„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 14
Januar bis Juni 1987
Alte Leute
Anfang Januar erhielten wir Besuch von dem alten Bruder Karl Augenstein (82). Er kam mit seiner Frau Angelika, die mit ihren 35 Jahren fast 50 Jahre jünger war als er. Dies irritierte uns alle sehr, zumal Bruder Karl keineswegs vermögend war und Angelika wiederum absolut nicht hässlich. Sie erklärte uns, dass sie als selbständige Altenpflegerin irgendwann Bedenken hatte, den alten Bruder täglich zu waschen und dabei seine Blöße zu sehen. Als sie dem Karl dann bekannte, dass sie das fortan nicht mehr reinen Gewissens tun könne, bot ihr Karl an, dass sie ihn doch einfach heiraten könne, da sie ihn ja als seine Ehefrau dann auch nackt sehen könne. Da Angelika ohnehin vorhatte, ihre Jungfräulichkeit für den HErrn zu bewahren, kam ihr dieser Vorschlag recht gelegen, zumal ja auch König David im Alter eine viel jüngere Frau hatte, die ihn pflegte. „Aber machst Du Dir denn keine Sorgen, was die Leute von Dir denken könnten?“ fragte Edgard. „Och, mir macht das nichts aus. Die denken doch sowieso immer, dass ich seine Tochter bin.“ Als sie den Raum verlassen hatte, sagte Edgard zu Karl: „Ich finde, dass das kein gutes Zeugnis ist, wenn ein Christ eine so viel jüngere Frau heiratet. Denn wir sollen anderen ja kein Anstoß sein.“ Bruder Karl fing an zu kichern: „Was kann ich denn dafür, wenn sie so doof war, mich zu heiraten…“ Ich fand das überhaupt nicht zum Lachen. Wie konnte er nur so geringschätzig über seine Frau reden! Doch als Edgard ihn fragte, ob dies nicht auch Probleme mit sich brächte, fing Karl auf einmal spontan an zu weinen und sagte: „Mir ist das immer so peinlich, wenn sie mir beim Stuhlgang hilft, zumal – wenn ich doch immer so verstopft bin…“
Dass ältere Leute so ihre Eigenheiten haben, musste ich in den nächsten vier Jahren immer wieder feststellen. Zum Beispiel die alte Schwester Amanda Krick (83), die bei uns genau gegenüber wohnte und jeden Abend zur Bibelstunde rüberkam. Sie achtete immer mit Adleraugen auf jeden noch so kleinen Fehler, den ich machte, um dann mit mir zu schimpfen. Einmal unterhielt ich mich mit Hedi beim Tellerabtrocknen in der Küche, während Amanda bei jedem einzelnen Tropfen Wasser, der auf den Boden fiel, jedes Mal sagte, dass ich den Boden nicht nassmachen dürfe. Nach einer Weile stand sie auf und ging aus der Küche, während Hedi und ich noch immer im Gespräch vertieft waren. Währenddessen sah Hedi, wie Amanda zur Garage tapste und fragte sich, was sie dort wolle. Bald darauf kam sie zurück in die Küche und hatte einen Feudel mitgebracht. „Was machst Du denn da, Amanda?“ fragte Hedi. „Ich muss den Fußboden abtrocknen, weil der Simon hier Tropfen gelassen hat.“ Auch während der Bibelstunde ließ mich Amanda kaum aus den Augen, und jedes Mal, wenn mir mal die Augen zufielen, machte sie sofort ein Zischgeräusch, um mich wieder aufzuwecken. Da wurde es Edgard irgendwann zu bunt: „Amanda! Nun hör endlich auf, immer auf den Simon zu achten anstatt auf den Bibeltext! Simon hat den ganzen Tag gearbeitet und ist müde; er hat das Recht, auch einfach mal die Augen zu schließen!“ An einem Abend nach der Bibelstunde, als wir uns zum Gebet hingekniet hatten und Edgard sein Gebet sprach, machte Amanda plötzlich merkwürdige Geräusche, die sich wie ein Jammern und Winseln anhörten. Und dann schließlich ein langgezogenes Seufzen. Nachdem Edgard das „Amen“ gesprochen hatte und wir aufstanden, schimpfte Edgard mit ihr: „Amanda! Das ist respektlos, wenn Du mitten im Gebet immer solche Geräusche machst! Was sollte das?!“ Mit unterwürfiger Stimme bekannte Amanda: „Ich musste dringend pullern, und jetzt habe ich mich versehentlich eingenässt…“
Da es in unserer Hausgemeinde viele ältere Geschwister gab, hatte ich mich an komische Situationen inzwischen schon gewöhnt. Zum Beispiel erinnere ich mich an den Besuch einer alten Schwester, die beim Mittagessen erst so viel redete, dass wir ungeduldig wurden und ihr Essen kalt wurde, und die dann bei der anschließenden Bibellese anfing, so laut zu schnarchen, dass ihr Gebiss auf ihre Brust fiel. Ebenso komisch fand ich immer die kleine Schwester Friedel Fröse (79), die trotz ihrer kleinen und buckeligen Gestalt ein solches Temperament hatte, dass ihr gutmütiger Ehemann Hermann (78) immer vor ihr in Deckung ging, wenn sie wieder einen Wutanfall hatte. Das Erstaunliche war, dass die beiden scheinbar die Rollen getauscht hatten: Denn wenn ich mal bei ihr zu Besuch war, unterhielt sie sich mit mir in der Stube, während Hermann in der Küche das Essen machte. Dabei trug er neben einer Schürze auch noch eine richtige Kochmütze. Einmal – als wir in ein Gespräch vertieft waren – stand Hermann in der Tür, da er von der Küche aus zugehört hatte, und machte eine kleine Bemerkung zum Thema. Da fauchte Friedel ihn an und sagte: „Nun misch Dich doch nicht ein, wenn ich mich gerade mit dem Simon unterhalte!“ Sofort entschuldigte sich Hermann und lief brav in die Küche zurück. Dem Edgard war dieser Rollentausch ein Ärgernis, aber jedesmal wenn er in einer Predigt die Geschwister an die Stellung der Frau in der Bibel erinnerte, bedachte Friedel ihn beim späteren, verabschiedenden Händeschütteln mit einem schweigenden, aber zornigen Blick.
Samstags sind Edgard und ich vormittags immer Zettelverteilen gegangen von Briefkasten zu Briefkasten. Einer machte die rechte und der andere die linke Seite einer Straße. Aber hin und wieder sind wir auch in Altenheime gegangen, um unter dem Vorwand, einen Bekannten zu besuchen, dann immer von Zimmer zu Zimmer zu gehen, um dort unser Traktat zu verteilen „Wo werden sie die Ewigkeit verbringen?“ Einmal lief eine alte Dame heulend über den Flur und rief laut: „Ich weiß, wo ich die Ewigkeit verbringen werde, nämlich in der Hölle! Aber ich will nicht in die Hölle! Bitte helft mir doch!“ Ein hinzugelaufener Altenpfleger nahm ihr den Zettel aus der Hand und fragte sie: „Wer hat Ihnen das gegeben?“ – „Die beiden da!“ und sie zeigte auf uns. Sofort wurden wir rausgeworfen und bekamen Hausverbot. Der Umstand, dass der Mensch erst im Angesicht des Todes über das Leben nach dem Tod nachdachte, brachte Edgard auf die Idee, sich von der Nachbarin regelmäßig den Weser Kurier auszuleihen, um den in den Todesanzeigen genannten Angehörigen einen evangelistischen Beileidsbrief zu schreiben. Dazu verwandte Edgard einen bereits vorgefassten Brief, wo er nur noch den Namen und die Adresse eintragen brauchte, um ihn dann zu verschicken. Der Brief fing folgendermaßen an: „Liebe Frau …., wir haben von dem Tod Ihres geliebten Vaters …. Erfahren und möchten Ihnen deshalb unser tiefstes Beileid bekunden. Sie können nun nichts mehr für ihn tun, denn er ist nun in der Ewigkeit. Aber Sie können für sich selbst noch etwas tun, denn die Heilige Schrift sagt: ‚Es ist den Menschen einmal gesetzt zu sterben; danach aber das Gericht‘ (Hebr.9:27)… usw.“ Und dann folgte die Evangeliumsbotschaft mit der Einladung, sich doch an Gott zu wenden im Gebet.
An einem Tag im Jahr 1986 hatte Bruder Daniel uns freudestrahlend berichtet, dass sich eine alte Schwester aus Albersdorf (Schleswig-Holstein) an ihn gewandt hatte, namens Adelheit Brüning (75), die durch die Schriften von Daniel Werner auf ihn aufmerksam wurde. Sie war die Leiterin einer Hausgemeinde, die nur aus älteren Schwestern bestand und wollte sich dem Daniel-Werner-Kreis anschließen. Von nun an fuhr Bruder Daniel jedes Mal, wenn er uns in Bremen besuchte, anschließend auch gleich weiter nach Albersdorf, um dort zu predigen. Doch an einem Samstag in der Frühe, als wir zusammen mit Bruder Daniel in der Bibel lasen, klingelte plötzlich das Telefon. Hedi ging ran, sprach kurz und rief dann Bruder Daniel an den Apparat. Wir hörten wie Daniel im Flur dann etwa fünf Minuten telefonierte, sich dann verabschiedete und auflegte. Dann kam er zurück ins Wohnzimmer und teilte uns emotionslos mit: „Die alte Schwester Thea aus Albersdorf hat eben angerufen und mitgeteilt, dass unsere Schwester Adelheit heimgegangen ist.“ Erschrocken fragten wir: „Wie ist das passiert? Was hat sie denn gehabt?“ Immer noch ungerührt erklärte Daniel: „Schwester Adelheit war einkaufen gewesen, und weil sie etwas schwerhörig ist, hat sie am unbeschrankten Bahngleis das Haltesignal nicht bemerkt und wurde versehentlich vom Zug erfasst. Ja, so schnell kann es gehen, und jetzt ist sie beim HErrn.“ Ich war total schockiert, mit was für einer Gelassenheit und Gleichgültigkeit der Bruder Daniel von dem Tod der Adelheit sprach, zumal es ja gar kein gewöhnlicher Tod war, sondern ein grausamer Unfall. Warum hatte Gott dies erlaubt? Und warum zeigte der Daniel so wenig Mitgefühl? War er vielleicht so abgestumpft, weil er damals in Stalingrad gekämpft hatte und so viele Leichen sah, dass der Tod für ihn nichts Besonderes mehr war? Oder war er innerlich blockiert, so dass er keine Gefühle mehr zulassen konnte?
Charismatik
Nicht nur in Bezug auf den Tod, sondern auch in Bezug auf Zeichen und Wunder konnte dem Daniel kaum noch etwas vom Hocker reißen. Er hatte mal erzählt, dass er schon viele Wunderheilungen gesehen hätte, aber dass er davon überzeugt sei, dass dies keine Gotteswunder waren, sondern auf Suggestion beruhten. Zunächst dachte ich deshalb, dass Daniel auch den Standpunkt der Missionsgemeinde vertreten würde, demzufolge es heute gar keine Zeichen und Wunder mehr geben könne, da aufgrund von 1.Kor.13:8-13 gar kein Bedarf mehr danach bestünde, seit wir das vollkommene und vollständige Wort Gottes in den Händen hielten (vergl. Luk.16:31). Doch ich hatte mich getäuscht, denn Bruder Daniel glaubte durchaus, dass Gott auch heute noch übernatürliche Taten vollbringen könne, nur dass wir eben aufgrund der Endzeit immer mehr die falschen Zeichen und Wunder der Lüge sehen würden und man lange suchen müsse, bis man mal auf die von Gott gewirkten Zeichen treffen würde. Daniel belegte dieses Missverhältnis mit Psalm 74, wo es heißt: „Alles hat der Feind im Heiligtum verwüstet. Es brüllen Deine Widersacher inmitten Deiner Versammlungsstätte, sie haben IHRE Zeichen zu (Wahr-)Zeichen gesetzt… Unsere Zeichen sehen wir nicht; kein Prophet ist mehr da, und keiner bei uns, welcher weiß, bis wann“ (Ps.74:4+9).
Das erste Mal, wo ich Daniels Offenheit für das Übernatürliche bemerkte, war auf der Bibelfreizeit zu Weihnachten 1986, wo Daniel u.a. auch einen Griechen eingeladen hatte, der sein Zeugnis geben durfte. Er berichtete vor etwa 50 Zuhörern in Weiler, wie er nach seiner Bekehrung von seiner eigenen griechisch-orthodoxen Familie verfolgt wurde und sie sogar Mordanschläge auf ihn ausübten. Als er sich eines Nachts auf der Flucht in einem Gasthof versteckte, wachte er mitten in der Nacht auf und bemerkte, wie vier dunkle Gestalten auf einmal das Zimmer betraten. Er dachte zunächst, dass dies Menschen waren, die ihn töten wollten und verkroch sich deshalb ängstlich unter seine Bettdecke. Doch auf einmal kam ein weiterer Mann ins Zimmer, dessen Kleidung hell leuchtete und vor dem sich die anderen Männer schnell versteckten. Sofort war sich der griechische Bruder sicher, dass dies der HErr Jesus sein musste und begehrte deshalb, Sein Angesicht zu sehen. Aber der Mann hatte einen Umhang über dem Kopf wie eine große Kapuze, so dass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Auch sagte er kein einziges Wort. Der Grieche richtete sich nun auf und versuchte, das Gesicht zu sehen, sah aber nur ein flüchtiges Lächeln, ehe die Gestalt wieder verschwand. Für mich war sofort klar, dass das nicht der HErr Jesus gewesenen sein konnte, weil er sonst zu ihm geredet hätte (z.B. „Fürchte dich nicht!“). Aber als ich später am Tisch mit Daniels Bruder Elieser darüber sprach und meine Verwunderung darüber äußerte, dass Daniel solche windigen Charismatiker predigen lasse, sagte mir Elieser: „Ich würde da etwas vorsichtiger sein an Deiner Stelle, denn Du kannst doch keine Bedingungen festlegen, wie sich der HErr einem Gläubigen offenbaren müsse, damit es echt sei. Ich halte es durchaus für wahrscheinlich, dass das wirklich der HErr war.“
Ende Januar war in der Uni Bremen eine große Erweckungsveranstaltung der Pfingstgemeinde, zu der Reinhard Bonnke eingeladen hatte. Das Ganze geschah unter dem martialischen Motto: „Die Hölle plündern und den Himmel bevölkern“. Ich fuhr dort mit Bruder Raimund hin, um mir das mal anzuschauen. Doch als wir gerade die große Aula betraten, wurden wir sofort von einem wunderschönen Lied angezogen, dessen Text in etwa lautete: „Gott hat uns trotz allem nicht verlassen und ist immer noch in unserer Mitte“ oder so ähnlich. Irgendwie spürte ich im Geiste, dass ich so schnell wie möglich wieder das Weite suchen müsse, da ich sonst durch all diese starken seelischen Gefühle völlig eingelullt werden würde. Auch Raimund spürte die Verführung und war einverstanden, wieder nach Haus zu fahren. Doch schon einen Monat später, als Daniel wieder mal nach Bremen kam, lud er uns ein, mit ihm zu einem Abendgottesdienst nach Hamburg zu fahren zu einem Pastor namens Wolfram Kopfermann. Dieser gehörte der sog. „Charismatischen Erneuerungsbewegung“ an und bot neben seinen regulären Gottesdiensten auch charismatische Lobpreis-Gottesdienste an, die jedes Mal sehr gut besucht wurden von Christen aus ganz Norddeutschland.
Ich hatte eigentlich gedacht, dass Daniel mich und Raimund als Verstärkung mitnahm, um vor dem Veranstaltungsort Flyer zu verteilen, um vor der Verführung zu warnen; denn wir hatten extra jede Menge Verteilmaterial mitgenommen. Aber als wir die Stufen zur Ansgargemeinde hochgingen, eröffnete Daniel mir, dass er gar nichts verteilen wolle, sondern sich mal den Gottesdienst anschauen wolle. Auch Raimund war neugierig auf die Veranstaltung, aber ich wollte auf keinen Fall dort hineingehen, sondern lieber draußen im Foyer zu bleiben, um die christlichen Hefte an die Ein- und Ausgehenden zu verteilen.
So trennten wir uns, und ich fing sofort mit dem Verteilen an. Doch schon nach zehn Minuten, als ich schon vielen Besuchern ein Heft mitgegeben hatte, kamen auf einmal zwei junge Männer zu mir und fragten mich, was ich da eigentlich verteilen würde. „Das nennt sich ‚Gedanken aus Gottes Wort‘ und ist extra für Gläubige bestimmt“ erklärte ich. „Und wer hat Dir die Erlaubnis dafür gegeben?“ fragten sie. „Der HErr selbst“ antwortete ich, „denn wir sollen ja Sein Wort verbreiten.“ – „Das ist aber nicht Sein Wort, sondern bestenfalls nur Auslegungen. Du hättest das erstmal von Wolfram prüfen lassen müssen, ob das wirklich dem Wort Gottes entspricht. Deshalb müssen wir Dich jetzt auffordern, sofort damit aufzuhören.“ Während sie redeten, verteilte ich einfach weiter die Hefte, so dass sie mich am Arm griffen, um mich daran zu hindern. „Jeder Christ ist mündig und kann selbst prüfen, ob die Botschaft biblisch ist oder nicht“ erklärte ich ihnen und machte einfach weiter. Nun griffen sie mich an beiden Armen und zogen mich mit aller Kraft aus der Eingangstür hinaus: „Dies ist unsere Gemeinde, und wenn Du hier etwas verteilen willst, dann musst Du schon um Erlaubnis fragen!“ – „Aber die Gemeinde Gottes gehört nur Gott allein, und die Apostel ließen sich die Verbreitung des Wortes auch nicht verbieten!“ entgegnete ich empört. Unterdessen zogen sie mich die Treppen runter und schubsten mich weg: „Du verschwindest jetzt hier sofort, sonst rufen wir die Polizei!“ Doch sobald sie mich losließen, machte ich sofort weiter mit dem Verteilen an die Besucher, so dass der eine sagte: „Du gehst jetzt sofort 100 Meter von hier weg, sonst gibt’s Ärger!“ Da sagte der andere zu ihm: „Nee, das ist ja öffentlicher Grund, deshalb können wir das nicht von ihm verlangen.“
Nachdem der Gottesdienst begonnen hatte, kamen nur noch wenige Verspätete in die Kirche, aber einige kamen auch heraus, z.B. um zu rauchen. Jedes Mal, wenn die Tür wieder aufging, hörte man laute Lobpreis-Musik von innen, und ich fragte mich, wie Daniel das überhaupt aushielt. Ich vertrieb mir die Zeit mit Gesprächen, denn draußen waren immer noch genügend Leute, die noch kein Heftchen bekommen hatten. Erst nach drei Stunden war die Veranstaltung endlich zu Ende. Spät um 23:00 Uhr ging ich mit Bruder Daniel die leeren Straßen entlang, um zu seinem Wagen zu gehen. Dabei erschrak ich mich für einen Moment, als Daniel plötzlich über eine rote Ampel ging, dachte aber sofort an das Wort Jesu: „Habt ihr nicht gelesen, was David tat…“ (Luk.6:3). Denn bei einer leeren Straße, macht es in der Tat keinen Sinn zu warten, bis die Ampel grün wird. Als wir endlich beim Auto ankamen, fragte ich Daniel, warum er sich überhaupt diese Veranstaltung anschauen wollte, wenn doch klar war, dass dort doch gar nicht der Geist Gottes sondern nur seelisches Gedusel wirke. Daniel sagte, dass es für ihn dennoch wichtig sei, sich ein eigenes Bild zu machen und dass er die Hoffnung nicht aufgebe, unter all dem Falschen auch mal das Echte zu finden.
Der Raubeinige
Im Januar hatte ich noch für Firma Kröger in der Fliesenfabrik „Norddeutsche Steingut“ gearbeitet, bekam aber dann Anfang Februar durch Vermittlung meines Betreuers, Herrn Loos, die Möglichkeit, mein Praktikum bis zum Antritt beim Malereibetrieb Klaus Hillmer Anfang März in der Malerhalle des Berufs-Förderungszentrums (BFZ) fortzusetzen, und zwar unter der Aufsicht von Malermeister Peter Groß. Schon bald merkte ich, dass Herr Groß kein normaler Lehrer war, sondern eher wie ein raubeiniger Matrose auf einem Piratenschiff wirkte. Herr Groß war zwar eher klein und dick, aber er hatte ein Mundwerk, dass man nur vor ihm in Deckung gehen wollte. Bei den z.T. rotzfrechen Lehrlingen, die er im Blockunterricht zu unterrichten hatte, war dieser Charakterzug sicher von Vorteil. Da ich jedoch ganz das Gegenteil war, behandelte er mich von Anfang an freundlich und respektvoll, auch wenn er bei Fehlern von mir zuweilen auch sehr rumpoltern konnte. An einem Tag, als wir beide allein in der Malerwerkstatt waren, kamen wir ins Gespräch, und ich bekannte ihm meinen Glauben. Zu meiner Überraschung erzählte er mir, dass auch er Christ sei und in eine Freikirche gehe. Das konnte ich beim besten Willen kaum glauben, so wie er mit den Lehrlingen umging, aber ich ließ mir nichts anmerken.
Als ich zwei Tage später mal wieder ganz allein in der Malerhalle eine Aufgabe erledigte, kam der Vertreter eines Farbenkonzerns in die Halle und ging mit Herrn Groß in sein kleines Kabuff (Büro). Ich hörte, wie sich die beiden Männer angeregt unterhielten. Nach einer Weile wurde der Ton auf einmal lauter, und Herr Groß fing mal wieder an, rumzutösen. Da ging die Tür auf und der Vertreter verließ fluchtartig den Raum mit den Worten: „Das ist ja eine Unverschämtheit, wie Sie mit mir umgehen!“ Herr Groß rief ihm hinterher: „Ja, lauf nur schnell zu Deiner Mama und heul Dich bei ihr aus, Du Blödmann! Wichser! Du brauchst gar nicht mehr wiederkommen!“ Und als er weg war, wandte sich Herr Groß zu mir: „Nicht wahr, Simon, – die Wahrheit kann heute kaum noch einer ertragen!“ Eingeschüchtert sagte ich nur: „Ich weiß ja nicht, worum es ging, aber als Christen sollten wir doch freundlich sein, nicht wahr?“ – „Ja, ja, hast schon recht.“ Und dann ging er wieder in sein Büro.
Ende Februar bekam Herr Groß Besuch von einer Delegation des Bremer Senats. Die Politiker waren alle fein angezogen, während Herr Groß ihnen mit seinem farbverschmierten Kittel die Malerwerkstatt zeigte. Als sie dann die Spritzkabine betraten, bemerkte einer der Abgeordneten: „Oh, hier riecht es aber schon streng nach Lösemittel!“ Herr Groß stellte sich breitschultrig vor ihm hin, schob die Ärmel seiner dicken Arme hoch und sagte lächelnd: „Ja, wenn sie inne Malerhalle gehen, riecht das nach Lösemittel, und wenn’ se in Puff gehen, dann riecht das nach ***!“ (das Wort kann ich verständlicherweise hier nicht wiederholen). Während alle lachten über diese Obszönität, dachte ich nur: Der ist eindeutig ein falscher Christ! Wie kann er nur so etwas Frivoles sagen! Ich nahm mir vor, dem Herrn Groß einen Brief zu schreiben, um ihm meine biblische Sichtweise mitzuteilen; – aber erst nach dem Ende des Praktikums.
Am Montag, den 02.03.1987 wütete ein Schneesturm in Bremen. Es hatte schon seit dem frühen Morgen pausenlos geschneit, so dass gegen Mittag überall der Verkehr zum Erliegen kam, sogar auf den Autobahnen. Durch Schneeverwehungen sah man die Wagen nur noch wie große Schneehaufen. Als die Berufsschule gegen 16:00 Uhr beendet war, schneite es noch immer, und ich fragte mich, wie ich die 13 km nach Hause kommen könnte. Da die Autos und Busse alle standen und nichts voranging, blieben wir erstmal in der Malerhalle und warteten, bis der Schnee aufhöre. Ich sprach aus Langeweile einen Schüler an, der ein T-Shirt von Pink Floyd anhatte. Wir unterhielten uns zunächst über Musik und kamen dann auf den Glauben zu sprechen. Der Schüler bekannte mir, dass er Satanist sei und regelmäßig an Schwarzen Messen teilnehme. Ich wunderte mich, dass er mir so bereitwillig zuhörte, als ich über den HErrn Jesus sprach. Er sagte: „Wir Satanisten glauben alles, was in der Bibel steht, aber wir sind davon überzeugt, dass Satan der bessere Gott ist und am Ende gegen Jahwe siegen wird. Der einzige Unterschied zwischen Dir und mir ist, dass Du Deine Kraft von oben bekommst und ich von unten.“ Die Gelassenheit, mit der er dies sagte, ließ mich erschaudern. „Weißt Du nicht, dass Satan ein Lügner und Betrüger ist, der sogar seine eigenen Leute betrügt? Er weiß genau, dass er bereits den Kampf verloren hat und will jetzt noch möglichst viele in den Abgrund ziehen!“ Er widersprach mir: „Genau das Gegenteil ist der Fall: Das Christentum macht die Menschen zu Heuchlern und Lügnern, weil sie ständig im Widerspruch zu ihrer wahren Natur leben sollen. Satan hingegen lässt uns so leben, wie wir von Natur sind und bürdet uns keine Verbote auf. Dadurch sind wir Satanisten frei, während ihr in einer Sklaverei lebt.“ – „Solange ein Mensch in Sünde und Abhängigkeit lebt, kann er nicht wirklich frei sein. Der HErr Jesus gibt uns die Kraft, Kontrolle über unseren Willen zu erlangen, damit wir uns nicht durch die Sünde immer weiter verderben“ entgegnete ich.
Nun setzte sich auch Herr Groß zu uns, der das Gespräch vielleicht mitbekommen hatte. Er sagte: „Eines Tages wirst Du vor Jesus stehen, und dann wirst Du Ihm auf tausend Fragen keine Antwort geben können!“ – Der Schüler entgegnete: „Vielleicht wird es genau andersherum sein, dass Er mir auf tausend Fragen keine Antwort geben kann, denn das ist ja schon heute so. Ich würde Ihn z.B. fragen, warum Er all die anderen Religionen zugelassen hat, die den Menschen doch nur in die Irre führen, wenn Er doch eigentlich die Menschen zur Wahrheit führen will.“ – Herr Groß widersprach entschieden: „Gott hat den Menschen einen freien Willen gegeben, aber Er hat die anderen Religionen ja nicht selbst gestiftet, sondern die Menschen haben sich vom Teufel verführen lassen, damit sie durch die falschen Lehren ins Verderben gehen. Deswegen gibt es z.B. im Islam nur Mord und Totschlag. Mohammed hat zigtausend Menschenseelen auf die dem Gewissen, nicht nur der Ermordeten, sondern auch der verführten Mörder! Aber dafür kannst Du doch Gott nicht die Schuld geben! Die Schuld liegt allein beim Teufel, der die Menschen dazu verführt!“ – „Reden Sie mal nicht so schlecht über den Islam, denn die Muslime sind viel anständiger als viele Christen! Meine Freundin ist übrigens muslimische Türkin!“ Herr Groß war überrascht: „Waaas?!! Ich dachte immer, dass es den muslimischen Frauen verboten ist, einen Gottlosen zu heiraten!“ – „Wer sagt denn, dass wir heiraten wollen? Ihre Eltern wissen auch gar nichts von unserer Beziehung.“ – „Dann pass nur auf, dass sie das auch nie erfahren, denn sonst werden Dich ihre Brüder jagen und Dir den Schwanz abschneiden!“ – „Das mag sein. Aber ich habe mal eine Frage, Herr Groß: Sind sie eigentlich verheiratet?“ – „Nein. Warum?“ – „Dann haben Sie also nie Sex, nicht wahr?“ Was für eine Unverschämtheit – dachte ich – dass er den Lehrer so bloßstellt. „Doch!“ widersprach Herr Groß auf einmal und lächelte gelassen „ich habe schon meinen Spaß, keine Sorge.“
Was meinte er damit? fragte ich mich. Geht er etwa zu Prostituierten? Ich wollte es gar nicht wissen. Für mich war klar, dass Herr Groß nur ein Schein-Christ ist, der noch überhaupt nicht wiedergeboren ist. ‚Ich hab‘ schon meinen Spaß‘ – wie konnte er so was sagen! Anstatt zu sagen: ‚Nein, ich enthalte mich aus Liebe zum HErrn Jesus‘ – das wäre ein Zeugnis! Aber so ließ er den Jungen in dem Glauben, dass er zu Huren geht, obwohl der HErr das doch ganz klar verurteilt! Ich musste ihm jetzt endlich mal den Brief schreiben, wo ich ihm Punkt für Punkt mal von der Bibel nachweisen werde, dass er in Sünde lebt und ein falscher Christ sei, der unbedingt Buße tun müsse, da er sonst verloren geht! Und da mein Praktikum jetzt ohnehin zuende war und ich ihn nicht wiedersehen würde, konnte ich ihm ja ohne Furcht mal ordentlich die Meinung sagen!
Erst nach drei Stunden kam ich an jenem Abend nach Haus. Edgard und Hedi hatten sich schon Sorgen gemacht und mit dem Abendbrot noch gewartet. Ich erzählte ihnen alles und setzte mich nach der Bibelstunde an die Schreibmaschine, um dem Herrn Groß all das zu schreiben, was ich mir nicht getraut hätte, ihm direkt zu sagen. Seine Privatadresse in der Inselstr. 41 hatte ich aus dem Telefonbuch. Nur noch eine Briefmarke auf den Umschlag und ab in den Postkasten! Jetzt hatte ich meine Pflicht getan, wie es in Hesekiel 3 heißt, dass wir den Sünder warnen müssen, um keine Blutschuld auf uns zu laden. Zwei Wochen später, als ich bereits das Praktikum bei Malermeister Hillmer begonnen hatte, traf ich auf einmal Herrn Groß wieder, und zwar beim Farbengroßhändler Timpe. Er kam auf mich zu, grinste und sagte: „Na, Simon. Danke noch mal für Deinen Brief. Hast wohl gedacht, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. Aber keine Sorge – Deine Kritik ist ja weitestgehend berechtigt, und ich nehme Dir das nicht übel. Was machst Du denn hier?“ – Ich zitterte innerlich und sagte: „Ich mach jetzt ein Praktikum bei Malerfirma Hillmer. Und wenn er mit mir zufrieden ist, dann darf ich eine Ausbildung bei ihm machen.“ – „Ach das wäre ja gut,“ sagte Herr Groß. „Dann sehen wir uns ja noch öfter, denn Du musst ja dann die überbetrieblichen Ausbildungs-Maßnahmen bei mir in der Malerhalle im BFZ machen…“ Ich schluckte und sagte: „Ja, stimmt.“
Mein Arbeitsantritt bei Malereibetrieb Hillmer
Klaus Hillmer (*1938) hatte seit Gründung seines Malerbetriebes 1970 nur zwei Gesellen, die schon von Anfang an bei ihm waren, nämlich Werner Holle (*1951) und Rudi Heck (*1954). Schon am ersten Tag machte ich den Fehler, dass ich sie morgens ungefragt duzte, als ich sie fragte: „Wie heißt Ihr denn?“ Ich dachte, dass man sich als Kollegen duzen würde, aber sie sahen mich noch lange nicht als Ihresgleichen. Von der Werkstatt im Keller unseres Chefs fuhren wir mit dem Ford Transit zur Druckerei Jöngens, wo sie gerade am Arbeiten waren. Rudi stieg mit mir auf ein Rollgerüst, gab mir eine große Farbwalze, eine kleine Farbrolle und einen großen Heizkörperpinsel und erklärte mir: „Das hier nennt man ‚Geschirr‘, damit streichen wir beide jetzt die Decke, die Pfeiler und die Eisenträger. Du machst die linke Seite und ich mach die rechte. Und dann schieben wir das Gerüst immer ein Stück weiter.“ Dann zeigte er mir, wie man die Farbwalze an der Oberfläche des Farbeimers mit Farbe einrollt und dann wie einen Honiglöffel nach oben hebt, um die Farbe an der Decke abzurollen. Eigentlich ganz einfach, dachte ich. Und tatsächlich machte mir diese Arbeit überhaupt keine große Mühe, so dass ich genauso schnell war wie der Geselle. In der Mittagsspause fragte ich Rudi: „Was verdient man eigentlich so als Maler?“ – „Derzeit sind es 15,42 DM. Das sind im Monat etwa 1.800 DM im Monat netto.“ Das erstaunte mich sehr, denn ich bekam vom Arbeitsamt gerade einmal nur 250,- DM monatlich für mein Praktikum, obwohl ich schon am ersten Tag dieselbe Leistung brachte wie der Geselle. „Ist dir aufgefallen, dass ich genauso schnell bin wie Du?“ fragte ich Rudi. „Ja, aber Du lässt ja auch jede Menge Feiertage, die ich dann nacharbeiten muss!“ entrüstete sich Rudi. „Feiertage?“ fragte ich. „Das ist Malerdeutsch und heißt ‚Fehlstellen‘, wo Du nicht getroffen hast!“ – „Wieso Fehlstellen? Was meinst Du?“ fragte ich. Rudi erklärte: „Du hast z.B. die Eisenträger nie von oben mitgestrichen.“ – „Aber von oben sieht man doch ohnehin nichts, erst recht nicht in 5 m Höhe“ erklärte ich. „Das spielt keine Rolle. Wenn man etwas streicht, dann streicht man alles und lässt nichts aus!“
Schon bald merkte ich, dass Rudi in der Tat ein sehr pingeliger und pedantischer Malergeselle war, und dass nicht ich schnell, sondern er langsam war. Das lag wohl auch daran, dass er etwas dicker war und jeden Tag einen Liter Cola trank. Er glaubte wohl, dass die Cola ihm durch das Koffein Energie gäbe, aber tatsächlich raubte ihm die in der Cola enthaltene Glukose das letzte Insulin und damit auch die Energie zum Arbeiten, so dass er jeden Tag um 14:00 Uhr zu mir kam und fragte: „Na, Poppe, hast‘ noch Lust?“ (denn er hatte offensichtlich keine mehr). Sein Kollege Werner war hingegen fleißig und schlank, aber rauchte genauso viel wie Rudi und war obendrein sehr sarkastisch und jähzornig. Er hatte eine sehr starke Persönlichkeit, deshalb traute ich mich am ersten Tag noch nicht, vor ihren Augen in der Bibel zu lesen. Doch schon am zweiten Tag fragte mich Werner morgens: „Na, Simon, erzähl uns doch mal, welchen Vogel Du hast. Wir haben nämlich alle irgendeinen Vogel, und jetzt wollen wir mal wissen, welchen Vogel Du hast.“ Ich freute mich für diese Gelegenheit und antwortete: „Also, ich würde es zwar nicht einen ‚Vogel‘ nennen, aber verstehe schon, was Du meinst. Das Wesentliche bei mir ist, dass ich an Jesus Christus glaube und nach der Bibel lebe…“ Werner unterbrach mich: „Hey! Das ist ja wirklich lustig! Erzähl mal weiter!“ Dann begann ich, der Reihenfolge nach das Evangelium zu erklären, aber schon bald darauf unterbrach mich Werner wieder: „Also dann glaubst Du doch quasi nur, weil Du Angst hast vor der Hölle, nicht wahr?“ – „Nein, sondern weil ich die Botschaft Gottes für glaubwürdig halte!“ erwiderte ich. „Ach, das ist doch Quatsch. Die Bibel ist doch alles andere als glaubwürdig! Das haben sich doch alles nur ein paar Religionsführer ausgedacht, um die Leute bei der Stange zu halten. Und früher waren die Menschen alle sehr leichtgläubig, aber heute glaubt doch kein vernünftiger Mensch mehr an die Hölle oder an den Himmel!“ – Nach kurzer Überlegung sagte ich: „Ich halte es eher für unvernünftig zu glauben, dass alles purer Zufall ist und es am Ende völlig egal war, ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch war.“ – „Ja, und zwar, weil Du schon immer voller Ängste warst, – das meinte ich ja! Und deswegen willst Du lieber auf Nummer sicher gehen, weil Du Panik hast vor der Hölle. Aber überleg doch mal, was für ein Quatsch das ist. Willst Du das wirklich glauben?“ – „Ja, denn das Gott nicht ewig alles durchgehen lassen kann, macht für mich total Sinn. Eines Tages muss Er einen Schlußstrich ziehen, und dann wird abgerechnet mit all dem, was wir Menschen zu Lebzeiten getan haben. Und nur derjenige, der sich dann auf das Opfer Jesu berufen kann, wird vor Gottes heiligen Zorn gerettet sein!“ – Werner schüttelte den Kopf: „Ich merk´ schon – Dir haben sie ganz schön ins Gehirn geschissen!“
In der Mittagspause holte ich beim Essen meine Bibel hervor. Doch noch bevor ich sie aufschlug, sagte Werner zu mir: „Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?“ – „Doch. Ich lese jeden Tag in der Bibel“ erklärte ich. „Aber doch nicht auf der Arbeit!“ – „Wieso nicht? Das ist doch meine Sache!“ entgegnete ich. „Weil wir uns mit Dir unterhalten wollen.“ – „Das könnt Ihr doch auch während der Arbeit. Aber jetzt will ich nun mal in der Bibel lesen.“ Ich schaute nervös in den Bibellesekalender und schlug dann den Text auf, der gerade dran war. „Was liest Du denn da gerade? Lies uns mal vor!“ – „Das versteht Ihr aber nicht.“ – „Ey, sag mal, hältst Du uns für bekloppt?! Warum sollten wir das nicht verstehen!“ – „OK, wenn Ihr unbedingt wollt…“ Ich begann, vorzulesen: „‚Ein guter Name ist vorzüglicher als großer Reichtum, besser als Silber und Gold ist Anmut. Reiche und Arme begegnen sich; der HErr hat sie alle gemacht. Der Kluge sieht das Unglück und verbirgt sich; die Einfältigen aber gehen weiter und müssen es büßen. Die Folge der Demut und der Furcht des HERRN ist Reichtum und Ehre und Leben. Dornen und Schlingen sind auf dem Weg des Verschlagenen; wer sein Leben bewahren will, hält sich fern von ihnen. Erziehe den Knaben seinem Weg gemäß; er wird nicht davon weichen, auch wenn er älter wird…‘“ Werner unterbrach: „Oh hör auf! Das ist doch totaler Käse, was Du da liest!“ – „Ich hab‘ ja gesagt, dass Ihr das nicht versteht. Ihr seid eben nur die einfachen Texte aus der BILD-Zeitung gewohnt und habt für sowas keinen Sinn.“ – „So ein Schwachsinn! Dass Du nicht merkst, was für ein dummes Geschwurbel das ist!“ – „Lest Ihr nur einfach weiter Eure BILD-Zeitung, und ich lese meine Bibel!“ Ich las weiter und achtete nicht darauf, als Werner weiter schimpfte: „Erzähl doch mal, was Du an diesem Blödsinn nun toll findest?! – Ey, Poppe, ich rede mit Dir!“ Ich reagierte nicht. Dann bewarf mich Werner mit einer Papierkugel. Ich reagierte noch immer nicht. Er warf weiter gezielt mit Papierkugeln gegen mein Gesicht, so dass ich grinsen musste. „Hey, Poppe, antworte gefälligst!“ Nun schoss er die Papierkugeln mit Wucht gegen mein Gesicht. „Du musst das mal respektieren, wenn ich Deine Fragen nicht beantworten will. Lass mich jetzt mal in Ruhe!“ – Werner wusste zunächst nicht, was er darauf sagen konnte: „Wir tragen aber eine Verantwortung für Dich und dürfen nicht zulassen, dass Du durch solch ein Buch immer mehr verblödest!“ Ich schaute auf, aber er merkte dann selber, dass er dummes Zeug redete.
Nach einer Woche Probezeit, sollte ich Freitagmittag nach der Arbeit ins Büro von Herrn Hillmer kommen. Ich war voller Aufregung und hatte inständig dafür gebetet, dass er mich doch nehmen möge. Nachdem wir zunächst Belangloses geplaudert haben, kam er auf einmal zu mir und sagte: „Du hast ja fleißig mitgearbeitet in der Woche, deshalb sollst Du auch eine kleine Anerkennung bekommen…“ Dann gab er mir 150,- DM in die Hand, und ich bedankte mich sehr. Und dann sagte er: „Ich hatte bisher noch nie einen Lehrling und hatte auch nie vor, einen zu nehmen, aber ich will bei Dir mal eine Ausnahme machen.“ Mein Herz hüpfte innerlich vor Freude und ich bedankte mich vielmals bei ihm. Dann schob er mir zwei Lehrverträge zu und bat mich, einen der beiden zu unterschreiben, was ich sofort tat. Dann erklärte er mir, dass ich bis zum Beginn des Lehrjahres am 01.08.1987 gerne noch weiter mein Praktikum bei ihm machen könne. Er reichte mir die Hand, und wir verabschiedeten uns. Als ich nach draußen ging, strahlte die Sonne gleißend hell in mein Gesicht, und ich dankte Gott von ganzem Herzen, dass Er mir diese Freude bereitet hatte. Ich war überglücklich und wusste nun, dass Gott für mich einen wunderbaren Weg bereitet hatte.
Wehrdienstverweigerung
Auch Edgard und Hedi freuten sich sehr über mein Glück, und Hedi erzählte, dass sie von Anfang an – seit ich bei ihnen wohnte – regelmäßig einen Geldbetrag für mich angespart hatte, damit ich einen Führerschein machen könne. Inzwischen sei nun so viel angespart, dass ich mich bei einer Fahrschule anmelden könne, um erstmal theoretischen Unterricht zu nehmen. Ich dankte Hedi sehr für dieses schöne Geschenk und nahm schon bald darauf meine ersten Unterrichts- und Fahrstunden. Unterdessen bekam ich auf einmal Post von der Bundeswehr und wurde zusammen mit meinem Bruder Marcus zur Musterung geladen. Die Musterung ist eine gesundheitliche Untersuchung, um die Wehrtauglichkeit zu ermitteln, an der jeder 18-Jährige teilnehmen muss, selbst wenn er den Wehrdienst verweigern will. Für mich war ganz klar, dass ich als Christ niemals eine Waffe verwenden dürfe, da Gott uns in Seinem Wort ja das Töten von Menschen verboten hatte. Zum Glück gab es damals die Möglichkeit, statt des 15-monatigen Wehrdienstes einen 18-monatigen Zivildienst in einer sozialen Einrichtung zu verrichten. Da ich ja ohnehin eigentlich mal in die Krankenpflege gehen wollte, war für mich klar, dass ich meinen Zivildienst im Krankenhaus machen wollte.
Doch zuvor musste ich dafür einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung stellen und diesen entsprechend begründen. Das war für mich ein Leichtes – so dachte ich zumindest – denn ich hatte ja das Wort Gottes diesbezüglich auf meiner Seite. So begründete ich ausführlich anhand der Bibel, warum es für einen echten Christen undenkbar sei, anderen Menschen ein Leid anzutun und war froh, dass ich mehr als die meisten Jugendlichen dies auch biblisch begründen konnte. Um so größer war dann meine Überraschung, als ich plötzlich einen Ablehnungsbescheid erhielt. Ich sollte nun doch zum Wehrdienst antreten, weil aus Sicht des Kreiswehrersatzamts meine Verweigerung als unbegründet abgelehnt wurde. Wörtlich hieß es in dem Schreiben: „Sie haben uns zwar ausführlich wissen lassen, was die Bibel ihrer Ansicht nach zu dem Thema zu sagen hat, haben es jedoch versäumt zu begründen, warum SIE SELBST nicht am Wehrdienst teilnehmen können bzw. wollen.“ Was sollte das denn jetzt heißen?! Mein Wille und der Wille Gottes waren doch schließlich identisch – das brauchte ich doch nicht extra zu erwähnen! Waren die denn wirklich so schwer von Capeé? Zum Glück gab es noch eine Frist von einem Monat, in welchem ich diesen Bescheid anfechten und widersprechen konnte. Da ich aber ohnehin zur Musterung geladen wurde, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um mal mit denen zu sprechen, was ich denn sonst hätte schreiben müssen.
Am 10.04.87 fuhr ich mit Marcus zum Bundeswehrhochhaus in die Falkenstr. und ließ mich dort von Kopf bis Fuß untersuchen. Als die beiden Ärzte meine Knie sahen, fragte sie mich, warum ich dort so eine dicke Hornhaut hätte. Ich schämte mich zu bekennen, dass dies vom Beten käme und sagte, dass dies vielleicht an der Arbeit auf Knien läge. Sie empfahlen mir deshalb, in Zukunft Knieschützer zu tragen, da sonst die Gefahr einer Schleimbeutelentzündung bestünde. Ansonsten erachteten sie mich für kerngesund und gaben mir die Tauglichkeitsnote „2“. Dann ging ich in das Büro des Sachbearbeiters, der mir die Antragsablehnung geschickt hatte und fragte, warum er meine Begründung nicht annahm. Zu meiner Überraschung sagte er: „Ich bin auch Christ und könnte Ihnen mit der Bibel problemlos beweisen, dass der Wehrdienst absolut biblisch ist, z.B. um Leben zu retten. Aber auf solch eine Diskussion möchte ich mich jetzt gar nicht einlassen. Wenn Sie den Wehrdienst nicht machen wollen, dann müssen Sie in Ihrem Widerspruch darlegen, dass dies Ihre persönliche Gewissenslage nicht zulasse. Sie können z.B. schreiben, dass Sie unfähig sind, auf einen Menschen zu schießen. Das würde ich dann auch so akzeptieren. Aber kommen Sie mir nicht wieder mit der Bibel, denn die kann man ganz nach Wunsch in jede Richtung auslegen.“
Als Marcus und ich wieder draußen auf dem Parkplatz waren, unterhielten wir uns über den Glauben. Ich fragte Marcus, ob er irgendeine Frage hätte, die er von mir wissen wolle. Marcus sagte: „Ich gehe seit Kurzem in eine Baptistengemeinde, und mir ist aufgefallen, dass die alle zu Jesus beten, während Du immer zum Vater betest. Was ist denn aber nun richtig nach der Bibel? Oder ist es ganz egal, ob wir zum Vater oder zu Jesus beten?“ – „Nein, egal ist das nicht“ antwortete ich. „Vielmehr gibt es kein einziges Gebot in der Bibel, dass wir zum HErrn Jesus beten sollen, aber dafür um so mehr Aufforderungen, zum Vater zu beten, z.B. im ‚Vaterunser‘. Die Apostel und die ersten Gläubigen haben immer alle zum Vater gebetet, aber ‚im Namen des HErrn Jesus‘. Die heutigen Evangelikalen beten überhaupt nicht mehr zum Vater, als wären sie nicht würdig genug. Wenn sie aber mehr in der Bibel lesen würden, dann wüssten sie, wie es richtig ist.“ Dann zeigte ich Marcus mehrere Bibelstellen, die das Gebet zum Vater belegten, und Marcus notierte sich diese. „Gibt es echt keinen einzigen Hinweis darauf, dass auch zum HErrn Jesus gebetet wurde?“ – „Nein, gibt es nicht“ versicherte ich ihm. Marcus war damals total demütig und fraß mir völlig aus der Hand. Diese Unterhaltung damals war jedoch die letzte, dass Marcus auf mich hörte. Denn schon ein paar Tage später rief er mich aufgeregt an und sagte: „Du hast Dich geirrt, und ich habe Dir blind vertraut! Denn es gibt sehr wohl Hinweise in der Bibel, dass die Jünger zum HErrn Jesus beteten: z.B. heißt es in 1.Kor.1:2 ‚…und allen, die an jedem Orte den Namen unseres HErrn Jesus Christus anrufen‘. Und auch Stephanus betete zu Jesus bei der Steinigung!“ – „Nein, er redete mit Ihm, weil er Ihn von Angesicht sah!“ stellte ich richtig. „Und auch das Anrufen des Namens ist nicht das Gleiche wie ein normales Gebet, sondern eher ein Ausrufen Seines Namens, wenn man z.B. in Not gerät.“ – „Und was ist mit dem Gebet am Ende der Bibel: ‚Amen, komm HErr Jesus!‘?“ – „Ich seh´ schon, – Du hast Dir von jemand anderem Bibelstellen geben lassen. Aber selbst wenn diese eine Aussage ein Gebet wäre – was ist dann mit all den anderen Bibelstellen, die ich Dir genannt habe? Zum Beispiel in Eph.3:14, wo Paulus sagt: ‚Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Gott und Vater…‘ usw.?“ – „Ich sag ja nur, dass Du nicht behaupten kannst, dass es gar keine anderen Stellen gäbe!“
Der Kirchentag in Frankfurt
Am 20.06.87 war der Ev. Kirchentag in Frankfurt am Main, und Ralf Schiemann hatte mich und Raimund eingeladen, mit ihm daran teilzunehmen, um unter den Besuchern christliche Schriften zu verteilen. Wir waren schon ein Tag vorher angereist, und Ralf erzählte uns, wie er gerade Ärger mit der Schulbehörde hatte, weil er sich weigerte, seine Tochter Rahel (7) einzuschulen. Er erklärte uns, dass die Erziehung und Bildung der Kinder nach der Schrift in der Verantwortung der Eltern läge, weshalb man seine Kinder nicht einfach leichtfertig in die Hände von gottlosen Lehrern geben dürfe, die ihnen falsche Lehren beibrächten oder zur Sünde verleiten könnten. Ebenso seien aber auch die anderen Schulkinder eine Gefahr, wenn sie nicht aus einem gläubigen Elternhaus kämen, das sie all die weltlichen Dinge und Ansichten mit in die Schule brächten, um dadurch die noch ungefestigten Kinder der Gläubigen zu verführen. Ich konnte dem Ralf aus eigener Erfahrung nur zustimmen und fand das gut, dass er sich sogar mit dem Staat anlegte.
Am nächsten Morgen brachen wir früh auf nach Frankfurt, bewaffneten uns mit Flyern und betraten das Gelände des Kirchentages, das schon voll war mit Besuchern. Erstaunlicherweise stand die ganze Veranstaltung unter dem Thema „Südafrika“, denn überall sah man Protestveranstaltungen wegen der Kritik an der dortigen Apartheitspolitik. Während Ralf und ich dann Seite an Seite Schriften verteilten, trafen wir plötzlich auf einen Bekannten von Ralf, und zwar den Straßenprediger Norbert Homuth. Sie begrüßten sich herzlich und Ralf stellte mich dem Bruder Norbert vor. Dieser erklärte, dass er zusammen mit dem Bruder Joachim Krauß da sei, der gerade auf dem großen Platz am Predigen war. Als ich den Namen hörte, erinnerte ich mich daran, dass dies jener Bruder war, durch den ich zwei Jahre zuvor den Bruder Edgard in Bremen kennengelernt hatte und freute mich sehr, ihn wiederzusehen.
Als wir auf dem großen Platz ankamen, war dieser voll mit Menschen, etwa 200, die dem Joachim zuhörten und sich rund um ihn niedergelassen hatten. Den ermahnenden Worten von Bruder Joachim folgten immer wieder spöttische Zwischenrufe der Leute, aber das schien ihm nichts auszumachen. So stellte ich mir die Kreuzigung Jesu vor, von der es in Psalm 22:7 heißt: „Alle, die mich sehen, spotten meiner; sie reißen die Lippen auf, schütteln den Kopf…“ Wie kann man nur ganz allein gegen eine solche Meute anreden! dachte ich. Was für ein Held! Ralf und ich mussten ihm unbedingt zur Seite stehen! Auf einmal rief einer neben uns: „WO WAR GOTT DENN IN AUSCHWITZ?“ Gelassen antwortete Ralf: „Gott hat Auschwitz nicht nur zugelassen, sondern sogar angeordnet!“ Der Mann drehte sich erschrocken um zu Ralf, der direkt hinter ihm stand: „Was sagen Sie da?“ fragte er verunsichert. „Das sagt Gott durch den Propheten Jeremia: ‚Ich werde zu vielen Fischern senden, damit sie sie fischen, und dann werde Ich zu vielen Jägern senden, damit sie sie jagen…‘. Der Holocaust war ein Gericht Gottes an Seinem Volk, weil sie nicht Buße getan haben. Aber zugleich gebrauchte Gott diesen auch, um Sein Volk wieder ins verheißene Land zurückzubringen, da sie sonst wohl kaum gewollt hätten.“ – „Das ist ja eine Unverschämtheit, was Sie da behaupten! Der Holocaust beweist doch eher, dass es einen solchen Gott gar nicht geben kann, der Seinem eigenen Volk so viel Leid aufbürdet!“ entgegnete der Mann. „Die Bibel sagt aber, dass…“ – „Sie brauchen mir nicht erklären, was in der Bibel steht, denn ich bin evangelischer Theologe und kenne die Bibel!“ – „Na, dann wissen Sie ja auch, dass Gott Seinem Volk nicht nur den Segen, sondern auch den Fluch angekündigt hat für den Fall, dass sie Ihn verlassen würden…“ – „Wo steht das denn in der Bibel?!“ – „Ich dachte, Sie kennen die Bibel. Das steht in 5.Mose 28. Wenn Sie wollen, lesen wir das gemeinsam.“ Und tatsächlich lies der Mann zu, dass Ralf ihm die Passage vorlas. Ich war völlig irritiert, dass dieser Mann Theologie studiert hatte, obwohl er offensichtlich gar nicht an Gott glaubt. Wie konnte man nur solche Theologen auf das Kirchenvolk loslassen!? Doch schon kurz darauf geriet ich selbst in die „Fänge“ solcher Theologen:
Beim Verteilen von Flyern, hielten zwei Theologen an und fragten mich nach meiner Meinung über jene Volkszählung, die einen Monat zuvor stattgefunden und viele Deutschen damals auf die Barrikaden brachte. Ich erklärte, dass Josef und Maria sich ja auch zählen ließen und deshalb nichts Falsches daran sei. Sie baten mich nun, gemeinsam 2.Sam.24 zu lesen, wo Gott den David und Sein Volk schwer bestrafte wegen der Volkszählung. Ich hatte darauf keine Antwort und geriet in Verlegenheit. Auf einmal blieben immer mehr Leute stehen, um die Diskussion mitzuverfolgen. Da sah ich zum Glück den Bruder Ralf von Ferne und winkte ihm zu: „Ralf, helf mir!“ Die Zuhörer werteten dies als Feigheit, doch als Ralf dann die Diskussion übernahm, konnte er mit Seinem Bibelwissen die Theologen zum Schweigen bringen und die Zuhörer beeindrucken.