Lebenszeugnisse von Knechten Jesu Christi Teil 39:
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Die Schrecken des 30-jährigen Krieges wurden von den Christen als ein ernstes Gericht Gottes empfunden, das die Menschen wieder mehr zu Gott führte. Die Musik vermittelte den Hörern nicht nur die Schönheit der Ordnung Gottes, sondern auch eine Heilung für das Herz.
Johann Sebastian wurde als jüngstes von sieben Kindern in eine Familie von Organisten und Hofmusikern hineingeboren und erhielt schon mit sieben Jahren von seinem Vater Geigenunterricht. Mit acht Jahren beteiligte sich der Junge im Kirchenchor an anspruchsvollen Motetten, Konzerten und Kantaten. Trotz seiner zahlreichen musikalischen Verpflichtungen war er zumeist der beste Schüler seiner Klasse in Eisenach. Mit neun Jahren verlor er seine Mutter, und mit zehn Jahren starb auch noch sein Vater, sodass er zu seinem 24 Jahre alten Bruder Johann Christoph zog, wo er das Klavier- und Orgelspiel erlernte sowie in die Kunst der Komposition eingeführt wurde. Im Jahr 1700 begab sich Bach zu Fuß ins 350 km entfernte Lüneburg, um dort in der Klosterschule für junge Adlige unterrichtet wurde. Anschließend fand er eine Anstellung als Organist in Arnstedt.
Im Jahr 1705 erbat sich Bach Urlaub vom Konsistorium der Kirche, um nach Lübeck zu reisen, wo der berühmte Organist Dietrich Buxtehude lebte, um durch ihn neue Inspirationen zu erhalten. Begeistert vom reichhaltigen Musikleben Lübecks verlängerte Bach seinen Aufenthalt eigenständig auf vier Monate, ohne das mit seinen Vorgesetzten abzustimmen, was das bereits angespannte Verhältnis noch mehr belastete. Da man ihm in Mühlhausen ein höheres Gehalt versprach, wechselte er dorthin, heiratete 1707 seine Verlobte Maria Barbara und zeugte mit ihr zwei Söhne, die ebenso Musiker wurden. In Mühlhausen entstanden Bachs erste Kantaten: „Gott ist mein König“, „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“ und „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“.
Aus den heftigen theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit hielt sich Bach weitgehend heraus. In der Orthodoxie war man bemüht, den christlichen Glauben nach dem Vorbild der Naturwissenschaften in logischen und biblisch begründeten Leitsätzen zu systematisieren, um ihn damit für den Verstand besser greifbar zu machen. Der Pietismus setzte angesichts des herrschenden Humanismus und Rationalismus auf authentische, persönliche Glaubenserlebnisse, auf das Hören der Stimme Gottes und auf eine Bekehrung angesichts der eigenen Sündenerkenntnis. Bach fand bei beiden Gruppen der lutherischen Kirche des 18. Jahrhunderts Anregungen für seinen Glauben. Ihm ging es aber nicht so sehr darum, theologische Streitfragen zu klären. Vielmehr wollte er den Gottesdienstbesuchern die Aussagen der Bibel musikalisch möglichst eindrücklich nahebringen. Für ihn war die Musik eine Art klingende Predigt.
1708 wurde Bach vom Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen in Weimar zum Konzertmeister ernannt. Die Zuhörer waren begeistert von Bachs technischer Perfektion, den einfühlsamen Interpretationen und von seiner Improvisationsgabe. Er komponierte dort Orgelkonzerte, Choräle, Präludien, Toccaten und Fugen. 1717 wechselte Bach an den Hof von Leopold von Anhalt-Köthen als Hochfürstlicher Kapellmeister, wodurch er an die Spitze der damals möglichen Musikerkarriere angekommen war. Er wohnte im Schloss und durfte an der Tafel der Offiziere speisen. Er bezog ein beachtliches Jahresgehalt von 400 Reichstalern, obwohl er kaum noch kirchliche Verpflichtungen hatte, sondern hauptsächlich mit dem Fürsten zusammen musizieren und für den Hof Kammermusik komponieren sollte.
Während einer Reise mit dem Fürsten starb überraschend seine Frau Maria Barbara, mit der er 13 Jahre eine sehr glückliche Ehe geführt hatte. Durch diesen schmerzlichen Verlust wandte sich Bach wieder viel intensiver seinem Glauben zu. Er nahm sich vor, sein Talent nun wieder viel mehr zur Ehre Gottes einzusetzen und mehr geistliche Stücke zu komponieren. 1721 heiratete er die 20-jährige Anna Magdalena, die er als Sängerin in der Köthener Hofkapelle kennengelernt hatte. Mit ihr hatte er insgesamt 13 Kinder, wobei sieben bereits früh starben. Die anderen sechs unterrichtete er, so dass auch sie z.T. bedeutende Musiker wurden.
1723 nahm Bach eine Anstellung als Kantor der Thomas-Kirche in Leipzig an, wo er die letzten 27 Jahre seines Lebens bleiben sollte. Dies war nicht immer einfach, denn während ihm in Köthen eine Kapelle von hervorragenden Musikern zur Verfügung stand, musste er sich in Leipzig mit Schülern, Studenten und mittelmäßigen Stadtpfeifern begnügen. Sein volles Pensum ließ ihm zudem nur wenig Freiraum für schöpferische Pausen und außerplanmäßige Kompositionen. Er war nicht nur für den Musikunterricht verantwortlich, sondern musste darüber hinaus auch noch Latein, Rhetorik und Religion unterrichten. Zudem sollte er für die Gottesdienste regelmäßig geistliche Kantaten komponieren. Einmal sagte er: „Ich bin nicht der Meinung, dass durch das Evangelium die Künste zu Boden geschlagen werden sollen, wie einige vorgeblich Fromme fordern. Alle Künste und ganz besonders die Musik soll in den Dienst dessen gestellt werden, der sie gegeben und geschaffen hat.“ Seine Kantaten sollten den Glauben vertiefen.
In seiner Funktion als Musik-Direktor sollte er den musikalischen Rahmen von Ratsfeiern, Fürstenempfängen, Familienfesten und anderen öffentlichen Feierlichkeiten gestalten. Sein Arbeitspensum war immens. Auch die regelmäßigen Singstunden mit wenig begabten und unmotivierten Schülern verlangten ihm einiges ab. Daneben musste er sich ständig mit den Intrigen zahlreicher Neider auseinandersetzen, die es auf seinen Posten abgesehen hatten. Überhaupt wurde Bach ständig von seinen städtischen Vorgesetzten angegriffen und kritisiert. Die einen wollten ihm gerne noch mehr Arbeit aufdrücken, den anderen gefiel Bachs Musikstil nicht oder hatten ganz generell eine skeptische Haltung zur Kirchenmusik. Sie lenke von der Predigt ab und führe zu emotionalem Überschwang. Bachs Kantaten wurden als viel zu „fleischlich, luxeriös und sinnlich“ abgelehnt. Sie sei eine „teuflische Versuchung“. Seine Werke signierte Bach indes mit dem Kürzel SDG für Soli Deo Gloria (Allein Gott die Ehre). „Mit aller Musik soll Gott geehrt werden. Wenn man Gott nicht ehrt, ist die Musik nur teuflischer Lärm und Krach“ war Bach überzeugt.
Durch einen fehlgeschlagenen Versuch, ihn am Auge zu operieren (Grauer Star) erblindete Bach und starb bald darauf an einer Lungenentzündung und einem Schlaganfall.
Lebenszeugnisse von Knechten Jesu Christi Teil 40:
Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760)
Das am häufigsten erschienene und weltweit verbreitetste christliche Andachtsbuch trägt den Namen „Losungen“. Es geht auf ein äußerst innovatives und frommes Mitglied des europäischen Hochadels zurück. Seine Zeitgenossen reagierten sehr zwiespältig auf den gleichzeitig stolzen und demütigen Mann. Viele hielten ihn für einen überspannten Sektierer, andere achteten ihn als authentischen Christen und vorbildlichen Prediger. Er experimentierte nicht nur mit neuen Ausdrucksformen des Glaubens, sondern gründete einen bis heute existierenden Gemeindeverband und initiierte die evangelische Weltmission durch theologische Laien.
Geboren wurde Zinzendorf 1700 in Dresden. Die Familie gehörte dem Habsburger Hochadel an. Nachdem sein Vater 1704 gestorben war, wuchs Zinzendorf bei seiner Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf aus dem Schloss Großhennersdorf bei Zittau in der Oberlausitz auf. Seine Großmutter war musisch begabt und galt als eine der gebildetsten Frauen Deutschlands. Sie las die Bibel in den Urschriften, unterrichtete ihre Dienstboten und korrespondierte mit allen bekannten Pietisten ihrer Zeit. So wurde der junge Zinzendorf vom vorbildlichen Gebetsleben seiner Großmutter, durch die regelmäßigen Andachtsstunden in der Hofkapelle und die frommen Hauslehrer geprägt. Schon früh entwickelte der als Einzelkind aufgewachsene Zinzendorf eine zärtliche Anhänglichkeit an den Heiland. Er war sein Bruder, sein Gesprächspartner, sein Spielgefährte, der Adressat seiner Kinderbriefe.
1710 bis 1716 besuchte Zinzendorf als erster Reichsgraf Frankes Pädagogikum in Halle. Das allein schon war ein Kompromiss. Eigentlich lehnte sein Vormund es ab, den jungen Adeligen an eine Schule zu schicken, wo er mit den Kindern einfacher Handwerker und Händler in einem Zimmer unterrichtet wurde. Auf Drängen der Mutter und Großmutter einigte man sich. Entsprechend seiner gesellschaftlich herausgehobenen Stellung sollte er auch in Halle bevorzugt behandelt werden: ihm wurde ein eigenes Apartment mit Diener zugestanden. Außerdem sollte er immer mit dem Leiter der Anstalten, August Hermann Francke, an einem Tisch zu Mittagessen usw. Aufgrund dieser, nicht von Zinzendorf gewollten Sonderbehandlung hatte er kaum Freunde in der Schule. Selbst sein Hofmeister spionierte ihn nach, intrigierte und berichtete alles an Schulleitung und Familie. In dieser Situation suchte Zinzendorf umso mehr bei dem Heiland seiner Kindertage Zuflucht und Geborgenheit. Gelegentlich schlug er sich auch mit schweren Glaubenszweifeln herum. Zeitweilig stellte er sogar die Existenz Gottes in Frage. In solchen Situationen half ihm die Erinnerung an die Erfahrungen der Vergangenheit und das Gefühl tiefer Glaubensgewissheit. Außerdem gründete er mit dem gleichaltrigen Patriziersohn Friedrich von Wattenwyl den Senfkornorden, eine kleine Sozietät, die sich für weltweite christliche Mission einsetzen wollte. Später erinnerte sich Zinzendorf immer gerne an diese für ihn prägende Zeit in Franckes Pädagogikum. Hier festigte sich sein Glaube. Er lernte das absolute Vertrauen auf Gott und wurde auch akademisch gut auf seine weiteren Studien vorbereitet. Auch den Gedanken der Weltmission nahm er aus Halle mit. Jahre danach bewarb sich Zinzendorf sogar bei Francke als potentieller Mitarbeiter, der die Verbindungen zwischen den Anstalten und dem Adel pflegen wollte. Francke allerdings lehnte ab. Der innovative und etwas sprunghafte Reichsgraf schien ihm dann doch zu unseriös. Obwohl Zinzendorf gerne eine theologische Laufbahn einschlagen wollte, bestand sein Vormund, sein dem Pietismus kritisch gegenüberstehender Onkel darauf, dass er in Wittenberg ein standesgemäßes Jurastudium absolvierte. Nebenher beschäftigte er sich auch weiterhin intensiv mit geistlichen Fragen. Schließlich bemühte er sich sogar um eine Versöhnung zwischen den Pietisten aus Halle und den mit ihnen zerstrittenen orthodoxen Lutheranern aus Wittenberg. Auf Drängen seines Onkels, der solche Aktivitäten für nicht angemessen hielt, musste er diese Initiative dann aber abbrechen.
Nach Beendigung seines Studiums begab sich Zinzendorf auf eine damals übliche Kavalierstour, die ihn unter anderem nach Holland und Paris führte. In Düsseldorf berührte ihn ein Passionsgemälde des italienischen Malers Domenico Feti mit der Bildunterschrift „Ego pro te haec passus sum. Tu vero, quit fecisti pro me?“ („Ich habe dies für dich gelitten – was tust du wahrhaftig für mich?„), aufgrund dessen Zinzendorf sein Leben neu Jesus hingab. In den Niederlanden beeindruckten ihn die bunte konfessionelle Vielfalt und die praktizierte Religionsfreiheit. Er hatte Kontakte mit Calvinisten, Katholiken, Angelikanern, armenischen Christen und Mennoniten. Außerdem kam er mit ersten Ausläufern der Aufklärung in Berührung. Das Treiben der Weltstadt Paris und ihrer oberen Gesellschaft waren ihm ein Graus. Zinzendorf enthielt sich aller zwielichtigen Vergnügungen, auch dem Tanz und dem Spiel, so dass er von seinen Standesgenossen schon bald als „Sonderling“ angesehen wurde. Diese Schmach nahm er als „wahrer Nachfolger Christi“ gerne auf sich.
1722 heiratete Zinzendorf die Comtesse Erdmuthe Dorothea, eine standesgemäße und gleichgesinnte Ehefrau. Zeitweise waren Zinzendorf und seine Braut begeistert von der Idee, dass man nur dann geistliche Kinder zeugen könne, wenn Mann und Frau wie Brüderchen und Schwesterchen zusammenleben, ganz jungfräulich ohne jede sexuelle Aktivität. In ihrem Briefwechsel ging es stärker um den Austausch von Bibelversen und geistlichen Erkenntnissen, als um den Ausdruck ihrer Liebe. In späteren Jahren gaben sie diese Vorstellung offensichtlich auf, wie ihre zwölf gemeinsamen Kinder deutlich machen, von denen jedoch nur vier das Erwachsenenalter erreichten. Erdmuthe war praktisch sehr begabt und wurde eine kompetente Managerin für die späteren vielfältigen Arbeitsbereiche ihres Mannes. Neben seiner Arbeit als Justizrat am Hof des Sachsenkönigs August des Starken in Dresden betrieb Zinzendorf schon bald erbauliche Bibelstunden in seiner Wohnung. 1722 kaufte er von seiner Großmutter das Gut Berthelsdorf und richtete dort eine Hofgemeinde ein. Nach Halleschem Vorbild gegründete Zinzendorf ein Adelspädagogikum, ein Waisenhaus und eine Mädchenanstalt. Außerdem richtete er eine Druckerei ein, die preiswerte, erbauliche Traktate, ein eigenes Berthelsdorfer Gesangbuch und einen günstigen Bibeldruck herausgab. 1727 wurden die Bibelstunden in Dresden verboten. Vor seiner Bibelausgabe wurde öffentlich gewarnt. Zinzendorf zog sich daraufhin ganz auf sein Landgut zurück.
1722 hatte Zinzendorf drei mährische Familien als Glaubensflüchtlinge aufgenommen, die auf seinem Land eine Ansiedlung gründeten. Das unter der Leitung des Zimmermanns Christian David am Hutberg gelegene Dorf Herrnhut wuchs rasch an: 1727 auf 300, 1736 auf 700 Personen. Neben dem Pfarrer sollten wie zu apostolischen Zeiten die Laien als Älteste, Lehrer und Ermahner Mitverantwortung übernehmen. Mittelpunkt des Gemeindelebens waren die Versammlungen im Saal des Gutshauses. Später wurde in Herrnhut ein eigenes Bethaus gebaut. Dort entstanden auch neue gottesdienstliche Formen wie die Singstunde mit der Liedpredigt, einer Aneinanderreihung von Liedstrophen. Es wurden Fastentage und ein 24-Stunden-Gebet eingerichtet. Auch andere urchristliche Bräuche wie das Liebesmahl (Agape) und Fußwaschungen wurden eingeführt. Zinzendorf erwies sich als hinreißender Prediger und einfühlsamer Seelsorger. Über 2000 Lieder, Gedichte und Gebete verfasste der Graf im Laufe der Jahre. Langfristig wurden vor allem seine Lieder „Jesus, geh voran“ sowie „Herz und Herz vereint zusammen“ sehr populär. Sein Tischgebet „Komm, Herr Jesus Christ, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“ verbreitete sich schnell auch über die Grenzen der Herrnhuter Brüdergemeine hinaus. Im Gegensatz zu der überwiegend auf den Sonntag und den Pastor ausgerichteten evangelischen Kirchengemeinden stand Zinzendorf eine enge, umfassende christliche Gemeinschaft vor Augen, angelehnt an die biblische Urgemeinde in Jerusalem. Alle Gemeindeglieder sollten hier mit ihren Fähigkeiten verantwortlich eingebunden werden. Dafür wurden auch zahlreiche neue Ämter erfunden: Älteste, Lehrer, Helfer, Aufseher, Ermahner, Diener, Krankenwärter, Almosenpfleger, Wirtschaftsaufseher usw. Zuerst richtete Zinzendorf in der Gemeine verschiedene sogenannte Banden ein. Das waren auf Sympathie und Freiwilligkeit beruhende Kleingruppen von 3 bis 8 Leuten. Man betete zusammen, tauschte sich über geistliche Fragen aus und ermutigte sich im Alltagsleben. Die Bandenführer dieser Beichtgemeinschaften besprachen sich in wöchentlichen Bandenkonferenzen. Neben diesen freiwilligen Gruppen teilte Zinzendorf die Gemeine in Klassen auf, die nach der geistlichen Reife und Erfahrung sortiert werden sollten. Dieses Experiment scheiterte dann aber an der Notwendigkeit, ständig das Verhalten der Gemeindeglieder bewerten zu müssen. Später traten die Chöre an ihre Stelle, Gruppen, die nach der Lebenssituation ihrer Mitglieder zusammengestellt wurden (unverheiratete Brüder bzw. Schwestern, junge Ehepaare, usw.). Besonders in den Chören der nach Geschlechtern getrennt zusammenlebenden Ledigen wurde auch der gemeinsame Dienst für Mission und Diakonie hervorgehoben. Eine rigorose Gemeindezucht sollte der Bewahrung der Gemeine in apostolischer Reinheit dienen.
Ab 1729 wurden Bibelworte oder Liedverse als geistliche Tagesparole (Losung) herausgegeben, die ab 1731 schon ein Jahr im Voraus ausgewählt wurden. Die Losentscheidung führte Zinzendorf, von biblischen Beispielen ermutigt schon bald in fast jedem Lebensbereich ein. Personalentscheidungen, Eheschließungen, Reisepläne, Verhandlungsführungen und Käufe sollten mittels des Loses durch den Heiland entschieden werden. Um noch heiliger zu leben, übergab Zinzendorf sein Vorsteheramt 1741 feierlich an Jesus Christus als Haupt und Ältesten der Gemeine. Seitdem ließ man bei Mahlzeiten immer einen Platz für Jesus frei. Eigentlich sollte das ganze Leben des Christen vom Glauben durchdrungen werden. Es sollte keine Trennung mehr geben zwischen Gemeine und Beruf oder Familie. Selbst für das Einschlafen und Aufwachen entwickelte Zinzendorf eine eigene Liturgie.
Auf dem Herrnhuter Gottesacker sollte es im Gegensatz zu anderen Friedhöfen jener Zeit keine Prunkentfaltung und auch keine Rangunterschiede geben. Jeder bekam einen gleich gestalteten Grabstein. Der Gottesacker sollte nicht nur die Gleichheit aller Gläubigen ausdrücken, hier sollte auch die Hoffnung auf eine baldige Auferstehung symbolisch ausgedrückt werden. Überhaupt sei die Seele, und damit die verstorbene Person, nicht im Grab, sondern bei Gott. Darüber hinaus betrachtete man den Friedhof nur als kurzfristige Erinnerungsstätte, bis zum bald erwarteten Anbruch des Reiches Gottes.
Eines Tages begegnete Zinzendorf einem bekehrten schwarzafrikanischen Sklaven und zwei christlichen Eskimos. Damit wurde sein Interesse an der Heidenmission neu geweckt und in konkrete Bahnen gelenkt. Zurück in Herrnhut vermochte er die Gemeinde zu begeistern, so dass 1732 die ersten Missionare in die Karibik, 1733 nach Grönland und in den folgenden Jahren in 28 weitere Gebiete der Welt ausgesandt wurden. Zum ersten Mal in der neueren Missionsgeschichte sandte damit wieder eine einzelne Ortsgemeinde Missionare aus, bis zum Tod Zinzendorf allein 226. Für Zinzendorf zielte die Erfüllung des Missionsauftrags nicht nur auf die Errettung der Heiden sondern ebenso auf die Beschleunigung der Wiederkunft Jesu. Die Missionskandidaten wurden zumeist unter Gebet bestimmt. Ohne große theologische Ausbildung zogen sie zu Sklaven, Eskimos, Hottentotten und Indianern. Finanziert wurde vieles aus dem Vermögen des Grafen. Weil die Missionare aus Herrnhut keiner Konfession angehörten und keiner Kolonialmacht verpflichtet waren, konnten sie verhältnismäßig frei arbeiten. Die weltweit größte und einflussreichste protestantische Missionsorganisation des 18. Jahrhunderts war die Herrnhuter Brüdergemeine. Ebenso wie sich die Herrnhuter in der Heimat überkonfessionell verstanden, arbeiteten sie gewöhnlich auch im Ausland mit anderen protestantischen Kirchen zusammen. Darüber hinaus bemühte man sich, weitgehend unabhängig von den großen Kolonialmächten zu agieren. Oft widersprachen sich die Interessen der Mission und der Politik deutlich. Viele europäische Staaten suchten vor allem nach wirtschaftlichen und politischen Vorteilen. Zinzendorf betrachtete die Menschen fremder Länder aber nicht als minderwertig, sondern als gleichgestellte. Gott sucht und findet seine Kinder in allen Kulturen, war er überzeugt. Menschen müssten nicht zuerst Europäer werden und deren Sitten übernehmen, um Christen zu werden.
Das echte Interesse der Herrnhuter Missionare an den Menschen, unter denen sie wohnten, führte zur eingehenden Erforschung ihrer Kultur. Der Grundbestand moderner, europäischer Ethnologie geht zu einem großen Teil auf diese Bemühungen zurück. Zinzendorf selbst reiste um die Welt, um seine Missionare geistlich zu ermutigen und ihnen ganz praktisch zu helfen. Durch sein unorthodoxes Auftreten sorgte er dabei immer wieder für großes Aufsehen. So begrüßte er als Reichsgraf eine Christ gewordene schwarze Sklavin mit einem Handkuss. Er lebte mit Indianern zusammen und war tief beeindruckt von der vermeintlichen Ursprünglichkeit ihres Lebens.
August Gottlieb Spangenberg (1704-1792) erwarb 1753 im Namen der Brüdergemeine ein rund 400 qm großes Gebiet um Muddy Creek (US-Bundesstaat North Carolina). Die ersten Herrnhuter Siedler lebten von der Landwirtschaft und widmeten sich insbesondere dem Anbau von Heilpflanzen. Ihre Siedlung nannten sie Salem. Hier sollten alle Menschen in gegenseitiger Brüderlichkeit und Freiheit zusammenleben können. Auch zu den Einheimischen Indianern hatte man ein gutes Verhältnis. Bis 1856 war Salem ein völlig nach den Regeln der Herrnhuter organisiertes Gemeinwesen. Das ganze Land gehörte der Gemeinde und wurde an die Landwirte lediglich verpachtet. Juristische und politische Angelegenheiten wurden intern geregelt. Weil man nach der Forderung Jesu auf Gewalt verzichten wollte, hatte man keine eigene Polizei oder Soldaten. Sklaverei wurde nicht grundsätzlich abgelehnt. Mit Bezugnahme auf die Bibel wurde allerdings gefordert, Sklaven gut und brüderlich zu behandeln. Auch konnten Sklaven gleichberechtigte Gemeinde Glieder werden. Aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs gezogen im Laufe der Jahre immer mehr anders motivierte Siedler in die Region, deshalb der Einfluss der Herrnhuter nach und nach zurückging. Heute ist zahlen nur noch ein gerne von Touristen besuchtes Museumsdorf.
1736 aus Sachsen ausgewiesen pachtete Zinzendorf das leerstehende Schloss Marienborn und erwarb vom Bündinger Grafen ein Gelände am „Haag“, wo die christliche Kolonie Herrenhaag (bei Frankfurt) entstand, die bis 1750 auf mehr als 1.000 Einwohner anwuchs. Seinen in Sachsen liegenden Grundbesitz hatte Zinzendorf juristisch seiner Frau überschrieben, damit dieser nicht konfisziert werden konnte. Um den massiven Vorwürfen gegen seine Rechtgläubigkeit zu begegnen, legte Zinzendorf in Württemberg ein theologisches Examen ab und wurde dort zum geistlichen Dienst zugelassen. Seine Antrittspredigt in der Tübinger Stiftskirche hielt er standesgemäß in höfischer Kleidung, mit seinen Orden, während ein Diener seine Bibel auf einem Sandkissen trug. In Marienborn ließ Zinzendorf sich 1737 zum Bischof der Brüder-Unität ordinieren. In Herrnhaag entwickelten sich aus barocker Überschwänglichkeit sektiererische Tendenzen. Nach seiner Rückkehr aus Amerika entließ Zinzendorf ältere, erfahrene Mitarbeiter aus ihren Leitungsämtern und ersetzte sie durch Jugendliche. Im bewussten Gegensatz zur vernunftbetonten Aufklärung und zum strengen Halleschen Pietismus versuchte Zinzendorf jetzt die unmittelbare kindliche Erlösungsfreude in den Mittelpunkt zu stellen, angeregt durch die scheinbare Ursprünglichkeit und Intuition der Naturvölker andere Länder. Als „Närrchen“ (Matth.11:25) sollten die Brüder heiter-spielerisch aus Erlösungsfreude heraus leben. Die gottesdienstlichen Versammlungen wurden mit Musik, festlichen Illuminationen, dem Aufstellen von Andachtsbildern immer stärker ausgestaltet und die Emotionen aufs Höchste erregt. Das ganze Leben wurde zum Fest, zur Vorwegnahme himmlischer Seligkeit. Die Intensität der Gefühlserlebnisse drückte sich in der Sprache der Blut- und Wundenfrömmigkeit aus. Die drastische sensualistische Ausmalung der Einzelzüge der Passion Jesu (Blut, Wunden, Schweiß, Leichengeruch) sollten die Realität der Erlösung verdeutlichen, dabei aber mehr das Gefühl als den Verstand ansprechen. Neue Wortschöpfungen und Verniedlichungen führten zu einer esoterischen Gruppensprache, die Außenstehenden lächerlich und geschmacklos erscheinen musste (Als Wundenbienlein summte man um den Marterleichnam, ließ sichvom Blutschweiß des Bruder Lämmlein durchdünsten oder im Abendmahl von seiner Umarmung durchwittern, als Kreuzluftvöglein nistete im Seitenhöhlchen Jesu usw.)
Im Lauf der Zeit führte eine sublimierte erotische Spannung zu verstärktem Herzeln und Schätzeln (Umarmen und Küssen), was teilweise in regelrechte Exzesse umschlug. Diese vertretenen Lehren und Handlungsweisen führten zu erneuten heftigen Angriffen gegen Zinzendorf und seine Brüdergemeinen. Allein in den 1740er Jahren erschienen ca. 200 Protestschriften gegen die Gemeinschaft. Erst als Zinzendorf durch einige ältere Mitarbeiter von den Gefahren der Entwicklung überzeugt werden konnte, setzte eine Reform ein. Schließlich fand man zu nüchternen Formen der christlichen Gemeinschaft zurück.
Indirekt förderte Zinzendorf maßgeblich die geistliche Erweckung Englands im 18.Jh. Vor allem geschah das durch seinen prägenden Einfluss auf John Wesley, den späteren Gründer der Methodisten. Während seiner eher erfolglosen Missionsbemühungen in Savannah/Georgia (1735-38) kam Wesley in engeren Kontakt mit den Herrnhutern. Anfänglich imponierten ihm vor allem der Glaubensmut und die Hingabe der aus Deutschland stammenden Christen. Wesley sehnte sich nach der Intensität ihres Glaubens und der Vertrautheit, mit der sie Gott gegenübertraten. Nachdem er nach London zurückgekehrt war, besuchte er regelmäßig die Gottesdienste der dort ansässigen Herrnhuter Brüdergemeine. Nach Wesleys eigener Auskunft erlebte er hier eine tiefgreifende geistliche Erneuerung, seine eigentliche Bekehrung (1738). Insbesondere die intensiven Gespräche mit dem Herrnhuter Prediger Böhler prägten ihn in dieser Phase seines Lebens. Er war begeistert von der Herrnhuter Frömmigkeit und plante ähnliche Gemeinschaften auch in England ins Leben zu rufen.
Schon bald reiste er nach Deutschland, um selbst die Zentren der Brüdergemeinen kennenzulernen. Nachdem er die Herrnhuter Kommunität in Heerendijk/Holland besucht hatte, kam er nach Marienborn, wo er mit Zinzendorf zusammentraf, dessen bescheidene geistliche Art tiefen Eindruck auf Wesley hinterließ. Im Anschluss reiste er auch noch zur Ur-gemeine nach Herrnhut. Trotz aller Begeisterung über die Herrnhuter Frömmigkeit zeigten sich in Gesprächen mit Zinzendorf erste theologische Unterschiede, die schon 1740 zu einer Trennung führten. Im Jahr 1755 verfasste Wesley dann sogar ein Pamphlet, in dem er Zinzendorf und die Herrnhuter scharf kritisierte. Später verbesserte sich das Verhältnis wieder und Wesley pflegte einen regen Austausch mit Herrnhuter Predigern.
Insbesondere an der für Wesley äußerst wichtigen Frage der Heiligung zerbrach die Einigkeit mit Zinzendorf, zumindest vorläufig. Für Zinzendorf war jeder Christ heilig, allein dadurch, weil er mit seiner Wiedergeburt ein für alle Mal von Jesus Christus erneuert und heilig gemacht worden sei. Wesley hingegen war die kontinuierliche Anstrengung des Christen wichtig, die ihn in einem Prozess der Heiligung zu einem sündlosen Leben führen könne. Im konkreten Gemeindealltag lagen diese beiden Konzeptionen nicht so weit auseinander wie in der dogmatischen Gegenüberstellung. Für Zinzendorf sind wahre Christen bis zu ihrem Tod elende Sünder. Für ihn gab es keine innenwohnende Vollkommenheit in diesem Leben. Allein Christus war für ihn unsere Vollkommenheit, d.h. das Vertrauen auf das Blut Christi. Kein geistliches Wachstum könnte ihn irgendwie heiliger machen. Allein durch das Wohnen des HErrn in uns sind wir vom ersten Augenblick an heilig.
Obwohl Zinzendorf die wissenschaftliche Arbeit der Aufklärung durchaus schätzte, war er skeptisch, was ihre Umdeutung des Glaubens betraf. Glaube ist für ihn eine Sache des Herzens und findet seinen Ort vor allem in der inneren Gewissheit und im emotionalen Erfahren. Eine rein rationale Erkenntnis der Existenz Gottes im Sinne der Aufklärung hielt Zinzendorf für gefährlich: „Wer Gott im Kopfe weiß, der wird Atheist!“ Christsein verwirklicht sich vor allem in der persönlichen Beziehung zu Jesus: „Ohne Jesus wäre ich Atheist!“
In Abgrenzung zu seinem Lehrer und Vorbild Francke relativierte Zinzendorf die Bedeutung einer einmaligen Bekehrungserfahrung. Auch kritisierte er den Ernst der Halleschen Frömmigkeit, wo man immer nach Sünden suchte, die noch zu bekennen und auszuräumen wären. Mit Berufung auf Luther war Zinzendorf überzeugt, dass der Christ ein für alle Mal durch Jesus Christus gerettet und von Sünde gereinigt sei. Der Glaube und nicht die eigenen Bemühungen des Christen stehen bei ihm im Mittelpunkt.
Wesleys Ziel, schon auf der Erde durch eigene Bemühungen den Zustand geistlicher Vollkommenheit zu erreichen, stand Zinzendorf skeptisch gegenüber. Auch hier orientierte er sich an Luther, für den der Christ gleichzeitig gerecht und sündig war. Zinzendorf ging es nicht so sehr darum, christliches Leben mit dem Zeitgeist seiner Epoche zu harmonisieren. Wenn er es für richtig hielt, dann war er durchaus bereit, sich offen gegen die Moden und Ideale seiner Zeitgenossen zu stellen. Obwohl es zuweilen ungewöhnlich wirkte, wollte er sich weitgehend am Vorbild der neutestamentlichen Gemeinde orientieren. Weil dort von täglichen Zusammenkünften, sexueller Reinheit, Fußwaschungen, Bruderkuss und gemeinsamen Mahlzeiten gesprochen wird, bemühte sich Zinzendorf, das auch bei den Herrnhutern umzusetzen.
Im Gegensatz zu den radikalen und schwärmerischen Pietisten sprach sich Zinzendorf gegen einen resignierenden Rückzug in eine private Frömmigkeit aus. Er wollte in die Welt hineinwirken und sie durch die Kraft des Glaubens verändern. Auch von Predigern, die vorschnell Gottes Autorität für sich in Anspruch nahmen oder meinten, beliebig Wunder vollbringen zu können, distanzierte sich Zinzendorf. Mit der charismatischen Inspiriertengemeinde um Johann Friedrich Rock (1678-1749) wollte er nichts zu tun haben. Deren enthusiastische Frömmigkeit mit Umfallen, Zittern, Prophetien und Zungenrede hielt er nicht im Einklang mit der Bibel.
Obwohl er selbst mit der baldigen Wiederkunft Christi rechnete, kritisierte Zinzendorf die insbesondere von württembergischen Pietisten (z.B. Bengel) betriebenen Spekulationen und Berechnungen bezüglich der Endzeit. Obwohl Zinzendorf selbst ein sehr eigenständiger und individueller Denker war, betonte er beständig die Notwendigkeit der geistlichen Gemeinschaft. Er setzte sich für ein intensives gemeinsames Leben der Christen ein. Über den Gottesdienst hinaus sollten auch Beruf, Freizeit und Familienleben vom Glauben durchdrungen und mit anderen Christen geteilt werden. Die Gemeinschaft der Christen über die Grenzen der Konfessionen hinaus war ein wichtiges Anliegen Zinzendorfs. Sie war begründet in der gemeinsamen Bindung an Jesus Christus. Dogmatische Unterschiede sollten dahinter zurückstehen. Entsprechend Zinzendorfs Tropenlehre sei jede Konfession nur eine der unterschiedlichen Erziehungsweisen Gottes. Alle großen Konfessionen besäßen demnach ein besonderes Charisma, einen von Gott gegebenen geistlichen Schatz, aber auch eine besondere Gefährdung.
In seinen letzten Jahren zog sich Zinzendorf allmählich aus der Leitung der Gemeinen zurück und übergab August Gottlieb Spangenberg (1704-1792) immer mehr Verantwortung. Zinzendorfs häufige Abwesenheit schadete seiner Ehe und entfremdete die Partner voneinander. Abgesehen von seinen ausgedehnten Besuchen der Missionsfelder lebte er nach seiner Ausweisung jahrelang in Marienborn, später in London, während seine Frau. Nachdem die Gräfin 1756 starb, heiratete Zinzendorf seine deutlich jüngere, langjährige Mitarbeiterin Anna Nitschmann, mit der er schon zu Lebzeiten seiner Frau eine Beziehung eingegangen war. Beide starben 1760 im Abstand von nur zwölf Tagen. Zinzendorfs eher bescheidenes Grab kann bis heute auf dem Gottesacker von Herrnhut besucht werden.
Neben den wichtigen Anstößen zur Weltmission, den neu entstandenen Brüdergemeinen und der publizistischen Wirksamkeit prägte Zinzendorf sowohl John Wesley und den frühen Methodismus als auch die Erweckung des 19. Jahrhunderts, die in vielen Bereichen an ihn anknüpfte. Darüber hinaus wurden prägende Theologen, Dichter und Denker von Zinzendorfs Leben und Theologie beeinflusst, dazu gehören Lessing, Herder, Schleiermacher, Novalis und Barth. Die Brüder-Unität hat heute 1,2 Millionen Mitglieder in 30 Ländern. In Herrnhut zählt die Gemeine 570 Angehörige, in ganz Europa 18.000. Die meisten Herrnhuter Brüder leben heute in Tansania (ca. 600.000). Die Losungen als das meist verbreitete Andachtsbuch der Welt erscheinen jährlich in über 50 Sprachen und einer Gesamtauflage von 1,8 Millionen Exemplaren.
Lebenszeugnisse von Knechten Jesu Christi Teil 41:
John Wesley (1703-1791)
John Wesley wurde am 17. Juni 1703 in Epworth in Lincolnshire geboren, als fünfzehntes von neunzehn Kindern. Sein oft pedantischer und streitlustiger, hochkirchlich und konservativ eingestellter Vater, Samuel Wesley, kam aus einer anglikanischen Pfarrerdynastie. Er forderte Sittenstrenge und feste Glaubensüberzeugungen, selbst von den Hauptspendern seiner Gemeinde. Das trug ihm immer wieder Ärger ein: Einige gewalttätige Kritiker ließen sich deshalb dazu hinreißen, die Kuh der Familie Wesley zu erstechen, ihren Hund zu verstümmeln, den Garten zu verwüsten und das Haus anzuzünden. Sein Vater und sein Großvater wurden wegen puritanischer Neigungen aus ihren Pfarreien vertrieben. Seine Mutter, Susanna Wesley, war die Tochter des prominenten puritanischen Pfarrers Samuel Annesley und eine für ihre Zeit ungewöhnlich gebildete, dazu sehr fromme Frau. Mit dreizehn Jahren befasste sie sich intensiv mit den kirchlichen und dogmatischen Kontroversen ihrer Zeit, entschloss sich selbständig, der anglikanischen Kirche beizutreten, und setzte bei ihrem Vater durch, dass sie in dieser konfirmiert wurde. Einmal wöchentlich nahm sich Susanna Zeit, mit jedem Kind über persönliche und geistliche Themen zu sprechen.
Mit fünf Jahren wurde John im letzten Moment aus dem brennenden Elternhaus gerettet, ein Erlebnis, das ihm bis ins Alter in lebhafter Erinnerung blieb. Zwei Jahre später entging John nur knapp dem Tod durch die Pocken. Die Mutter vermittelte allen Kindern – nur neun von 19 Kindern überlebten die Kindheit – eine gute Erziehung und Bildung, die jeweils mit fünf Jahren in der Küche begann. Wegen Johns Rettung aus dem Feuer hatte sie ein besonderes Augenmerk auf ihn. 1714, mit 11 Jahren, kam er nach Godalming in die Charterhouse School, die er fünf Jahre besuchte. Als Schwächerer wurde er hier von einigen stärkeren Jungen geärgert und gemobbt. Sein intensives Glaubensleben gab ihm in dieser Situation den nötigen Halt. Während des Studiums legte Wesley neben seinem akademischen Vorankommen großen Wert auf die Pflege seiner persönlichen Frömmigkeit. Starken Eindruck auf ihn machten die Lektüre von Thomas von Kempens Nachfolge Christi. In Oxford gründete sein Bruder Charles mit den zwei Mitstudenten Robert Kirkham und William Morgan im Januar 1729 den Holy Club, in dem sie sich zum Bibelstudium und vertieftem geistlichen Leben zusammenfanden. Nachdem John sich ihnen angeschlossen hatte, wurde er sehr schnell der Leiter und Organisator der Gruppe. Jeden Abend saßen die rund 20 Clubmitglieder von sechs bis neun Uhr zusammen, lasen in der Bibel, beteten dreimal täglich und fasteten zweimal wöchentlich. Außerdem traf man sich zweimal in der Woche, um Strafgefangene und Kranke zu besuchen und spendeten alles Geld, das sie nicht unbedingt zum Lebensunterhalt brauchten. Die Gruppe wurde wegen ihres methodisch geführten Gemeinschaftslebens spöttisch „Methodisten“ genannt. 1728 erhielt John die Ordination zum anglikanischen Priester und wirkte als Dozent am Lincoln College der Universität Oxford. Im April 1735 starb John Wesleys Vater. Im gleichen Jahr bekehrte sich auch George Whitefield und trat der Methodistengruppe um Wesley bei.
Danach ging er mit seinem Bruder Charles für zwei Jahre mit der Society for the Propagation of the Gospel als Missionar nach Georgia auf Anraten von John Burton und auf Einladung des Generals und Gouverneurs James Oglethorpe, um die Kolonialisten und Indianer mit dem Evangelium zu erreichen. Auf der Überfahrt nach Amerika schloss er sich einer Gruppe der Herrnhuter Brüdergemeine um Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf an. Einer davon, David Nitschmann, erteilte ihm Deutschunterricht auf dem Schiff. Er war tief beeindruckt, als diese, Männer, Frauen und Kinder, während eines fürchterlichen Seesturms ruhig ihre Psalmen sangen, während die Engländer auf dem Schiff in Panik gerieten. Ein Lied der Brüdergemeine, das von Wesley ins Englische übersetzt wurde, ist „Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält“ von einem engen Mitarbeiter Zinzendorfs.
Im Februar 1736 kamen die Wesleys in St. Simons Island an. Sie waren in ihrem missionarischen und pastoralen Dienst in Fort Frederica und Savannah streng gegen sich selbst und andere, was sie äußerst unbeliebt machte. Es führte im August 1737 zu einem Haftbefehl gegen sie, so dass sie im Dez. 1737 flüchten mussten. Zudem hatte John eine kurze, unglückliche Beziehungsepisode mit Sophia Hopkey, der Tochter des Stadtpräsidenten von Savannah.
Zurück in England waren sie niedergeschlagen und entmutigt. Zuerst hatte Charles und wenige Tage später auch John ein Bekehrungserlebnis, das sie von einem unbefriedigten kirchlich-dogmatischen Christentum zu einer vollständigen Heilsgewissheit durch die Annahme der Gnade Gottes und Rechtfertigung aus Glauben kommen ließ. John konnte den Zeitpunkt bis auf die Viertelstunde genau angeben, als ihm am 24. Mai 1738 unter dem Eindruck der Vorrede Martin Luthers zum Römerbrief in der Londoner Herrnhuter Brüdergemeine an der Aldersgate Street die Erkenntnis traf, dass Gott durch das Vertrauen auf Jesus Christus eine Veränderung des Herzens bewirkt und dass nicht das gute Leben jemanden zum Christen macht. Beide waren der Überzeugung, dass nun der Heilige Geist von ihrer Seele Besitz ergriffen hätte und sie nun fröhliche Nachfolger Christi sein können. John pflegte weiter enge Beziehungen mit den Herrnhutern, insbesondere mit David Nitschmann und August Gottlieb Spangenberg, und wurde von ihrer engen Beziehung zu Gott und Gemeinschaft in Kleingruppen stark beeinflusst. Im August 1738 reiste er nach Frankfurt am Main, Marienborn und Herrnhut, um die Brüdergemeine besser kennenzulernen. Einerseits gewann er tiefe Einsichten, andererseits stießen ihn gewisse Eigentümlichkeiten ab. 1740 war er soweit glaubensmäßig gewachsen und gereift, dass er sich mit Zinzendorf bezüglich unterschiedlicher Meinungen zum Umgang mit Glaubenskrisen, Gnadenmittel, Abendmahl und Heiligung anlegte, entzweite und einen eigenständigen Glaubensweg gehen konnte.
Nach dem Besuch in Herrnhut und durch die Ermutigung seines Mitstreiters George Whitefield entwickelte er eine intensive evangelistische Tätigkeit, beginnend als Freiluft-Prediger in Kingswood und Bristol, wo er den Bergarbeitern vor ihren Kohleminen predigte. Aus seinen peinlich genau geführten Tagebüchern ist ersichtlich, dass er unermüdlich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf ritt und täglich vier bis fünf Predigten hielt. Dies blieb so bis zu seinem Tod – er soll insgesamt 40.000 Predigten gehalten haben, oft vor Tausenden von Zuhörern. Der Inhalt war: Umkehr, Sündenvergebung, Heilsgewissheit, Wiedergeburt, dies alles unter Betonung von Christi Heilstat am Kreuz. Wesleys tiefes Vertrauen auf Gott äußerte sich nun immer stärker in alltäglichen Gebetserhörungen. In Halifax traf er z.B. auf den schwer kranken Prediger Floyd. Seine Angehörigen rechneten schon mit dessen Tod. Wesley betete mit den anwesenden Christen und nur wenige Stunden später konnte der Kranke wieder aufstehen und war gesund.
Seine Predigten lösten nicht durchwegs Zustimmung aus, sondern auch Widerstand und Einschränkungen. 1745 wurde gegen ihn ein Haftbefehl ausgestellt, weil er sein Versprechen gebrochen hatte, einen Monat lang nicht mehr in Cornwall zu predigen. Er wurde auch wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt, weil seine religiösen Ideen politische Auswirkungen andeuteten. 1749 wurde er von einem wütenden Mob in die Straßen von Bolton verfolgt, im nahen Saal hielt er dann eine eindringliche Rede, die sie ruhig werden und umstimmen ließ. Unter den Zeitgenossen berühmt waren vor allem seine Predigten im Gwennap Pit unweit des Städtchens Gwennap in Cornwall, einem natürlichen Amphitheater, wo er am 06.09.1762 erstmals predigte. Dorthin kehrte er bis 1789 17 Mal zurück. Im Gwennap Pit erlebte er 1773 die größte Zuhörerschar seines Lebens: 32.000 Bergleute und Bauern.
Über 50 Jahre hinweg bestand Wesleys Haupttätigkeit in seinen Predigtreisen, die ihn quer durch England führten. Dabei besuchte er immer wieder auch dieselben Orte, um die dortigen Christen zu ermutigen. Jede Woche legte er auf seinem Pferd und später in einem Wagen rund 160 Kilometer zurück und hielt 15 Predigten (ca. 2/Tag).Da ihm die meisten anglikanischen Pfarrer ihre Kirchen verschlossen, sprach er vorwiegend im Freien oder in Privathäusern. Er fasste die Menschen, die nach seinen Predigten ihr Leben ändern wollten, in kleinen Gruppen, den sogenannten Klassen (englisch: class meetings), zusammen, die sich durch Bibelstudium, Gebet, Einzelseelsorge und gegenseitige Rechenschaftspflicht im Glauben, in der Nachfolge Christi und in der Heiligung unterstützten. Er ernannte Laienprediger und organisierte jährliche Konferenzen, um sich über die methodistische Glaubenslehre in Theorie und Praxis auszutauschen. Um die neue methodistische Bewegung weiter auf ein Ziel hin und in geordnete Bahnen lenken zu können, verfasste er 1743 The Nature, Design, and General Rules of Our United Societies. Diese konkreten Wegleitungen und Regeln waren ein Meilenstein zur Gründung einer eigenen Kirche.
Dabei predigte er einfach und verständlich. Es ging nicht um theologische oder philosophische Thesen, sondern um praktische und grundlegende Themen. In der Folge wurden Diebe ehrlich, Trunkenbolde zu Abstinenzlern und Schläger friedlich. Gerade die Veränderung von Menschen überzeugte auch viele Kritiker. Seine Zuhörer waren vor allem einfache Leute, Arbeiter aus dem Bergbau, der Industrie und der Landwirtschaft, um die sich sonst niemand kümmerte. Eigentlich bevorzugte Wesley die Kirchen und den geregelten Ablauf des anglikanischen Gottesdienstes. Am Sonntagmorgen sang er am Stadtrand mit seinem Begleiter John Taylor laut einen Psalm vor Betrunkenen und Rowdys. Zuerst kamen nur einige Neugierige. Schließlich hörten rund 1500 Menschen Wesleys Predigt zu. In seinem Heimatort Epworth untersagte ihm der Pfarrer, die Kirche zu betreten. Daraufhin predigte Wesley eine Woche lang auf dem Friedhof, vor dem Grab seines Vaters, zu mehreren Hundert Zuhörern. Auf seinen Reisen und bei den Predigten ließ sich Wesley auch nicht von schlechtem Wetter abhalten. Ganz gleich, ob es schneite oder regnete, hielt er die angekündigten Veranstaltungen. Immer hatte Wesley christliche Kleinschriften, Liedtexte und Bücher bei sich, die er in großer Zahl verteilte. Wo er auf soziale Notlagen traf, versuchte er zu helfen. Als er von zusammengepferchten und hungernden französischen Gefangenen in der Nähe von Bristol hörte, sammelte Wesley Geld und kaufte Stoff und Nahrungsmittel, um die Betreffenden einzukleiden und satt zu machen. Viele der durch Wesley geschulten Prediger übersiedelten früher oder später in die amerikanischen Kolonien, kehrten jedoch nach der Unabhängigkeitserklärung 1776 größtenteils nach England zurück. Weil der anglikanische Bischof von London einige dieser Prediger nicht ordinieren wollte, setzte Wesley 1784 die verbliebenen Prediger offiziell ein und machte die Gemeinschaften unabhängig von jeglicher Kontrolle durch die anglikanische Kirche, der Church of England, was letztlich zur Gründung der methodistischen Kirche führte.
Von Anfang an hatte Wesley einen ausgeprägten Sinn, um für Gerechtigkeit einzustehen, Armut zu bekämpfen und sozial-diakonische Tätigkeiten auszuüben. Bereits 1761 gewährte er Sarah Crosby als erster Frau eine Genehmigung fürs Predigen. Er kämpfte für Reformen im Gefängniswesen und für die Abschaffung der Sklaverei. 1774 verfasste er Gedanken über die Sklaverei, dass Freiheit ein Naturgesetz sei. Er richtete Volksbibliotheken ein und sammelte Geld zum Aufbau von vorbildlichen Schulen. Er richtete Darlehenskassen zur Selbsthilfe ein. Ferner kümmerte er sich um die Volksgesundheit, indem er eine Poliklinik und Armenapotheken gründete, Bücher über Volksmedizin verfasste und – angeregt durch Benjamin Franklins „electric treatment machine“ – die Elektrotherapie mittels „electric shock machines“ zur Heilung diverser Krankheiten, vor allem zur Behandlung nervöser Störungen, einführte. Er hielt Elektrizität für die „Seele des Universums“, für eine Art Feuer, das das Blut im menschlichen Körper in Wallung bringt – interessant insofern, als ja auch die direkte Einwirkung des Heiligen Geistes auf die menschliche Seele ein zentraler Aspekt seiner Lehre war.
Seine Sozialwerke finanzierte er aus dem Erlös seiner Schriften, während er selbst sehr sparsam lebte. Noch kurz vor seinem Tod, am 24. Februar 1791, schrieb er einen Brief an den Sklavenbefreier William Wilberforce, worin er die Rechtlosigkeit der Sklaven als Schurkerei bezeichnete und ihn zum weiteren Kampf gegen die Sklaverei ermutigte. Er starb am 2. März 1791 in London und wurde im City Road Chapel Cemetery beerdigt. Zur Zeit seines Todes gab es 294 Methodistenprediger und 71.668 Mitglieder in Großbritannien, 19 Missionare und 5300 Mitglieder bei Missionsstationen und 198 Prediger und 43265 Mitglieder in Nordamerika.

