Lebenszeugnisse von Knechten Jesu Christi Teil 38:
August Hermann Francke (1663-1727)
Francke wurde zu Beginn des Pietismus (1660 – 1830) in Lübeck geboren in einer Zeit, als man wieder über neue Reformen in der als leblos empfundenen evangelischen Kirche sprach. Schon früh wurde er durch seine Großmutter mit erbaulichen Schriften von Johann Arndt vertraut. Sein gläubiger Vater Johannes wurde 1666 als Anwalt an den Hof Herzog Ernst des Frommen nach Gotha berufen. In dieser für den Pietismus offenen Stadt verbrachte Francke einen Großteil seiner Jugend und erfuhr mit 10 Jahren eine erste geistliche Erweckung.
1679 begann er in Erfurt Theologie zu studieren. In der Folgezeit lernte der wissbegierige Student Hebräisch, Französisch und Italienisch. Bis dahin war der Glaube für ihn noch immer eine eher abstrakte, intellektuelle Angelegenheit. 1685 legte er seine Magisterarbeit vor und habilitierte sich wenig später. Er organisierte Treffen, bei denen er mit Gelehrten die Bibel in den Originalsprachen las, um dann in Lateinisch darüber zu debattieren. 1687 kam er dann bei einer Predigtvorbereitung über Joh.20:31 in eine Glaubenskrise, da ihm bewusst wurde, dass er gar keinen echten Glauben hatte, sondern nur eine Ansammlung von akademischem Wissen. Er zweifelte zuletzt sogar an Gott bei dem Gedanken, dass ja theoretisch auch die anderen Religionen wahr sein könnten. Seine intellektuellen Argumente halfen ihm hier nicht weiter. Unentwegt betete er zu Gott, an dem er zugleich zweifelte. Doch dann überkam ihm auf einmal eine tiefe und dauerhafte Glaubensgewissheit.
Die Spuren von Franckes geistlicher Lebenswende waren sofort sichtbar. Sein Interesse an einer rein akademischen Bibelauslegung ging deutlich zurück. Stattdessen achtete er nun vielmehr auf das unmittelbare Reden Gottes beim privaten Lesen der Bibel. Francke verbrachte viel Zeit im Gebet und aß nur einmal am Tag, um den Äußerlichkeiten nur ja keine große Bedeutung beimessen. Ehre, Ansehen, Reichtum, Wohlergehen und weltliche Vergnügungen, die ihm vorher viel bedeuteten, traten jetzt vollkommen in den Hintergrund.
Durch eine Begegnung mit dem Vater der pietistischen Bewegung, Philip J. Spener (1635-1705) setzte er neue Schwerpunkte und begann damit, Studenten für die Bibel zu begeistern und ihnen zu einem lebendigen Glauben zu verhelfen und persönliche Konsequenzen aus dem Gehörten zu ziehen, als lediglich ihr theologisches Wissen zu vermehren. Außerdem benutzte er jetzt zunehmend die deutsche Sprache, anstatt wie damals üblich die lateinische, damit auch Nichtstudenten an den Seminaren teilnehmen konnten. Vollkommen unüblich hielt Francke Bibelstunden sogar in Privathäusern ab.
Es dauerte nicht lange, da erregte Francke aufgrund seiner außerordentlichen Popularität unter den Studenten den Neid der kirchlichen Obrigkeit, so dass ihm 1690 jede weitere Tätigkeit an der Universität verboten wurde. Doch dann bot ihm der evangelische Probst Joachim Breithaupt, der für eine pietistische Erneuerung warb, das Pfarramt der örtlichen Augustinerkirche an. Hier widmete sich Francke insbesondere den 8- bis 10-jährigen Kindern, die von seinem lebendigen Bibelunterricht gegeistert waren. Außerdem organisierte er verschiedene Bibelkreise in Privathäusern und verteilte 900 Neue Testamente an interessierte Gemeindeglieder als Ermutigung, um selbst das Wort Gottes zu erforschen. Außerdem animierte Francke die Theologiestudenten, sich schon jetzt für eine geistliche Erweckung in den Kirchengemeinden der Stadt zu engagieren.
Erneut entzündete sich die Wut der etablierten Pfarrerschaft an Franckes Aufforderung, stärker nach einem dauerhaft sündlosen Leben zu streben. Schließlich wurde ihm auch die Betreuung privater Bibelkreise verboten. Trotz des erheblichen Protests seiner Gemeinde und einiger Professorenkollegen enthob man Francke wegen „Verwirrung der Gläubigen“ seines Amtes und verwies ihn der Stadt. Sogar eine Abschiedspredigt wurde ihm verwehrt. Francke nahm diese ungerechten Angriffe aus Gottes Hand und sah darin ein Leiden für Jesus Christus, das er gerne auf sich nehmen wollte.
1691 wurde Francke von Philip J. Spener (1635-1709) nach Berlin eingeladen, wo seine Bibelstunden und Predigten auch von Mitgliedern der preußischen Regierung besucht wurden. Die Politiker waren sowohl von der hohen Bildung als auch von dem ehrlichen Glauben von Francke beeindruckt. Deshalb bot ihm der fromme Premierminister Eberhard Freiherr von Danckelmann eine Professur für orientalische Sprachen an der neu gegründeten Universität Halle/Saale an. Nach kurzem Nachdenken und innigen Gebeten nahm Francke diese als persönliche Führung Gottes an. Im Verlauf der nächsten Jahre entwickelte sich diese Universität zu einer Hochburg des Pietismus. Überall aus Deutschland wurden pietistische Professoren nach Halle geholt.
Franckes Gemeinde in Glaucha befand sich zur Zeit seines Dienstantritts in einem bemitleidenswerten Zustand. Der wirtschaftliche Niedergang Halles hatte auch viele Bewohner Glauchas arbeitslos gemacht. An jeder Ecke gab es Kneipen, vor denen oft schon am Vormittag die Betrunkenen auf der Straße lagen. Von Beginn an bemühte sich Francke, das geistliche und moralische Niveau der Stadt zu heben. Schon bald konnte er durchsetzen, dass die Wirtshäuser zumindest während der Gottesdienste geschlossen bleiben. Außerdem verpflichtete er die Gemeindemitglieder zu seelsorgerlichen Gesprächen als Voraussetzung zum Abendmahls-besuch. Jeden Sonntagabend traf er sich mit den frommen Gläubigen des Ortes zu einer Abendgebetstunde, einer Art Hauskreis. Aufgrund seiner Forderung nach persönlicher Heiligung warfen ihm die Kirchenoberen vor, extremistische Tendenzen zu schüren und den Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen.
1694 heiratete Francke die Adelige Magdalena von Wurm, die ebenso eine eifrige Bibelleserin war und sogar Griechisch erlernte, um den Grundtext besser zu verstehen. Als Pfarrer von Glaucha war sich Francke seiner sozialen Verantwortung bewusst. Einmal wöchentlich erhielten die Armen des Dorfes von ihm eine Spende und etwas zu essen. Besonders lagen Francke die Kinder am Herzen, deren Leben schon früh vorgezeichnet schien, hin zu Alkoholismus und Arbeitslosigkeit. 1695 begann er, in seinem Bekanntenkreis für die Idee einer Armenschule zu werben. Gut sichtbar stellte Francke in seiner Wohnung eine Sammelbüchse mit folgendem Bibelvers auf: „So jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“ Als ausreichend Geld zusammengekommen war, begann Francke mit einer Schule für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. Dazu kaufte er entsprechende Schulbücher und beschäftigte einen begabten Studenten als Lehrer.
Diese gut organisierte Einrichtung fand sofort begeisterte Zustimmung. Selbst zahlreiche wohlhabende Bürger aus Halle schickten ihre Kinder gerne in Franckes Schule, bei ihnen natürlich nur gegen Bezahlung. Nachdem weitere Spenden eingegangen waren, konnte man bereits 1695 eine ehemalige Kneipe in der Nachbarschaft kaufen und zur Schule umbauen. Armen Studenten wurde Essen, gelegentlich auch Unterkunft angeboten, wenn sie sich im Gegenzug bereit erklärten, einzelne Schulstunden zu übernehmen. Die allgemeine Bürgerschule wurde 1697 durch eine Gelehrtenschule ergänzt, die aufs Universitätsstudium vorbereitete. Bei entsprechenden Leistungen konnten auch Arme und Waisenkinder diesen Vorläufer des Gymnasiums besuchen. Als dritter Schultyp wurde 1702 das Pädagogium Regium eröffnet, eine Ausbildungsstätte für die Kinder des Adels, die geistlich und fachlich auf ihre zukünftigen Regierungsaufgaben vorbereitet wurden. Aufgrund des raschen Wachstums der Anstalten wurde 1698 in unmittelbarer Nähe ein moderner Neubau geplant. Als der brandenburgische Kurfürst Friedrich III kam, um die begonnenen Bauvorhaben zu besichtigen, spendete er großzügig tausende Mauersteine, Dachziegel und Holzfenster. Immer wieder erlebte Francke, dass nach Gebet gerade noch rechtzeitig entsprechende Spenden eingingen, um Material und Handwerker zu bezahlen.
Während all dieser Jahre expandierten die Schulen fortwährend. Immer war die Nachfrage weit größer als die vorhandenen Kapazitäten. Die Zahlen der in Franckes Schulen betreuten Kinder wuchs von 400 im Jahr 1702 auf rund 2200 im Jahr 1727. Weitere wohlhabende Adelige konnten als Gönner gewonnen werden, so dass der Aufbau der weltweit ersten Bibelgesellschaft finanziert werden konnte. Für die Jugendlichen entstanden zum Zwecke der Ausbildung eine eigene Bäckerei, Brauerei, Buchdruckerei, Tuchmacherei und Apotheke.
Dreh- und Angelpunkt des christlichen Lebens war für Francke die Bibel, weshalb er immer wieder und bei jeder Gelegenheit ein intensives Bibelstudium bewarb. In einer eigenen Zeitschrift gab er nicht nur Auslegungen, sondern auch Verbesserungsvorschläge für die Lutherbibel durch korrektere Übersetzungen einzelner Sätze aus dem Grundtext. Das trug ihm erwartungsgemäß massive Kritik lutherischer Kirchenfürsten ein. Francke erwiderte, dass er Luther zwar außerordentlich schätze, ihn aber nicht für unfehlbar halte. Zugleich betonte er immer wieder, dass die Theologen die Bibel immer erst zur eigenen Heiligung lesen sollten und erst danach zur Erbauung der Gemeinde. Zudem sollten Christen auch außerhalb des Gottesdienstes Gemeinschaft miteinander pflegen und sich zum gemeinsamen Bibellesen und Gebet treffen. Zu diesem Zweck kaufte er Bibeln und verteilte sie an seine Gemeindemitglieder.
Francke plante eine von Halle ausgehende Erneuerung der ganzen Gesellschaft nach christlichen Maßstäben. 1000 Theologiestudenten sollten darauf vorbereitet werden, in Gemeinden und freien Hilfswerken eine geistliche Erweckung auszulösen. Die von Gott ergriffenen und veränderten Menschen würden dann auch in ihrem privaten und beruflichen Umfeld nach den Ordnungen Gottes leben. Die wichtigste Ursache der gesellschaftlichen Krise seiner Zeit sah er in einer unzureichenden Ausbildung. Viele Kinder bekämen keine oder nur eine unzureichende Vorbereitung fürs Leben. In Schulen und Universitäten ginge es fast ausschließlich um pure Wissensvermittlung. Die entscheidende Prägung der Persönlichkeit käme dabei wesentlich zu kurz. Auch in der Armenversorgung gehe es viel mehr um die Beruhigung des Gewissens, als um eine echte Veränderung der Verhältnisse. Im Verlauf der Jahre entstanden dann überall in Europa hunderte von neuen christlichen Schulen, Hilfswerken und sogar Krankenhäuser.
Neben Kritik und Angriffen von außen versuchte der Feind aber auch immer wieder von innen die Arbeit von August Hermann zu zerstören. So gab es einen Professor für Philosophie, Christian Thomasius (1655-1728), der in Halle unterrichtete und zunächst auf einer Linie lag mit Francke bezüglich der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Dann aber kritisierte er 1713 offen die Strenge der Frommen, die mutmaßlich harmlose Vergnügungen wie Tanzen oder Theater ablehnten. Francke wiederum kritisierte den Luxus, die Oberflächlichkeit und die leichtfertigen Vergnügungen der Familie Thomasius. Weiteren Streit gab es, als der Philosophieprofessor das Konkubinat (Nebenfrauen) ethisch mit Beispielen aus dem Alten Testament verteidigte. Auch zwischen dem 1706 nach Halle berufenen Mathematiker Christian Wolff (1679-1754) und den Pietisten kam es zu Konflikten. Wolff lehrte, dass die Ergebnisse der Wissenschaft und der Philosophie allgemeine Gültigkeit hätten und den Aussagen des Glaubens daher überlegen seien. Durch seine eigenen Bemühungen könne der Mensch sich und die Gesellschaft immer wieder verbessern. Zum großen Streit kam es, als Wolff in einer Rede die hohe Moral des kunfuzianischen Chinesen den europäischen Christen als gleichwertig gegenüberstellte. Francke intervenierte daraufhin empört beim König. Friedrich Wilhelm entließ Wolff daraufhin als Professor, weil der den religiösen Frieden gefährde und Verwirrung bei den Schülern stifte.
Der berühmte Orientalist und Erforscher Äthiopiens, Heinrich Wilhelm Ludolf (1655-1712), war damals als Sekretär des englischen Prinzgemahls Georg von Dänemark Franckes wichtigster Verbindungsmann in die englischsprachige Welt. Durch Franckes Vermittlung kamen zahlreiche pietistische Studenten als Lehrer an englische Armenschulen, während britische Kinder zur Ausbildung nach Halle geschickt wurden. Außerdem sorgte er dafür, dass der fromme Anton Wilhelm Böhme (1673-1722) als Hofprediger nach London berufen wurde. Gute Beziehungen zur britischen Königin Anne Stuart (1665-1714) ermöglichten eine bescheidene staatliche Förderung der Aktivitäten Böhmes als Vertreter Halles in England. Unter anderem organisierte er die geistliche Versorgung deutscher Auswanderer in den englischen Kolonien Nordamerikas, initiierte eine Gefängnisreform und arbeitete erfolgreich in der Versorgung der Armen.
Zusammen mit dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) entwarf Francke 1697 einen Plan zur Missionierung der Chinesen, der so allerdings nie ausgeführt wurde. Dafür richtete Francke in Halle das Collegium Orientale Theologicum ein, das zukünftige Missionare für ihre Arbeit im Orient vorbereiten sollte. In einer Kooperation zwischen dem dänischen König Friedrich IV. und Francke entstand 1704 die Dänisch-Hallesche-Missionsgesellschaft. Diese weltweit erste protestantische Missionsgesellschaft entsandte 1706 Heinrich Plüschau (1677-1719) und Bartolomäus Ziegenbalg (1638-1719), zwei Studenten Franckes, in die dänische Kolonie Tranquebar an der Südostküste Indiens. In den ersten beiden Monaten lernten die beiden Portugiesisch und Malabarisch (Tamil). Später übersetzte Ziegenbalg das Neue Testament und einige andere theologische Bücher ins Tamilische (1711). Mit einer aus Halle gespendeten Druckerei konnte man in Indien bald auch eigene Literatur herstellen. Ganz nach Franckes Vorbild wurde eine Schule eingerichtet, die auch von Mädchen besucht werden konnte, obwohl das eigentlich gegen indische Sitten verstieß. Bereits ein Jahr später ließen sich die ersten Inder taufen. 1712 zählte die Kirche schon 202 einheimische Mitglieder.