„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 11
April bis August 1986
Erleuchtungen
Über die Ostertage nahmen mich Edgard und Hedi wieder mit nach Weiler, einem kleinen Ort zwischen Pforzheim und Heilbronn, wo Bruder Daniel wieder eine Bibeltagung abhielt. Diesmal war ich in einem großen Zimmer mit Ralf Schiemann und anderen Brüdern, die ich noch nicht kannte. Ralf erzählte mir von seiner Vergangenheit und seinen Ansichten, die mir sehr gut gefielen. Auch ich konnte nicht nachvollziehen, warum Daniel nach sieben Jahren Ehe fordern konnte, dass sich Ralf wieder von seiner Frau Dorothea trennen sollte, zumal sie auch schon zwei gemeinsame Kinder hatten, nämlich Rahel (*1980) und Samuel (*1985). Ralf war zudem der Überzeugung, dass er seine Tochter Rahel nicht einschulen dürfe, da die Kinder heutzutage in den Schulen verdorben werden, nicht nur durch falsche Lehren wie der Evolutionstheorie, der Sexualaufklärung und dem Okkultismus, sondern vor allem durch den Einfluss der Mitschüler. Auch hier war ich völlig einverstanden, zumal ich gerade ganz ähnliche Anfechtungen und Konflikte erlitt. Mir gefiel aber auch die sanftmütige Art von Ralf, die gepaart war mit einer eher rebellischen Natur, die alles hinterfragte und sich nicht einfach anpasste. Typisch war z.B., dass Bruder Daniel eine Kleiderordnung vorschrieb, an die sich Ralf nicht halten wollte, weil sie nicht aus der Bibel kam. Daniel hatte nämlich verlangt, dass er einen Anzug tragen solle. Da Daniel dies zur Bedingung machte, um predigen zu dürfen, trug Ralf nun einen braunen Cord-Anzug, der weniger vornehm, sondern eher wie ein Trachtenanzug aussah, so als wollte Ralf damit sagen: Wenn Ihr mir schon ein solch lächerliches Kostüm aufzwingt, dann bestimme wenigstens ich, wie es aussehen soll. Schließlich musste er ja auch seinem Rebellen-Image gerecht werden.
Ralf hatte zu den Bibeltagen einen russlanddeutschen Freund mitgebracht namens Juri Neu (38) aus Darmstadt, der hervorragend predigen konnte. Denn im Gegensatz zu Daniel predigte Juri nicht über das, was wir als Christen tun sollten, sondern genau das Gegenteil: aus seiner Sicht sei das Hauptproblem der Menschen nicht, dass sie zu wenig für Gott tun, sondern dass sie immer zu viel für Gott tun wollen, anstatt sich einfach im Glauben beschenken zu lassen. Um dies zu veranschaulichen, verwendete er das Beispiel von Jakob, mit dem der HErr alle Mühe hatte, um Ihn zu gebrauchen, weil Jakob immer alles selber machen wollte aus seiner eigenen Klugheit. Am Ende versuchte der HErr seinen Eigensinn sogar dadurch zu bezwingen, dass Er mit ihm rang. Auch Petrus hatte einen starken Eigenwillen, den der HErr erst brechen musste, um ihn segnen zu können. Juri verwendete immer gern das Wort „schaffen“, um diesen frommen Aktivismus zu beschreiben. Sein sanftes Lächeln während jeder seiner Predigten überzeugte uns alle so sehr von seiner Weisheit, dass Edgard sich mit Juri anfreundete und ihn einlud, von nun an öfter auch mal bei uns in Bremen zu predigen. Der Gedanke, dass wir nichts mehr tun müssen, sondern einfach Gottes Güte genießen dürfen, war für uns sehr angenehm und das krasse Gegenteil von den ständigen, vorwurfsvollen Standpauken vom Bruder Daniel, an die wir uns bereits gewöhnt hatten.
Auf dieser Tagung lernte ich jetzt auch den Bruder Wilfried Dörner (45) kennen, einen Krankenpfleger aus Hessen, der zusammen mit Ralf Schiemann und Raimund Schmidt zwei Jahre lang in der gescheiterten Kommune in Bebra gelebt hatte und jetzt zu uns nach Bremen gezogen war. Wilfried war von seiner Art her sehr herrisch und cholerisch. Obwohl er eigentlich „der Neue“ war unter uns, hatte man schon nach kurzer Zeit den Eindruck, als ob er der Boss sei, denn er stellte nach jeder Begrüßung immer so viele Fragen an jeden, als müssten wir ihm gegenüber Rechenschaft ablegen. Kein Wunder, dass er mit der Autorität vom Daniel nicht so klarkam, zumal Daniel auch ihm eine Trennung von seiner Frau Gertrud nahegelegt hatte, da die beiden jeweils zuvor geschieden waren und Daniel die Wiederheirat der beiden für ungültig hielt.
Wilfried erzählte uns eine Anekdote, wie er damals zum ersten Mal mit Gertrud in die Hausgemeinde vom Ralf kam: Als sie mit der Bibelstunde beginnen wollten, gingen alle zum Gebet auf die Kniee. Dabei stellte Wilfried fest, dass die Geschwister alle ihre Schuhe auszogen, und fragte sich, was es damit auf sich hätte. Doch dann kam ihm auf einmal die Erleuchtung. Als die Gebetsgemeinschaft schließlich beendet war, stand Wilfried auf und sagte: „Liebe Brüder, ich hatte mich eben gefragt, warum Ihr alle Eure Schuhe auszieht. Aber dann hat der Heilige Geist mich daran erinnert, dass ja auch Mose und Josua ihre Schuhe auszogen, als sie sich Gott nahten, und sicherlich haben auch alle Gottesfürchtigen von jeher schon immer ihre Schuhe zum Gebet ausgezogen, wie es sich gehört. Nur ich war immer so töricht, dass mir dies nie aufgefallen ist. Aber ich bin so froh, dass Gott mir jetzt durch Euer Vorbild gezeigt hat, was ich von nun an immer machen werde zu Seiner Ehre und Verherrlichung!“ Er strahlte glücklich in die Runde, während Ralf ganz betreten erwiderte: „Na ja, Bruder, wenn Du das so siehst, dann solltest Du das wohl jetzt auch so machen. Aber wir hatten unsere Schuhe eigentlich nur deshalb ausgezogen, weil der Kork von unseren Birkenstock-Sandalen immer so stark abnutzt beim Knien…“
Eine ähnlich komische Situation entstand dann auch während der Bibeltage: Wilfried kam auf unser Zimmer und sagte voller Begeisterung: „Ich habe eine großartige Neuigkeit für Euch! Und zwar habe ich eben gerade erfahren, dass die alte Schwester Alina aus der alten Versammlung in Peterswaldau gekommen ist. Sie ist ja schon über 90 J., aber sie hat noch den weisen Vater von Bruder Daniel persönlich gekannt. Ich werde sie unbedingt mal auf die alten Zeiten ansprechen, um Näheres zu erfahren, wie das damals in dieser Gemeinde in Schlesien war. Heute Abend erzähl ich Euch dann mal, was sie gesagt hat!“ Am Abend kam Wilfried wieder auf unser Zimmer, und wir fragten ihn, was er denn jetzt erfahren habe. Tief in Gedanken versunken berichtete er: „Es war so: Ich traf die alte Alina heute im Treppenhaus und sagte zu ihr: ‚Liebe Schwester, entschuldigen Sie, aber ich habe erfahren, dass Sie damals in der alten Versammlung aus Peterswaldau waren, von der ich schon so wunderbare Dinge gehört habe. Ich kann mir kaum ausmalen, welch ein Vorrecht es für Sie gewesen sein muss, unter so vielen heiligen Brüdern und Schwestern gewesen zu sein! Zu gerne hätte ich auch nur einen Hauch von all der Weisheit vernommen, die es damals gegeben haben muss, wo der Heilige Geist so wirkmächig geweht hat. Ach bitte, liebe Schwester, erzählen Sie mir doch ein wenig von dieser heiligen Versammlung!‘ Darauf sagte die alte Schwester seufzend: ‚Ja ja‘ zu mir und ging einfach weiter. Ich dachte, dass sie vielleicht schwerhörig sei und lief ihr nach, um sie noch einmal das Gleiche zu fragen, aber viel lauter, und schon wieder sagte sie einfach nur seufzend: ‚Ja ja‘ und ging weiter…“ – „Und was wollte Sie damit sagen?“ fragten wir. „Das habe ich mich auch erst gefragt“ sagte Wilfried. „Aber dann kam mir die Erleuchtung: Diese alte Schwester ist schon auf einem so hohen, geistlichen Niveau, dass sie sich gar nicht mehr mit solch neugierigen Brüdern wie mir abgeben will! Sie ist schon so heilig, dass sie gelernt hat, auf solche törichten Fragen gar nicht mehr zu antworten. Aber selbst durch dieses Schweigen habe ich eine große Weisheit gelernt: Wir sollen uns nicht mit dem Wissen über die Heiligkeit anderer schmücken, sondern sie selbst ausleben!“ Ich dachte nur: Na ja, wenn er das so sehen will…
Чернобыль = „Schwarzes Wesen“
Wenn ich an den Wochenenden nach Blumenthal fuhr, machten wir samstagnachmittags häufig einen Ausflug in die Wälder von Meyenburg bei Schwanewede, um dort Pilze zu sammeln. Edgard und Hedi hatten mir schon viel über das Pilzesammeln beigebracht, und es machte mir jedes Mal viel Spaß, auf Beutezug zu gehen. Nach zwei Stunden hatten wir immer so viele Pilze zusammen, dass wir abbrechen mussten, weil Hedi gar nicht noch mehr verarbeiten konnte. Nachdem wir Sonntagmittag mal wieder Pilze gegessen hatten, verabschiedete ich mich von den Geschwistern und trat die einstündige Heimreise an. Da ich in Sebalsbrück jedoch im Bus eingeschlafen war, vergaß ich, rechtzeitig auszusteigen und wachte erst in Osterholz auf. Da sonntags aber nur wenige Busse fahren, kam mir die Idee, die letzten 2 km von Osterholz nach Arbergen einfach querfeldein zu Fuß nach Haus zu gehen. Die Sonne schien, aber das Gras der Wiesen war noch voller Wassertropfen, da es mittags geregnet hatte. Da ich mal von Pfarrer Kneipp gehört hatte, dass es gesund sei, barfuß durchs nasse Gras zu wandern, zog ich meine Schuhe aus und ging knapp eine Stunde lang über die Wiesen und atmete die „strahlend“ helle Luft ein in der Erwartung, meiner Gesundheit etwas Gutes zu tun. Ich hatte keine Ahnung davon, dass zu diesem Zeitpunkt der Boden in Norddeutschland schon mit 1500 Becquerel pro m² die zwei- bis dreifache Menge an Cäsium 137 der üblichen Strahlung hatte, da am Tag zuvor das größte Kernkraftwerk der UdSSR in Tschernobyl explodiert war. Erst zwei Tage später, am Dienstagabend, bekannte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, dass es am Samstag zuvor einen sog. GAU gegeben habe, einen „Größten Anzunehmenden Unfall“ und dabei eine radioaktive Wolke freigesetzt wurde, die sich durch den Ostwind 2000 km über Nordeuropa und später auf der ganzen Nordhalbkugel ausgebreitet habe. Zehntausende Menschen fielen in der Folgezeit der hohen Strahlung zum Opfer. Die Sowjetunion versuchte zunächst, den Schaden zu vertuschen, aber er war schon zu groß geworden.
Als am Mittwochmorgen der Englischunterricht begann, hatte ich noch immer keine Ahnung von dem, was alle anderen in der Klasse schon wussten, da ich kein Fernsehen schaute. Der Lehrer sagte: „Na Ihr. Heute ist ja richtig Katastrophenstimmung… Dabei bin ich seit 10 Jahren auf jeder Atomkraftgegner-Demo gewesen, aber wir wurden ja nie wirklich ernst genommen. Und jetzt haben wir den Salat.“ Ich fragte meine Mitschüler, was los sei, aber keiner gab mir eine brauchbare Antwort. Es hieß immer nur: „Ein Super-GAU in der Ukraine“, aber ich wusste noch gar nicht, was „GAU“ bedeutet. Erst in der Zeitung erfuhr ich dann Näheres. Es wurde davor gewarnt, Pilze zu pflücken oder barfuß im Freien zu gehen. Überhaupt solle man möglichst nicht bei Regen vor die Tür gehen und sich nach einem Aufenthalt im Freien abduschen inkl. Kleidung. Man empfahl Jod-Tabletten, die aber schon kurz danach in den Apotheken ausverkauft waren. Spielplätze wurden geschlossen und auch der Verzicht auf Blattgemüse und Milch wurde empfohlen. Ich rief Edgard und Hedi an, die ja noch von nichts etwas wissen konnten. Hedi war entsetzt, denn Edgard hatte ja jede Menge Gemüse im Garten, das er mühsam angesetzt und großgezogen hatte.
Am darauffolgenden Wochenende kam Bruder Juri Neu mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zu Besuch. Wir fragten ihn, was er als Russlanddeutscher dazu sagen konnte. Für ihn war dies ein Gericht Gottes und ein Zeichen des begonnenen Zerfalls in der Sowjetunion. Er erzählte uns, dass Tschernobyl aus zwei russischen Worten bestünde, und zwar schwarz (cherno) und Sein (byl), also in etwa ein „schwarzes Wesen“. Wir erzählten ihm, dass wir ausgerechnet jetzt gerade sehr viele Pilze gepflückt und viele auch schon gegessen hätten, und fragten ihn, ob wir uns deshalb Sorgen machen müssten. Juri lächelte und sagte: „Nein. Denn es steht ja geschrieben: ‚Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn‘.“ Diese etwas makabre Antwort hatte mir sehr gut gefallen, weshalb ich sie mir gemerkt habe. Dass Juri einen Sinn für Sarkasmus hatte, fiel mir dann auch am Nachmittag auf, als wir einen Ausflug zum nahegelegenen U-Boot-Bunker Valentin machten. Als ich ihm erzählte, dass die deutsche Kriegsmarine dort Tausende von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen bis zur totalen Erschöpfung arbeiten ließ und die Ohnmächtiggeworden dann einfach in den frischen Beton der 7-Meter-dicken Bunkerwände warf, sagte Juri nur lapidar: „Das ist ja eigentlich kontraproduktiv, denn die Leichname verringern doch die Festigkeit der Betonwände…“
Der Rauswurf
Mein Vater hielt erwartungsgemäß nichts von dem Vorschlag meiner Mutter, freiwillig das Haus zu verlassen, um sich eine eigene Wohnung zu suchen. „NIEMALS!“ stellte er klar. „Ich habe schließlich nicht umsonst all die Jahre für dieses Haus gebuckelt, um es jetzt meiner Frau zu überlassen, die einfach nicht mit Geld umgehen kann!“ Meine Mutter forderte deshalb, dass mein Vater ihr wenigstens einen Teil des Hauses abtreten möge, und zwar das Wohnzimmer: „Ich habe kein einziges Zimmer hier im Haus, wo ich mich mal zurückziehen kann und das allein mir gehört!“ sagte sie energisch. „Nein, das Wohnzimmer gehört uns allen!“ erwiderte mein Vater „Da schlafe ich schließlich drin. Das kannst Du nicht haben!“ – Meine Mutter war verzweifelt und sprach mit ihrer Anwältin: „Es tut mir leid, Frau Poppe, aber es ist fast unmöglich, ihren Mann aus dem gemeinsam genutzten Haus herauszuklagen. So etwas ginge höchstens vielleicht im Falle häuslicher Gewalt…“ Ein paar Tage später, als meine Eltern sich mal wieder stritten, versuchte meine Mutter, die Wohnzimmertür abzuschließen, aber mein Vater hinderte sie daran. Dadurch kam es zu einem kleinen Handgemenge, in deren Folge sich meine Mutter etwas an der Hand verletzte. Ohne jemandem etwas davon zu sagen, ging sie schnell zu ihrem Hausarzt und ließ sich die Verletzung attestieren. Kurz darauf verklagte sie meinen Vater wegen häuslicher Gewalt und beantragte Opferschutz durch ihre Anwältin. Kurz darauf verfügte das Familiengericht im Rahmen einer Gewaltschutzanordnung, dass mein Vater das Haus verlassen müsse bis zu einer endgültigen Entscheidung.
Am Tag als meine Mutter dieses Gerichtsschreiben erhielt, kam ich mittags von der Schule nach Hause und ging zunächst auf Toilette. Meine Mutter rief mir durch die Tür zu, dass es jetzt amtlich sei, dass mein Vater das Haus verlassen müsse. Als ich dann aus der Toilette in die Küche kam und meine Mutter fragte, was die denn geschrieben hatten, sah ich sie in Tränen aufgelöst am Küchenfenster sitzen. Mit weinerlicher Stimme sagte sie: „Was bin ich bloß für ein schrecklicher Mensch! Was habe ich da bloß angerichtet! Das ist alles so furchtbar!“ Sie heulte, während ich sie in den Arm nahm. Ich wusste gar nicht, was ich sagen konnte oder wie ich sie trösten könnte. Denn sie hatte den Rauswurf ja selbst bei Gericht beantragt.
Wie zu erwarten, reagierte mein Vater gar nicht erst auf dieses Schreiben, sondern stellte auf stur. Er sagte: „Wenn die mich aus meinem Haus kriegen wollen, dann müssen sie mich schon mit Gewalt aus dem Haus tragen!“ Als die vom Gericht gesetzte Frist Mitte Mai ´86 verstrich, kam ein Schreiben vom Gerichtsvollzieher, dass er meinen Vater am 26.05. nötigenfalls mit Polizeigewalt aus dem Haus abführen würde. Als dann jener Montag kam, stand auf meinem CSV-Abreißkalender der Bibelvers: „Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“. Konnte das wohl Zufall sein? Vor allem war es genau der gleiche Vers, den meine Mutter 21 Jahre zuvor im Losungsbuch am Tag ihrer Hochzeit fand und ihr die Zuversicht gab, dass Gott selbst diese Ehe gestiftet hatte. Daran erinnerte ich meine Mutter und auch an ihr Treuegelöbnis, aber sie erwiderte, dass es ja sicher auch nicht für immer sein würde. Als dann um 10:00 Uhr der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand, fragte er meinen Vater, ob er nun freiwillig mitkommen wolle oder ob er die Polizei benachrichtigen müsse. Aber mein Vater hatte bereits seine Sachen gepackt und zog dann auf eine kleine Hütte Am Hodenberger Deich, mitten auf dem Land im Nordosten von Bremen, wo es weder Strom noch Wasser gab. Er kaufte sich später noch Hühner und verkaufte die Eier, wodurch er einen gewissen Zeitvertreib hatte neben seinem Krankenpflegeberuf. Mein Vater ging auch weiterhin jeden Sonntag mit mir nach Blumenthal, um bei Edgard und Hedi den ganzen Tag zu verbringen. Jedes Mal erklärte Edgard meinem Vater aufs Neue das Evangelium, aber die Botschaft ging bei ihm in ein Ohr rein und ins andere wieder heraus. Vielleicht fühlte sich mein Vater nicht angesprochen, weil er sich schon für einen Christen hielt. Als mein Vater jedoch an einem Tag eine größere Spende geben wollte in Form von Dutzenden 2,-DM-Münzen, weigerte sich Edgard, diese Spende anzunehmen, da diese Münzen aus den Zigarettenautomaten meines Vaters stammten und Edgard sie für „schmutziges Geld“ hielt. Daraufhin fühlte sich mein Vater wohl etwas gekränkt und kam nicht mehr nach Blumenthal.
Arbeit statt Schule
An einem Wochenende unterhielt ich mich mit Bruder Daniel Werner in Edgards Schreibzimmer über biblische Fragen. Auf einmal fragte mich Daniel: „Sag mal, Simon, wie alt bist Du eigentlich?“ Ich sagte: „17“. – „Und was machst Du beruflich?“ – „Ich geh noch zur Schule.“ – „Du gehst immer noch zur Schule?“ – „Ja, in die 11. Klasse des Gymnasiums“. Dann fragte Daniel weiter: „Weißt Du eigentlich, was Joseph tat, als er 17 Jahre alt war?“ – „Keine Ahnung“, sagte ich, „steht das etwa in der Bibel?“ – „Ja, das sagt uns die Bibel. Lass uns das doch mal gemeinsam lesen in 1.Mose 37:2. Willst Du es vorlesen?“ – Ich las: „Dies ist die Geschichte Jakobs: Joseph war siebzehn Jahre alt und weidete die Herde mit seinen Brüdern…“ Daniel unterbrach mich: „Was tat Joseph, als er 17 war?“ – „Er weidete die Herde“ – „Genau.“ – „Und was möchtest Du mir damit sagen? Dass ich jetzt auch eine Schafherde weiden sollte?“ – „Nein, sondern dass Joseph mit 17 Jahren gearbeitet hat und nicht mehr seinen Eltern auf der Tasche lag. Weißt Du, Simon, heutzutage studieren die jungen Leute noch bis zu ihrem 25. oder 30. Lebensjahr, als unsereins damals schon längst gearbeitet und wir unser eigenes Geld verdient hatten. Dieser Wunsch nach einer großen Karriere ist völlig gegen die göttliche Ordnung, denn es steht geschrieben: ‚Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen‘. Es ist nicht recht vor Gott, wenn Du jetzt noch jahrelang Deinen armen Eltern auf der Tasche liegst, anstatt zu arbeiten und dein eigenes Geld zu verdienen.“ – „Und was willst Du mir nun konkret raten?“ fragte ich Daniel „Dass Du diese schulische Laufbahn abbrichst. Denn Du hast doch schon längst die Mittlere Reife und kannst problemlos einen Beruf ergreifen. Die gymnasiale Oberstufe ist ja etwas Freiwilliges und nützt eigentlich nur, wenn man sein Abitur machen will. Aber um Geld zu verdienen, brauchst Du nicht unbedingt ein Abitur. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der HErr Jesus schon bald wiederkommt, da ist es doch reine Zeitverschwendung, wenn Du jetzt die nächsten Jahre noch weiter auf irgendeiner Hochschule die Zeit vertrödelst. Das sind alles verlorene Jahre, die Dir für die Ewigkeit keinen Lohn bringen werden, sondern nur Schaden bringen. Deshalb höre auf meinen Rat!“
Das war für mich eine sehr harte Rede. Denn auch wenn ich nicht unbedingt studieren wollte, fand ich es sehr schade, auf das Abitur zu verzichten, wo ich es doch schon so weit gebracht hatte. Daher fragte ich Daniel: „Was hast Du eigentlich früher beruflich gemacht?“ Mit dieser Frage hatte Daniel wohl nicht gerechnet. „Ich war Verkaufsdirektor beim Deutschen Ring, einer Versicherung. Aber im Nachhinein betrachtet, bereue ich heute, dass ich nicht einen ehrbareren Beruf erwählt hatte. Aber ich kann das heute nicht mehr rückgängig machen, sondern nur noch davor warnen, dass Du nicht den gleichen Fehler machst.“ Ich wusste nicht, was ich Daniel sagen sollte, deshalb wollte ich das Gespräch lieber beenden: „In jedem Fall möchte ich nur das tun, was der HErr will. Aber ich bin mir noch nicht sicher, ob der HErr wirklich will, dass ich das Gymnasium einfach abbrechen soll. Deshalb bitte ich Dich, Daniel, dass Du mir die Gelegenheit gebest, den HErrn selbst zu fragen im Gebet, und wenn Er mir grünes Licht gibt, dass ich das Gymnasium abbrechen soll, dann mach ich das auch jetzt im Sommer, das verspreche ich.“
Und wie ich es versprochen hatte, tat ich es auch, dass ich in meiner Stillen Zeit morgens immer wieder Gott bat, dass Er mir zeigen möge, ob ich weiter zur Schule gehen soll oder nicht. Nach zwei Wochen saß ich frühmorgens im Bus und schlug wie immer mein Andachtsbuch „Licht für den Tag“ auf. Da las ich in der ersten Zeile: „Und nun, seid stark, spricht der HErr … und arbeitet! Denn Ich bin mit euch, spricht der HErr der Heerscharen“ (Hagg.2:4). Ich konnte es nicht fassen. Jetzt hatte ich eine eindeutige Antwort vom HErrn erhalten. Jetzt war die Sache klar! – eine glasklare Antwort vom HErrn auf meine Frage. Ich konnte mir zum ersten Mal völlig sicher sein, dass der HErr mir eine deutliche Weisung erteilt hatte, der ich nun gehorchen musste. Aber zugleich ließ ich mich von nun an auf ein totales Wagnis ein. Denn bisher war mein Lebensweg ja mehr oder weniger schon vorgegeben. Aber von nun an begab ich mich völlig in Gottes Hände, ohne zu wissen, wohin Er mich führen würde. Aber das war gut so. Das musste ich ja auch nicht wissen, Gauptsache Gott weiß den Weg. Ab jetzt musste ich damit leben, dass all meine Verwandten und Freunde nur noch verständnislos den Kopf schütteln werden über meine Entscheidung. Sie werden mir wieder unterstellen, dass ich mich von einem religiösen Fanatiker habe verführen lassen. Und wenn ich scheitern und verarmen würde, werden sie mir vorwerfen, sie hätten mich ja gewarnt, aber ich wollte ja nicht auf sie hören. Aber Edgard hatte immer zu mir gesagt: „Der Weg nach oben geht immer erst nach unten durch die Tiefe.“ Aber konnte es etwas Besseres geben, als auf dem schmalen Pfad dem HErrn zu folgen, der ja selbst auch auf allen Reichtum der Welt verzichtet hatte, weil Er ein weit höheres Ziel anstrebte?
Fortsetzung folgt…