„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 13
September bis Dezember 1986
Mein erster Arbeitstag
Wahrscheinlich waren Edgard und Hedi genauso aufgeregt wie ich, als ich am Montag, den 01.09.86 meinen ersten Arbeitstag antreten durfte bei der Baufirma Kröger in Bremen-Blumenthal. Hedi hatte mir Butterbrote und eine Flasche Milch kaltgestellt, um sie zur Arbeit mitzunehmen. Und Edgard hatte mir morgens noch einmal eingeschärft: „Simon, denk immer dran, dass Du in erster Linie für den HErrn arbeitest und nicht für Menschen! Also sei immer fleißig und gründlich, denn der HErr sieht Dich, auch wenn die anderen Dich nicht sehen. Und sei immer freundlich und höflich zu Deinen Kollegen, aber mach nicht mit, wenn sie Dich zu etwas Verbotenem einladen wollen. Weise immer auf den HErrn Jesus hin und bitte Gott um Weisheit, bei Fragen die richtige Antwort zu geben!“ So machte ich mich morgens um 6:30 Uhr mit dem Fahrrad auf den Weg zu einer Baustelle in der Reepschlägerstraße, zu der man mich zitiert hatte. Als ich ankam, sah ich zunächst niemanden. Doch dann sah ich den Bauwagen, machte die Tür auf und stellte mich den Kollegen als neuer Praktikant vor. Sie nahmen kaum Notiz von mir, sondern saßen rauchend um einen Tisch herum und machten einen muffeligen Eindruck.
Dann stand der Polier Jan als erste auf und alle folgten ihm, um an ihre jeweilige Arbeit zu gehen. Ich fragte Jan: „Und was soll ICH machen?“ Er überlegte und nuschelte dann mit dumpfer Stimme: „Du kannst mal alle kaputten Ziegel auf dem Baugrundstück aufsammeln und die in den Container werfen!“ Sofort machte ich mich ans Werk. Nach etwa zwei Stunden fand ich keinen weiteren Ziegel mehr und ging wieder zu Jan: „Was soll ich jetzt machen?“ – „Du kannst mal in den Bauwagen gehen und ihn aufräumen und saubermachen!“ gab er zu Befehl. Daraufhin betrat ich den ziemlich unaufgeräumten Bauwagen und trug erst mal alles Gerümpel hinaus, fegte ihn aus und wischte den Staub überall mit Schwamm und Wassereimer hinweg. Dann räumte ich alles wieder ein und wurde pünktlich um 12:00 Uhr fertig, als die Bauarbeiter zur Mittagspause hineingingen. „Hey, das sieht ja alles blitzeblank hier aus! So sauber war der Bauwagen ja noch nie! Wer war das denn?“ raunten die Arbeiter. Und sofort hatte ich bei ihnen einen Stein im Brett. Dann setzten sich alle auf ihren Platz in den Bänken und begannen wie immer Skat zu spielen, wobei sie rauchten und Bier tranken. Zum Glück saß ich am Eingang der offenen Tür, so dass ich noch Luft bekam. Ich holte meine Butterbrote und die Milchflasche hervor, aber auch meine Elberfelder Bibel und begann beim Essen, meinen Mittagsbibeltext zu lesen. Auf einmal sagte der alte Erwin neben mir: „Ey, was liest Du denn da?“ – „Die Bibel“ antwortete ich. „WAS, DU LIEST IN DER BIBEL?! Dann bist Du ja ein HEILIGER!“ – „Ja, das ist zutreffend“ stellte ich fest.
Nach dem Mittag kam unser Chef, Herr Kröger, vorbei, den alle nur den „Alten“ nannten. Er hatte auf der Ladefläche seines LKWs mehrere Säcke Zement, die ich runtertragen sollte. Ich nahm mir einen dieser 50 kg-schweren Säcke und wollte gerade runterspringen, als der Chef sagte: „Du spinnst ja wohl! Wenn Du damit runtergesprungen wärest, dann hätte der Sack Dich in den Boden gerammt!“ Er zeigte mir, dass man einen solchen Sack am besten auf der Schulter tragen sollte. Als sie sahen, dass es mir nichts ausmachte, schwere Dinge zu tragen, ließen sie mich von nun an immer den Zement und die großen Kalksandsteine tragen. Ich machte dies immer ohne Murren und Stöhnen, denn ich tat es ja für Gott. Am späten Nachmittag begann ich, das Baugrundstück mit einem Rechen zu harken und dadurch zu ebnen. Die Bauarbeiter sahen es und schüttelten nur den Kopf. „Warum machst Du diesen Scheiß? Das ist doch eine Baustelle und kein Garten!“ brummte mich der Polier an. „Damit es schöner aussieht, wenn die Passanten vorbeigehen“. Sie ließen mich und versammelten sich gegen 15:30 Uhr vor dem Bauwagen, um Bier zu trinken. Ich wunderte mich, dass keiner mehr arbeitete, denn Feierabend war ja eigentlich erst um 16:15 Uhr. Da kam auf einmal der Lehrling Stefan zu mir und sagte: „Simon, Du kannst jetzt auch ruhig schlussmachen und zu uns kommen.“ – „Aber es ist doch noch gar kein Feierabend…“ – „Ja, das stimmt. Aber wir hören immer schon um 15:30 Uhr auf und schnacken noch ´ne Weile bis Feierabend“ – „Aber das kann ich nicht,“ erwiderte ich, „und zwar aus Gewissensgründen. Ich arbeite nämlich in erster Linie hier für Gott, und Der würde mir das nicht erlauben.“ – „Mach, was Du willst!“ sagte Stefan und ging zu den anderen zurück. Nun standen sie alle zusammen und beobachteten mich von Weitem, wie ich das Baugrundstück harkte. Ich hörte, wie sie untereinander lachten, aber verstand nicht, was sie sagten. Würden sie meine Gründe verstehen?
Am nächsten Tag war ich mit dem Lehrling Stefan auf einer anderen Baustelle, wo wir Fliesen abstemmen und den Bauschutt anschließend in Bigbags verladen sollten. Beim Frühstück sagte der Lehrling plötzlich zu mir: „Simon, Du hast eben gerade nicht gebetet vorm Essen!“ Ich war erschrocken und sagte: „Doch, habe ich, aber ganz still für mich.“ – „Nein, hast Du nicht. Denn ich habe Dich genau beobachtet, und Du hast ohne Verzögerung Dein Butterbrot sofort in den Mund gesteckt!“ – „Ich hatte schon vorher gedankt, bevor Du gekommen warst. Das hattest Du deshalb nicht mitbekommen.“ – „Kann sein“ räumt er ein. „Weißt Du, Simon, meine Oma ist nämlich auch gläubig, und deshalb weiß ich, dass Ihr Christen immer vorm Essen betet.“ – „Ja, das stimmt. Wir danken Gott und bringen dadurch zum Ausdruck, dass wir es nicht als selbstverständlich sehen, dass Gott uns jeden Tag mit allem versorgt, was wir brauchen.“ – „Aber woher willst Du wissen, dass Gott überhaupt existiert? Vielleicht führst Du in Wirklichkeit Selbstgespräche.“ – „Dann überleg doch mal, wie wahrscheinlich es ist, dass der Mensch auf der einen Seite zum Leben Essen und Trinken braucht und auf der anderen Seite überall in der Natur Essen und Trinken vorfindet! Wenn alles reiner Zufall wäre, warum ist der Mensch überhaupt auf Nahrung angewiesen? Und warum sollte die Natur dem Menschen zufällig Nahrung zur Verfügung stellen? Für mich steht fest, dass alles nur dann einen Sinn ergibt, wenn es jemanden gibt, der uns versorgt. Aber die meisten Menschen sind undankbar.“
Schon bald wussten alle in der Firma, dass sich ein frommer Christ war und machten sich bei jeder Gelegenheit lustig über meinen Glauben. Wenn z.B. gerade ein Flugzeug über den Himmel flog, sagte der Polier Jan: „Schaut mal, da sitzt bestimmt Petrus drinnen und kontrolliert, ob wir alle artig sind!“ An einem Tag, als alle in einem Raum saßen und sich über meinen Glauben lustig machten, sagte ich: „Wisst ihr eigentlich, dass Ihr eines Tages für jedes unnütze Wort, das Ihr je geredet habt, Rechenschaft ablegen müsst vor Gott?“ Sofort brach ein schallendes Gelächter von allen aus und einer sagte: „Da wird sich aber Dein Gott sehr viel Zeit nehmen müssen bei mir!“ Als das Gelächter schließlich abklang, sagte ein anderer: „Den Simon können wir doch eigentlich gar nicht ernstnehmen. Den haben sie doch in seiner Sekte so vollgelabert, dass er nur alles nachplappert und noch gar nicht in der Lage ist, selbst mal über all diesen Schwachsinn nachzudenken.“ – „Das stimmt ja gar nicht“ unterbrach ich brüskiert; „ich weiß sehr wohl den Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen und habe mich aus freien Stücken für das Gute entschieden!“ – „Ach ja?“ entgegnete einer. „Und warum lachst Du dann über unsere Witze mit? Eigentlich dürftest Du das dann ja gar nicht!“ Da erschrak ich und wurde mir bewusst, wie sehr ich von allen aufs Strengste beobachtet wurde. Sie wusste scheinbar genau Bescheid, was ein Christ darf und was nicht.
Mir war klar, dass ich noch viel mehr darauf achten musste, ein heiliges Leben zu führen, damit ich meinen Glauben auch glaubwürdig vertreten konnte. War es überhaupt richtig vor Gott, dass sie mich regelmäßig vor der Mittagspause losschickten, um für sie Bier und Zigaretten einzukaufen? Schließlich war das Biertrinken während der Arbeitszeit eigentlich verboten. Und war es nicht meine Verpflichtung, meinen Chef darauf hinzuweisen, dass seine Mitarbeiter ihn jeden Tag um 45 Minuten Arbeitszeit betrogen?
An einem Nachmittag, als sie mal wieder um 15:30 Uhr schlussmachten, sagte einer zu mir: „Wir gehen jetzt zusammen in den Keller, aber wenn Du nicht mitkommen willst, dann halte hier oben wenigstens Wache und sag uns sofort Bescheid, falls der Alte kommt! Ist das klar?“ – „Ja gut“ sagte ich. Als sie unten waren und sich unterhielten, räumte ich die Werkzeuge und Geräte in den Schuppen, als plötzlich Herr Kröger auftauchte. Das geschah so unvermittelt, dass ich gar keine Zeit mehr hatte, die anderen zu warnen. „Wo sind denn die anderen?“ fragte mich der Chef. „Unten im Keller“ antwortete ich wahrheitsgemäß. Er ging ins Gebäude und die Treppe hinunter. Auf einmal sah ich durch die Kellerschächte, dass alle wie Ameisen aufgeschreckt herumliefen und ihre Bierflaschen in den Kellerschächten versteckten. Später bafften sie mich an: „Warum hast Du uns nicht Bescheid gesagt?!“ – „Das ging so schnell, dass ich das nicht mehr rechtzeitig geschafft habe, – ehrlich!“ – „Ach was, das hast DU doch bestimmt absichtlich gemacht, um uns in die Pfanne zu hauen! So blöd kann man doch gar nicht sein!“ – „Und selbst wenn es so wäre: Ihr habt doch selber Schuld. Wenn Ihr ehrlich wäret, könntet Ihr doch offen mit dem Chef sprechen, dass Ihr nur noch bis 15:30 Uhr arbeiten wollt. Dann würdet Ihr zwar etwas weniger verdienen, aber würdet den Chef nicht mehr betrügen.“ Darauf sagte einer: „Wer hat Dich eigentlich nach Deiner Meinung gefragt?!“
Deutlich spürte ich, dass sich das Klima inzwischen verschlechtert hatte. Besonders einer der Mitarbeiter namens Holger konnte mich für den Tod nicht ausstehen. Der dicke Holger war kein Maurer, sondern nur ungelernter Hilfsarbeiter, weshalb er immer an der Trommel (Mischmaschine) die „Mischung“ anrührte. Doch seit ich da war, rührte auch ich regelmäßig die Zementmischung an, so dass Holger vielleicht dachte, er könnte eines Tages seinen Job verlieren, da ich für sie kostenlos arbeitete und er dadurch überflüssig wurde. Bei jeder Gelegenheit intrigierte Holger nun gegen mich und lästerte hinter meinem Rücken, wenn ich mal einen Fehler machte. An einem Tag, als mich Holger wieder zum Bierholen schickte, sagte ich, dass ich das nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren könne, da der Chef keinen Alkohol während der Arbeit erlauben würde. „Ok, dann hol mir wenigstens Zigaretten.“ – „Nein, auch Zigaretten kann ich nicht mehr holen, denn Zigaretten sind ungesund.“ – „Meine Gesundheit geht Dich doch einen Scheißdreck an, Du vollgepisste Wolldecke! Dann hol mir wenigstens `ne BILD-Zeitung!“ – „Nein, auch eine BILD-Zeitung kann ich nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, denn da sind überall Nacktfotos drin.“ – Holger schaute mich wutentbrannt an: „So, Freundchen, jetzt ist aber Schluss! Ich sag dem Polier Bescheid, dass wir Dich hier nicht mehr haben wollen!“ Kurz darauf rief man mich, dass ich zum Polier in den Bauwagen kommen sollte. „Sag mal, Simon, willst Du jetzt hier weiter den Moralapostel spielen? Du bist als Lehrling weisungsbefugt, – schon vergessen?! Wenn Du so weitermachst, dann müssen wir das Lehrverhältnis wohl vorzeitig beenden!“ – „Aber ich bin doch gar kein Lehrling, sondern nur Praktikant!“ – „Ach so. Das hat der Alte mir gar nicht gesagt. Trotzdem: Reiß Dich mal ein bisschen zusammen!“
Ein Türke will Christ werden
Einmal in der Woche musste ich zur Berufsschule ins Schulzentrum Alwin-Lonke-Str., wo wir theoretischen Unterricht über den Maurerberuf bekamen. Meine Klasse bestand fast nur aus Sonderschülern und Ausländern, die alle keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten. Der Lehrer, Herr Weingart, erklärte uns die verschiedenen Stein-Formate und was man alles über die Baustoffe wissen sollte. Besonders der Mathe-Unterricht war so simpel, dass es mich langweilte. Aber meine Mitschüler waren schon mit den einfachsten Aufgaben überfordert, weshalb der Lehrer viel Geduld brauchte, um es jedem der etwa 20 Schüler verständlich zu machen. Am Ende des ersten Unterrichttages kam der Lehrer zu mir und fragte mich: „Was willst Du eigentlich hier in dieser Klasse? Entschuldige, wenn ich das so sage, aber Du gehörst hier überhaupt nicht hin. Ich hatte noch nie einen Gymnasiasten in meiner Klasse. Du wirst Dich nur langweilen. Willst Du nicht lieber etwas Vernüftigeres machen?“ Ich erklärte ihm, dass ich gar keine andere Wahl hätte, da ich noch schulpflichtig sei und der Berufsschulunterricht nun einmal Teil des „Fachpraktischen Jahres“ (FPJ) sei.
An einem Tag erklärte uns der Lehrer etwas über die Entstehung von Kalk und kam dabei irgendwie auf Gott zu sprechen. Ein kleiner Türke aus der ersten Reihe, der scheinbar geistig zurückgeblieben war, meldete sich und sagte: „Aber gibt doch Gott, näch?“ Der Lehrer erklärte selbstgefällig: „Nein. Gott ist nur ein Denkmodell, damit man sich den Ursprung der Welt besser vorstellen kann. Aber tatsächlich existiert er natürlich nicht, sondern wurde von den Menschen erfunden.“ Ich meldete mich und sagte: „Finden Sie nicht, dass Sie gerade massiv Ihre Kompetenz überschreiten? Es steht Ihnen doch gar nicht zu, darüber zu entscheiden, ob es einen Gott gibt oder nicht, nur weil Sie selbst vielleicht nicht an Gott glauben. Das müssen Sie schon jedem einzelnen überlassen.“ Daraufhin sagte Herr Weingart lächelnd: „Aha. Ich merke schon, dass ich jetzt aufpassen muss, was ich sage, denn ich werde hier von jemandem kontrolliert.“ Nach dem Unterricht ging ich zu Coşcun (20), dem kleinen Türken, hin und erklärte ihm, dass er sich nicht von diesem Lehrer durcheinanderbringen sollte, denn selbstverständlich gäbe es einen Gott. Coşcun erzählte mir, dass er einen sehr strengreligiösen Vater habe, der ihn wegen jeder Kleinigkeit verprügelte. Er leide sehr darunter, könne sich aber nicht dagegen wehren, weil in seiner Religion die Väter eine absolute Autorität hätten, die man nicht in Frage stellen dürfe. Er habe schon oft gedacht, einfach von zuhause zu fliehen, aber das sei unmöglich. Coşcun hatte einen deutlichen Sprachfehler, der vielleicht von den vielen Schlägen herrührte, aber war einfältig wie ein 10-Jähriger. Ich erklärte ihm, dass der Islam eine sehr böse Religion sei, die den Menschen zur Gewalttat verleite und dass er deshalb lieber an den Gott der Bibel glauben möge, der die Liebe selbst sei. Coşcun hörte mir aufmerksam zu und willigte schließlich ein, mich bei Edgard und Hedi besuchen zu kommen. Als er kurz darauf tatsächlich kam, redete Edgard ganz liebevoll auf ihn ein, so dass er den deutlichen Unterschied merkte zwischen seiner Religion und der unsrigen. Am Ende des Tages schenkten wir ihm eine türkische Bibel (Kitabı Mukaddes), worüber er sich sehr freute. „Ich werde zuhause verstecke, denn wenn meine Vater findet, dann er schlägt mich tot!“
Von nun konnte ich Coşcun jede Woche ein wenig mehr aus der Bibel erklären und er hörte immer willig zu. Schließlich war er bereit, Christ zu werden, hatte jedoch große Angst vor seinem Vater. Ich versichte ihm, dass Gott dafür Verständnis habe und er einfach erstmal weiter heimlich in der Bibel lesen solle, bis Gott einen Ausweg schenke. Unterdessen rief mich auf einmal der Leiter von der Bauhandwerker-Innung, Hermann Loos, an und teilte mir mit, dass sich meine Firma über mich beklagt habe. Er bot mir an, eine andere Firma für mich zu suchen, aber ich bekannte ihm auch, dass der Maurerberuf nicht so das richtige für mich sei, zumal man mich ständig nur als Steine- und Zementschlepper missbrauche und nicht bereit sei, mir auch mal etwas beizubringen. Hermann, der ja auch an Jesus glaubte, erzählte mir dann, dass er mit mir mal durch die verschiedenen Werkstätten in der Berufsschule gehen könne, damit ich mal einen Einblick bekäme, was es alles für Handwerksberufe gäbe und mich vielleicht dann für einen anderen entscheide. So führte er mich dann an einem Berufsschultag durch die Werkstätten, und als wir in die Malerwerkstatt kamen, merkte ich sofort: „Das ist der richtige Beruf für mich! Malen tue ich ja auch gerne in der Freizeit.“ – „Dann such Dir doch mal einen Malerbetrieb, wo Du Dein Praktikum fortsetzen kannst, und ich leite das in die Wege mit dem Arbeitsamt und spreche mit Herrn Kröger. Solange Du aber noch nichts gefunden hast, bleibe erstmal bei der Baufirma.“
Am darauffolgenden Wochenende Ende Oktober schrieb ich mir alle Malerbetriebe in ganz Bremen-Nord aus den Gelben Seiten raus und markierte ihre Adresse auf einem Stadtplan. Mir war klar, dass es keinen Sinn haben würde, mich einfach telefonisch bei diesen zu bewerben, deshalb wollte ich alle Firmen nacheinander mit dem Fahrrad aufsuchen und mich persönlich vorstellen. Es waren insgesamt exakt 49 Betriebe. Wenn ich jeden Tag zehn davon aufsuchen würde, hätte ich nach fünf Tagen alle erreicht. Und so fuhr ich am Samstag los und klapperte zunächst alle Betriebe in Blumenthal und Schwanewede ab, dann in Vegesack und Schönebeck, dann Lesum und Grambke und als Letztes in Gröpelingen. Überall bekam ich nur Absagen, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Die einen sagten, dass sie nur ein Ein-Mann-Betrieb seien und keine Mitarbeiter wollen, die anderen sagten, dass sie jetzt zum Winter keine neuen Mitarbeiter bräuchten und außerdem Ende Oktober unmöglich schon absehen könnten, wie die Auftragslage im nächsten Jahr sein würde, um einen Lehrling einzustellen. Einige wenige waren nett zu mir und zeigten grundsätzlich Interesse. In Gröpelingen ließ mich ein Malermeister in seiner Küche Platz nehmen, um mit mir zu plaudern. Ich erzählte ihm bereitwillig, was ich bisher so alles gemacht hätte und was meine Hobbys sind. Am Ende sagte er: „Du bist ein netter Bursche, aber ich kann Dich leider doch nicht nehmen?“ – „Warum denn nicht?“ fragte ich. „Weil ich meine Leute kenne und Du sie irritieren könntest. Du bist einfach zu schlau und würdest nur Unruhe in meine Firma bringen, weil die anderen nichts mit Dir anfangen könnten. Ich muss aber auf den sozialen Frieden in meiner Firma achten, deshalb geht das nicht.“
Ich war verzweifelt. Wenn sogar meine Klugheit schon als Hinderungsgrund gesehen wurde, um mich einzustellen, wie sollte ich dann überhaupt noch eine Firma finden. Es waren jetzt nur noch vier Firmen auf der Liste übrig, wo ich noch nicht war oder bisher niemanden angetroffen hatte. Ich betete, dass der HErr mir doch eine von diesen letzten geben möge. Ich machte mich also ein letztes Mal auf den Weg. Firma Nr.46 – Absage, Firma Nr. 47 – wieder eine Absage, Firma 48 – schon wieder eine Absage. Und jetzt kam der allerletzte Betrieb, ein Malermeister namens Klaus Hillmer in Bremen-Vegesack, den ich bis dahin noch nicht angetroffen hatte. Er lud mich zu sich ins Wohnzimmer ein und sagte sofort: „Mensch, bei Diener Größe brauchst Du ja gar keine Leiter mehr!“ Dann unterhielten wir uns, und er sagte: „Ich habe nur zwei Gesellen und noch nie einen Lehrling gehabt. Aber irgendwann ist immer das erste Mal. Wenn Du erstmal ein paar Monate Praktikum bei mir machen willst, kann ich ja sehen, wie Du arbeitest. Und wenn Du gut bist, würde ich Dich nächstes Jahr im August als Lehrling nehmen. Aber jetzt vor dem Winter brauchst Du gar nicht bei mir anfangen, sondern erst ab dem 01. März 1987.“ Durch diese Zusage im letzten Moment war ich mir sicher, dass diese die richtige Firma für mich war, die Gott für mich ausgewählt hatte und war gerne bereit, noch die paar Monate bis dahin zu warten.
Meine Ausbildung zum „Schriftgelehrten“
Durch die regelmäßige Bibellese im Haus der Böhnkes hatte ich mir inzwischen schon ein ziemlich gutes Bibelwissen angeeignet, so dass Edgard mir die Erlaubnis gab, mich am sonntäglichen Predigtdienst zu beteiligen. Beim ersten Mal tat ich dies noch mit viel Herzklopfen, aber in den Wochen und Monaten danach bekam ich immer mehr Routine. Offensichtlich liebten die Geschwister der Versammlung meine Predigten, da sie mich mit Lob überschütteten. Dies spornte mich an, mir noch mehr Mühe zu geben und möglichst viele Bibelstellen zu einem Thema vorzutragen. Die Konkordanz war mir dabei eine große Hilfe, so dass ich immer tiefer in Gottes Wort einstieg. Doch während mein Bibelwissen zunahm, hinkte ich mit meinem ganz praktischen Heiligungsleben noch deutlich hinterher. Selbst die einfachsten Regeln des rechten Benehmens und der guten Sitten beherrschte ich noch lange nicht, so dass Edgard und Hedi viel Geduld mit mir haben mussten. So gähnte und räkelte ich mich oft am Tisch, kippelte mit dem Stuhl oder redete beim Kauen usw. Besonders schwer fiel es mir, das Bohren in der Nase zu lassen, so dass meine Pflegeeltern mich immer wieder daran erinnern mussten. Dabei gab es einen sehr langen Regelkatalog, den ich zu beachten hatte. Zum Beispiel sollte ich beim Mittagessen nicht immer erst das Fleisch zuerst essen, sondern erstmal alles andere, um meine Gaumenlust zu zügeln. Edgard machte mir dabei vor, dass er das Fleisch immer erst ganz zum Schluss aß. „Das ist so wie in der Bibel: Das Beste kommt immer erst ganz zum Schluss!“
Wenn meine Mutter und Geschwister mich in Blumenthal besuchen kamen, ging ich mit ihnen immer nach dem Mittagessen im großen Wiwo-Wald spazieren. Einmal sagte Diana dabei zu mir: „Simon, merkst Du eigentlich, dass Du jedes Mal, wenn wir unter uns sind – so wie jetzt – viel lockerer redest und witzig bist, doch sobald Edgard und Hedi anwesend sind, redest Du plötzlich total fromm und geschwollen. Man merkt, dass Du total verkrampft und kontrolliert redest, um einen guten Eindruck zu erwecken. Sei doch mal echt und hör auf zu schauspielern!“ Das hatte gesessen. Zur Verteidigung entgegnete ich: „Nein, es ist genau andersherum: Wenn ich mit Edgard und Hedi rede, bin ich ganz normal; aber wenn ihr zu Besuch kommt, muss ich mich halt verstellen, damit Ihr keinen Anstoß an mir nehmt.“ – „Ach, Simon, das willst Du Dir doch nur selbst einreden, aber insgeheim weißt Du, dass Du Dich da selbst betrügst. Wir kennen Dich doch und wissen, dass Du Dich nur frommer geben willst, als Du bist. Also, was soll das!“ Diana hatte mich durchschaut und kannte mich scheinbar besser, als ich mich selbst kannte oder kennen wollte.
Ein paar Tage später teilte mir meine Mutter freudestrahlend mit, dass nun auch Marcus sich bekehrt habe und Christ sein wolle. Wie es dazu kam, weiß ich bis heute nicht, denn Marcus wollte nie mit mir darüber reden. Aber mir war sofort klar, dass ich mich jetzt um Marcus kümmern musste, so wie ich ja schon früher immer für ihn da war, um ihn zu schützen. Ich fing also an, ihm Briefe zu schreiben (Emails gab es ja noch nicht in den 80er Jahren) und erklärte ihm all das, was ich selbst bereits in den letzten Jahren aus der Bibel gelernt hatte. An einem Freitag kam mir die Idee, für Marcus einen Psalm zu schreiben mit Schönschrift auf ein großes Kartonpapier, und zwar den Psalm 1, da dieser ja so ziemlich alles Wesentliche enthält, was ein Neubekehrter wissen und beherzigen sollte. Doch als ich fertig war mit dem Psalm, stellte ich fest, dass der Papierbogen erst zu Dreiviertel beschrieben war und der ganze untere Bereich noch leer blieb. Sollte ich den weißen Bereich einfach abschneiden? Da kam mir eine bessere Idee: Ich nahm meinen Tuschkasten und malte unten einen Baum, dessen Wurzeln zu einem Fluss hinabverliefen, dessen frisches Wasser in der Abendsonne glitzerte. Immer mehr kleine Details malte ich nun ins Bild, wobei ich mir viel Mühe gab, es möglichst wie ein Foto aussehen zu lassen. Der Baum war nun voller roter Früchte und mit kraftvollen Ästen versehen, die sich zum Himmel ausstreckten. Ich war selbst richtig froh, wie gut mir das Bild gelang.
Gegen 21:00 Uhr ging ich die Treppe zur Küche hinab, wo Edgard und Hedi wie jeden Abend saßen und zeigte ihnen mein Bild. Hedi war völlig überrascht: „Und das hast Du gemalt?! Das ist ja wunderschön! Wir wussten gar nicht, dass Du so gut malen kannst.“ Auch Edgard war sehr beeindruckt und sagte: „Da hast Du aber wirklich eine Begabung“. Dann sagten wir uns Gute Nacht, und ich ging wieder nach oben. Am nächsten Morgen, einem Samstag, setzten wir uns nach der Bibellese an den Frühstückstisch, und Egard erzählte, dass er am Abend vor dem Zu-Bett-gehen die ganze Zeit über das Bild nachdenken musste. „Weißt Du, Simon, mir war aufgefallen, dass ich die ganze Zeit immer nur auf Dein Bild geschaut, aber gar nicht den Psalm gelesen habe. Dabei sollte doch eigentlich das Wort wichtiger sein als das Bild.“ – „Na ja, das Bild kann einem aber helfen, sich die in Vers 3 beschriebene Szenerie besser vorstellen zu können“ erwiderte ich. „Ja, Simon. Aber ich fürchte, dass auch Dein Bruder sich am Ende immer nur das Bild anschauen, aber nicht diesen Psalm lesen wird. Und genau das will ja der Feind, dass wir vom Wort Gottes abgelenkt werden. Ich habe deshalb kein gutes Gefühl mehr dabei, wenn Du das so Deinem Bruder schenkst, weil er dadurch nicht wirklich gesegnet wird, sondern eher geschädigt. Prüf das mal vor dem HErrn!“
Ohne mir meinen Frust anmerken zu lassen, ging ich nach dem Frühstück nach oben. Aber in mir kochte es vor Wut. Immer wieder haben sie an allem etwas zu Nörgeln! dachte ich. Das ist doch völlig übertrieben, was Edgard gesagt hat! Aber wenn ich nicht auf sie höre, werden sie es mir vielleicht übelnehmen und weiter auf mich einreden. Aber das war mir egal. Ich konnte schließlich nicht immer das tun, was die sich wünschen, wenn ich nicht selbst davon überzeugt war! Und ich fand das Bild völlig harmlos. Und außerdem hatte ich so viel Zeit darin investiert und mir so viel Mühe gegeben. Doch auf einmal dachte ich an den HErrn Jesus und ging zum Gebet auf die Knie: „HErr, wie siehst Du das? Was sind Deine Gedanken?“ Doch ehe ich das „Amen“ gesagt hatte, wusste ich schon, was zu tun sei, um wieder inneren Frieden zu haben. Ich stand auf, zerriss das Bild, nahm all meine Buntstifte und den Tuschkasten und warf alles zusammen unten in den Müll. Und dann fühlte ich mich auf einmal frei und federleicht. Ich war nicht mehr nur frei von Vorwürfen, sondern auch frei von Verpflichtungen. Denn ich brauchte von nun an niemandem mehr etwas zu beweisen.
Früher hatte ich viel gemalt und gepuzzelt, aber jetzt als Christ wollte ich das tun, was ich selbst in Psalm 1 geschrieben hatte, nämlich mich mit Gottes Wort beschäftigen, so viel wie ich konnte. Und Zeit hatte ich ja, sogar sehr viel Zeit. Als erstes wollte ich mal die Ereignisreihenfolge in den Evangelien sortieren, denn mich interessierte, wo genau die parallelen Erzählstränge verlaufen und wo sich die Evangelien voneinander unterschieden. Nach mehreren Stunden Fleißarbeit hatte ich dann mit Edgards alter Schreibmaschine die richtige Reihenfolge in vier Tabellen festgelegt, die ich auf 8 DIN A5-Seiten hinten in meine Bibel legte (dort sind sie noch heute). Als nächstes wollte ich mal all die Verse im Buch der Sprüche nach Kategorien sortieren, denn mich störte, dass die Verse in Sprüche 10 bis 30 mit sich immer wiederholenden Themen größtenteils völlig durcheinander aufgezählt waren. So dachte ich mir Überschriften aus und wies dann jeden Vers seinem jeweiligen Thema zu, so dass sie am Ende alle hintereinander unter ihrer jeweiligen Überschrift zu finden waren. Da in dem Buch mit Blankoseiten am Ende immer noch viel Platz war, machte ich im zweiten Teil noch eine Konkordanz zum Sprüchebuch, damit man jeden Vers anhand seiner markanten Worte schnell wiederfindet. Insgesamt saß ich bestimmt sechs Wochen an diesem Buch.
Als nächstes begann ich, die ganze Bibel auf Kassette aufzunehmen, um mir dann später immer wieder diese Kassetten anzuhören. So war ich über viele Monate stundenlang damit beschäftigt, Kapitel für Kapitel auf Band aufzunehmen in der Hoffnung, dass ich auf diese Weise das Wort Gottes irgendwann nicht nur inwendig, sondern auch auswendig konnte. Edgard sah dieses Bemühen mit sehr viel Skepsis und Unwillen. Er sagte nur immer wieder: „Du hörst Dich scheinbar selbst gerne reden“. Der eigentliche Hintergrund war wohl Edgards Sorge, dass ich ihm schon bald an Bibelwissen überlegen sei und dann den Respekt vor ihm verlieren könne. Denn Edgards Begabungen lagen tatsächlich nicht so sehr in der Theorie, sondern eher in der Praxis. So konnte er stundenlang sich mit seinem großen Gemüsegarten beschäftigen, wo er von Erbsen bis Kürbissen so ziemlich alle Gemüsearten angepflanzt hatte. Doch wenn Edgard am Sonntag predigen sollte, dann nahm er immer eine seiner durchnummerierten zehn Predigten, die er schon unzählige Male zuvor gepredigt hatte und predigte sie erneut. Und wenn er alle zehn Predigten durchhatte, fing er wieder von vorne an, wohl in der Hoffnung, dass der Inhalt bis dahin sowieso schon von dem meisten wieder vergessen wurde. Zunächst störte mich diese „Schummelei“. Aber schon bald darauf wurde mir klar, das Edgard auch gar nicht in der Lage war, jeden Sonntag eine neue Predigt zu liefern. Edgard hatte eben andere Stärken, und ich konnte ihm und den Geschwistern dafür mit meinen Gaben dienen.
So durfte ich jeden Sonntag eine viertel Stunde lang die Vorpredigt halten bis Edgard dann das Wort ergriff. Dazu hatte ich mich jedes Mal so gut vorbereitet, dass ich immer fließender meine Botschaften vortragen konnte. Doch während alle sich an meiner virtuosen Bibelkenntnis erfreuten, war Edgard gar nicht glücklich über diese unerwartete Entwicklung. Jedes Mal, wenn Bruder Daniel aus Sachsenheim zu Besuch nach Bremen kam, klagte Edgard ihm seine Sorge, dass ich mich eines Tages noch über ihn erheben oder ihn geringschätzen könnte. Daniel versuchte nun, dieser Gefahr entgegenzuwirken, indem er immer häufiger in seinen Predigten an das Bibelwort erinnerte: „Ihr Jüngeren, seid den Älteren unterwürfig“. Irgendwann hatte ich diese Mahnung schon so oft gehört, dass ich mich fragte: Wie unterwürfig soll ich denn NOCH sein? Mehr geht doch schon gar nicht mehr! Aber dann lernte ich, dass ich Edgards intellektuelle Schwäche nicht bloßstellen durfte, denn er war ja schließlich wie ein Vater für mich, den ich zu ehren hatte.
Also verkniff ich mir bei Meinungsverschiedenheiten eine Debatte mit Edgard, sondern gab ihm einfach immer recht. Einmal während der abendlichen Bibelstunde merkte ich, dass Edgard ziemlich schlecht gelaunt war, weil er in ungewohnter Weise den Bibeltext missbrauchte, um seine Kritik an mir dadurch zu äußern. Deshalb fragte ich ihn im Anschluss direkt: „Sag mal, Edgard, kann es sein, dass ich vielleicht etwas falsch gemacht habe, dass Du mir sagen willst?“ – „Das freut mich, Simon, dass Du mich das fragst, denn wir müssten im Wohnzimmer mal etwas in Ruhe besprechen.“ Wir setzten uns und ich war voller Anspannung. Edgard begann: „Du hattest heute Nachmittag, als die Valentina beim Kaffee zu Besuch war, einen Satz gesagt, der mich sehr verletzt hat und eines Gläubigen unwürdig ist!“ Ich erschrak. „Oh Edgard, das wollte ich wirklich nicht! Was war denn das Schlimme, das ich gesagt hatte? Denn ich weiß es gar nicht mehr?“ Edgard erklärte: „Du hattest gesagt, dass ich so `ne richtigen ‚Kartoffelhände‘ hätte. Das war wirklich respektlos.“ – „Aber Edgard, ich wollte damit doch nur sagen, dass Du kräftige Hände hast, weil Du Dein Leben lang immer schwer gearbeitet hast, z.B. beim Kartoffelernten“. Doch dann wollte ich die Gelegenheit nutzen: „Wo wir aber gerade davon sprechen, lieber Edgard: es gibt aber auch ein Wort, das Du letztens mal über mich gesagt hast, das mir gar nicht gefallen hat. Und zwar hattest Du etwas gesagt, als der Ludwig Fischer letzte Woche zu Besuch war und ich ihm von meinem Schulabbruch erzählte, da hast Du gesagt: ‚Je gelehrter, desto verkehrter!‘ Das fand ich auch nicht sehr nett!“ Edgard lächelte: „Ach, Simon, das habe ich doch gar nicht so gemeint! Aber wenn Du Dich schon an so einer Kleinigkeit störst, dann merkt man doch noch sehr Deine geistliche Unreife. Denn das ist doch das alte Fleisch in dir, das sich beleidigt fühlt, denn ein wirklich geistlicher Mensch kann sich gar nicht mehr beleidigt fühlen!“ Da war ich erstaunt, dass Edgard gar nicht merkte, dass dies dann auch auf ihn zutraf. Aber ich sagte lieber nichts.
Worin Bruder Edgard jedoch unschlagbar war und niemand ihm das Wasser reichen konnte, war seine Treue im Gebet, insbesondere in der Fürbitte. Denn Edgard betete wirklich jeden Morgen zwei Stunden, bis er alle Personen, die er mal in seine Gebetsliste aufnahm, vor den HErrn gebracht hatte. Jeden Morgen um 5:00 Uhr, wenn ich aufwachte, hörte ich in der Stille des Raumes, wie Edgard unten am Beten war. Man mag so eine Gebetsdisziplin vielleicht für stumpfsinnig oder gar geistlos halten, aber erweist sich nicht gerade darin der Glaube, dass man ein Gebot befolgt, dessen Sinnhaftigkeit einem noch völlig verborgen ist? Edgard konnte genauso wie Paulus ohne Übertreibung von sich behaupten, dass er all jener Brüder „in jedem seiner Gebete gedachte“ (Phil.1:4). Er hatte allerdings keine aufgeschriebene Liste, die er im Gebet ablas, sondern kannte all die vielen Namen inzwischen alle auswendig, zumal er sie jeden Morgen in der Frühe vor Gott brachte. So nahm ich mir vor, von nun an auch all die Namen von Christen zu sammeln, für die ich von nun an beten wollte. Dabei sparte ich mir bestimmte Anliegen zu erwähnen, da Gott ja ohnehin wusste, was jeder einzelne brauche, sondern begnügte mich damit, einfach nur die Namen zu erwähnen mit der Bitte, dass Gott sie segnen möge.
Besuch aus England
Im Spätherbst bekamen wir Besuch aus London. Die Schwester von Daniel Werner, Ruth Bown, war zusammen mit ihrem Mann Stanley (74) gekommen, um ein paar Tage bei uns zu bleiben. Da Stanley Bown kein Deutsch konnte, bat mich Edgard, mit dem alten Bruder mal ein wenig im Wiwo-Wald spazieren zu gehen, um mit ihm auf Englisch zu plaudern. Schon nach den ersten Sätzen merkte ich, dass Stanley einen ganz komischen Dialekt sprach. Er erklärte mir, dass dies das Cockney-English sei, dass man nur in London spreche. Zum Beispiel sprach er statt „I have“ als „Ei heif“ aus. Mich beeindruckte zudem, dass er schon 1912 geboren wurde, dem Jahr, als die Titanic unterging. Stanley erzählte mir, wie er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte und schon seit 1935 bis heute ein Heftchen herausgibt namens Monthly Record („Monatlicher Bericht“) mit Gebetsanliegen aus den verschiedenen Teilen der Welt, den er von nun an auch mir regelmäßig zuschicken würde. Er erzählte mir von zwei Missionaren, die für diesen Gemeindeverband ehrenamtlich arbeiten und im Laufe der Jahre viele Hausgemeinden gegründet hätten, welche die „gesunde Lehre“ hätten, nämlich Arthur Vincent aus Kanada und Francisco Franco aus Argentinien. Während Bruder Franco das Oberhaupt eines großen Werkes im Norden Argentiniens war, das aus sehr strenggläubigen Gemeinden bestand, war Dr. Arthur Vincent, ein ehemaliger Kardiologe, der seit 1956 die Länder Mittel- und Südamerikas bereist und in dieser Zeit viele kleine Hausgemeinden gegründet hat, die jedoch längst nicht so streng und konsequent sind, was die Absonderung von der Welt betraf. Stanley hatte durch seinen Schwager Daniel bereits von mir gehört und versucht, einen Kontakt herzustellen zwischen mir und Bruder Arthur. Da erinnerte ich mich, dass ich während meines Amerika-Aufenthaltes ein Telegramm von einem mir unbekannten Arthur Vincent erhalten hatte, dass nur aus der Mitteilung „Hebrew 13:12-13“ bestand.
Obwohl Stanley über 50 Jahre älter war, hatte er beim Spazierengehen ein so flottes Tempo, dass ich fast schon laufen musste, um mit ihm mitzuhalten. Wenn er allerdings stehenblieb und mir aus nächster Nähe etwas erzählte, musste ich immer den Kopf etwas wegdrehen, da er starken Mundgeruch hatte. Als ich Stanley von meinen Eltern erzählte, die sich getrennt hatten, kamen ihm auf einmal die Tränen, und er berichtete mir, dass auch seine Eltern sich damals haben scheiden lassen, worunter er sehr gelitten hatte. Dann erzählte er mir von der großen Versammlung in London, die in den 30er- und 40er-Jahren von Percy Heward geleitet wurde und der ganz viele Professoren und Akademiker angehörten. Arthur Vincent war trotz seiner Zugehörigkeit zur Heward-Gemeinde zeitlebens auch Anhänger eines gewissen Ivan Panin, einem russischen Literaturwissenschaftler, der durch das Studium des hebräischen und griechischen Grundtextes der Bibel herausfand, dass es bei vielen Bibelstellen auffällige Zahlenmuster gab, die angeblich bewiesen, dass die Bibel nicht von Menschen ausgedacht sein konnte. Panin wurde damals in die Londoner Gemeinde eingeladen, um sein Numeric System an einer Tafel vorzustellen. Da es in den Reihen dieser Gemeinde aber auch viele Gelehrte und Mathematiker gab, konnten diese seine Berechnungen prüfen und stellten fest, dass Panins These nicht haltbar sei, da sich diese Auffälligkeiten nur in bestimmten Bibelstellen nachweisen ließen, aber nicht in allen.
Am Ende des Spaziergangs berichtete mir Stanley, dass das Englische Königshaus von der Blutlinie des Hauses David abstamme und dass der Großvater von Queen Elisabeth Mitglied bei den Brüdergemeinden von John N. Darby war. Deshalb betrachte er die Windsors als messianische Juden, die in der Zukunft noch eine bedeutsame Rolle spielen würden. Aus Solidarität zum Englischen Königshaus sei er mit seiner Frau Ruth auch bei der kürzlichen Hochzeitsprozession von Prinz Andrew und Sarah Fergueson dabei gewesen und habe ein Englisches Fähnchen geschwungen. Hier war ich doch ziemlich irritiert, denn Bruder Daniel hatte uns immer gelehrt, dass wir uns von allen weltlichen Dingen fernhalten sollten. Ich erklärte Bruder Stanley, dass ich als Christ niemals zu solchen weltlichen Veranstaltungen gehen würde, weil wir uns ja nicht mit den Ungläubigen einsmachen dürften. Plötzlich antwortete Stanley mir: „Well, then you can put right away a bullet in your head!“ Ich erschrak und dachte sofort, dass ich diese verbale Entgleisung unbedingt Bruder Edgard melden müsse. Als er dann auch noch sagte: „I think, we are lost“, verstand ich zunächst „Ich fürchte, wir sind verloren“ und dachte nur: „Du vielleicht, aber nicht ich!“ Aber dann fiel mir ein, dass es „to go perish“ heißen müsste und er nur festgestellt hatte, dass wir uns verlaufen hatten.
Als wir zurück waren, flüsterte ich Edgard zu: „Der Stanley hat mir unterwegs gesagt, dass ‚ich mir ja gleich eine Kugel in den Kopf jagen könne‘, wenn ich nicht mehr an weltlichen Veranstaltungen teilnehmen wolle!“ – „Ja, Simon, das hatte ich schon befürchtet, dass Du früher oder später merken würdest, dass der Stanley Bown längst nicht so gottesfürchtig ist, wie wir es in Deutschland von einem alten Bruder erwarten. Wir hatten mit ihm auch schon viele Diskussionen, weil er sich im Anfang weigerte, beim Gebet auf die Knie zu gehen. Er sagte immer, dass dies nur eine gesetzliche Äußerlichkeit sei, auf die es Gott doch gar nicht ankomme und man in der alten Versammlung in London auch immer im Sitzen gebetet habe. Wir wiesen ihm in der Schrift nach, dass die Gläubigen in der Apostelgeschichte immer beim Gebet auf die Knie gegangen sind und selbst der HErr Jesus dies tat. Neuerdings kniet sich Stanley zwar auch hin, aber nur mit einem Knie anstatt mit beiden. Das ist eben dieser englische Stolz, den er noch nicht abgelegt hat. Ich habe ihn letztens noch mal dran erinnert, dass Gott will, dass sich ‚JEDES Knie vor Ihm beugen‘ soll, d.h. beide Knie (Jes.45:23), aber er meinte nur, das wäre ja erst in der Zukunft.“
Anfang Dezember fielen die Temperaturen auf den Gefrierpunkt und mein Chef Herr Kröger schickte mich zum Haus seines Sohnes Jan-Gerd, der sich gerade ein Haus gebaut hatte, wo noch Kanalarbeiten erforderlich waren. Der Junior-Chef markierte eine etwa 7 Meter lange Linie auf dem Boden, wo ich einen Schacht ausheben sollte von etwa 0,5 Meter Breite und 1,5 Meter Tiefe. Er gab mir morgens eine Spitzhacke, sowie Spaten und Schaufel und verabschiedete sich dann zur Arbeit. Als er fünf Stunden später wiederkam, hatte ich den Schacht fertig, allerdings auch sein Telefonkabel durchgetrennt. „Hast Du nicht gesehen, dass hier ein dünner Plastikstreifen verlief, der vor dem Kabel gewarnt hatte!?“ Trotzdem muss er wohl ganz froh über meine Arbeit gewesen sein, denn einen Tag vor Heiligabend sollte ich schon wieder einen tiefen Schacht ausheben, weil es unter dem tiefgefrorenen Boden einen Wasserrohrbruch gab. Während ich stundenlang mit der Spitzhacke den kiesreichen Boden auflockerte, standen mehrere Arbeiter um mich herum und schauten nur zu. Auf einmal füllte sich das Loch in einem Meter Tiefe mit stinkendem Abwasser, das von unten nach oben drückte. Da es schon dunkel wurde, durfte ich früher Feierabend machen. Da kam die Mutter Kröger zu mir und lobte mich für meinen Fleiß. Sie wünschte mir ein frohes Weihnachtsfest, aber ich erklärte ihr, dass wir Christen kein Weihnachten feiern würden. „Na, das ist ja wirklich paradox!“ sagte sie „Denn eigentlich war Heiligabend ja mal ein christliches Fest, das von den Heiden mitgefeiert wurde. Und heute ist kaum noch einer Christ, aber alle wollen Weihnachten feiern, außer die echten Christen!“ – „Ja, das kommt, weil Weihnachten ursprünglich schon ein heidnisches Fest war. Aber wir Christen feiern gar keine Feste mehr, noch nicht mal unseren Geburtstag.“ – „Dann wünsche ich Ihnen aber trotzdem schöne Feiertage!“ sagte sie und wir verabschiedeten uns.