„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Such, wer da will, ein ander Ziel“  Teil 2

Juli bis Dezember 2015

Ein verlorener Sohn

An einem Samstagvormittag Ende Juni klingelte es bei uns an der Haustür. Als ich die Tür öffnete, stand vor mir ein peruanisch aussehender, schlanker junger Mann zusammen mit einer älteren Frau. Bevor sie sich vorstellten, wusste ich sofort, wer der Junge war und musste übers ganze Gesicht grinsen. Es war der Sohn von unserem früheren Au-pair-Mädchen Rossana Maldonado, die 1997 auf einmal ein Baby zur Welt brachte, dem wir den Namen Mose gaben (span. Moisés). Da Rossana ihren Sohn nicht mitnehmen wollte, gaben wir ihn zur Adoption frei. Nun waren 18 Jahre vergangen, und aus dem Baby von damals ist ein junger Mann geworden. „Du bist Moisés, nicht wahr?“ – „Ja, genau.“ – „Und Sie sind dann wohl seine Adoptivmutter, richtig? Dann kommt nur herein!“ Während ich die ganze Zeit grinsen musste, schauten mich beide so ernst an, als hätten sie mir eine schlimme Nachricht zu überbringen. Ich versuchte, die Stimmung aufzuhellen: „Du siehst ja wirklich genauso aus wie Deine Mutter!“ Zögerlich bekannte Moisés den Grund seines Besuchs: „Ich möchte gerne wissen, wer meine Mutter war und warum sie mich nicht wollte.“

Jetzt verstand ich, warum er so angespannt und bedrückt wirkte. Behutsam erklärte ich ihm in allen Einzelheiten die Umstände seiner Geburt und welche Überlegungen damals Ausschlag gaben für Rossana, ihn lieber zur Adoption zu geben. „Deine Mutter wollte nur das Beste für dich, aber sie fürchtete, dass sie dir dies nicht geben könnte; denn du würdest mit ihr in sehr ärmlichen Verhältnissen ohne Vater aufwachsen und dann – wie so viele andere – wohl auf die schiefe Bahn geraten. Denn sie selbst fühlte sich damals völlig überfordert mit der Situation, zumal man uns sagte, dass du wahrscheinlich geistig behindert sein würdest.“ – „Nein, ich bin völlig gesund, außer dem Nystagmus im Auge. Aber ich leide sehr darunter, dass meine leibliche Mutter mich damals nicht wollte.“ Ich bot Moises an, dass er gerne mit seiner Mutter in Peru telefonieren könne und ich würde dann übersetzen. Er wollte unbedingt. Dann rief ich Rossana an und erzählte ihr, dass ihr damaliger Sohn gerade neben mir stehe. Sie war außer sich, brach in Tränen aus und sagte ihm mit schluchzender Stimme, wie sehr es ihr leidtäte, dass sie ihn damals nicht mitgenommen hätte. Sie bat ihn um Vergebung und erklärte ihm noch einmal die Umstände, in der sie sich damals befand. Moises zeigte kaum Affekte, sondern blieb bis zum Ende des Telefonats völlig ungerührt. Nachdem dann auch Ruth ins Wohnzimmer kam und die beiden begrüßte, fragte Moisés, wie er so war als Baby. Ruth berichtete, wie hübsch er aussah und wie unsere kleine Tochter Rebekka immer mit ihm gespielt habe. Er erbat ihre Handynummer, und wir verabschiedeten sie.

Was ich nicht ahnte war, dass Moisés bereits vor seinem Besuch bei uns alle möglichen Recherchen über mich angestellt hatte. Nachdem er mit Rebekka Kontakt aufgenommen hatte, erfuhren wir später von ihr, wie er wirklich über mich dachte. Er glaubte, dass ich ein Psychopath sei, der ihn in den ersten Monaten seines Lebens ständig geschlagen habe, weshalb er heute dieses Augenflackern habe. Dies glaubte er, weil ich Jahre zuvor mal auf der atheistischen Webseite www.religionskritik.net mit anderen über meine Vergangenheit geplaudert hätte und ich damals die Vermutung äußerte, dass ich vielleicht ein Psychopath sei, da ich weder Trauer noch Wut von anderen nachempfinden könne, sondern mitunter völlig gleichgültig sei. Aufgrund seiner Vermutung stellte er nun in den Tagen danach wie ein Privatdetektiv Ermittlungen gegen mich an, indem er z.B. zum Flughafen ging, um meine Aussagen zu überprüfen. Sogar zu der psychisch labilen Nachbarin Elena Pleus, die damals bei uns im Haus wohnte und zeitweise auf Moisés und Rebekka aufgepasst hatte, wurde von ihm befragt und erhielt von ihr zur Antwort: „Ja, manchmal hatte ich dich schreien hören oben in der Wohnung, und ich kann es nicht ausschließen, das Ruth und Simon dich misshandelt haben, um dich zur Ruhe zu bringen…“ Sie hatte also dadurch auch noch Öl ins Feuer gegossen und Moisés in seinen bösen Verdächtigungen noch unterstützt. Später wollte sie sich daran nicht mehr erinnern können. Es brauchte noch viele Monate, bis wir Moisés von unserer Unschuld überzeugen konnten.

„Lass uns doch das Evangelium im IS-Staat predigen!“

Die Ausbildung meines Lehrlings Tim Berndt ging Anfang Juli zu Ende, und da ich mit seiner Leistung sehr zufrieden war, wollte ich ihn nach der Gesellenprüfung übernehmen. Doch dann passierte auf einmal ein Vorfall, der mich zwang, meine Entscheidung noch einmal zu revidieren: Entgegen meiner Anordnung war Tim mit dem Firmenwagen nach der Arbeit nach Haus gefahren. Als ich ihn dafür rügte, reagierte er frech und aggressiv, was meine Frau mitbekam. Als sie dann das Smartphone übernahm und ihn tadelte, baffte er auch sie an. Diese Respektlosigkeit wollte Ruth aber nicht durchgehen lassen, weshalb sie mich bat, ihn nicht zu übernehmen: „Dieser Junge hat keine guten Manieren, weshalb du immer wieder Ärger mit ihm haben wirst.“ Für mich war Tim aber sehr wertvoll, weshalb ich nicht mein Wort brechen wollte. Da ich aber auch die Vorwürfe von Ruth scheute, machte ich ihr einen Vorschlag: „Da ich den Mitarbeitern sehr nahestehe, fällt es mir jedes Mal schwer, eine Kündigung auszusprechen. Was hältst du davon, wenn ich deshalb dich als Personalchefin benenne, so dass nicht mehr mein, sondern dein Urteil letztlich zählt. Ich versorge dich mit den nötigen Informationen, aber du allein triffst die Entscheidungen. Was hältst du davon?“ Ruth war natürlich sehr froh über diese Möglichkeit der Einflussnahme.

So lud ich Tim zu uns auf die Terrasse, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich bei mir zu entschuldigen, was er auch überschwänglich tat. Dann erklärte ich ihm, dass die Entscheidung nicht mehr bei mir liege, ob er bleiben könne oder nicht, sondern bei Ruth. Ich rief sie dann runter, und er bat auch sie unter Tränen um Vergebung. Doch Ruth sagte: „Es tut mir leid, Tim, aber ich kann dich nicht einstellen, denn du hast schon viele Male gezeigt, dass du noch unreif bist und schnell die Kontrolle über dein Temperament verlierst.“ Da fing Tim völlig zu heulen an, was schon etwas skurril war, wenn man bedenkt, dass er ein Hüne ist mit Muskeln, die so übertrieben dick sind, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ruth tröstete ihn und sagte, er würde ja schnell eine Anstellung in einer anderen Firma finden.

Im Juli hatte Rebekka mit Bestehen ihres Abiturs ihre Schulzeit beendet. Zum Abschluss waren wir auf einen großen Ball eingeladen, an dem auch Rebekkas Freund Dennis (19), ein Medizinstudent, teilnahm. Bevor Rebekka jedoch ihr Studium auf Lehramt in den Fächern Deutsch und Spanisch begann, wollte sie noch für ein paar Monate nach Australien und Bali reisen, zusammen mit der Tante von Dennis. Und da ihr Freund in Hannover studierte, hatte auch Rebekka beschlossen, anschließend dort zu studieren, um – wie sie sagte – die Unabhängigkeit zu erlernen. Zum ersten Mal wurde Ruth und mir bewusst, dass unsere Tochter nun erwachsen war und wir sie nicht länger an uns binden konnten.

Im Sommer 2014 hatten Islamisten aus ganz Europa die chaotischen Verhältnisse in Syrien und im Irak genutzt, um einen Islamischen Staat zu gründen. Dabei gingen sie bekanntlich mit äußerster Grausamkeit vor, indem sie Tausende Kriegsgefangene systematisch erschossen und besonders an den Christen schreckliche Gräueltaten verübten. Viral ging jenes Video, wo etwa 15 schwarz gekleidete Islamisten eine Gruppe von 15 orange gekleideten Gefangenen an einem Strand in Libyen entlangführte. Die Gefangenen waren koptische Christen. Dann blieben sie in einer Reihe stehen, wobei die Christen sich jeweils vor einem der Islamisten hinknien sollten. Dann wurde das Urteil über diese Christen verlesen, wobei die Kamera ganz nah an den Gesichtern der Gläubigen vorbeiging, so dass man sah, wie sie z.T. leise beteten. Und dann wurde einem nach dem anderen mit einem Messer der Kopf abgeschnitten. Als ich dies sah, wurde mir so schlecht, dass ich es nicht mehr weitersehen konnte. Aber nun hatte ich eine Vorstellung, was es bedeutet, ein Märtyrer für den HErrn Jesus zu sein. Diese IS-Leute waren im Grunde Diener des Teufels, die die Christen unter Androhung grausamster Gewalt zum Abschwören bewegen wollten. Unter solchen Bedingungen konnte ich gut verstehen, warum so viele Menschen sich nun auf den Weg gemacht haben, um in Europa noch einmal neu anzufangen. Würden wir das denn nicht auch tun?

Meine Frau Ruth litt unterdessen an einem Leid ganz anderer Art: nachdem sie in den letzten 5 Jahren schon bei vielen Rheumatologen, Orthopäden und Schmerztherapeuten war, sowie zwei einwöchige Krankenhausaufenthalte hinter sich hatte, gab es zwar endlich eine Diagnose für ihre starken Schmerzen, unter denen sie schon seit fünf Jahren litt – sie hatte Fibromyalgie, das ist eine nahezu unheilbare Schmerzüberempfindlichkeit der Muskelfasern besonders im Rücken, in den Schultern, aber auch in den Armen und Beinen. In den fünf Jahren war diese Krankheit immer weiter fortgeschritten, sodass schon kleine Anstrengungen bewirkten, dass sie am nächsten Tag besonders litt. Da auch die Schmerzmittel, die sie nahm, nur eine geringe Erleichterung brachten und immer mehr an Wirksamkeit nachließen, konnte Ruth kaum noch in ihrem Tierarztberuf arbeiten und fühlte sich wertlos. Wir hatten zwar immer wieder Gott um Gnade und Heilung angefleht, aber der HErr hatte ihr lediglich etwas Linderung geschenkt, aber keine echte Heilung. Die Ältesten aus zwei Gemeinden hatten auch für sie gebetet und sie mit Öl gesalbt im Namen des HErrn (Jak.5:14), aber es hatte alles nichts geholfen. Deshalb sagte Ruth schließlich zu mir:

Simon, ich kann so nicht mehr leben. Diese ständigen Schmerzen, besonders morgens und abends, halte ich auf Dauer nicht mehr aus. Mir scheint, dass Gott mich verworfen hat und mein Gebet deshalb nicht mehr erhören will. Das macht mich aber erst recht völlig fertig und ich frage mich, warum Er mich dann nicht einfach sterben lässt. Welche Sünde habe ich begangen, die so schlimm ist, dass Er mich so hart bestraft? Und warum zeigt Er mir nicht wenigstens, was ich falsch gemacht habe, damit ich Ihn um Vergebung bitten und es wieder richtig machen kann? Und da Er unsere Fürbitte völlig ignoriert, kommen mir immer öfter auch Zweifel, ob das Beten überhaupt noch etwas bringt.“ Ich tröstete Ruth und erinnerte sie daran, dass uns als Gläubigen viele Trübsale auferlegt sind, die nichts mit Züchtigung zu tun haben müssen, sondern einfach nur der Bewährung im Glauben dienen. Der HErr wolle ja, dass wir Sein Kreuz aufnehmen und bis zum Ende ausharren sollen, um dann vollen Lohn zu bekommen.

Aber Gott hat auch versprochen, dass Er uns nicht mehr auferlegt, als wir zu Tragen imstande sind. Ich breche aber unter dieser Last zusammen und verstehe nicht, warum es so viele Christen gibt, die in Sünde und Ehebruch leben – wie etwa Alexandra und Rita, meine Schwägerinnen – und trotzdem von Gott mit Leid verschont werden.“ Unter Tränen fügte sie hinzu: „Wie kann ich denn weiter auf einen gerechten und liebenden Vater vertrauen, wenn Er mich jeden Tag mit Schmerzen quält?“ Ich umarmte sie und erinnerte sie an Hiob und an all das Gute, was der HErr ihr auch im Leben gewährt hatte. Ruth ließ sich aber kaum trösten: „Mindestens so schlimm wie die Schmerzen ist die Vorstellung, dass Gott mich verworfen haben könnte. Ich kann diese Ungewissheit kaum noch aushalten. Am liebsten würde ich mich umbringen, aber ich habe Angst, dann wirklich für immer in der Hölle zu sein. Aber ich bin nicht so stark, dass ich dieser Versuchung auf Dauer standhalten kann. Und jetzt, wo Rebekka das Haus verlassen hat, werde ich noch nicht einmal mehr als Mutter gebraucht, denn sie wird jetzt nur noch ihre eigenen Interessen verfolgen und uns vergessen. Was soll ich also noch auf der Erde?!“ Noch immer hielt ich Ruth umarmt und sagte: „Ich kann das verstehen, dass du bei Gott in der Herrlichkeit sein willst. Aber wenn du gehst, dann will ich mit dir gehen. Wir können das doch so machen: Wir fliegen nach Syrien oder in den Irak und verbreiten dort Traktate auf Arabisch. Dann werden sie uns töten, aber dann sind wir wenigstens als Märtyrer gestorben für den HErrn.“

Leider glaubte Ruth nicht, dass ich diesen Vorschlag ernstmeinte. Sie konnte nicht ahnen, dass ja auch ich sehr unter ihrer Verzweiflung litt und mich ebenso fragte, warum der HErr ausgerechnet ihr so viel aufbürdete. War es vielleicht doch eine Züchtigung, weil Ruth immer so oft laut wurde, wenn sie wütend war? Oder lag es daran, dass sie sich noch immer weigerte, immer einen Rock zu tragen, anstatt ständig Hosen, obwohl ich ihr schon so oft erklärt hatte, dass Hosen männertypisch sind und deshalb gemäß 5.Mo.22:5 nicht von Frauen getragen werden sollten? Ruth hatte ja immer darauf bestanden, dass es ja schließlich Frauen- und Männerhosen gäbe, und dass diese jeweils unterschiedlich geschnitten seien. Da aber bis 1970 kaum eine Frau Hosen getragen hat, wollte ich dieses Argument nicht gelten lassen, konnte sie aber auch nie überreden, doch dann wenigstens aus Liebe zu mir Röcke zu tragen. „Röcke stehen mir nicht. Außerdem sind sie im Winter ungeeignet, weil sie nicht vor der Kälte schützen.“

Dann lass uns doch mal einen Test machen so wie Daniel und seine Freunde es taten: Trage doch einfach mal zehn Tage lang nur noch einen Rock. Und vielleicht schenkt der HErr es, dass Er dir die Schmerzen dann wegnimmt.“ – „Diese Idee hatte ich auch schon gehabt und es heimlich versucht, aber es hat nichts geholfen. Obwohl ich Röcke und Kleider trug, hatte ich trotzdem Schmerzen. Das kann also nicht der Grund sein.“ – „Und wenn wir dabei zusätzlich fasten?“ – „Ach, Simon, lass es lieber, denn am Ende werden wir nur noch mehr enttäuscht sein, wenn es wieder nicht funktioniert. Ich habe schon alles versucht – bitte hör auf, mich weiter mit Ratschlägen zu quälen! Wenn Gott mich nicht heilen will, kann ich nichts machen, sondern will es aus Seiner Hand annehmen. Vielleicht wird Er eines Tages mein Gebet erhören und mich aus meinem Leid erlösen.“


Besuch in Sachsenheim

Damit Ruth ein wenig Erleichterung habe, luden wir wieder ihre Mutter Lucila aus Peru nach Deutschland ein. Sie war jedoch mit ihren 82 Jahren schon in einem Alter, dass es diesmal die letzte irdische Reise in ihrem Leben sein würde. Zugleich kündigte sich auch Melania Canto an, die Mutter von Jenny und Fanny, denen wir drei Jahre zuvor geholfen hatten, jeweils einen deutschen Ehemann zu finden. Ebenso wollte nun auch Miriam, eine weitere Tochter von Melania, mit nach Deutschland kommen, wohl in der Hoffnung, dass auch sie einen gläubigen Mann kennenlernen würde. Da Melania die Cousine von Ruth ist, war uns ihr Familienglück auch ein persönliches Anliegen. Melanias Ehemann Felix interessierte sich sehr für die Deutsche Geschichte und war deshalb stolz darauf, dass schon zwei seiner Töchter mit Deutschen verheiratet waren (jetzt fehlten nur noch die anderen zwei noch ledigen Töchter). Er hatte mir bei unserer letzten Perureise in 2013 schon angeboten, sein Geschäftspartner zu werden, indem er wieder in den Handel mit der sog. Cochinilla-Laus einsteigen wollte. Eigentlich ist dieses Ungeziefer eine Plage und befällt vorzugsweise Feigen-Kakteen (Opunzien). Aber schon vor 4000 Jahren erkannte man, dass beim Zerdrücken dieser Laus ein dunkelroter Farbton entsteht, den man Karmesin oder Scharlach nennt und mit dem schon im Altertum Textilien gefärbt wurden. Heute ist dieser natürliche Farbstoff immer noch sehr wertvoll für die Lebensmittelindustrie, weil er sich zur Herstellung vieler Produkte eignet vom Lippenstift bis zu den Gummibärchen. Felix Canto (ca. 60) hatte ein großes Stück Land im Gebirge, auf dem er Kakteen anbaute, um dann regelmäßig die Cochinilla-Laus zu ernten. Er versprach mir, dass man damit sehr viel Geld verdienen könne, weil es ein seltenes Produkt sei und die Nachfrage entsprechend groß sei. Ich war jedoch skeptisch und hatte kein Interesse.

Da Ruth ihren Chef in der Tierarztpraxis immer vertreten durfte, wenn er im Urlaub war, und dann den ganzen Tag außer Haus war, nutzte ich die Gelegenheit, um eine Besuchsreise durch Deutschland zu machen. Diesmal wollte ich neben den Brüdern Friedemann und Bernd auch die Brüder in Sachsenheim besuchen und sie fragen, ob wir jetzt, nachdem Bruder Daniel 2009 heimgegangen und ich wieder zurückgekehrt war zum HErrn, nicht Frieden schließen sollten, um wieder miteinander in Gemeinschaft zu sein. Die Sachsenheimer hatten mich ja 1991/92 aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, da ich mit Christen aus anderen Kreisen Kontakt pflegte. Jetzt aber waren 24 Jahre vergangen, und die Söhne der Familie Oertelt, die damals noch klein waren, hatten jetzt das Erbe von Bruder Daniel angetreten. Meine Hoffnung war, dass sie inzwischen erkannt hatten, dass eine Abschottung von allen anderen Christen, die nicht in allen Punkten ihrem eigenen Lehrverständnis entsprechen, falsch und sektiererisch ist.

Zunächst aber fuhr ich zu Bruder Friedemann Bottesch, der inzwischen geheiratet hatte und mit seiner Frau Doris in Weil der Stadt lebte. Er freute sich sehr, dass ich wieder gläubig geworden war und lud mich zu einer Bibelstunde in Möttlingen ein, wo Bruder Thomas Monshausen predigte. Am Samstag fuhr ich mit Friedemann nach Stuttgart, um dort in der Innenstadt zu predigen. Als wir fertig waren und schon gehen wollten, sahen wir einen anderen jungen Mann, der unter einem Baum predigte. Es war Samuel Oertelt (35) aus Sachsenheim! Ich grüßte ihn herzlich und erklärte, dass ich sie am Montag ohnehin besuchen wollte, und er hieß mich willkommen. Als ich am Montag dann losfahren wollte, fragte mich Friedemann, ob er mitkommen könne, und so fuhren wir zusammen dorthin. Als wir ankamen und ich klingelte, fing es gerade an zu regnen. Samuel machte die Tür auf und war überrascht, auch den Friedemann zu sehen. Er sagte: „Simon, Du hattest nicht gesagt, dass Du jemanden mitbringen würdest. Wir haben nur mit dir gerechnet.“ – „Aber das macht doch nichts, wenn Friedemann beim Gespräch dabei ist, oder?“ fragte ich. „Wir wollten aber nur mit dir allein sprechen. Dein Freund kann ja solange in der Küche warten.“ – Ich empfand dies als Kränkung, aber Friedemann sagte sofort: „Das macht mir nichts aus, denn ich hab‘ ja meine Bibel dabei und warte solange.“

Daraufhin führte mich Samuel ins Wohnzimmer, wo ich im Halbdunkel einen alten Mann sah: es war Elieser (86), der jüngere Bruder von Daniel Werner! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass er noch lebte. Voller Freude und Ehrfurcht begrüßte ich ihn und fühlte mich geehrt, dass er extra wegen mir aus Bretzfeld gekommen war. Dann sah ich auch die Brüder Stephanus (36) und Benjamin (38), die alle noch unverheiratet waren und trotz der sommerlichen Wärme alle am Hals auch noch den letzten Knopf ihres langärmligen Hemdes zugeknüpft hatten, wie Daniel es ihnen beigebracht hatte. Wir setzten uns, und ich berichtete ihnen, wie der HErr mich ein Jahr zuvor völlig unerwartet nach 18 Jahren Atheismus wieder zum Glauben geführt hatte. Als ich fertig war, sagte Elieser: „Ich finde nirgends in der Bibel einen Menschen, der erst gläubig war, dann ungläubig wurde und zum Schluss wieder gläubig wird.“ – „Und was ist mit dem verlorenen Sohn in Luk.15?“ fragte ich. „Ja, aber der war vorher auch nicht gläubig!“ entgegnete Elieser. „Doch. Er war Sohn, so wie auch ich vorher Sohn war. Und der Vater sagte, dass es sich gezieme, fröhlich zu sein, denn sein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden. Ihr aber zeigt überhaupt keine Freude über meine Rückkehr.“ – „Wir müssen ja erstmal prüfen, ob du jetzt wirklich wieder gläubig geworden bist. Denn normalerweise kann ein echtes Kind Gottes auch nicht einfach seinen Glauben verlieren.“ – „Vielleicht nicht nach eurem Schriftverständnis; aber ich lese es anders in der Bibel. Der HErr Jesus sagt: ‚Jede Rebe in mir, die nicht Frucht bringt, wird abgeschnitten und ins Feuer geworfen‘ (Joh.15:6). ‚In Christus‘ kann man aber nur sein, wenn jemand wiedergeboren ist gemäß 1.Kor.5:17.“ – „Das ist sehr schade, Simon, dass du dem HErrn jetzt nicht mehr glauben willst, dass niemand Seine Schafe aus Seiner Hand rauben kann (Joh.10:27).“ – „Doch, das glaube ich auch weiterhin! Aber Er sagt damit nur, dass Er gewissenhaft auf uns achthat, nicht aber, dass Er uns gegen unseren Willen gefangen hält.“ Wir sprachen dann noch über eine Stunde über dieses Thema und kamen dann auf die Allversöhnung zu sprechen. Wieder ging es hin und her mit den Argumenten, wobei ich mir immer mehr Sorgen machte um Friedemann, der ja immer noch in der Küche wartete.

Nach etwa drei Stunden kam ich endlich auf mein eigentliches Anliegen: „Wir werden uns in diesen Lehrfragen sicherlich jetzt nicht einig werden, aber sie sind aus meiner Sicht auch eher zweitrangig. Ich bin auch eigentlich vor allem gekommen, weil ich euch die Hand reichen möchte und euch bitten will, mich wieder in eure Gemeinschaft aufzunehmen. Und damit es keine Irritationen gibt, verspreche ich euch, dass ich die Punkte, in denen wir unterschiedliche Erkenntnis haben, einfach in Zukunft verschweige, um niemandem ein Anstoß zu sein, denn so wichtig sind sie mir nicht. Seid ihr einverstanden?“ Nun erhob sich Elieser mit einem Lächeln und sagte: „Simon! Simon! WIE KANNST DU NUR erwarten, dass wir dich jetzt noch aufnehmen! Wie kannst du nur bei all den Unterschieden in der Lehre ernsthaft geglaubt haben, dass wir einfach darüber hinwegsehen könnten! Du musst uns doch kennen, dass das für uns unmöglich ist! Die Schrift ist diesbezüglich doch eindeutig!“ – „Nein, die Schrift sagt: ‚Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat‘ (Röm.15:7). Ich finde keine Stelle in der Bibel, die uns das Recht gibt, uns wegen zweitrangiger Lehrfragen zu trennen, sondern wir sollen zusammenhalten und bei unterschiedlichen Ansichten nicht gegeneinander sondern miteinander um die richtige Erkenntnis ringen. Denn wir können uns alle irren, wie Jakobus sagt, deshalb dürfen wir nicht glauben, das alleinige Wahrheitsmonopol zu besitzen.“ – „Die Schrift sagt aber auch, dass wir niemanden aufnehmen dürfen, der nicht die Lehre des Christus bringt, und deine Allversöhnung hat der HErr nicht gelehrt!“ – „Doch. Der HErr sagt, dass alle Sünden und Lästerungen den Menschen einmal erlassen werden, entweder in diesem oder im nächsten Zeitalter, mit Ausnahme der Geisteslästerung. Und wenn Ihr der Meinung seid, dass 2.Joh. 9-11 auf mich zuträfe, dann sagt ihr damit auch, dass ich angeblich ‚Gott nicht habe‘ und dass ihr mich noch nicht einmal ins Haus aufnehmen dürftet. Das habt ihr aber getan. Von daher seht ihr selbst, dass diese Stelle nicht auf mich zutrifft.“ Und zu Elieser gewandt sagte ich: „Ihr seid verpflichtet, mich aufzunehmen, und wenn ihr es nicht tut, dann ist dies eine Sünde, die der HErr nicht ungestraft lassen wird.“ Elieser lächelte aber nur und sagte nichts.

Als schließlich vier Stunden vergangen waren, brachen wir das Gespräch ab, und ich stellte mit Erschrecken fest, dass Friedemann noch immer in der Küche saß. Der Arme! Ich entschuldigte mich viele Male bei ihm, aber er winkte freundlich ab und sagte, dass es ihm nichts ausgemacht habe. Als wir im Flur dann unsere Jacken anzogen, klingelte mein Handy. Ruth war es. Sie war ganz aufgebracht und schluchzte, weil etwas Schlimmes passiert sei. Ich verabschiedete mich noch schnell von den Brüdern und ging mit Friedemann zum Wagen, um in Ruhe mit Ruth zu reden.

Sie sagte, dass mein 2-Meter-großer Ex-Lehrling Tim vor der Tür gestanden habe, als sie gerade los wollte zur Arbeit. Er wollte seine Arbeitspapiere haben. Ruth suchte sie, aber fand sie nicht auf die Schnelle. Er solle doch wiederkommen, wenn ich wieder da sei, sagte sie. Da wurde Tim laut und schimpfte mit ihr, warum sie ihn überhaupt gekündigt habe. Sie versuchte nun, die Haustür zuzudrücken, doch in diesem Moment drückte Tim so heftig dagegen, dass Ruth nach hinten geschupst wurde. Sie war außer sich vor Angst und Wut und schloss schimpfend die Tür. Nun brüllte Tim weiter, so dass auch die Nachbarn es hörten. Völlig aufgelöst rief Ruth nun mich an, was sie tun solle. „Ruf doch die Polizei“ sagte ich. „Wir wollen ihm zwar nichts Böses, aber er soll lernen, dass sowas nicht geht. Du kannst ja eine Anzeige machen und sie später wieder zurückziehen, dann kriegt er wenigstens einen Schrecken.“ Ruth befolgte meinen Rat.

„Trägst du Röcke?“

Bevor ich Friedemann wieder zurückfuhr, machten wir einen kleinen Abstecher bei einer Schwester namens Elisabeth (82), die ganz in der Nähe wohnte und die ich vor Jahren mal in Sachsenheim kennengelernt hatte. Sie war überschwänglich und herzlich, weshalb sie überrascht war, als sich Friedmann nicht von ihr umarmen lassen wollte. Sie gab uns ein gutes Mittagessen und war sehr interessiert an meinem Werdegang in den letzten Jahren. Eine Woche später sollte ich dann erfahren, dass Bruder Elieser überraschend gestorben war. Nicht nur ich, sondern auch die Oertels fragten sich mit recht, ob diese plötzliche Abberufung etwas mit meiner Ankündigung zu tun haben könnte, dass der HErr diese Abweisung nicht ungestraft lassen würde.

Am nächsten Tag fuhr ich dann weiter nach Ludwigsstadt, wo am Abend wieder Bibelstunde war bei den Schwestern von Bernd. Im Verlauf des Austauschs über die Bibel kamen wir auf die aktuelle Flüchtlingskrise zu sprechen. Sofort erregten sich die Gemüter, und die Schwestern waren einhellig der Meinung, dass Angela Merkel die Flüchtlinge nicht hätte anlocken dürfen durch ihren Apell: ‚Wir schaffen das‘. Doch Bernd und ich sahen das ganz anders. Ich erinnerte sie daran, dass in Zeiten der Armut und des Hungers die Christen schon immer ausgewandert sind in andere Erdteile, und dass doch jeder von uns nach ein wenig Glück strebe, weshalb wir es auch ihnen zugestehen sollten. Bernd gab noch ergänzend zu bedenken, dass uns die Flüchtlinge aus den arabischen Ländern von Gott gesandt wurden, damit wir ihnen das Evangelium verkündigen können. Denn in den arabischen Ländern ist es ja nahezu unmöglich, das Evangelium zu predigen, ohne sofort verhaftet, gefoltert und getötet zu werden. Wie sollten sie denn sonst von Jesus Christus erfahren, wenn nicht durch solch eine Gelegenheit?

Dieses Argument überzeugte mich voll und ganz. Wir haben nicht die irdischen Interessen der Deutschen zu verteidigen, sondern sollten uns allein für das Heil der Mohammedaner engagieren. So nahm ich mir vor, nach meiner Rückkehr mit Ruth die Flüchtlingsheimen aufzusuchen. Überhaupt wollte ich jetzt meine bisher eher philosophisch ausgerichtete Internetseite www.zeitaufzustehen.de von nun an ganz evangelistisch gestalten, um dadurch speziell Atheisten vom Glauben zu überzeugen. Später sprach ich mit Bernd auch über die Möglichkeit, eine Website nur für Gläubige einzurichten, um biblische Lehre zu vermitteln. Damit Ungläubige sie nicht lesen können, wollte ich sie verschlüsseln lassen, aber Bernd hielt nichts von dieser Idee. Alle Menschen sollten prinzipiell die Möglichkeit haben, auch von der Lehre und den Geboten Jesu zu hören, wenn es sie interessiert, denn auch dies sei Teil des Missionsbefehls (Mt.28:19-20).

Am Freitagabend saß ich mit Bruder Bernd allein in seiner Schreibstube und erzählte ihm aus meinem früheren Leben. Als ich an jene Stelle kam, dass Ruth und ich seit wir verheiratet sind, schon mehrere Ehen gestiftet hätten, indem wir ledige peruanische Glaubensschwestern mit ledigen, aber schüchternen deutschen Männern in Kontakt brachten, unterbrach mich Bernd und sagte: „Das ist ja interessant, denn mein Freund und Bruder Henry Tippner sucht auch noch eine Ehefrau. Und gerade morgen will er uns besuchen kommen. Vielleicht kannst du dann mal mit ihm sprechen, ob er auch eine Schwester aus Peru heiraten würde.“ Da fiel mir ein, dass ja die Miriam Canto gerade nach Hannover gekommen war, um ihre Schwestern Fanny und Jenny zu besuchen, die wir bereits vermittelt hatten. Sollte das nicht eine Fügung Gottes sein?

Als Henry am nächsten Tag ankam, erklärte ich ihm die Situation, und er war sofort willig. „Es gibt aber diesmal eine kleine Einschränkung: und zwar musste ich meiner Frau Ruth versprechen, dass ich keine Ehevermittlung mehr betreiben möge, weil wir dann auch die Verantwortung vor Gott trügen, wenn es schief geht. Daher kann ich dir diesmal nicht beim Kennenlernen helfen, sondern gebe dir nur die Handynummer von Miriam, aber alles andere musst du dann allein machen. Zum Glück spricht sie wenigstens ein wenig Englisch.“

Bald darauf rief Henry in Hannover an. Das Gespräch soll wie folgt verlaufen sein:

Henry: „Hallo Miriam, mein Name ist Henry. Sag mal: glaubst du an den HErrn Jesus Christus?

Miriam: „Ja!

Henry: „Trägst du Röcke?

Miriam: „Ja.“

Henry: „Würdest du mich heiraten?

Miriam: „JAAA!!!

Daraufhin kaufte Henry zwei Verlobungsringe, fuhr nach Hannover und verlobte sich mit Miriam, die er in diesem Moment das erste Mal sah. Noch nie zuvor habe ich eine so schnelle Eheanbahnung gesehen. Wir vereinbarten daraufhin, gemeinsam im Januar nach Peru zu reisen, wo die beiden dann heiraten wollten.

Besuche in der Flüchtlingsunterkunft

Als ich wieder zurück in Bremen war, erzählte ich Ruth von der Idee, in den Flüchtlingsheimen zu evangelisieren, und sie war sofort bereit, mich zu begleiten. Da ich jedoch kein Arabisch konnte, rief ich einen ehemaligen Mitarbeiter aus Syrien an, um mich zu übersetzen. Bei dieser Gelegenheit konnte auch er dann gleich das Evangelium hören. Als wir ankamen, erklärten wir einem Aufseher, dass der Mensch ja nicht von Brot allein lebe, sondern auch etwas für seinen Geist und seine Seele brauche, und dass der Glaube Menschen gerade in schweren Zeiten Halt und Trost geben könne. Daraufhin brachte er uns in einen großen Aufenthaltsraum, wo die Flüchtlinge um viele Tische herumsaßen. Wir setzten uns an den Tisch eines etwa 60-jährigen Mannes, dessen Frau von oben bis unten in schwarzen Stoff gehüllt war, wie es in arabischen Ländern üblich ist. Während Ruth nun begann, der Frau mit einem Bleistift die Buchstaben des Alphabets beizubringen, begann ich, dem Mann vom HErrn Jesus zu erzählen und was Er für uns getan hat. Nachdem mein Mitarbeiter es übersetzt hatte, sagte der Mann aufgeregt auf Arabisch: „Bei aller Liebe, aber verschonen Sie mich bitte mit ihrer Religion! Ich habe die Nase so voll von all diesen Religiösen, denn sie sind daran schuld, dass ich mein Land jetzt verlassen musste. Ich hatte eine gut laufende Firma in Syrien mit vielen Angestellten, und jetzt musste ich wegen diesen Idioten alles aufgeben und noch einmal ganz von vorne anfangen. Das ist einfach eine Schande!“ Ich versuchte, ihm den Unterschied zwischen dem Islam und dem Christentum zu erklären, aber er winkte ab und wollte vom Glauben gar nichts mehr wissen. Es hatte keinen Zweck.

Wir hatten aber dann auch erfreulichere Gespräche, wobei wir uns nicht sicher waren, ob die Flüchtlinge wirklich am Glauben oder nur an materieller Hilfe interessiert waren. Einer versuchte sogar mehrfach, mit meiner Frau zu flirten und machte ihr ständig Komplimente. Wir brachten ihnen jede Menge gebrauchte Kleidung und Schuhe, aber vieles war leider zu groß für sie oder es gefiel ihnen nicht. Wir stellten fest, dass diese Syrer nicht unbedingt aus einem armen Land kamen und dass der christliche Glaube in Syrien gar nicht so fremd war. Wenn wir ihnen Traktate auf Arabisch gaben, nahmen sie diese bereitwillig an und sagten: „Ja. Isa!“ und machten ein Kreuzzeichen. Da unser Übersetzer jedoch nur die ersten beiden Male mitkam, war es schwer, uns mit den Leuten zu verständigen.  Es war alles doch gar nicht so einfach, wie wir gedacht hatten.

Inzwischen war auch Melania Canto (62) nach Deutschland gekommen und verbrachte ein paar Tage bei uns in Bremen. Wir erfuhren, dass sie und ihr Mann Felix sich vor Kurzem haben taufen lassen. Trotzdem gab es immer wieder Dinge, die uns irritierten. Z.B. war Melania noch immer sehr abergläubisch und erzählte etwas von Dingen, die man nur bei Vollmond machen dürfe oder nur an einem strömenden Fluss (ich hatte nicht genau zugehört). Ruth schimpfte mit ihr, dass dies nicht biblisch sei, sondern vom Okkultismus herkomme. An einem Tag war Ruth mit Melania auf dem Flohmarkt, wo die Leute zum Schluss ihre nicht verkauften Waren einfach liegen ließen. Melania nahm sich ein paar Kleidungsstücke und brachte sie anschließend mit Ruth zu ihrer Tochter Fanny, um ihr diese zu schenken. Fanny fragte sie: „Hast du diese für mich gekauft?“ Sie sagte: „Ja.“ Später schimpfte Ruth wieder mit Melania und sagte: „Du kannst doch nicht deine eigene Tochter belügen!“ Melania sagte nur: „Ach was! Hätte ich ihr gesagt, dass ich die Kleidung gefunden habe, hätte sie sie nicht angenommen.“ Verglichen mit dem, was wir aber später noch über Melania erfahren sollten, war dies noch absolut harmlos.

An einem anderen Tag lud uns Martin zu einem Rundflug mit einer Cesna ein (Martin war Hobbypilot und musste regelmäßig Flugstunden ableisten, um seine Lizenz nicht zu verlieren). So flogen wir mit Melania zusammen zur Insel Borkum, verbrachten dort etwa eine Stunde mit Spaziergängen und flogen dann wieder zurück. Auf dem Weg erzählte Martin uns immer wieder, wie sehr er darunter leide, dass seine Frau Heidi sich einfach so von ihm getrennt hatte, obwohl er immer gut zu ihr war. Er war froh, dass wir ihm geduldig zuhörten und gaben ihm immer dieselben Ratschläge.

„Sie schulden uns etwa 53.000, – Euro“

Während ich bei Bernd war, hatte ich ihm bekannt, dass ich früher während meiner Zeit als Abgefallener häufig schwarzgearbeitet hatte, nun aber diesen Schaden wiedergutmachen wolle. Bernd hatte mir zu einer Selbstanzeige geraten, weshalb ich meinem Steuerberater davon erzählte. „Sind Sie noch zu retten, Herr Poppe?! Auf gar keinen Fall! Sie haben keine Ahnung, was das bedeutet. Denn Sie müssten in diesem Fall jede einzelne Tat der letzten zehn Jahre genauestens aufklären. Die Fahnder schauen in solchen Fällen nämlich ganz genau hin, weil sie sich sagen: ‚Wo Rauch ist, ist auch Feuer‘. Und wenn Sie auch nur eine einzige Einnahme dabei übersehen, dann sind Sie dran wegen Steuerhinterziehung! Und dann wandern Sie in den Knast! Ist Ihnen das klar? Und Sie haben eine Familie zu versorgen. Machen Sie das bitte auf keinen Fall!“ Verunsichert wand ich ein: „Ich will aber dieses Unrecht irgendwie gutmachen…“ – „Dann spenden Sie doch einfach einen höheren Betrag an eine charitative Einrichtung, um ihr Gewissen zu entlasten“ riet er mir.

Nun war ich natürlich erstmal ratlos und betete, damit der HErr mir zeigen möge, was ich zu tun habe. Und dann kam plötzlich zwei Wochen später die Gebetserhörung, aber auf eine ganz andere Weise, als ich gedacht hätte: Mein Steuerberater rief mich an und sagte: „Herr Poppe, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ich habe Post bekommen vom Finanzamt, und die dortigen Sachbearbeiter wollen Sie gerne in den nächsten Tagen prüfen. Das bedeutet, dass Sie alle Ihre Unterlagen der letzten vier Jahre hier ins Steuerbüro vorbeibringen müssen, und die werden etwa eine Woche lang alle Zahlen mithilfe einer speziellen Software auswerten, um herauszufinden, ob da Ungereimtheiten sind. Ich kann Ihnen sagen, dass die mit Sicherheit fündig werden, denn Ihre Buchhalterin hat sehr häufig fehlerhaft abgebucht, und das wird denen gar nicht gefallen. Sie müssen damit rechnen, dass Ihre gesamte Buchhaltung verworfen wird und Sie dann geschätzt werden. Das kann sehr teuer für Sie werden!“ Während ich ihm zuhörte, war mir sofort klar, dass diese „Prüfung“ von Gott war wegen meiner jahrelangen Schwarzarbeit, aber dass ich jetzt die Chance bekam, reinen Tisch zu machen. Im Grunde war’s also eine gute Nachricht, auch wenn es mir jetzt ans Leder ging.

Eine Woche lang wurden dann sämtliche Ordner und Datenträger meiner Firma aus den letzten vier Jahren von zwei Prüfern des Finanzamts nach Auffälligkeiten untersucht. Am Ende der Woche sollte ich dann zur Besprechung des Ergebnisses bei meinem Steuerberater erscheinen. Wie zu erwarten, erklärten mir die beiden Prüfer, dass sie jede Menge Fehler entdeckt hätten, die den Verdacht der Steuerverkürzung nahelegen würden. So hatte ich z.B. freiwillig über Jahre immer eine Liste all meiner Ausgangsrechnungen abgegeben – wozu ich nicht verpflichtet war – was aber die Arbeit des Steuerberaters erleichterte. Gelegentlich gab es aber Missverständnisse in der Abstimmung mit meiner Bürokraft, so dass manche Rechnungsnummern versehentlich zweimal vergeben, manche Rechnungsnummern aber auch gar keinem Kunden zugewiesen wurden. Diese Nachlässigkeit erweckte nun den Eindruck, als habe ich diese Rechnungsbeträge in bar erhalten bzw. schwarz, weshalb ich zwar den Namen des Kunden gelöscht haben könnte, nicht aber die dazugehörige Rechnungsnummer. Tatsächlich war es nicht so, aber warum sollten mir die Finanzbeamten dies glauben?

Nachdem der Prüfer mir mehrere Beispiele von Fehlern genannt hatte, erklärte er mir, dass diese hinlänglich ausreichten, um die gesamte Buchhaltung zu verwerfen und eine Schätzung vorzunehmen. Da ich damit gerechnet hatte, regte sich bei mir kein Protest, sondern ich fragte höflich, mit welcher Nachzahlung ich zu rechnen habe.  „Maximal schulden Sie uns etwa 53.000,- €. Aber wir sind gerne bereit, Ihnen entgegenzukommen.“ Ich lächelte und sagte ruhig: „Dann muss ich Insolvenz anmelden.“ – „Wie sieht es denn mit 40.000,- € aus?“ fragte er mich. „Das ist auch viel zu hoch.“ – „Und 30.000,- €?“ – „Auch das ändert nichts, denn so viel Geld habe ich nicht.“ – „Dann mal andersherum gefragt: Wie viel könnten Sie denn bezahlen? Denn auch uns ist ja nicht mit Ihrem wirtschaftlichen Ruin gedient, sondern wir streben nur ein Höchstmaß an Steuergerechtigkeit an.“ Ich überlegte und antwortete zögerlich: „Vielleicht 20.000,- € mit Ach und Krach, wenn alles gut läuft…“ – „Gut, ich notiere mir das“ sagte der Beamte, „aber ich kann das selbst nicht entscheiden, sondern muss Ihren Vorschlag meiner Chefin vorlegen, und die wird das dann endgültig festlegen.“ Wir standen auf und verabschiedeten uns.

Zwei Wochen später teilte man mir mit, dass das Finanzamt mindestens 33.500,- € als Kompromiss von mir haben wolle oder aber einmal gründlich nach Indizien für Steuerhinterziehung fahnden würde. Mein Steuerberater riet mir dringend, diesen Vorschlag zu akzeptieren und nötigenfalls einen Kredit aufzunehmen. Ich willigte ein, spielte jedoch mit dem Gedanken, meine Firma danach abzumelden. Denn wenn meine Firma nicht mehr existiere, würde ich nur noch etwa 12.000,- € zahlen müssen, und ich hatte ohnehin keine Lust mehr zu meiner Selbstständigkeit. Dieser Kompromiss musste jedoch noch vertraglich vereinbart werden und so holte mich Herr Zengel ab, um mit ihm zu meinem Termin beim Finanzamt zu fahren. Ich erzählte ihm in meiner Einfalt, dass ich pleitegehen wolle, was ihn völlig irritierte: „Wieso das denn?! Sie haben doch gar keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen, denn substantiell ist ihre Firma doch völlig gesund!“ – „Ja, aber ich bin jetzt schon 17 Jahre selbstständig und es inzwischen einfach überdrüssig. Ich würde gerne mal etwas ganz anderes machen, wie z.B. Berufsschullehrer.“ – „Dann sagen Sie das bitte auf keinen Fall den Sachbearbeitern dort, denn sonst kann es passieren, dass sie diesen Deal platzen lassen!

Überraschenderweise waren in dem Raum etwa 10 Finanzbeamte, die alle ebenso wie ich den Vertrag unterschrieben, als würde es um eine große Sache gehen. Doch während des Treffens schlug mir plötzlich das Gewissen, weil ich ja so tat, als hätte ich vor, die 33.500,- € wirklich zu zahlen, was ja aber ja nicht der Fall war. Als Christ durfte ich aber nicht täuschen, sondern musste ehrlich sein. Vor allem sollte ich doch auf Gott vertrauen, dass Er meine Firma schon aus dieser Krise hinausbringen würde, ohne dass ich mich durch Kündigungen schuldig machen würde an meinen Mitarbeitern, die schließlich alle ihre finanziellen Verpflichtungen hätten. Vor allem aber trug ich ja auch Verantwortung für meine Familie und musste also weitermachen. Aber wie sollte ich das Geld bezahlen?  Ich betete und bat Gott um Hilfe.

Auf einmal kam mir eine Erinnerung: Vor elf Jahren hatte ich u.a. eine Lebensversicherung abgeschlossen, die uns beim Erreichen des Rentenalters ausgezahlt werden sollte. Im Jahr zuvor hatte jedoch die Glaubensschwester Maria im Hauskreis beiläufig berichtet, dass sie ihre private Rentenversicherung aufgelöst hatte, weil ja geschrieben stehe: „Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde“ und außerdem: „Sorget euch nicht um den morgigen Tag“. Dieses Zeugnis nahm ich mir zum Vorbild, um bald darauf ebenso meine Sparverträge und Lebensversicherungen zu kündigen, soweit dies möglich war. Seitdem hatte ich zwar eine Eingangsbestätigung erhalten, aber noch keine Auszahlung des Betrages. Ich dachte, ich sollte da doch mal nachhaken, wann und wieviel ich nun bekommen würde. Doch das war nicht mehr nötig, denn „zufällig“ bekam ich gleich am nächsten Tag ein Schreiben, dass nun meine Lebensversicherung wunschgemäß aufgelöst sei und ich einen Betrag von 40.035,82 € ausgezahlt bekäme in den nächsten Tagen. Dies konnte ich nur als Gebetserhörung ansehen und zugleich als eine Bestätigung vom HErrn, dass mein Entschluss vom Vorjahr richtig gewesen war, denn sonst hätte ich die Steuerschulden nicht bezahlen können.

Zum Ende des Jahres wollte ich mit Ruth nochmal die Geschwister Bernd und Brigitte besuchen, damit auch Ruth diese mal kennenlernt. Zur gleichen Zeit fuhren auch Henry und Miriam zu ihnen, so dass ich mit Henry bei Bernds Schwester Adelheit schlief, während Ruth und Miriam in Bernds Wohnung übernachteten. Miriam war ausgesprochen fröhlich und impulsiv, während Henry von Natur eher ruhig und besonnen war. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Wir übersetzten ihren gemeinsamen Austausch und besprachen unsere geplante Reise nach Peru Anfang Januar, sowie die Hochzeit der beiden dort. Dann fuhren Ruth und ich weiter nach Bautzen, um auch mal Johannes (46), den Sohn von Bernd und Brigitte, sowie seine Frau Diana und ihre fünf Kinder kennenzulernen. Bei ihnen wohnte ein Bruder namens Klaus Rost (45), der schon seit 25 Jahren mit Johannes eng befreundet war. Beide waren selbstständige Baumfäller, und Klaus organisierte zusätzlich noch für Bruder Hans-Udo Hoster Hilfstransporte nach Rumänien.

Zum Schluss fuhren wir dann noch nach Berlin, um Hans-Udo und seine Frau Elsbeth nach Jahren mal wieder zu besuchen und uns mit ihnen wieder zu versöhnen. Es war ja so, dass ich Hans-Udo sehr viel Kummer und Probleme verursacht hatte, als ich 1995 die Kinderheimarbeit in Ecuador einfach aufgab und ein Jahr später dann auch noch meinen Glauben verlor. Die beiden freuten sich jedoch, dass ich nun wieder zurückgekehrt war zum himmlischen Vater und für Gott arbeiten wollte. Als wir schließlich wieder nach Bremen zurückfuhren, erzählte mir Ruth, dass sie eine Nachricht von ihrer Cousine Eva Curo Ccencho (44) bekommen habe. Diese wolle uns nach 23 Jahren, die wir keinen Kontakt mehr miteinander hatten, im Januar mal in Lima besuchen. Ruth sagte: „Eva wurde als Kind einmal von Melanias Ehemann Felix missbraucht. Genaueres weiß ich aber auch nicht.“ Wir ahnten nicht, dass es in Wirklichkeit noch viel schlimmer war…

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