„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 17
Juli – Dezember 1988
Der Besucher aus Peru
Schon im Jahr zuvor bekam Bruder Edgard eines Tages einen Brief von einer gewissen Ulrike Miralles, – vielleicht als Reaktion auf seine evangelistischen Briefe an Hinterbliebene aus den Todesanzeigen der Zeitung. Ulrike (ca. 45 J.) hatte gerade zwei schwere Schicksalsschläge zu verkraften: Zuerst wurde sie mit ihren vier Kindern von ihrem spanischen Ehemann verlassen, weil dieser sich in eine jüngere verliebt hatte. Und dann erlitt sie mit ihren drei Töchtern ein furchtbares Trauma, als ihr einziger Sohn beim Überqueren der Hauptstraße plötzlich zwischen zwei Straßenbahnen geriet und vor ihren Augen starb. In ihrer Not suchte sie nun Trost bei Gott und berichtete in ihrem Brief, dass sie schon in verschiedenen Kirchen war, aber den Eindruck hatte, dass all diese den Glauben nicht wirklich ernst nahmen. Als sie uns dann irgendwann im Jahr 1987 das erste Mal besuchen kommen wollte, war ich sehr neugierig, denn sie hatte angekündigt, dass sie neben ihren 10 und 11 Jahre alten Töchtern Diana und Elena auch noch eine 15-jährige Tochter namens Carmen hatte. Ich dachte: vielleicht ist sie ja hübsch und würde mich später mal heiraten, wenn sie volljährig ist. Als sie dann aber kamen, stellte sich heraus, dass Carmen psycho-somatisch „verhaltensauffällig“ war. Oft stand sie einfach nur geistig abwesend vor uns mit herabhängenden Händen und offenem Mund, während ihr aus dem Mundwinkel Sabber rauslief. Wenn man ihr zur Begrüßung die Hand geben wollte, hielt sie diese nur kraftlos nach vorne, ohne selbst den Griff zu erwidern. Auch sprach sie nur dann etwas, wenn man sie fragte. Ihre beiden Schwestern hingegen waren genau das Gegenteil, nämlich aufgeweckt und kerngesund.
Mutter Miralles war auch irgendwie merkwürdig. Sie war sehr schlank, aß aber mit ihren Töchtern jedes Mal zwei oder drei Portionen, wenn sie bei uns zu Mittag aßen, als hätten sie eine Woche lang nichts gegessen. Sie hatte auch ein energisches Temperament und einen starken Willen, aber trotzdem ordnete sie sich völlig den Regeln der Bibel unter. So trug sie stets ein Kopftuch, lange Ärmel und einen langen Rock. Auch kam sie jeden Sonntag zum Gottesdienst und blieb dann den ganzen Tag mit ihren Töchtern bei uns. Schon nach ein paar Wochen ließ sie sich taufen, zusammen mit ihrer Tochter Carmen. Edgard bat mich, für die beiden kleineren Töchter Kinderstunde zu halten, indem ich ihnen beim Wandern im Wald die Geschichten aus der Bibel erzählte. Während dieser Spaziergänge berichteten die Mädchen mir natürlich auch ungefragt Dinge über ihre Familie. Dies war Mutter Ulrike allerdings gar nicht recht, so dass sie sich an Edgard wandte und dieser dann an mich:
„Simon, die Schwester Ulrike will nicht mehr, dass Du mit ihren beiden Töchtern in den Wald gehst, um Kinderstunde zu halten.“ – „Na sowas. Hat sie auch einen Grund genannt, warum nicht?“ wollte ich wissen. „Ja. Sie macht sich Sorgen, weil Du ja ein junger Mann bist und könntest ihre Töchter verführen.“ – „Das hat Sie wirklich gesagt?! Das find ich aber echt schlimm, dass sie so von mir denkt, denn das würde ich doch nie machen. Wie kann sie nur sowas behaupten! Sie kann doch ihre Töchter fragen, dass ich bisher immer nur mit ihnen über die Bibel gesprochen habe!“ – „Na ja, sie sagt, dass Du aber auch manchmal mit ihnen rumgealbert hast.“ – „Häh?“ – „Als sie Dir z.B. erzählt hatten, dass ihre Mutter schon mal eine Zeitlang in China gelebt habe, sollst Du zu ihnen gesagt haben, dass Du auch schon mal in China warst, nämlich mit dem Finger auf der Landkarte!“ – „Ach, das war doch nur ein Mal, um sie etwas aufzuheitern. Aber sonst rede ich immer nur vernünftig mit ihnen.“ – „Mag ja sein. Aber Du siehst ja: der Feind schläft nicht, und was wir im Verborgenen reden, wird einmal von den Dächern posaunt werden. Aber es spielt ohnehin keine Rolle: Wir müssen den Wunsch von Ulrike respektieren.“
Als die Sommerferien begonnen hatten, begann ich, sämtliche Kellerräume von Edgards Haus zu streichen, sowie die Fußböden zu lackieren. Während ich abends noch am Streichen war, fiel mir plötzlich auf, dass an jenem Tag mein 20. Geburtstag war, den ich mal wieder gar nicht gefeiert hatte. Hedi war froh, dass sie jetzt ihren eigenen Maler hatte und erzählte stolz von mir in der Nachbarschaft. Schon bald wollte auch die Nachbarin Frau Dzyblow, dass ich ihre Küche tapezieren solle, und die andere Nachbarin, Frau Prawdczyk, wollte ihre Türen von mir lackiert haben. Ich erbat 10,- DM die Stunde, aber Edgard meinte, das sei viel zu viel, zumal ich doch erst ein Lehrjahr hintern mir hätte. Meine Schwester Diana hingegen war gerne bereit, mir 10,- DM/Std. zu zahlen, wenn ich ihren alten VW-Käfer mit Pinsel und Rolle rot lackieren würde und dann noch schwarze Kreise draufmale, damit er aussieht wie ein Marienkäfer. Ich war selbst überrascht, dass der hässliche VW-Käfer am Ende wie neu aussah.
Doch während ich noch am Lackieren war, kam Edgard zu mir und sagte: „Simon, stell Dir vor: eben gerade hat jemand aus Peru angerufen, der im Moment in Bremerhaven wohnt und uns besuchen will. Er hatte nach Dir gefragt, denn er hat von Dir durch Bruder Arthur Vincent gehört. Er ist gläubig und kommt aus der Gemeinde in Lima. Ich fahr mal eben zum Bahnhof und hol ihn ab.“ Kurz darauf erschien Edgard mit einem jungen Mann namens Ricardo Pineda (33), der über das ganze Gesicht grinste und offensichtlich gut gelaunt war. Er sprach gebrochen deutsch und erzählte, dass er als Ingenieur der Fischindustrie ein Stipendium von der Carl-Duisberg-Gesellschaft bekommen habe, um ein Jahr in Deutschland zu verbringen und die hiesige Fischindustrie kennenzulernen. Er sei seit einem Jahr ein wiedergeborener und getaufter Christ und gehe in eine kleine Hausgemeinde in Lima, die von einem gewissen Luis Condori geleitet werde. Aber sie bekämen auch regelmäßig Besuch vom kanadischen Missionar Arthur Vincent, der ihm gesagt hatte: „Wenn Du nach Bremen kommst, dann frage mal nach Bruder Simon Poppe.“ Als er dann in der Bremer Fußgängerzone eine evangelistische Freiversammlung sah, sprach er sie an und fragte, ob sie einen Simon Poppe kennen. Sie sagten: „Ja. Aber was willst Du von ihm?“ Ansonsten waren sie sehr unfreundlich und wollten ihm nicht helfen. „Das war bestimmt die Missionsgemeinde. Denn die sind nicht gut auf mich zu sprechen, seit ich sie verlassen habe“ sagte ich.
Edgard und Hedi hatten durch Stanley Bown auch schon erfahren, dass es von unserer Gruppierung auch viele Ableger in Südamerika gäbe. Um so neugieriger waren sie nun, um möglichst alles über die Gläubigen in Peru zu erfahren. Den ganzen Nachmittag fragte sie Ricardo aus beim Kaffee und Kuchen, so dass ich merkte, dass es Ricardo allmählich lästig wurde. Als Hedi ihn dann fragte, ob es denn eigentlich im Versammlungsraum in Lima auch ein Kreuz an der Wand gäbe, sagte Ricardo auf einmal trocken: „Nein, ein Kreuz haben wir nicht; aber wir haben vorne einen großen Buddha!“ Da mussten Ricardo und ich beide sehr lachen, aber Edgard und Hedi fanden das gar nicht lustig. Sie waren auch von mir enttäuscht, dass ich über solch einen Scherz mitlachte, aber ich konnte es mir nicht verkneifen.
Als Ulrike am darauffolgenden Sonntag kam, konnte sie mit Ricardo problemlos auf Spanisch sprechen, das sie ja wegen ihres spanischen Ex-Mannes fließend beherrschte. Da kam Edgard die Idee, Kontakt mit den Geschwistern in Peru aufzunehmen, indem Ulrike Briefe von Edgard ins Spanische übersetzte. Dies tat Ulrike dann jedes Mal mit akribischer Leidenschaft. Schon bald darauf erhielten wir Antwortbriefe aus Peru, die Ulrike uns dann ins Deutsche übersetzte. Doch irgendwann bekam Edgard ein ungutes Gefühl, das Ulrike die Briefe vor der ganzen Gemeinde synchron übersetzte und sagte zu mir: „Sag mal, Simon: Was hältst Du davon, wenn Du auch mal Spanisch lernst. Denn Du bist noch jung und kannst diese Sprache bestimmt schnell erlernen. Mir wäre es nämlich lieber, wenn dann irgendwann Du die Briefe übersetzen könntest, weil Du ein Mann bist.“ Da ich dies ohnehin vorhatte, fing ich sofort damit an und lieh mir ein Spanisch-Deutsches Wörterbuch, um Vokabeln zu lernen. Aber schon bald merkte ich, dass das gar nicht so einfach war, zumal ich auch nicht die richtige Aussprache wusste. Ich meldete mich darauf in einem Spanischkreis in der Schule an, den ein Lehrer kostenlos für andere Lehrer anbot. Aber schon nach zwei Unterrichtsstunden merkte ich, dass das nichts für mich war. Also ging ich in die Bibliothek und lieh mir einen Sprachkurs aus mit Kassetten, wodurch ich nach jeder gelernten Lektion auch die Aussprache auf Kassette hören und nachsprechen konnte. Von nun an lernte ich jeden Tag, und es machte mir Spaß, als ich sah, dass ich nach und nach mehr Texte verstand.
Ricardo blieb noch ein halbes Jahr bei uns und kam jedes Wochenende zu Besuch. Als er einmal in mein Zimmer ging und mich beim Lesen in der Bibel fand, fragte er mich: „Na, Simon, was studierst Du denn gerade?“ Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Ich rechne gerade aus, wann der HErr Jesus wiederkommen wird.“ – „Aber sagt der HErr Jesus nicht, dass wir weder den Tag noch die Stunde wissen können, wann der HErr kommt…“ – „Das stimmt,“ sagte ich, „aber Er hat nicht gesagt, dass wir auch das Jahr nicht wissen können, sondern erwartet im Gegenteil sogar von uns, dass wir es errechnen sollen. Denn sonst würden all die Hinweise auf Zeiträume von z.B. ‚42 Monaten‘ oder ‚1260 Tagen‘ gar keinen Sinn ergeben, wenn der HErr nicht wollte, dass wir durch diese den Zeitpunkt Seiner Wiederkunft errechnen.“ Ricardo überlegte: „Ja, könnte sein, dass Du rechthast, denn mir fällt gerade ein, dass die Magier aus dem Morgenland ja auch den Zeitpunkt des ersten Kommens des Messias herausgefunden hatten…“ – „Genau, und der steht z.B. in Daniel 9:25.“ – „Und zu welchem Ergebnis bist Du bisher gelangt?“ fragte Ricardo. „Also, auf jeden Fall kommt der HErr um das Jahr 2030 wieder, und wahrscheinlich im Juni, nämlich 3 ½ Jahre nachdem auch der alttestamentliche Antichrist den Gräuel der Verwüstung aufgestellt hatte, was man in 1.Makk.1:54 lesen kann. Das ist zwar ein apokryphisches Buch, aber die berichteten Ereignisse darin decken sich mit der anerkannten Geschichtsforschung. Ich vermute, dass sich alles genauso wiederholen wird.“ Ricardo konnte meinen Erklärungen nicht folgen, hielt es aber auch nicht für notwendig.
Menschliches Versagen
An einem Nachmittag Mitte August waren wir gerade auf einem Gerüst am Arbeiten, als Rudi plötzlich hochrief, er habe gerade eben im Radio gehört, dass zwei Gangster auf der Flucht sind in Bremen-Nord: „Stellt Euch nur vor: die waren heute Mittag hier in der Innenstadt an der Vegesacker Rampe und haben sogar noch einen Einkaufsbummel gemacht, aber die Polizei hat nicht zugegriffen, weil sie zwei Geiseln mit sich haben.“ – „Wie, jetzt echt? Hier in Vegesack?“ fragte ich erschrocken. „Ja, hier in Bremen-Nord!“ sagte Rudi. Zu gerne wollte ich damals sofort wissen, wie die Geschichte weiterging, aber ich erfuhr es erst am nächsten Tag in der BILD-Zeitung: Am Tag zuvor hatten zwei Gangster eine Bankfiliale überfallen und dann zwei Bankangestellte als Geiseln genommen, und zwar Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32). Auf der Flucht vor der Polizei haben sie dann noch Rösners Freundin Marion Löblich mitgenommen und fuhren dann nach Bremen-Nord, wo ihre Mutter wohnte. In der dortigen Innenstadt hätte es dann die beste Zugriffsmöglichkeit für die Polizei gegeben, denn während Rösner über eine Stunde lang mit seiner Freundin Einkäufe erledigte, sollte sein Kumpel Degowski in einer Nebenstraße im Auto die Geiseln bewachen. Völlig übermüdet, schlief er dabei ein; doch die Geiseln trauten sich nicht, auszusteigen, um zu fliehen. Vor den Augen der Polizei, die Degowski aus einem Versteck beobachtete, ging er sogar einmal kurz Pinkeln. Aber die Beamten waren so nervös, dass sie wie gelähmt einfach nur zuschauten und untätig blieben (Anders habe ich die Bremer Polizei bisher auch nie kennengelernt).
Anschließend waren die Banditen dann mit der Fähre auf die andere Seite der Weser übergesetzt und haben in Delmenhorst dann einen BMW von einer Leihfirma gestohlen. Mit diesem fuhren sie dann nach Bremen-Huckelriede (etwa 1,5 km von meinem jetzigen Wohnsitz entfernt), wo sie am Abend einen ganzen Linienbus in ihre Gewalt brachten. Sie forderten, dass ihnen im Austausch der 30 Geiseln ein einziger Polizeibeamter in Handschellen übergeben werde, um ihre Flucht fortzusetzen; aber keiner der Polizisten war dazu bereit, sich zu opfern. Da auch keine Kommunikation mit der Polizei zustande kam, fuhren die Gangster schließlich mit ihren Geiseln los Richtung Hamburg. Bei der Raststätte Grundbergsee mussten sie dann anhalten, weil Marion Löblich dringend auf Toilette musste. Da nutzten zwei Polizisten eigenmächtig die Gelegenheit, um sie zu überwältigen. Die Gangster gaben daraufhin eine Frist von fünf Minuten, um ihre Komplizin wieder freizulassen, da andernfalls eine der Geiseln erschossen werde. Man ließ sie dann zwar frei, aber leider eine Minute zu spät, sodass Degowski den 15-jährigen Italiener Emmanuelle kaltblütig in den Kopf schoss. Doch während bei Geiselnahmen normalerweise auch immer ein Krankenwagen die Polizei begleitet, hatte man es hier schlichtweg vergessen, sodass erst vom 20 km entfernten Rotenburg ein Krankenwagen gerufen werden musste. Als dieser 20 Minuten später eintraf, war der 15-Jährige bereits verblutet.
Doch noch immer war das Geiseldrama nicht beendet, und wir fieberten alle am nächsten Tag am Radio, wie die Geschichte am Ende ausgehen würde. Am Nachmittag des 18.08.88 erfuhren wir dann den Fortgang der Ereignisse: Der Bus war umgedreht und Richtung Holland gefahren. Am Grenzübergang konnten sie schließlich einen Großteil der sie verfolgenden Journalisten loswerden, da der alarmierte Zoll diese nicht durchließ. Doch die niederländische Polizei forderte dann, sofort die Kinder unter den Geiseln freizulassen, da man sie sonst nicht weiterfahren ließe. Bereitwillig ließen die Gangster dann einen Großteil der Geiseln frei, die ihnen allmählich ohnehin zur Last wurden. Sie behielten nur noch zwei 18-jährige Mädchen und stiegen in ein von der Polizei bereitgestelltes Fluchtauto. Dann ging die Fahrt zunächst nach Wuppertal, wo sie etwas zu Essen besorgten und fuhren dann in die Kölner Innenstadt. Dort wurden sie sofort von unzähligen Journalisten umringt, denen sie bereitwillig Interviews gaben. Das Auto war in der Fußgängerzone von Hunderten Schaulustigen umstellt, so dass ein Eingriff der Polizei zu gefährlich war. Die Reporter boten den Gangstern Kaffee an und waren sofort per Du mit ihnen. Einer machte dann sogar den Weg frei und setzte sich zu ihnen ins Auto, um ihnen den Weg aus der Stadt zu zeigen, da sie sich nicht auskannten – ein absoluter Skandal! Doch schon eine halbe Stunde später wurden sie dann auf der Autobahn A8 in der Nähe von Bad Honnef vom SEK zum Stehen gebracht und zur Aufgabe gezwungen. Im Kugelhagel mit der Polizei wurde dann eine der beiden Geiseln versehentlich erschossen, nämlich Silke Bischoff. Auch ihr Tod hätte sicherlich vermieden werden können, wenn die Bremer Polizei nicht so fürchterlich versagt hätte.
Menschliches Versagen war dann auch zehn Tage später die Ursache, als auf einer Flugschau bei der US Air Base im pfälzischen Ramstein 70 Menschen verbrannten und ungefähr 1000 mit z.T. schwersten Brandverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert wurden, nachdem zuvor einer der Düsenjets nach einem Zusammenprall in der Luft in die Zuschauermenge raste und explodierte. Wie schrecklich müssen die Schmerzen der Überlebenden gewesen sein! dachte ich damals. Warum hatte Gott ausgerechnet ihnen dieses Leid zugemessen? Unter den Opfern gab es ja auch viele Kinder, die mit ihren Eltern damals an diesem Tag der offenen Tür teilnahmen. Manche blieben zwar unverletzt, aber mussten mit ansehen, wie Menschen halb verbrannt mit schmerzverzerrtem Gesicht im Chaos um Hilfe schrien. Werden sie diese Bilder im Kopf je wieder los? Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass für jeden Menschen von Anfang an der Tag des Todes fest bestimmt ist und Gott jeden von ihnen zuvor rechtzeitig gewarnt hat.
Ein Jahr zuvor hatte ich eine solche Warnung Gottes selbst ganz deutlich erfahren, als ich im Radio von einem Flugzeugabsturz in Lübeck hörte, bei dem nur ein einziger Fahrgast überlebt hatte, und zwar der CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel (43). Mir war sofort klar, dass Gott ihm dadurch eine eindringliche Warnung geben wollte, sein Leben zu ändern, denn das konnte ja kein Zufall sein. Doch schon drei Monate später wurde bekannt, dass dieser Politiker heimlich eine Schmutzkampagne gegen seinen Rivalen Björn Engholm eingefädelt hatte und dann auch noch ein falsches Ehrenwort abgab, um diese abzustreiten. Als sich seine Schuld jedoch nicht mehr vertuschen ließ, nahm er sich schließlich am 11.10.87 in einem Genfer Hotel das Leben, wobei er es wie einen Mord aussehen ließ, indem man ihn bekleidet in einer vollen Badewanne fand. Schwester Hedi war sich damals sicher, dass Barschel ermordet wurde, denn „er wusste zu viel“ und wollte auspacken. Die Bibel zeigt jedoch an vielen Stellen, dass Scham ein sehr häufiger Grund für Selbstmord ist (z.B. 2.Sam.17:23, Richt.16:23-31, Mt.27:5).
„Politik ist ein schmutziges Geschäft“
Als ich an einem Tag mit Herrn Hillmer unterwegs war, erfuhren wir im Radio, dass der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß gestorben war. Ich wusste eigentlich nur, dass er dick war und ein bulliges Gesicht hatte, aber für Politik hatte ich mich bis dahin nicht interessiert. Herr Hillmer sagte aber in diesem Moment, dass Strauß ein „schlechter Mensch“ gewesen sei, und ich fragte ihn: „Warum?“ – „Weil er immer auf der Seite von totalitären Regimen war, ob nun in Südafrika oder Südamerika, überall hat er mit Diktatoren gemeinsame Sache gemacht, zuletzt z.B. mit Pinochet in Chile, wo es doch die berüchtigte Sekte Colonia Dignidad gibt, wo Menschen gefoltert und Kinder sexuell missbraucht werden.“ Ich hatte bis dahin nichts davon gehört, aber mein Interesse war geweckt, mich einfach mal mehr für Politik zu interessieren. Herr Hillmer erzählte, dass er vor allem deshalb Mitglied der SPD geworden sei, um durch die Teilnahme an Parteiveranstaltungen neue Kunden zu gewinnen. Aber als Spiegel-Leser habe er im Lauf der Jahre eine immer größere Abneigung gegen die Politik von Helmut Kohl gewonnen. Auch sein Sohn Thilo war Parteimitglied, aber er hatte mir anvertraut, dass es in einer Partei gar nicht wirklich um gesellschaftliche Veränderungen gehe, sondern allein um persönliche Macht. Jeder intrigiere da gegen jeden. Sein ernüchterndes Fazit: „Politik ist ein schmutziges Geschäft“.
Eines Morgens hörte ich im Radio, dass in der DDR ein paar Demonstranten verhaftet wurden, weil sie ein Schild trugen mit der Aufschrift: „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden“. Dieser Spruch ist doch absolut richtig, – also weshalb wurden sie dann dafür verhaftet? Zudem ist die Autorin dieses Zitats, nämlich Rosa Luxemburg (1871-1919), doch selbst eine berühmte Marxistin gewesen, die deshalb in der Weimarer Republik von Nationalisten ermordet wurde. Wenn also die DDR heute Menschen verübelt, dass sie eine Marxistin zitieren, dann kann die DDR doch kaum mehr den Anspruch haben, ein marxistisches Land zu sein, sondern eher eine Diktatur. Wir bekamen damals ja regelmäßig Besuch von Edgards Nichten, die in der DDR lebten, aber Besuche nach Westdeutschland machen durften, weil sie mit SED-Funktionären verheiratet waren. Diese berichteten jedes Mal, wie schwierig es sei, in der DDR bestimmte Produkte zu bekommen (z.B. seltenere Obstsorten). Aber über das Unrecht im sog. „real existierenden Sozialismus“ der angeblich demokratischen DDR wollten sie nicht sprechen.
Umso mehr erfuhr ich immer von Edgard und Hedi über die Schrecken des Sozialismus. Wenn wir abends zusammen in der Küche saßen und Äpfel aßen, erzählten die beiden mir immer, wie das damals war, als sie noch in Polen lebten und 1945 dann von dort vertrieben wurden. Edgard war Sohn eines deutschen Gutsbesitzers in der Nähe von Bromberg in der Provinz Posen. Sie gehörten damals zur deutschen Minderheit und wurden deshalb in der Schule gehänselt. Als die deutsche Wehrmacht 1939 Polen überfiel und der Zweite Weltkrieg begann, gehörte Polen für kurze Zeit zum Deutschen Reich. Edgard wurde 1944 zum Kriegsdienst einberufen und wurde dann auch mal zu einem Erschießungskommando für Fahnenflüchtlinge zugeteilt. Er berichtete, dass er damals heimlich danebengeschossen hatte, um nicht zum Mörder zu werden. Hätte man ihn dabei erwischt, hätte ihm das selbst das Leben gekostet.
Als dann die Rote Armee immer weiter vorrückte, übernahmen auf einmal die polnischen Knechte den Gutshof und machten Edgards Eltern zu Dienern. Doch schon kurz darauf mussten alle Deutschen fliehen, weil Stalin den sibirischen Rotarmisten versprochen hatte, dass sie in jeder eroberten Stadt drei Tage lang mit den Deutschen machen durften, was sie wollten. In den eroberten Gebieten wurden 1945 bis zu 2 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt, wobei viele dann auch starben. Hedi war damals erst 14 J. und floh mit ihrer Schwester so schnell sie konnte in den Westen. Nach der Kapitulation wurden die Deutschen von den Alliierten gezwungen, die Vertriebenen aus den Ostgebieten in ihren Häusern mitwohnen zu lassen. Die Armut war sehr groß, der Schwarzmarkt blühte, aber viele verhungerten auch. Arbeit fand man damals nur durch Beziehungen. Man musste immer einen Leumund haben, der sich für einen Arbeitssuchenden verbürgte. So bekam Edgard Arbeit bei der Bremer Lürssen-Werft in Bremen-Blumenthal. In Schwanewede lernte er Hedi kennen, die er 1950 heiratete. Auch Hedi fand dann Arbeit in der Bremer Wollkämmerei, so dass sie sich ein Haus bauen konnten. Die Ehe blieb jedoch kinderlos.
Ich hörte mir immer wieder gerne ihre Geschichten an, die sie ständig wiederholten mit immer neuen Details. Diese Zeit der Entwurzelung aus ihrer ursprünglichen Heimat hatte sie dauerhaft geprägt. Deswegen konnte ich auch verstehen, dass sie den Kniefall von Willy Brandt 1970 als Verrat empfunden hatten und noch lange auf eine Entschädigung für das geraubte Erbteil hofften. Als sie dann aber Mitte der 70er Jahre beide unabhängig voneinander zum Glauben an den HErrn Jesus fanden, konnte Edgard über seinen Wehmut als Vertriebener nur noch den Kopf schütteln und freudig sagen: „Lass fahren dahin! Der HErr hat uns heute eine viel bessere Heimat geschenkt.“ Diese Veränderung wurde dann auch von seinen Arbeitskollegen festgestellt: Eines Tages erzählte mir der Geselle Rudi, dass er am Tag zuvor auf einer Geburtstagsfeier war, wo der Name Edgard Böhnke fiel. Man erzählte sich, dass dieser Edgard früher ein Draufgänger gewesen sei, aber nach seiner Bekehrung ein völlig anderer Mensch wurde. Da erinnerte sich Rudi, dass auch ich schon mal von einem Edgard geredet hatte, und es stellte sich heraus, dass es der gleiche war.
Ein Licht und Salz für andere sein
Zu meiner großen Freude erfuhr ich durch meine Mutter, dass sich nun auch noch mein kleiner Bruder Patrick (15) bekehrt hatte. Er ging damals noch zur Schule, wechselte aber im Sommer auf die christliche Bekenntnisschule in Bremen-Habenhausen, wo er schon bald einen großen Freundeskreis gewann.
Zwischen meinen Eltern lief es mittlerweile nicht mehr ganz so rosig, wie noch im Jahr zuvor. Denn mein Vater hatte wieder angefangen, eigenmächtig z.T. fragwürdige Geschäfte zu betreiben, mit denen meine Mutter nicht einverstanden war. So hatte er z.B. für jeden in der Familie einen Bausparvertrag abgeschlossen, aber unsere Unterschriften aus Bequemlichkeit jeweils gefälscht hatte – was ich selbst jedoch als harmlos empfand, weil er dies ja schließlich um unseretwillen tat. Aber meine Mutter hatte schon wieder das Gefühl, dass sie ihm mit ihren Ansichten völlig egal war und er immer nur seinen Dickkopf durchsetzen wolle. Bald spürte auch mein Vater, dass er als einziger in der Familie noch kein Bekehrungserlebnis hatte und suchte Hilfe bei Pastor Jochen Müller in Bremen-Huchting. Dieser lud meinen Vater sofort ein, mit ihm zusammen auf die Knie zu gehen, um ein Bekehrungsgebet nachzusprechen, was mein Vater auch bereitwillig tat. Nun konnte auch er von sich sagen, dass er Teil der Familie Gottes geworden sei, auch wenn sich sein Leben noch nicht allzu sehr verändert hatte.
Unterdessen hatte Bruder Edgard sich von seinem Neffen, der von Beruf Tischler war, einen Schaukasten bauen lassen, um ihn in seinem Vorgarten aufzustellen. Von jenem Tage an schrieb ich jede Woche einen neuen evangelistischen Bibelvers auf ein Plakat, das dann die vorübergehenden Passanten lesen konnten. Ebenso machte ich auch Schilder für Bruder Daniel auf leuchtfarbigem Untergrund, um diese beim Evangelisieren mitzunehmen. Trotz seines Alters war Bruder Daniel noch immer sehr aktiv und hatte einen großen weißen Transporter, der von oben bis unten mit Bibelversen beklebt war. Als er einmal rückwärts in die Garageneinfahrt von Edgard reinfuhr, rammte er versehentlich das Garagentor, so dass es eine dicke Beule bekam. Sofort stieg Daniel aus, schaute hinten auf seinen Wagen und sagte zu Edgard: „Zum Glück ist kein Schaden entstanden“ (die Beule im Garagentor hatte er wohl gar nicht bemerkt). An einem anderen Tag, als Edgard vom Dachboden der Garage Kartons mit Traktaten herunter holen wollte, rutschte er von der Leiterstufe ab und fiel direkt vor Daniels Füßen auf den Rücken. Daniels „erste Hilfe“ bestand darin, dass er zunächst ein Gebet sprach, dass Edgard sich doch nichts gebrochen haben möge, während Edgard noch immer keuchend auf dem Boden lag und gerne Daniels Hand ergriffen hätte. Ganz offensichtlich hatte Daniel öfters ganz andere Prioritäten. ?
Noch immer verteilten Edgard und ich jeden Samstagvormittag systematisch Traktate an die Bremer Briefkästen, auch wenn es so gut wie keine Resonanz gab. Doch im Herbst ´88 wurden dem Bruder Daniel die regelmäßigen Fahrten nach Albersdorf in Schleswig-Holstein zu viel, zumal er neuerdings auch noch eine kleine Hausgemeinde in Schmalkalden betreute, und er bat uns, dass wir von nun an jede Woche diesen Dienst übernehmen mögen. Dies bedeutete, dass wir von nun an jeden Samstag drei Stunden hin- und drei Stunden wieder zurückfuhren, um den Schwestern-Hauskreis dort zu besuchen und am Wort zu dienen. Um die weite Strecke besser zu nutzen, sind wir schon immer vormittags losgefahren, um vor Beginn der Versammlung um 15:00 Uhr noch zwei Stunden Traktate zu verteilen in Albersdorf. Zur Belohnung bekamen wir im Anschluss dann immer neben einem reichlich gedeckten Abendbrot auch leckere Kuchen vorgesetzt. Die alte Schwester Thea sagte dann immer auf plattdeutsch, wir sollten nicht so viel schon essen, denn „dat geft noch Koken achteran“ („es gibt hinterher noch Kuchen“).
Kurz vor Weihnachten habe ich dann Briefe versandt an sämtliche christliche Gemeinden in Bremen mit dem Traktat „Weihnachten – ist es von Gott?“ Daraufhin schrieb mir ein Pastor namens Wolf Rahn, dass er dieses Blättchen unerträglich fände, da es mit keinem Wort von der Freude spreche, dass der Heiland auf die Welt gekommen sei, um Sünder zu erretten, und dass dies doch allemal Grund zur Freude und zum Feiern sei. Er schrieb, dass er jedes Mal die Gelegenheit zu Weihnachten nutze, um Obdachlose und einsame Menschen ins Gemeindehaus einzuladen, um mit ihnen gemeinsam Weihnachten zu feiern, und er fragte mich, was ich denn im Unterschied dazu tun würde. Daraufhin rief ich ihn an und unterhielt mich mit ihm. Es stellte sich heraus, dass er mich noch von früher kannte, als ich mit der Familie Storm dort zur Kinderstunde gekommen sei. „Aber in was für eine Sekte bist Du denn jetzt dort geraten?“ fragte er mich, aber ich versicherte ihm, dass dies ganz liebe Geschwister seien. Er wollte diesen Kreis gerne mal kennenlernen und fragte, ob er mal zu Besuch kommen könne. Schließlich kam aber nicht er, sondern sein Sohn Markus Rahn, der gerade Theologie studierte, zusammen mit einer Frau Hill, die ich noch als Sekretärin aus meiner alten Schule kannte. Edgard und ich sprachen mit ihnen im Wohnzimmer zwei Stunden lang über viele Themen. Als sie dann gingen, sagte Frau Hill zu mir: „Simon, ich freue mich, dass Du so für Gott eiferst. Aber ich mache mir auch Sorgen, dass Du eines Tages ins Gegenteil umschlagen könntest und dann ganz vom Glauben wieder abfällst. Denn so, wie Du eiferst, ist dies ganz ungesund und nimmt vielleicht kein gutes Ende.“ Ich lächelte und dachte nur: Die trägt ja noch nicht einmal ein Kopftuch und einen Rock – also warum sollte ich ihre Worte überhaupt ernstnehmen!
Im Dezember war auch die Zeit gekommen, dass unser peruanischer Freund Ricardo wieder nach Peru zurückmusste. Doch zuvor lud er mich ein, auch mal nach Peru mitzukommen: „Es gibt dort in der Versammlung in Lima eine hübsche Schwester namens Ruth, die noch ledig ist. Sie ist die Tochter des Predigers Luis Condori. Vielleicht verliebt ihr Euch ineinander und heiratet zusammen. Du kannst ja inzwischen auch schon ein paar Worte Spanisch und könntest ihr schreiben.“ Ich sagte: „Das ist eine gute Idee. Du kannst ihr ja schon mal von mir berichten, wenn Du angekommen bist. Übrigens gibt es bei uns hier in Sachsenheim auch eine Schwester in Deinem Alter, die Christiane heißt und ebenso wie Du noch ledig ist. Leider hast Du sie jetzt nicht kennengelernt, aber ich könnte ihr dann von Dir erzählen und vielleicht führt es Gott dann so, dass Du sie auf einer späteren Rückkehr nach Deutschland kennenlernst und sie heiratest. Das wäre doch ganz praktisch, wenn am Ende ich eine Peruanerin und Du eine Deutsche heiraten würdest, nicht wahr?“ Ricardo grinste und sagte: „Ja, Simon, so machen wir das, wenn Gott will!“ Doch so wie der Mundschenk des Pharao in 1.Mose 40:23 vergaß Ricardo schon bald, was er mir versprochen hatte, und sagte Ruth erst drei Jahre später von meinen Heiratsplänen. Aber wer hätte gedacht, dass diese sich am Ende tatsächlich erfüllen würden? …