruth, dass wir wieder hinaus gehen mögen. Nachdem wir weitergegangen waren, fanden wir zum Glück eine Freikirche, die sich nach dem Namen von John Wesley benannte. Der Gottesdienst hatte schon angefangen und die 150 Plätze fassende Kirche war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Es war sehr heiß in der Kirche, so dass viele sich Luft zufächelten. Der ältere Prediger sprach über den unwandelbaren Charakter Gottes, dass Er also immer gütig und barmherzig, aber auch gerecht und strafend sei. Er sagte: „Unsere Vorfahren, die Inkas, hielten die Götter für böse und meinten deshalb, dass sie ihren Zorn besänftigen müssten durch Menschenopfer. Jahrzehntelang hat die Wissenschaft geleugnet, dass die Inkas Menschen opferten, aber in den letzten 25 Jahren hat man immer mehr mumifizierte Kinder gefunden, die von den Inkas den Göttern geopfert wurden, wie z.B. jene Juanita, die man auf dem Vulkan Ampato gefunden hat.“ Dann brachte er an die 30 Bibelstellen, die alle die Unwandelbarkeit der Güte Gottes bestätigten, und ich fragte mich, warum die meisten Christen heute dennoch glauben, dass mit der Strafe im Feuersee das Erbarmen Gottes mit dem Sünder plötzlich aufhöre und Gott nicht mehr die Möglichkeit hätte, gemäß Jes.57:16 oder Hes.16:53-63 am Ende Begnadigungen auszusprechen. Das scheint irgendwie doch ein blinder Fleck in der evangelikalen Theologie zu sein, wo man sich selbst ein Denkverbot auferlegt hat. Nach dem Gottesdienst wollten wir zum Hostal zurückgehen, denn durch die dünne Luft war ich kreislaufmäßig ziemlich schlapp geworden.
Auf dem Marktplatz hörte man laut, wie eine Gruppe von sog. „Israeliten“ Werbung machte für ihre Partei FREPAP. Männer mit Bärten und Frauen mit langen Kopftüchern schwenkten ihre Fahnen und sangen dabei im Chor. Ich ging auf einen der älteren Männer zu, der sich wie ein Prophet im Alten Testament gekleidet hatte, und fragte ihn, aus welcher Bibelstelle sie denn das Recht ableiten würden, eine politische Partei zu gründen, die eine irdische Theokratie anstrebe. Sofort sprang ihm ein jüngerer Anhänger dieser Sekte zur Seite, der vermeintlich mehr Ahnung zu haben glaubte und versuchte, das Gespräch mit Gegenfragen in die gewünschte Richtung zu lenken. ich bestand jedoch beharrlich auf eine Antwort meiner Frage und bat ihn, nicht vom Thema abzulenken. Doch statt mir auch nur eine einzige Bibelstelle zu nennen, konzentrierte sich der junge Bursche offensichtlich ganz auf ein bestimmtes Frage-und-Antwort-Schema wie bei den Zeugen Jehovas, bei dem er mir nur die Möglichkeit geben wollte, Ja oder Nein zu sagen. So kam er z.B. immer wieder mit den zehn Geboten und dass der HErr Jesus diese ja nicht aufgelöst habe. Inzwischen hatten sich sehr viele Besucher des Parks um uns herum versammelt, so dass ich die Gelegenheit nutzte, ihm mal einen Vortrag über die schattenhafte Bedeutung der Gebote im Neuen Bund zu halten. Ich verteilte dann noch von meinen Schriften und wir machten uns auf den Weg zu einem Reiseveranstalter, um die nächsten Tage zu planen.
Am nächsten Morgen fuhren wir dann mit dem Reisebus zum Canyon von Sillar, wo wir durch eine 800 m lange und 2 m breite Felsenschlucht gingen, die früher mal ein Flussbett war, als es noch genügend Gletschereis gab auf dem Vulkan Misti, das aber inzwischen größtenteils abgeschmolzen ist und zu einer Bodenerosion geführt hat. Dann fuhr der Kleinbus in einen Steinbruch aus Tuff-Gestein, das von den Steinmetzen vieler Generationen von Hand abgebaut wurde. Einer von diesen zeigte uns, wie man einen Steinblock mit Hammer und Meißel innerhalb von 5 Minuten in die richtige Form meißelt. Er ließ auch mich dann mal einen Steinblock spalten und bearbeiten, aber das war so anstrengend, dass ich nach 10 Minuten völlig erschöpft war. Wenn man bedenkt, dass er für einen Stein von 40 x 30 x 20 cm Größe gerade einmal nur 5 Soles (1,35 €) erhält, dann kann man gut verstehen, warum er sagte, dass er zur „letzten Generation“ von Steinmetzen zähle, da sich immer weniger dazu bereit erklärten, diese kräfteaufreibende Arbeit für so wenig Lohn zu machen.
Als wir mittags wieder in Arequipa waren, aßen wir etwas und gingen dann wieder in die Innenstadt, um ein Museum zu besuchen. Dort gab es u.a. auch die berühmte Mumie der 12-jährigen, die 1995 durch Zufall auf dem vom Gletschereis befreiten Ampato-Vulkan von einem Amerikaner in 6000 m Höhe gefunden wurde. Die 500 Jahre alte Mumie war durch die kalte, trockene Luft so gut erhalten geblieben, dass man nicht nur ihre Haare und Kleidung noch nahezu unversehrt vorfand, sondern sogar durch Untersuchung ihres Mageninhalts wusste, dass sie vor ihrem gewaltsamen Tod noch einen Gemüseeintopf gegessen hatte. Die Inkas hatten Juanita auserwählt, um als reines und unschuldiges Opfer den Göttern geweiht zu werden, damit ihr Volk nicht von Plagen und Vulkan-Ausbrüchen heimgesucht werde. Sie starb freiwillig (wenn auch durch Gehirnwäsche manipuliert) und wurde mit einem gezielten Schlag an die Schläfe angeblich nahezu schmerzfrei erschlagen. In der Folgezeit entdeckte man dann auch weitere Mumien auf dem gleichen Vulkan und auch noch auf 14 weiteren Vulkanen in Peru und Chile, die alle mit sehr vielen Grabbeigaben freigelegt wurden, wie z.B. wertvolle Ponchos und feingewebte Decken, Figuren aus Silber und Kupfer etc. Man konnte in den Vitrinen auch genau die Sandalen sehen, mit denen sie damals den 6000 m hohen Berg bestiegen hatten bei Frosttemperaturen.
Als wir wieder draußen waren, wollte sich Ruth Kunsthandwerk anschauen, während ich auf den großen Platz ging zum Traktateverteilen. Ich hatte gerade erst drei Zettel verteilt, als mich plötzlich ein Junge ansprach, der mit seiner Freundin auf den Treppenstufen der großen Kathedrale saß: „Hallo, Mister, Sie haben mir noch keinen Zettel gegeben. Was steht denn da drauf? Worum geht es? Setzen Sie sich doch bitte einen Moment zu uns und erzählen Sie uns, was Sie da verteilen, denn das würden wir echt gerne wissen.“ Während ich ihnen dann erklärte, was meine Mission ist und was jeder Mensch tun müsse, um errettet zu werden, schaute mich Jonatán (22) mit großen Augen und offenem Mund an. Als auf einmal ein Kaffeeverkäufer vorbeikam, rief ihm Jonatán zu, er wolle mir einen Kaffee spendieren. Ich lehnte zunächst ab, weil das doch nicht nötig täte, aber er bestand darauf, mir die 2 Soles für den Kaffee zu spendieren. Es fing leicht an zu nieseln, und ich erklärte den beiden Frischverliebten das Evangelium an Hand der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Doch scheinbar war dem Jonatán die Geschichte zu lang, weshalb er mich immer wieder unterbrach und mir Fragen stellte, die sich auf die Katholische Kirche bezogen. Er erzählte mir, dass er als Kleinkind mal von einem Kobold unter das Bett gezogen wurde, aber dass sein Vater ihn dann im letzten Moment wieder rausgezogen hatte. Dann habe er ihn taufen lassen, und seitdem wurde er nicht mehr von Kobolden oder dämonischen Wesen bedrängt. Ich versuchte, das Gespräch wieder auf die Notwendigkeit der Bekehrung zu lenken, da merkte ich, dass die beiden leicht angeschwipst waren und sah auch eine Flasche Alkohol. In dem Moment kam Ruth zu mir und hörte das Gespräch mit an. Ruth sprach dann seine Freundin Stefani (22) an, die ihr offen bekannte, dass sie Probleme mit Alkohol und Drogen habe, und dass sie schon oft versucht hatte, damit aufzuhören, aber durch ihre Freundinnen immer wieder neu dazu angestiftet werde. Ruth empfahl ihr, jene Freikirche zu besuchen, wo wir gestern waren und beschrieb ihr den Weg. Ich ermahnte den Jonatán unterdessen, dass er sein bisheriges Leben aufgeben und sich bekehren müsse. Mit glasigen Augen bekannte er mir dann jedoch, dass er dazu derzeit nicht in der Lage sei.
Dinosaurier im Wüstensand
Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Kleinbus vier Stunden lang die Bergserpentinen rauf und runter bis wir auf 4.910 Meter angelangt waren. Dort oben sah man nur noch eine Steinwüste und schneebedeckte Bergspitzen. Die Luft war noch viel dünner und die Temperatur betrug trotz Sonnenschein nur noch 7 °C. Wir sahen große Alpaka- und Vicuña-Herden die auf der kargen Pampa das wenige Wildgras, Ichhu genannt, abfraßen. Nach dem Essen wurden wir in ein kleines Dorf am Fluss gefahren, wo es 73 °C heißes Wasser gab, das aus einer sehr mineralhaltigen Vulkanquelle kam und wo man deshalb ein Thermalbad errichtet hat, in dem wir eine Stunde lang baden konnten, um uns aufzuwärmen. Umgeben war das Freibad von riesigen Felswänden, die in den reißenden Fluss endeten, der durch eine Hängebrücke überquert werden konnte – eine wirklich malerische Landschaft! Später fuhren wir zum Canyon de Colca, der mit 3000 Metern größten Schlucht der Welt, in welcher sehr viele Anden-Kondore zu sehen waren. Es war ein fantastischer Ausblick, so tief ins Tal zu blicken, während Wolken wie Nebelschwaden an uns vorbeizogen, und über uns sah man die schneebedeckte Bergkette. Plötzlich sahen wir am Wegesrand eine ganze Kondorfamilie in unmittelbarer Entfernung, so dass der Kleinbus anhielt, um Fotos zu machen. Dann fuhren wir in ein Dorf namens Maca, wo der Reiseführer uns eine Plantage von Feigenkakteen (Opuntien) zeigte, die nicht nur zur Feigenernte genutzt wurden, sondern an denen auch die wertvolle Kaktuslaus Cochenille angesiedelt war, aus der der wertvolle Farbstoff Karmesin gewonnen wurde. Dann sollten wir noch alle einen Kaktus-Likör trinken und ein Kaktus-Eis essen, das wie Kiwi aussah und nach Zitrone schmeckte.
Unser nächstes Reiseziel war die Wüstenstadt Ica, wo Ruths Bruder Israel mit seinen Söhnen lebte. Als ich Israel (66) zur Begrüßung umarmte, wirkte er auf mich auf einmal alt und müde. Seit der Heirat seines Sohnes Joel (32) vor vier Jahren schien sich niemand mehr um das Haus in Ica zu kümmern, so dass es ziemlich verwahrlost war und im Verfall begriffen. Es wurde nichts mehr erneuert, sondern alles nur noch verwaltet. Dies betraf aber nicht nur das Grundstück, sondern leider auch die kleine Hausgemeinde, die sich bei Israel versammelte. Während früher der Versammlungsraum mit etwa 40 Geschwistern überfüllt war, kommen heute nur noch maximal 6 – 8 Geschwister regelmäßig zu den Versammlungen. Niemand schien mehr die Kraft und den Elan zu haben, das Haus und die Gemeinde wieder auf Vordermann zu bringen. Das Haus von Israel ist hier sprichwörtlich ein Abbild für das geistliche „Haus Israel“ heute, indem jeder nur noch auf das Seinige schaute und nicht auf das, was Jesu Christi ist (Phil.2:21).
Am Tag nach unserer Ankunft bot Joel uns an, einen Ausflug in die Wildnis zu machen, und zwar nach Ocucaje, wo man vor einiger Zeit Meeresdinosaurierknochen in 300 m Höhe über dem Meeresspiegel gefunden hat, die so riesig waren, dass man sie einfach im Wüstensand gelassen hatte. Sofort waren wir fasziniert von dieser Idee und machten uns auf den Weg in die Wildnis auf einer staubigen und holperigen Piste. Nach etwa einer Stunde hielt er an einer Stelle an. Wir gingen eine Anhöhe aus Sand hoch und standen auf einmal vor einem riesigen Walfossil, ein Mystacodon, bei dem man sogar die feinen versteinerten Lamellen seines Oberkiefers sah. Dann gingen wir ein Stückchen weiter hoch und fanden den Kopf eines Peregocetus, der wie der Kopf eines großen Krokodils aussah. Die Augen waren parallel und die Schnauze lief spitz und symmetrisch an. Ich konnte es kaum fassen. Joel erklärte uns, dass die Paläontologen in diesem staubtrockenen Gebirge bis jetzt schon Hunderte von Riesensauriern gefunden hätten in den letzten zehn Jahren, die aufgrund der Trockenheit erstaunlich gut erhalten seien. Aber man vermute in diesen vertrockneten Schlammschichten noch weit mehr Saurier. Man habe Zähne eines Megalodon gefunden, die mehr als zehnmal größer sind als die des weißen Hais.
Am Abend war Gottesdienst in Ica. Ich hatte eine Predigt vorbereitet über das Thema “Treue bis zum Ende”. Ich wies die Geschwister darauf hin, dass das Wort “bald” (griech. TAChY) in Offb.22:20 wörtlich “eilig” bedeutet, im Sinne von “unverzüglich” bzw. “so schnell wie möglich” (vergl. Luk.15:22). Dass das Kommen unseres HErrn schon seit fast 2000 Jahren andauert, läge nur daran, weil vorher noch so viel für Ihn zu erledigen sei, z.B. die Missionierung der ganzen Welt (Mt.24:14). Dann ging ich zu 2.Petr.3 und wies die Geschwister darauf hin, dass wir das Kommen unseres HErrn sogar “beschleunigen” könnten, indem wir möglichst unverzüglich “alle zur Buße kommen” (V. 9), je nachdem, wo wir noch untreu sind.
Taufe mit Hindernissen
Am nächsten Tag war nach dem Gottesdienst eine Taufe geplant. Schwester Rosa Angela (ca. 30) hatte den Wunsch, sich taufen zu lassen. Da es an diesem Morgen schon um 9:00 Uhr über 30°C heiß war, entschied sich Israel, dass wir den Gottesdienst draußen machen sollten auf der Fußballwiese. So bauten wir die Bänke und Stühle in einem großen Kreis auf, und gegen 9:45 Uhr kamen dann die ersten Geschwister. Israel machte die Einleitung und bat mich dann, ein paar Worte über die Taufe zu sagen. Ich las 1.Petr.3:21 vor und erklärte, dass es bei der Taufe auch um eine Art “Vertrag mit Gott” ginge, den man absolut ernst nehmen müsse: “Wenn ein Mensch heiratet oder sich ein Haus kauft und den Vertrag unterschreibt, kann er auch nicht auf einmal sagen: ̕̕ Ich habe mir das anders überlegt und will jetzt doch nicht mehr̕, sondern ist daran gebunden – wie viel ernster ist es, wenn jemand mit Gott ein Bündnis eingeht! Deshalb sollten wir uns gut überlegen, was für Konsequenzen das hat, wenn wir Christ werden wollen!” Dann predigte ich über die Notwendigkeit, dass man als Christ wirklich die Welt verlassen müsse und nannte das Beispiel der ersten Siedler Amerikas, die – nachdem sie an Land gegangen waren – ihre Schiffe verbrannten, um nicht in Versuchung zu geraten, später in ihr altes Leben zurückzukehren. Genauso sollten auch Gläubige sich von allem trennen, was der Teufel benutzen könnte, um sie heimlich wieder in die Welt zurückzuziehen. Ich erzählte ihnen dann die Geschichte vom Trojanischen Pferd, das die Danaer (die vom Stamme Dan waren) den Bewohnern Trojas angeblich als Geschenk gaben, und dadurch mit Schlangenlist Zutritt in die ansonsten uneinnehmbare Stadt Trojas bekamen, indem ihre Soldaten des Nachts heimlich aus dem Holz-Pferd stiegen und die Trojaner auf diese Weise heimtückisch überfielen (1.Mo.49:17). “Genauso lassen es auch gläubige Eltern zu, dass ihre Kinder jeden Tag ein bis zwei Stunden vor dem Fernseher oder im Internet verbringen und wundern sich dann, dass sie die Fäkalsprache der Welt erlernt haben und am Ende auch nicht gläubig wurden, weil sie durch den weltlichen Einfluss ihre Kinder unbewusst dem Gott dieser Weltzeit geopfert haben. Ein Fernseher hat in einem für Gott geweihten Haus nichts mehr zu suchen!” – Das war natürlich ein direkter Affront auch gegen Israel, der ja noch Fernseher besaß. Aber Paulus ermahnte uns: “Predige das Wort, halte darauf in gelegener oder ungelegener Zeit; überführe, strafe, ermahne mit aller Langmut und Lehre” (2.Tim.4:2).
Nach dem Gottesdienst gingen wir dann alle hinter das Haus, wo das kleine 3 x 7 m große Schwimmbecken war. Leider hatte ich vergessen, eine Ersatzhose mitzunehmen, aber ich dachte, dass meine Hose in der Sonne schon schnell genug wieder trocknen würde und stieg ins Wasser. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass die Schwester Rosa Angela nicht nur nicht schwimmen konnte (wie die meisten Peruaner), sondern auch wasserscheu war. Sie hatte also eine völlig irrationale Angst vor Wasser, weshalb sie sich schon beim Herabsteigen ins Becken sehr ängstigte. Während die Gemeinde ein Loblied sang, erklärte ich ihr kurz den Ablauf. Sie nickte immer wieder, zitterte jedoch am ganzen Leib. Als das Lied dann verstummte, wollte ich beginnen, aber sie hatte solche Angst, dass sie nochmal um einen Aufschub bat. Die Geschwister sangen also ein weiteres Lied und mehrere Schwestern machten ihr vor, wie sie die Luft anhalten und sich sie Nase zuhalten müsse. Dann war es so weit, dass ich zu ihr sagte: “Liebe Rosa Angela, glaubst Du, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, der auch für Deine Sünden am Kreuz von Golgatha starb und nach drei Tagen auferstand, um auch Dich zu retten und Dir Vergebung Deiner Sünden und das ewige Leben zu schenken, dann antworte mit ¨Ja¨!” Sie sagte: “Ja, ich glaube das!” Dann sagte ich: “Aufgrund Deines Bekenntnisses taufe ich Dich hiermit im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.” Ich griff sie, aber sie schreckte zurück und bat um eine weitere Unterbrechung, da sie noch nicht so weit sei. Ich dachte: Na sowas, was machen wir jetzt? Oder sollte ich sie vielleicht aus Rücksicht nur mit Wasser beträufeln? Doch dann gab sie mir ein Nicken und ich tauchte sie mit Schwung nach unten. Als ich sie dann wieder hochzog, schnappte sie wie wild nach Luft und hängte sich verzweifelt an meinen Kragen fest aus Angst zu ertrinken. Die Geschwister klatschten und riefen: “Haleluja! Gracias al Señor!”
Als die Taufe vorbei war, wollte ich mir gerade ein anderes T-Shirt anziehen, da sagte Israel zu mir, ich solle noch damit warten, denn es gäbe da einen plötzlichen “Notfall”: Eine junge Schwester namens Natalia (26), die schon von klein auf in der Kinderstunde bei Israel war, aber dann vorübergehend auf Abwegen gekommen sei, habe sich mit 18 Jahren in einer Pfingstgemeinde “überrumpeln” und taufen lassen, obwohl sie damals “noch völlig in Sünden lebte”. Sie habe nun Angst, dass diese Taufe gar nicht richtig war vor Gott und wollte sich vorsichtshalber noch einmal taufen lassen, um nichts falsch zu machen. Ich sagte zu Israel, dass ich erst mal mit ihr sprechen würde. Dann kam Natalia, und ich erklärte ihr, dass eine wiederholte Taufe aus meiner Sicht nicht nötig sei, sofern diese biblisch korrekt durchgeführt wurde und sie vorher geglaubt habe. Sie erzählte mir dann sehr ausführlich, dass sie seit kurzem ständig von dämonischen Stimmen und Halluzinationen verfolgt werde, so dass lästerliche Zwangsgedanken in ihren Kopf stiegen. Sie hatte nun bei der Taufe gedacht, dass der Teufel sie nachträglich peinigen würde, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Taufe heimlich in Hurerei gelebt habe. Ich erklärte ihr, dass es durchaus möglich sei, dass sie durch eine schwere Sünde dem Teufel Anlass gegeben habe, sie bei Gott zu verklagen und Gott diese Wahnideen deshalb als Prüfung erlaubt habe. Aber sie könne diese Sünde nicht mit einer erneuten Taufe wiedergutmachen, sondern müsse Buße tun und sich von Gott zeigen lassen, ob es nur wegen der Hurerei oder noch wegen einer anderen Gräuelsünde geschehen sei. Aber auch das müsse der HErr ihr klar machen und wir sollten dafür beten.
Nachdem wir mit der ganzen Gemeinde auf der Wiese ein Liebesmahl gegessen hatten, rief man uns zum Abendmahlsgottesdienst. Da ich keine Hose zum Wechseln hatte, ging ich mit nasser Hose barfuß in den Versammlungsraum und hoffte, dass niemand daran Anstoß nehme. Israel betonte, dass gemäß 1.Kor. 14:26 jeder der Geschwister sich am Gottesdienst mit einem Beitrag beteiligen möge, so wie der Heilige Geist einem jeden eine Gabe geschenkt habe. Dieses Angebot wurde dann auch reichlich genutzt, indem viele Schwestern ein Zeugnis gaben oder ein Gedicht vortrugen. Unterdessen hatte sich auf dem Fliesenfußboden unter meinem Stuhl schon richtig eine Pfütze gebildet. Wir feierten dann das Abendmahl mit ungesäuertem Brot und frischem Traubensaft, wie es dem Lehrverständnis dieser Geschwister entsprach. Nach dem Schlussgebet gab es dann noch Brotkuchen (Panetón) und “Chicha morada” (lila Maissaft) für alle, und wir unterhielten uns noch lange, während die Geschwister nach und nach gingen. Alle waren am Ende sehr glücklich und dankbar für den schönen Tag, den der HErr uns geschenkt hatte.
Mario ist wieder da!
Als wir am späten Nachmittag wieder zurück in Lima waren, blieben mir nur noch fünf Tage in Peru. Deshalb nahm ich mir vor, jeden Abend den Augusto zu besuchen, um ihm aus der Bibel vorzulesen. Und so tat ich es noch am selben Abend. Sein schwarzhäutiger Nachbar Felix (62) schloss mir die Tür auf und ging dann wieder. Doch als ich in Augustos Zimmer kam, jammerte dieser, dass er dringend auf Toilette müsse. Ich zog ihn am Arm hoch und hielt ihn mit aller Kraft aufrecht, da er ja halbseitig gelähmt war. Vorsichtig mit kleinen Schritten schob ich ihn zur Toilette, zog ihm die Hose runter und setzte ihn auf die Klobrille ab. Inständig hoffte ich, dass er nur Pipi musste, aber dem war leider nicht so. Würde er sich selber den Po sauber machen können? Noch ehe ich den HErrn um Hilfe bitten konnte, hatte Er mir diese schon gesandt, indem ich plötzlich die Haustür hörte und Felix die Treppe hochkam. Er sah sofort, was los war, nahm souverän das Toilettenpapier in die Hand und kümmerte sich um den Rest, während ich draußen im Flur wartete. Ich dachte an meine Schwester Diana, die dies schon seit über 20 Jahren als Altenpflegerin macht – was für ein demütiger Dienst am Menschen! Und auch Felix, der noch nicht einmal Altenpflege erlernt hat, ist für mich ein Engel. Wir setzten uns danach in Augustos Zimmer und ich erzählte ihnen, wie ich sechs Jahre zuvor zum Glauben zurückfand durch Gottes Güte und wie dann anschließend meine Mutter heimging, die wir mit einer großen Gottesdienstfeier zuvor verabschiedet hatten. Beide saßen die ganze Zeit still da und hörten mir zu. Dann beteten wir gemeinsam und ich verabschiedete mich.
Am nächsten Morgen klingelte schon um 5:54 Uhr das Handy. Es war Francisco, der uns nur daran erinnern wollte, dass an jenem Samstag um 6:30 Uhr wie immer bei ihm Gebetsstunde sei. Ruth stand auf und wir machten uns fertig, um zu ihm zu fahren. Bevor wir mit der Gebetsgemeinschaft begonnen, hielt Francisco mit uns und den Brüdern Luis Hurtado (65) und Heuraclio Figueroa (64) eine kurze Wortbetrachtung, in der er am Rande erwähnte, dass sich Rockefeller bekehrt habe und danach einen Großteil seines Vermögens für wohltätige Zwecke gespendet habe. Ich konnte es kaum glauben und hakte nach: „Aber Rockefeller war doch Jude!“ – „Von Geburt, ja,“ sagte Francisco, „aber er hat sich später zum christlichen Glauben bekehrt.“ Ich dachte: Das kann ich mir gar nicht vorstellen; das muss ich unbedingt mal im Internet überprüfen, wo doch alle immer so schlecht von ihm reden. Wir beteten dann fast eine Stunde lang für sämtliche Geschwister in ihrer Not, sowie für die Ungläubigen, wobei mir auffiel, dass Francisco einen besonderen Schwerpunkt auf die Obrigkeit und speziell für konkrete politische Entscheidungen legte, als würde er sich damit an einen himmlischen „Petitionsausschuss“ wenden. Ohne Zweifel war Francisco ganz und gar von der politischen Wirksamkeit unserer Gebete überzeugt, was mich sehr beeindruckte. Anschließend wurde dann wie immer die Kollekte eingesammelt, die auch diesmal ausschließlich und direkt an den anwesenden Bruder Luis Hurtado ging. Bei der Vorstellung, dass dieser schwerstkranke Halbchinese völlig darauf angewiesen war, dass wir drei Spender genügend einlegen mussten, damit er in der nächsten Woche überleben kann, hatte dieses Einsammeln vor seinen Augen schon geradezu etwas Archaisches. Ich fragte ihn deshalb, wie viel denn mindestens zusammenkommen müsse pro Woche, damit er wenigstens gerade genug zum Essen habe. Er sagte „70 Soles“, d.h. 10 Soles pro Tag (2,50 €). Wenn man bedenkt, dass schon ein einziges Ceviche-Gericht durchschnittlich 20 Soles kostet, dann können 10 Soles ja gerade mal für ein wenig Reis und Gemüse reichen. Wir hatten leider viel zu wenig mitgenommen, weil wir nicht an die Kollekte gedacht hatten. Ruth fragte, ob er denn noch das dringend benötigte Schmerzmittel Tramal bekomme gegen seine Cluster-Kopfschmerzen. „Nein, das kann ich mir nicht leisten. Aber ab Mitte Februar werde ich voraussichtlich wieder in die Krankenversicherung kommen.“ Ich fragte: „Wie kannst Du denn dann den Kopfschmerz ertragen ohne Schmerzmittel, denn der muss doch ganz furchtbar sein?“ Er sagte: „Wenn ich im Gebet ganz auf den HErrn schau und an nichts anderes als den HErrn denke, dann geht es auf einmal besser.“ Mir schossen die Tränen in die Augen, und wir versicherten dem Luis, dass wir ihm am Montag eine größere Spende zukommen lassen würden von den Geschwistern in Deutschland (es waren noch 550 € vorhanden).
Im Anschluss fuhren Ruth und ich erstmal nach Hause und von dort aus später in die Innenstadt zum Evangelisieren. Als wir auf dem Plaza de San Martín ankamen, verteilte ich zunächst ein paar Traktate und setzte mich dann an die Seite eines Mannes namens Cesar (ca. 35 J), den ich auf den HErrn Jesus ansprach. Leider zeigte er mir nur wenig Interesse, sondern sagte nur, dass er zwar an Jesus glaube, aber „kein Kirchgänger“ sei. Es hatte keinen Zweck, deshalb verabschiedete ich mich. Dann setzte ich mich neben jemanden, der Ohrringe trug und scheinbar homosexuell war. Er hörte mir eine ganze Weile zu und beantwortete auch meine Fragen; allerdings wurde er ständig angerufen und telefonierte zuletzt so lange, dass ich die Geduld verlor und weiterging. Und dann wurde ich von jemandem angesprochen, der mich wiedererkannte. Sofort kam ein Zweiter und Dritter hinzu, so dass ich nacheinander die Fragen beantwortete (z.B. Wenn Gott doch den Teufel geschaffen habe, ist Gott dann nicht auch für das Böse in der Welt verantwortlich? Oder: Wenn man durch die Wiedergeburt zu einem neuen Menschen wird, warum gibt es dann so viele Prediger, die durch den Zehnten zu Millionären wurden und dadurch ein ganz schlechtes Zeugnis abgaben für die katholische Öffentlichkeit?). Dann sprach mich ein gewisser José an, der die Bibel auffallend gut kannte, aber ich hatte bis zuletzt eigentlich keine Ahnung, warum er mir ständig widersprach und worin eigentlich seine eigenen Überzeugungen bestanden. Dem HErrn sei Dank, dass ich den inzwischen 30 bis 40 Zuhörern unseres Dialoges immer wieder die Evangeliumsbotschaft und die Notwendigkeit der Neugeburt bezeugen konnten. Viele erbaten zwischendurch mein Traktat über den Mariengötzendienst, wo auch eine Einladung zu unserer Bibelstunde war. Ehe ich mich versah, waren schon bald zwei Stunden vergangen und es war dunkel geworden. Als Ruth dann kam, gab ich ihr den Hinweis, sie solle noch kurz warten, da ich gleich zum Abschluss käme.
Als ich dann gehen wollte, sprach mich ein junger Mann an, der mir bekannt vorkam. Er sagte: „Ich habe Dich schon viele Male auf dieser Telefonnummer auf dem Handzettel angerufen, aber da geht nie jemand ran. Weißt Du noch wer ich bin?“ Ich schaute ihn an und erkannte ihn wieder. Es war jener Doppelmörder, der sich vor einem Jahr auf diesem Platz bekehrt hatte und von dem ich seither nichts mehr gehört habe. „DU BIST MARIO!“ sagte ich überrascht. „Ja“ sagte er „und Du bist der Simon. Du hattest mich ja vor einem Jahr zu Dir nach Matute eingeladen.“ – „Ja genau. Ich freu‘ mich richtig, Mario, Dich wiederzusehen, und ich habe auch immer wieder für Dich gebetet, dass der HErr doch ein Wiedersehen schenken möge. Und nun hat der HErr mein Gebet erhört! Was machst Du denn jetzt? Bist Du noch im Glauben?“ Er antwortete: „Ja natürlich. Ich halte mich derzeit so über Wasser und verkaufe Süßigkeiten...“ Er zeigte mir eine geöffnete Tüte mit verpackten Schoko-Riegeln, wie sie die Straßenhändler in Lima typischerweise verkauften. Dann stellte ich ihn Ruth vor, die sehr überrascht war, als ich ihr sagte, wer er ist. Mario berichtete uns, dass er jetzt sogar in eine Gemeinde gehe (ich konnte es kaum glauben). Ich sagte Mario, dass wir jetzt nur noch fünf Tage in Peru sind und dann nach Deutschland zurückfliegen, und dass ich mich deshalb freuen würde, wenn er am Sonntagabend um 18:00 Uhr in unsere Bibelstunde käme, damit auch die anderen Geschwister ihn kennenlernen könnten. Mario versprach, zu kommen.
Am Abend ging ich wieder zu Augusto, um ihm aus der Bibel vorzulesen. Auch sein Pfleger Felix setzte sich wie selbstverständlich mit aufs Bett und hörte mit zu, während ich die ersten beiden Kapitel aus dem Johannesevangelium vorlas. Dann gab ich ein paar Erklärungen dazu ab und hoffte, dass sie mir vielleicht Fragen stellen oder Anmerkungen machen würden. Doch beide schauten mich nur mit ernster Miene an und sagten kein einziges Wort. Ich fragte mich, ob sie sich überhaupt in meiner Abwesenheit mal unterhalten würden. Offensichtlich schien Felix einen psychischen Knacks zu haben, dass er vielleicht menschenscheu oder gar ein Autist ist. Nach etwa einer Stunde verabschiedete ich mich von den beiden. und lud sie zur Bibelstunde ein. Da sie beide unbedingt mitkommen wollten, versprach ich, dem Augusto beim Herabsteigen aus dem 3.Stock zu helfen.
Am nächsten Tag kam uns Evelyn besuchen und berichtete uns lange über ihre neuen Eheerfahrungen. Da ich viel zu tun hatte, überließ ich Ruth das Gespräch mit ihr und zog mich zurück. Am Abend holte ich dann um 18:00 Uhr Augusto und Felix ab, indem ich den Rollstuhl runtertrug, während Felix den halbseitig Gelähmten Schritt für Schritt langsam vom 3.Stockwerk nach unten begleitete. Zu meiner Freude kam neben Ricardo auch noch Julio und Walter, sowie etwas verspätet auch noch Heraclio. Als wir bereits begonnen hatten, kam schließlich auch noch Mario, mit dem ich schon nicht mehr gerechnet hatte. Nachdem wir gebetet hatten, sprach ich über das Thema „Wenn Christen ein Doppelleben führen“ und bezog dieses auf Mt.7:22-23 und 2.Tim.2:12, wo es um das Verleugnen ging. „Jedes Mal, wenn wir Christen z.B. einen obszönen Witz machen, ist es gleichsam so, als würden wir den HErrn verleugnen und sagen: ‚Ich kenne diesen Menschen nicht!‘ (Petrus)“. Wir sprachen dann auch kurz über „die Höhen, die nicht wichen“ – bezogen auf unser Leben: die verharmlosten Leidenschaften und Lüste, die wir von Anfang an in unser Glaubensleben mitgeschleppt haben, anstatt sie konsequent hinter uns zu lassen. Zum Schluss hielten wir uns noch sehr lange bei der Frage auf, wen der HErr eigentlich meint, wenn Er von den „Lauen“ spricht in Offb.3:15). Julio sagte mit einem breiten Lächeln: „Mit dieser Botschaft, Simon, sprichst Du mir so sehr aus dem Herzen! Ich merke, dass wir wirklich total eins sind im Geist. Ich möchte davon noch viel mehr hören! Hier in Peru hört man so eine Botschaft sonst nirgends!“ Das hat mich natürlich sehr gefreut.
Nachdem wir gebetet und alle ein Eis bekamen, bat ich Mario, doch einmal ein Zeugnis zu geben von seiner Vergangenheit und was der HErr vor einem Jahr in ihm gewirkt habe. Was er allerdings sagte, hat mich völlig überrascht, weil ich damit gar nicht gerechnet hatte: „Meine Kindheit war die Hölle auf Erden. Meine Eltern haben mich beide nicht gewollt. Mein Vater war nie da, sondern immer unterwegs wegen seiner Arbeit, und wenn er mal da war, hat er sich an meiner älteren Halbschwester vergangen und sie gequält – das kann ich hier jetzt gar nicht alles erzählen, und es ist auch zu schrecklich. Meine Mutter hatte auch keine Lust, sich um mich zu kümmern, sondern ist stattdessen immer mit ihrer Freundin Einkaufen gefahren und hat mich dann bei deren Mann in Obhut gegeben, angeblich um Haare zu schneiden. Der hat mich dann regelmäßig sexuell vergewaltigt…“ Seine Stimme stockte und er konnte nicht weiterreden, weil er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. „Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie mir das angetan hat!“ Evelyn hakte nach: „Wusste Deine Mutter von dem sexuellen Missbrauch?“ – „Nein, bis heute weiß sie nichts…“ – „Und hast Du das Deinem Vater mal bekannt?“ – „Ja, aber der hat völlig gleichgültig reagiert und meinte nur, ich könne mich ja umbringen, wenn ich damit nicht klarkomme, denn von solchen Nichtsnutzen wie mir gebe es ja sowieso schon genug auf der Welt...“ Evelyn übernahm nun voll und ganz die Gesprächsführung und erklärte ihm: „Du bist aber wertvoll, und Du hast an diesem Missbrauch auch keine Schuld. Lass Dir das von niemandem einreden, denn Du warst damals schließlich noch ein Kind!“ – „Ich weiß, “ sagte Mario, „aber ich kann mit diesen Hassgefühlen nicht leben. Ich werde immer wieder daran erinnert, und es macht mich völlig fertig. Ich denke unentwegt nur an Rache“. – „Wie hättest Du Dich denn rächen wollen?“ fragte ich „hättest Du ihn am liebsten umgebracht?“ – „Unmöglich, denn dieser Mann ist Polizist, und sogar ein hohes Tier.“ – „Du darfst Dich aber auch ohnehin nicht rächen, denn das Wort Gottes sagt: ‚Mein ist die Rache, ich will vergelten‘. Du musst die Sache ganz in Gottes Hände legen.“
Evelyn erzählte ihm dann von einem Mädchen, das mit 10 bis 11 Jahren von ihrem Schwager zwei Jahre lang vergewaltigt wurde und beschrieb dann, wie dieses Mädchen dann trotz dieses Traumas Frieden in Gott fand. Mario sagte daraufhin, dass er selbst auch die Erfahrung gemacht hatte, dass es ihm sehr hilft, wenn er in der Gemeinde Loblieder singen kann, weil es ihn beruhigt und auch ablenkt von sich selbst. Ich sagte dann: „Vielleicht solltest Du einfach mal weiter von Dir berichten, wie Dein Leben dann weiterging und wie Du am Ende den HErrn Jesus kennengelernt hast.“ Mario erzählte dann, dass er einige schwere Straftaten begangen hatte weshalb er zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt wurde im berüchtigten Staatsgefängnis Cañete, jedoch wegen guter Führung schon vorzeitig freikam. Das sei vor zwei Jahren gewesen. In dieser Zeit sei er aber an Tuberkulose erkrankt und habe Stufe 3 (von insgesamt 4) Risikostufen erreicht, so dass er drei Monate im Krankenhaus war. Er magerte völlig ab von ursprünglich 85 kg auf nur noch gegenwärtig 56 kg und mache sich Sorgen, weil er viel zu wenig esse. Er habe schon lange den Wunsch gehabt, mit den Raubüberfällen aufzuhören und ein normales Leben zu führen. Und da geschah es, dass er vor genau einem Jahr mich traf auf dem Plaza de San Martin. Er habe sich neben mich gesetzt, weil er mich mit jemandem verwechselt hätte und war neugierig, worüber ich mit jemandem sprach. Dann hatte ich ihm ja vom HErrn Jesus erzählt und das habe ihn sehr getroffen, so dass er mit mir beten wollte. Danach habe er wirklich aufgehört mit den Überfällen und auch versucht, sich wieder mit seinem Vater zu versöhnen. Er habe nun eine Ein-Zimmer-Wohnung in Lurigancho und halte sich mit dem Verkauf von Süßigkeiten über Wasser. Er träume davon, irgendwann eine richtige Arbeit und vielleicht auch eine eigene Familie zu haben, aber das sei im Moment für ihn noch in weiter Ferne.
Inzwischen waren Walter und Julio schon eingeschlafen, und Ruth gab mir den ernsten Hinweis, dass ich die Versammlung nun für beendet erklären solle, um die älteren Geschwister schon zu verabschieden, besonders Don Augusto. Ich könne ja danach noch weiter reden mit jenen, die noch bleiben wollen. Schließlich verabschiedeten sich jedoch alle außer Mario, und ich begleitete noch den Augusto mit Felix wieder nach oben. Dann sprachen Evelyn und ich noch etwa eine Stunde lang mit Mario, während Ruth ihm ein Lunch-Paket bereitete und ihm eine etwas größere Spende in die Hand drückte. Wir verblieben so, dass er doch am Dienstag noch einmal kommen möge, um bis dahin auszuloten, wer ihn in der Zeit unserer Abwesenheit in Peru geistlich weiter betreuen könnte (z.B. Julio oder Francisco), damit er nicht länger alleine sei, sondern einen Ansprechpartner hätte. Ich begleitete ihn dann noch zur Bushaltestelle und sprach später noch bis 23:00 Uhr mit Ruth und Evelyn über ihre Eindrücke. Die beiden hatten ihn nun völlig in ihr Herz geschlossen, während ich Zweifel hatte, ob seine Geschichten alle der Wahrheit entsprachen, denn sie wichen z.T. doch etwas von dem ab, was er mir vor einem Jahr erzählt hatte.
Am Dienstag hatten wir den ganzen Tag einen Stromausfall, der jedoch tags zuvor angekündigt wurde, da man wohl Reparaturarbeiten im Stromnetz vornehmen müsse. Nach dem Mittagessen nahm ich meine Tasche, füllte sie mit Traktaten und fuhr mit dem Bus zum nahe gelegenen Plaza de Manco Capac. Ich verteilte erst einmal eine halbe Stunde lang mein Traktat über der Mariengötzendienst. Dann suchte ich nach geeigneten Gesprächspartnern unter den vielen Besuchern des parkähnlichen Platzes, was nicht so einfach war, da gut die Hälfte auf ihr Handy starrte. Doch dann sprach mich ein alter Mann von der Tribüne des Manco-Capac-Denkmals an und bat mich, mich neben ihn zu setzen. Raul (70) sagte: „Ich kenne Sie, denn ich habe Sie schon predigen gesehen auf dem Plaza de San Martín. Vielleicht können Sie mir mal erklären, wo in der Bibel steht, dass Maria die Mutter Gottes sei.“ Ich stutzte und antwortete: „Das kann ich nicht sagen, weil es diese Bezeichnung in der Bibel nicht gibt. Absichtlich hat der HErr Seine leibliche Mutter nie als ‚Mutter‘ bezeichnet, sondern immer nur als ‚Frau‘, so als habe Er damit schon andeuten wollen, dass man aus Maria keine Muttergottheit machen soll.“ Raul stellte sich mir dann als Katholik vor, der jedoch vielem in der Katholischen Kirche kritisch gegenüber eingestellt sei. Er hatte eine weit überdurchschnittliche Bildung und kannte sich besonders in der Kirchengeschichte gut aus. Deshalb nutzte ich die Gelegenheit und erklärte ihm an Hand von Offb. 2 und 3 die Bezüge zur Kirchengeschichte, was ihn offenkundig verblüffte, und erklärte ihm dann, dass die Katholische Kirche zwar Thyatira sei, die vom HErrn viel Lob bekommt – im Gegensatz zu Laodizea – aber dass sie teilweise eben auch die Hure Babylon sei, aus der wir Gläubige heute austreten müssen, um nicht ihrer Sünden mitteilhaftig zu werden. Wir sprachen dann über den Heiligen- und Reliquien-Götzendienst aber auch über die Transsubstantiationslehre, ohne dass er mir dabei widersprach, sondern mir interessiert zuhörte.
Beatrix, die Drogenbaronin
Am Abend kam Israel aus Ica angereist, und da Ruth und Evelyn noch nicht da waren, lud ich ihn ein, mit mir nach Augusto hinaufzugehen. Wir lasen mit ihm und Felix zusammen weiter im Johannesevangelium und erklärten ihnen das Gelesene. Als wir uns schließlich verabschiedeten, weil unsere Bibelstunde um 20:00 Uhr anfing, sagte ich beiläufig, dass sie natürlich auch gerne daran teilnehmen könnten. „JA, ich will unbedingt!“ sagte Augusto, und da war die Sache auch schon entschieden. Als ich gerade wieder unten in der Wohnung war, klopfte Mario an der Tür. Ich freute mich, dass er sein Versprechen eingehalten hatte und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Ich erklärte Israel kurz, wer der Mario sei und bot ihm dann an, dem Mario mal selbst ein paar Fragen zu stellen, damit sie ins Gespräch kämen. Um 19:30 Uhr kam auf einmal Julio mit seiner ganzen Familie samt Oma zur Bibelstunde. Da es noch etwas Zeit war, fragte ich sie aus Höflichkeit, ob sie schon zu Abend gegessen hätten oder ob ich ihnen ein Abendessen anbieten dürfe. Julio nickte sofort mit breitem Grinsen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich ja eigentlich gar nichts vorbereitet hatte, sondern diese Frage nur der Form halber gestellt hatte. Doch zum Glück sah ich dann, dass Ruth eine Mais-Käse-Suppe für sich, Evelyn und Israel gekocht hatte. Julios Familie bestand aus fünf Köpfen; hinzu kamen noch Israel und Mario. Also musste ich die Suppe so aufteilen, dass sie wenigstens für diese sieben Esser reichte (Ruth, Evelyn und ich könnten später ja auch etwas anderes noch essen). Also verteilte ich die Suppe in sieben tiefe Teller und Schalen, und es reichte gerade so eben.
Dann kam auch noch Ricardo mit Hugo, sowie Felix mit Augusto, sodass das 16-qm-groβe Wohnzimmer inzwischen mit 12 Personen recht voll geworden war (zum Glück hatte Julios Familie die Teller schon aufgegessen, sodass ich nicht in Verlegenheit geriet, auch den anderen noch etwas anbieten zu müssen. Israel machte dann die Einleitung mit Gebet und einigen coritos (Kurzliedern), und ich verteilte an die Besucher jeweils eine Bibel, die ich ihnen dann auch schenkte. Als ich dann mit meinem eigentlichen Thema beginnen wollte nämlich Psalm 119, merkte ich schon bald, dass die Besucher damit schon überfordert waren, denn ganz offensichtlich hatte über die Hälfte von ihnen noch nie in der Bibel gelesen und deshalb schon Schwierigkeiten, überhaupt diesen Psalm zu finden. Ich wechselte also das Thema und erzählte ihnen einfach mit eigenen Worten die Geschichte von Joseph, wobei ich jeweils auch die Parallelen zum Leben Jesu aufzeigte. Hugo unterbrach mich zwischendurch und fragte, wie ich denn das Verhältnis zwischen Joseph und dem Pharao mit Jesus und Gott vergleichen könne, wo doch der Pharao „ein böser und grausamer Tyrann sei, der seine Berater und Zeichendeuter sofort hinrichten ließ“. Ich korrigierte ihn, dass er ihn hier wohl mit dem Nebukadnezar verwechsele, dass man aber aufgrund von Phil. 2 schon eine deutliche Anspielung auf das Leben Jesu erkennen könne. Ich musste aufpassen, dass nicht durch zu viele Zwischenrufe der „rote Faden“ und damit die eigentliche Botschaft verloren gehe. Auch die Großmutter der Familie, also Julios Mutter Beatrix (85) machte ständig irgendwelche Zwischenrufe, so dass ich annahm, dass sie schon etwas dement sei; z.B. sagte sie ständig „Kiro!“, wenn ich vom HErrn sprach. Aber genau das Gegenteil war der Fall, denn es stellte sich plötzlich heraus, dass sie weit mehr Bibelkenntnis und Geistesfülle besaß, als ich mir je hätte erträumen lassen. Mit dem Wort „Kiro“, wollte sie in Wirklichkeit „ΚΥΡΙΟΣ“ sagen, also das griechische Wort für „HErr“…
Als ich ihr dann mal kurz das Wort gab, sprudelte es nur so aus ihr heraus: Zunächst unterstrich sie, dass der HErr Jesus der einzig wahre Erretter sei und dass jeder in der Runde, der den HErrn noch nicht als HErrn und Retter in sein Leben aufgenommen habe, dies doch unverzüglich tun müsse. Das Wort KÜRIOS bedeute so viel wie der absolute Befehlshaber, und wehe dem, der Seinem Befehl zur Buße und zum Bekenntnis seiner Sünden nicht nachkomme! Dann erzählte sie, wie der HErr sie durch eine schwere Krankheit vor einem Jahr errettet habe, als während kürzester Zeit sämtliche schwere Erkrankungen und Komplikationen auf einmal über sie kamen und die Ärzte im Krankenhaus deshalb schon alle Hoffnung für sie aufgegeben hatten. Sie sagte, dass sie von Dämonen regelrecht verfolgt wurde, die sie malträtierten und mit höllischen Schmerzen quälten, so dass sie nur noch zum HErrn um Gnade und Erbarmen flehen konnte. Diesen Schrei aus höchster Not habe der HErr erhört, sie wieder vollkommen geheilt und sogar zum Glauben geführt, so dass sie heute nicht mehr davon schweigen könne. Früher war sie eine schlimme Sünderin gewesen, indem sie in ihrem Haus ein Drogenkartell geführt habe – so unglaublich das klingt. Ihre beiden Töchter verkauften ebenso Drogen. Die jüngere von beiden fand man eines Morgens erhängt am Eingangstor vor Matute mit aufgeschlitztem Bauch – als Rache für eine nicht bezahlte Schuld. Für die Bandenkriminalität in den 80er Jahren war das Matute-Viertel ja in ganz Lima bekannt und gefürchtet, sogar bis heute noch. Und diese Familie war ein Teil des Kartells. Beatrix galt damals als „schwarze Witwe“ wegen ihrer Kaltblütigkeit, und jetzt hat der HErr sie errettet – was für eine Überraschung!
Dann wandte Beatrix sich an den im Rollstuhl sitzenden Augusto und bezeugte ihm mit Vollmacht, dass auch er nur glauben müsse, und dann würde der HErr ihn schon wieder gehen machen. „EN EL NOMBRE DEL SEÑOR!!!“ beschwor sie ihn, so dass Augusto ganz eingeschüchtert zu ihr hinaufschaute mit Tränen in den Augen. Ich erklärte ihr und den Anwesenden, dass der HErr auch bei Augusto schon ein Wunder bewirkt habe, denn früher war er ein erfolgreicher Geschäftsmann und Atheist, der sich über den Glauben lustig gemacht habe. Aber dass er inzwischen auch an den HErrn Jesus glaube, nachdem er durch einen Schlaganfall sehr vom HErrn gedemütigt wurde und zur Buße kam. „Halleluja!“ sagte Beatrix. Dann fragte sie ihn, wann er sich denn bekehrt habe. Mit zerbrechlicher Stimme sagte er: „Vor drei Wochen.“ Das irritierte mich, weshalb ich ihn fragte: „Aber wir kennen uns doch jetzt schon seit drei Wochen…“ Augusto sagte: „Ja. Als Sie vor drei Wochen das erste Mal zu mir nach oben kamen und mir vom HErrn Jesus erzählt haben, da habe ich mich bekehrt.“ – „Echt? Das habe ich ja gar nicht mitbekommen“ sagte ich. „Aber genauso wirkt der Heilige Geist“ wandte Bruder Hugo ein, „nämlich im Verborgenen. Ich merke, dass der HErr gerade ganz mächtig unter uns am Wirken ist, und das freut mich sehr.“ – „Ja genau, “ sagte Julio „und dieses Feuer darf jetzt nicht so bald wieder erlöschen, sondern wir sollten dafür beten, dass der HErr auch weiter diese Erweckung aufrechterhalte!“ Wir beteten gemeinsam und verabschiedeten uns.
Am nächsten Tag packten wir unsere Koffer und wurden von unserem befreundeten Taxifahrer Jaime abgeholt und zum Flughafen gebracht. Als wir nach 14-stündiger Flugreise in Amsterdam ankamen und in der Schlange der Passabfertigung standen, wunderte ich mich über einige asiatische Frauen, die einen Mundschutz trugen. Ich fragte sie, ob es dafür einen bestimmten Grund gäbe und erfuhr, dass in China ein Virus ausgebrochen sei, der eine schwere Pandemie auslösen könnte…