„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 29

„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 29

Juli – September 1993

Knapp bei Kasse

Im April hatte ich wieder Arbeit gefunden, und zwar beim Malereibetrieb Siebrecht, der über 100 Maler beschäftigte. Doch trotz des relativ guten Einkommens von 3.000 DM brutto reichte das Geld kaum, um finanziell über die Runden zu kommen. Das lag vor allem an den ständigen, neuen Geldforderungen von Bruder Nelson Mogollón, der mir – nach der Überweisung des Kaufpreises für das Haus in Ecuador – in seinen zahlreichen Briefen jedes Mal von neuen Problemen berichtete, die sich durch den Kauf des Hauses ergeben hätten. Neben den Kosten für den Notar und das Katasteramt, musste das Grundstück z.B. durch eine bessere Einfriedung vor Viehherden-Invasionen geschützt werden, weil man in der Regenzeit die Herden gerne auf höher gelegene Grundstücke wie dem meinigen trieb, um sie vor dem Hochwasser zu schützen. So kletterten die Kosten von ursprünglich 12.000,- DM immer weiter in die Höhe, so dass ich schließlich völlig den Überblick verlor, ob ich dem Nelson bereits insgesamt 18.000 oder vielleicht schon 22.000 DM überwiesen hatte. Auch für das Schulprojekt verlangte Nelson noch weitere Überweisungen, wobei er mir jedes Mal akribisch aufschrieb, was genau bisher alles gekauft oder gebaut wurde. Er schickte mir Fotos vom Rohbau der Schule, die aber mit etwa 100 m² Grundfläche gerade einmal für drei Klassenräume konzipiert war. Da er selbstständiger Metallbauer war, fertigte er die Fenster und Türen, sowie die Dachkonstruktion selbst an. Da die Brüder auf dem Land beim Aufbau mithalfen, konnten zwar manche Kosten eingespart werden; aber die ursprünglichen 6.000,- DM an Spendengeldern reichten nicht hinten und nicht vorne aus, um das Gebäude fertigzustellen. So schrieb ich einen weiteren Rundbrief an die Geschwister, in welchem ich um Spenden für das Projekt bat. Ende April waren insgesamt 1.740,- DM zusammengekommen, so dass ich umgerechnet 1.200 Dollar überweisen konnte.

Eines Tages kam mir während der Arbeit eine Geschäftsidee: ich könnte Deutschen, die auswandern wollen, Immobilien in Ecuador vermitteln. Als Immobilienmakler kann man ja schon bei einer Provision von 5 % für die Vermittlung eines einzigen Hauses 2.000,- bis 5.000,- DM verdienen. Dieses Geld könnte ich mir dann mit den Geschwistern in Ecuador teilen, damit sie einen Anreiz haben, mir bei der Vermittlung von Kaufobjekten zu helfen. Um kostenlos Werbung zu machen, könnte ich in den Anzeigenblättern „Der heiße Draht“ oder „A bis Z“ jede Woche kostenlos mein eignes Haus als Lockvogel zum Verkauf anbieten, um Auswanderungsinteressierte als potenzielle Kunden gewinnen. Ich war ganz begeistert von meiner Idee und schaltete sofort eine Anzeige: „Landhaus in Ecuador zu verkaufen, 270 m² Wohnfläche zzgl. Grundstück von 3,6 ha im Landkreis Guayaquil für 25.000,- DM an Auswanderer zu verkaufen. Nähere Informationen unter Tel.: 0421-824363“. Es dauerte nicht lange, da rief schon der erste Interessent an: „Hallo, ich bin der Nils. Meine Freundin und ich haben schon mal überlegt, auszuwandern. Wir haben zwar noch nicht so viel Geld, aber wir würden uns gerne mal informieren über Dein Angebot.“ – „Ja gerne!“ sagte ich „Wenn Sie wollen, komme ich gerne mal vorbei und bringe auch ein paar Fotos mit.“ Er gab mir seine Adresse im Steintor-Viertel, und ich fuhr mit dem Fahrrad zu ihm. Als ich ankam, waren am total verdreckten Eingang des Wohnblocks etwa 8 Klingeln, an deren Schildern man kaum etwas lesen konnte. Nachdem ich überall geklingelt hatte und niemand mir aufmachte, fuhr ich enttäuscht nach Haus. „Du machst das ja auch völlig falsch“ sagte Ruth, „denn wenn die Kunden ein echtes Interesse haben, dann müssen sie auch hierher zu uns kommen.“

Als nächstes rief ein Immobilienmakler an: „Klingt interessant Ihr Angebot. Könnten Sie mir mal ein Exposé Ihres Hauses zufaxen?“ – „Ehrlich gesagt, habe ich gar kein Fax…“ antwortete ich. „Dann sollten Sie sich mal dringend ein Fax zulegen! Das hat doch heutzutage jeder.“ – „Wenn Sie wollen, können Sie mich aber auch gerne besuchen kommen. Ich wohne in der Ochtumstr. 2 in Woltmershausen.“ Als er kam und unsere kleine 1-Zimmer-Wohnung betrat, war er sichtlich überrascht. Ich bot ihm einen Platz an neben unserem Ehebett und sagte: „Ich weiß: unsere Wohnung ist sehr klein.“ Er lächelte und sagte: „Ich würde das schon gar nicht mehr als Wohnung bezeichnen, sondern eher als ‚Wohn-Klo‘. Als jemand, der international Immobilien vermitteln will, wirkt das nicht gerade vertrauenserweckend.“

In der Tat war unsere 16-m²-Wohnung nicht gerade repräsentativ, um potentielle Kunden einzuladen. Wenn ich am Wochenende früh morgens meine biblischen Ausarbeitungen schreiben wollte, musste ich mich mit meiner Schreibmaschine ins Bad zurückziehen, damit Ruth durch das Tippen nicht geweckt wurde. Uns blieben ohnehin gerade nur 4 m², um uns überhaupt zu bewegen. Aber da unser HErr Jesus noch nicht einmal einen Ort hatte, wo Er sein Haupt hinlege, waren wir immer noch vergleichsweise „wohlhabend“. Da wir auch kein Auto hatten, erledigte ich die Einkäufe, indem ich die Kartons mit Lebensmitteln im Bus transportierte. Doch obwohl wir so sparsam waren, war das Haushaltsgeld immer sehr knapp. Ruth begann deshalb, als Putzfrau zu arbeiten. Zweimal in der Woche machte sie eine Büroetage sauber, und an anderen Tagen passte sie als Kindermädchen auf die Kinder einer Familie auf. Auch ich suchte mir daraufhin einen Nebenjob und inserierte: „Junger Mann (25) sucht Nebenjob jeglicher Art.“ Daraufhin klingelte das Telefon: „Guten Tag, mein Name ist … . Ich habe einen Job für Sie, bei dem Sie 100 DM in einer halben Stunde verdienen können.“ – „Was? So viel? Was müsste ich denn machen?“ Mit freundlicher Stimme sagte der Mann: „Wissen Sie, meine Frau und ich sind sehr tolerant und phantasievoll, wenn Sie verstehen, was ich meine…“ – Ich verstand es zunächst nicht. Doch bevor ich nachfragte, fiel bei mir der Groschen: „Äh… Nein, auf keinen Fall! Sowas mache ich nicht. Ich suche eine ganz normale Arbeit.“ Der Mann entschuldigte sich und legte auf. Doch nach zehn Minuten rief er schon wieder an und sagte vorsichtig: „Ich habe eben nochmal mit meiner Frau gesprochen und sie ist damit einverstanden, wenn ich nur dabei zuschaue…“ – Mir schlug das Herz bei dieser Vorstellung und ich wiederholte energisch: „Nein, absolut nicht! Ich bin Christ und mache so einen Schweinkram nicht! Bitte lassen Sie mich in Ruhe und rufen Sie nicht mehr an!“ und dann legte ich auf. Sofort änderte ich das Inserat, indem ich die missverständliche Formulierung „Arbeit jeglicher Art“ austauschen ließ in „Malerarbeit“.


Der Friedensbote

Mitte Juli erhielten wir mit der Post eine Kassette aus Peru, auf der mein Schwager Israel uns mit gefasster Stimme mitteilte, dass der HErr seinen drei-jährigen Sohn Angel-Salomon (zu Deutsch: „Friedensbote“) ganz plötzlich in die Ewigkeit heimgerufen hatte. Ruth war außer sich, als sie dies hörte und fing sofort an zu schluchzen. Israel erklärte uns, dass der kleine Junge, der beim Spielen immer christliche Lieder sang, auf einmal nichts mehr aß und starke Schmerzen im Bauch hatte. Sie fuhren sofort ins Krankenhaus, wo man bei ihm zwei große Tumore im Bauch feststellte. Er musste sofort operiert werden. Israel schrie im Flur aus Leibeskräften zu Gott, während seine Frau Alexandra am Bett ihres Sohnes blieb und betend vor sich hin wimmerte. Plötzlich sagte Angel mit seiner Kinderstimme: „Mamá, cántame ‚Bendiciones‘!“ („Mama, sing mir mal das Lied ‚Bendiciones‘!“). Am selben Abend um 22:30 Uhr starb der Kleine.

Doch dann berichtete Israel von einem Wunder: Bei der Operation waren nämlich zwei Chirurgen beteiligt, von denen einer, Eduardo, den Israel persönlich kannte. Als sie den Bauch öffneten und Eduardo den Krebs sah, fragte er sich: ‚Was wäre eigentlich, wenn ich eines Tages selbst Krebs hätte?‘ Nur zwei Tage später stellte man bei Eduardo durch Zufall tatsächlich einen Lungenkrebs fest. Als Israel ihn besuchen kam, sagte Eduardo: „Ich bin erstaunt, dass du gekommen bist, um mich zu trösten, wo doch dein eigener Sohn vor zwei Tagen starb und du doch selbst Trost nötig hast! Woher nehmt Ihr Evangelischen bloß eure Gelassenheit?“ Israel erklärte ihm das Evangelium und lud ihn ein, sein Leben dem HErrn zu geben. Leider wollte Eduardo sich nicht bekehren, sondern starb einige Tage später in seinen Sünden. Der andere Chirurg hingegen dachte während der OP: „Wenn Gott schon zulässt, dass so ein kleines Kind an Krebs erkrankt, wie groß wird dann erst Sein Zorn und Gericht gegen mich sein!“ Nach einigen Gesprächen mit Israel bekehrte sich dann Alfonso zusammen mit seiner Frau, und sie kamen seither regelmäßig zur Versammlung bei Israel. Diese Schilderung erinnerte mich unvermittelt an die zwei Räuber, die mit dem HErrn gekreuzigt wurden: der eine wurde ja errettet und der andere ging verloren. Ebenso die zwei Mitgefangenen von Joseph: der eine musste sterben und der andere durfte leben.

Später vertraute mir Ruth ein Geheimnis an: „Israel ist eigentlich gar nicht der Vater von Angel-Salomon, aber er weiß es nicht. Denn Israel und Alexandra hatten sich 1989 gestritten und getrennt. Nach einem Jahr kam Alexandra wieder zurück und bekam acht Monate später ihren dritten Sohn. Dem Israel sind aber weder die kurze Schwangerschaft noch die grünen Augen, noch die viel zu helle Haut von Angel Salomon aufgefallen. Wir haben es ihm aber bis heute nicht gesagt, um seine Illusion nicht zu zerstören. Jetzt aber hat der HErr die Alexandra für ihre Untreue bestraft und ihr den Sohn wieder weggenommen.“

Im Juni hatte ich überraschend Post bekommen von einem Bruder aus Eisenach namens Bernd Fischer (53). Jemand hatte ihm meine Widerlegungsschrift gegen die Allversöhnungslehre zugeschickt, weshalb er Interesse hatte, mich näher kennenzulernen. Bei dem darauffolgenden Briefwechsel stellte ich schon bald fest, dass er mir an Bibelwissen haushoch überlegen war. Ich war zwar mit seinen Ansichten über die Allversöhnung und über das Thema „Frauenhose“ (5.Mo.22:5) nicht einverstanden, aber mir wurde durch die Korrespondenz deutlich, dass ich von diesem Bruder noch viel lernen könnte. Da ich nun ohnehin vorhatte, mit Ruth im August auf die Bibelfreizeit von Ivo Sasek zu fahren, vereinbarte ich mit Bernd, ihn auf unserer Hinreise in Eisenach aufzusuchen. Ebenso verabredete ich mich mit meinem Freund Ralf Schiemann, ihn in Bebra zu besuchen, damit Ruth ihn kennenlerne. Ich erbat also Urlaub für Anfang August, und wir reisten zunächst mit dem Zug nach Bebra-Asmushausen, wo uns Ralf mit seiner neuen Frau Angelika herzlich willkommen hieß. In den zwei Tagen unseres Aufenthalts berichtete ich dem Ralf von unserer prekären Situation, und er erklärte mir, dass sich all meine Probleme sofort lösen würden, wenn ich mich selbstständig machen würde, was ohnehin viel biblischer sei: „Paulus lehrt uns, dass wir nach Möglichkeit selbstständig unser Geld verdienen sollten, damit wir nicht in einer ägyptischen Gefangenschaft mit Ungläubigen zusammengejocht sind. Schließlich hat Christus uns frei gemacht, damit wir nicht mehr der Welt dienen und faule Kompromisse eingehen müssen, sondern ganz Ihm zur Verfügung stehen können. Aber viele Gläubigen heute trauen sich diesen Schritt nicht zu und wundern sich dann, warum sie so schwach sind in ihrem Glaubensleben.“ – „Ja, ich würde gerne als Maler selbstständig arbeiten, aber die Handwerkskammer würde mir das nicht erlauben, weil ich keinen Meistertitel habe.“ – „Ja, das ist so ein protektionistisches Verbot, das nicht nur im Widerspruch zur Bibel steht, sondern auch zu den Menschenrechten. Sowas gibt es in keinem anderen Land der Welt und ist ein Zeichen der zunehmenden Gesetzlosigkeit. Hier sollten gläubige Handwerker wirklich für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben kämpfen und Gott mehr gehorchen als Menschen.“ – Dieser Gedanke gefiel mir sehr gut, zumal das freie Unternehmertum viel mehr meinem Naturell entsprach. Deshalb vereinbarte ich mit Ralf, dass ich mich nach meiner Rückkehr selbstständig machen würde, um dann viel konsequenter und freier dem HErrn dienen zu können. Aber auch ich hatte schon lange Zeit über etwas nachgedacht, das ich dem Ralf mal vorstellen wollte: „Weißt Du, Ralf, die meisten Gläubigen orientieren sich eher an der Welt, anstatt sich durch den Geist Gottes leiten zu lassen, um Seinem Willen herauszufinden. Zum Beispiel fahren die meisten Christen einfach Auto, obwohl das Fahrradfahren viel gesünder und billiger ist. Außerdem riskieren sie beim Autofahren, sich oder andere bei einem Unfall zu töten und nehmen dies aus lauter Faulheit einfach in Kauf. Deshalb würde ich sagen, dass auch das Autofahren im Prinzip unbiblisch ist, und bin im Nachhinein froh, dass ich nie einen Führerschein gemacht habe.“ Ralf hatte diese neue Lehre von mir noch nie gehört, wollte sie aber nicht gleich verwerfen, sondern darüber nachdenken.

Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Eisenach, wo wir neben den Geschwistern Bernd und Brigitte Fischer auch die Eheleute Wolfgang und Ingrid Baumann kennenlernten, die beide blind waren. Bernd wohnte mit seiner Familie in einem typischen DDR-Plattenbau und hatte eine Schreibstube, die voll mit Büchern war. Da er bis vor drei Jahren als Konstrukteur für den abgewickelten Autohersteller Wartburg gearbeitet hatte, versuchte er sich nun als Erfinder von Motorpatenten. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und hatten wertvolle Gespräche, bei denen ich viel lernte. Am nächsten Tag besuchten wir die berühmte Wartburg, wo Martin Luther sich vor 500 Jahren vor der Verfolgung durch die Katholische Kirche versteckte und die Bibel ins Deutsche übersetzte. Dort gab es auch einen Raum mit dem originalen Tisch von Luther, an dem er meistens gearbeitet und auch seine Glaubensanfechtungen hatte.

Als nächstes fuhr ich mit Ruth nach Sachsenheim, damit Ruth auch mal den Bruder Daniel Werner kennenlernen konnte. Ich war zwar nicht gerade gern gesehen, aber Bruder Karl-Heinz Schubert freute sich sehr, die Ruth kennenzulernen, zumal er schon seit Jahrzehnten im Briefkontakt mit Ruths Vater war. Auch den Bruder Thomas Schaum besuchten wir kurz, der sich ja inzwischen von den Sachsenheimern getrennt hatte. Damals waren Thomas und ich noch ein Herz und eine Seele.


Ivo Sasek enthüllt sein wahres Gesicht

Und dann ging es weiter in die Schweiz nach Walzenhausen, wo Bruder Ivo Sasek ein Freizeitheim namens „Obadja“ führte. Da wir einen Tag vor Beginn der Freizeit ankamen, machten Ruth und ich zunächst einen Ausflug in die wunderschöne Landschaft vom Appenzeller Land. Die Hügel waren alle mit einem kräftig grünen Rasen bedeckt, dessen Gras ganz gleichmäßig gemäht war. Nirgendwo lag auch nur der geringste Müll, weil das Wegwerfen von Müll in der Schweiz streng verboten ist. Die Geschwister im Freizeithaus waren wie im Jahr zuvor sehr freundlich zu mir und hießen uns herzlich willkommen. Als dann die Freizeit begann, schrieb ich von Anfang an alles genau mit, was Ivo lehrte, und übersetzte es für Ruth. Doch irgendwie spürte ich diesmal, dass Ivo eigentlich nichts Neues sagte, sondern fast jede Predigt immer wieder von der Erneuerung der Gemeinde handelte – wie beim letzten Mal – wobei er sich selbst immer wieder unmissverständlich als Schlüsselperson sah, durch den Gott Sein Volk erneuern wolle. Durch eine geschickte Rhetorik lenkte Ivo den Fokus ständig auf seine eigene Person anstatt auf den HErrn Jesus, so dass mir diese Angeberei und das Selbstlob allmählich lästig wurde. So nahm ich mir vor, dem Ivo mithilfe meiner Notizen nach der Freizeit mal einen Brief zu schreiben, wo ich ihn auf die Gefahr des Personenkults mal hinweisen wollte, damit diese Gemeinde nicht allmählich zu einem Fanclub verkomme. Auf der Rückreise fuhren wir dann noch nach Ludwigshafen zum Bruder Ralf Daubermenn, mit dem ich inzwischen schon seit vier Jahren in freundschaftlichem Briefkontakt war. Zusammen mit seiner Frau Jutta und seinen beiden Kindern besuchten wir einen Tierpark und hatten schöne Gespräche, bevor wir schließlich mit dem Zug nach Bremen zurückfuhren.

In den Tagen danach kündigte ich meine Arbeit und meldete bei der Handwerkskammer ein Gewerbe an für haushaltsnahe Dienstleistungen. Unterwegs traf ich durch Zufall den Bruder Udo Bock, bei dem ich ein Jahr zuvor als Untermieter gewohnt hatte. Er berichtet mir bei einer Tasse Kaffee ausführlich, was er alles zuvor in Walzenhausen beim Ivo Sasek erlebt hatte, wo er an einer Jüngerschaftsschulung teilnahm. Er sagte, dass der Aufenthalt dort für ihn der reinste Psychoterror war: jeden Tag musste er dort mit den anderen Ex-Drogenabhängigen Schwerstarbeit leisten beim Umbau des Hauses, wobei das Obadja-Team sie wie Sklavenhalter kommandierte und sie durch geschickte Einschüchterung völlig entmündigte. Nach ein paar Tagen wurde es ihm zu viel und er wollte gehen. Aber man respektierte seinen Willen nicht, sondern forderte von ihm, sich wieder völlig der Aufsicht des Leiterteams zu unterstellen. Als er dazu nicht bereit war und rebellierte, machte man ihm die schlimmsten Vorwürfe und entließ ihn unter Flüchen und Beileidsbeteuerungen.

Ich war geschockt von diesem Bericht, und mir wurde immer deutlicher, dass dieses Werk dort in der Schweiz im Grunde eine Sekte war, die gezielt schwache Christen aufsammelt, um sie an sich zu binden. Umso wichtiger war es für mich nun, dem Ivo Sasek mal eine klare Mahnung auszusprechen, damit er von diesem bösen Weg umkehre. Ich plante, meine Kritik im Falle einer Zurückweisung als offenen Brief auch an andere Gläubige zu versenden, um sie dadurch vor dem verführerischen Einfluss von Ivo Sasek zu warnen. Nachdem Ivo meinen 11-seitigen Brief gelesen hatte, schrieb er mir einen kurzen Antwortbrief, der aus voller Beschimpfungen und Flüchen bestand: „Simon Poppe, Du bist ein großer Heuchler und Brudermörder! Ich bin bisher kaum einem größeren begegnet. Du redest zwar von ‚Bruderliebe‘, bist aber ein durch und durch streitsüchtiger und reißender Wolf! Du redest von liebender Zurechtbringung und versendest im gleichen Atemzug offene Briefe gegen mich, angefüllt mit Lüge und böser Verleumdung. Wie oft hast Du solches schon getan auch gegen andere Diener … Du bist eine Schlange, eine getünchte Wand und ein Verräter … deshalb habe ich mit Dir nichts mehr zu schaffen, weil Du aus der Lüge bist und aus der Lüge redest und denkst… usw.“ Eigentlich hätte ich mir das denken können, dass Ivo meine Zurechtweisung ablehnen würde, denn ein narzisstischer Sektierer wie er ist ja in der Regel überhaupt nicht fähig zu reflektierenden Selbstzweifeln. Trotzdem war ich aber traurig über diese Reaktion und fragte mich, ob Ivo nicht vielleicht auch recht hatte in seiner Kritik an mir.


Oktober – Dezember 1993

Schwarzarbeit und Heuchelei

Ivo hatte in seinem Brief einen FLUCH über mich ausgesprochen. Das griechische Wort ANA´ThEMA bedeutet wörtlich „Herauf-Gesetztes“. Das bedeutet, dass man sich in einem Streitfall auf ein Gottesurteil beruft und einen Antrag stellt, den Streitgegenstand Gott zur Entscheidung vorzulegen. David hatte diesen Sachverhalt einmal in den Worten ausgedrückt: „Der HErr sei Richter zwischen mir und dir!“ (1.Sam.24:12). Durch einen Fluch wird also in der unsichtbaren Welt ein Rechtsakt ausgelöst, der nicht ohne Konsequenzen bleibt. Wie bei einer irdischen Anzeige eine polizeiliche Ermittlung veranlasst wird, so wird bei himmlischen Anklagen der Teufel als „Verkläger der Brüder“ (Offb.12:10) auf den Plan gerufen, der sich vom Richter der ganzen Welt die Erlaubnis geben lässt, einen Verdächtigen in besonderer Weise prüfen zu dürfen, um den Verdacht entweder zu bestätigen oder zu entkräften. Und so wundert es mich heute nicht mehr, dass in den Monaten nach meinem Brief eine ganze Reihe an Prüfungen über mich ergingen, die ich größtenteils nicht bestand und die mich am Ende als Heuchler überführen sollten.

Alles begann damit, dass ich eines Tages von der Arbeit nach Haus kam und Ruth in demütig-bettelndem Ton zu mir sagte: „Simillito, me aburro en la casa, cuando estás trabajando. Por favor: cómprame una televisión!“ („Simi, ich langweile mich zuhause, wenn Du auf der Arbeit bist. Kauf mir doch mal einen Fernseher!“). Ruth brachte mich durch diese Bitte in ein Dilemma. Denn einerseits wollte ich auf keinen Fall einen Götzen in meinem Haus zulassen (zumal ich selbst immer gegen das Fernsehen gepredigt hatte). Auf der anderen Seite wollte ich aber auch nicht, dass meine Frau unglücklich werde in unserer Ehe. Zunächst lehnte ich ihren Wunsch ab und versuchte, ihr meine Not mit dem Fernsehen verständlich zu machen: „Schau mal Ruth: für Dich mag das keine Sünde sein, wenn Du Fernsehen schaust, aber für mich wäre das Sünde, denn ich habe schon immer vor der Gefahr des Fernsehens gewarnt.“ – „Aber Du brauchst doch gar nicht mitzugucken…“ – „Das lässt sich aber in einer so kleinen Wohnung kaum vermeiden. Und ich weiß, dass ich schwach bin und dann am Ende doch immer wieder hinschauen würde.“ Doch in den Tagen danach drängte Ruth immer wieder in mich, so dass ich am Ende (wie Samson gegenüber Delila) nachgab und einen kleinen, roten Schwarz-Weiß-Fernseher besorgte. Am ersten Abend schaltete Ruth die Kiste ein, und es kam der Film „Terminator“ von 1984 mit Arnold Schwarzenegger, der mich völlig in den Bann zog. Ich hatte ja schon zehn Jahre lang kein Fernsehen mehr geschaut und hatte so etwas noch nie gesehen. Als der Film schließlich zu Ende war, hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen und bekannte Gott im Gebet meine Sünde, bevor wir zu Bett gingen. Leider wiederholte ich diese Sünde aber noch an vielen anderen Abenden, so dass es mir immer schwerer fiel, Gott dafür um Vergebung zu bitten.

Aber es sollte alles noch viel schlimmer kommen. An einem Tag klingelte das Telefon: „Schalom, Bruder Simon, hier ist der Eberhard aus Plech. Bist du gerade zuhause? Denn ich bin gerade hier in Bremen auf dem Weg zu dir, um dich zu besuchen. Hättest du heute Nachmittag Zeit? Ich wäre in etwa 5 Minuten bei dir.“ Nach dem Telefonat klopfte mir das Herz: „Ruthi, wir müssen schnell den Fernseher verstecken, denn gleich kommt ein ganz strenger Bruder zu Besuch, und der darf auf keinen Fall mitkriegen, dass wir jetzt einen Fernseher haben!“ Als Eberhard an der Tür klingelte, klopfte mir noch immer das Herz, und ich ließ ihn reinkommen. Für mich war Eberhard der Großinquisitor schlechthin, der nur gekommen war, um meinen Glauben auszuforschen. Ich gab mich locker und erklärte ihm, dass ich jetzt eine ganz neue Erkenntnis gewonnen hätte, nämlich dass ein Christ nicht in einem Angestelltenverhältnis arbeiten dürfe, sondern sich nach Möglichkeit selbstständig machen sollte aufgrund von 1.Kor.7:21. „Das geht doch gar nicht im Handwerk, wenn man keinen Meistertitel hat“, warf Eberhard ein, „denn das wäre ja Schwarzarbeit!“ – „Aber wir zahlen doch Steuern!“ – „Das mag ja sein, aber es ist trotzdem Schwarzarbeit. Du musst wissen, dass Schwarzarbeit nicht unbedingt das gleiche ist wie Steuerhinterziehung. Schwarzarbeit bedeutet, dass man arbeitet ohne Berechtigung.“ – „Aber Gott hat uns doch geboten, mit unseren eigenen Händen zu arbeiten. Deshalb kann uns die Obrigkeit das doch nicht verbieten!“ – „Doch, das kann sie. Denn die Obrigkeit hat ein berechtigtes Interesse daran, dass die Qualität des Handwerks geschützt wird, um die Wirtschaftskraft des Landes zu erhalten.“ – „Ralf hat mir aber erklärt, dass dies eine unzulässige Cliquenwirtschaft sei, der wir uns als Christen nicht fügen brauchen. Er meint, dass wir gemäß Judas 1:3 ‚für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben kämpfen müssen‘“. – „Das hat er gesagt?!“ Eberhard war sichtlich erschüttert. „Das hätte ich Ralf nicht zugetraut, dass er so weit geht.

Für mich waren die Argumente vom Ralf aber viel plausibler, denn der HErr wollte doch schließlich, dass wir im Idealfall aus der Welt hinausgehen müssen, wenn es uns nicht anders gelingt, uns von ihr abzusondern (1.Kor.5:10). Auf keinen Fall wollte ich wieder in ein weltliches Angestelltenverhältnis zurück, sondern ab jetzt nur noch für Gläubige arbeiten. So rief ich Bruder Ralf an, ob er vielleicht Arbeit für mich hätte. Er lud mich ein, für drei Tage nach Bebra zu kommen, um ihm bei einem Umzug zu helfen. So schleppten wir den ganzen Tag Möbel aus einem Haus heraus in einen großen LKW und fuhren dann in eine andere Stadt, wo wir die Möbel zusammen in ein anderes Haus ausluden. Am Ende erhielt Ralf für die Arbeit 1.400,- DM in bar, von denen er mir 600,-DM auf die Hand gab. Ich war völlig baff, denn ich hatte noch nie so viel Geld in so kurzer Zeit verdient. „Das ist doch viel zu viel, lieber Ralf, das kann ich doch gar nicht annehmen.“ – „Nein, das hat schon alles seine Richtigkeit. Du bist doch jetzt ein Unternehmer und musst das Geld auch versteuern. Und außerdem musst Du jetzt alle Abgaben selbst bezahlen, so dass am Ende gar nicht mehr so viel davon übrigbleibt.“ Ralf hatte recht. Schon allein die Zugfahrt hin und zurück hatte mich ja 130,- DM gekostet.

Als ich wieder in Bremen war, schrieb ich in meinem neuesten Rundbrief ein Plädoyer für die Selbstständigkeit mit dem Titel: „Von der ägyptischen Gefangenschaft des Volkes Gottes“. Dann bewarb ich mich bei anderen Malermeistern als Subunternehmer. Da lernte ich einen Unternehmer kennen, der mir gleich das Du anbot. Heiko Jastrembski war genauso wie ich kein Malermeister, hatte aber von seinem Vater ein kleines Farbengeschäft in Bremen-Nord übernommen, durch das er immer wieder an neue Kunden gelangte, für die er Aufträge übernahm. Er ließ mich für kurze Zeit bei sich arbeiten, aber ich hatte schon bald das Gefühl, dass es mit Heiko irgendwann Ärger geben würde, da er nicht immer ehrlich mit seinen Kunden umging. Zudem kämpfte auch Heiko ständig gegen den Vorwurf der Schwarzarbeit an, dem er sich durch seine Aufträge immer wieder ausgesetzt sah, was auf Dauer äußerst zermürbend war. Inzwischen häufte sich die Kritik einiger Brüder an meinem Aufruf zur Selbstständigkeit. Die Brüder Bernd und Thomas erinnerten mich daran, dass ein jeder in dem Stande bleiben solle, in dem er berufen wurde und dass man die Sklaverei in Ägypten nicht einfach mit einem heutigen Angestelltenverhältnis auf eine Stufe stellen könne. Zudem würde ich Gläubigen völlig unnötigerweise ein schlechtes Gewissen einreden mit dem Vorwurf, sie würden durch ihre Krankenkassenbeiträge die Ermordung von Ungeborenen mitfinanzieren, da die meisten von ihnen gar keine Möglichkeit zur Selbstständigkeit hätten. Meine neue Erkenntnis war also in jeder Hinsicht ein unausgereifter Schnellschuss. Und da ich auch selbst kaum noch eine Chance sah, an eigene Maleraufträge heranzukommen, gab ich meine Selbstständigkeit schon bald wieder auf und meldete mich arbeitslos. Es dauerte nicht lange, da wurde ich wieder vom Malereibetrieb Hespenheide eingestellt, für den ich ja im Jahr zuvor schon gearbeitet hatte.


Das schnelle Geld

Im November hatte Ruth auf einmal starke Schmerzen bekommen im unteren Rückenbereich, so dass sie ihre Arbeit als Putzfrau aufgeben musste. Außer den Deutschkursen hatte Ruth aber immer weniger zu tun, so dass sie Heimweh bekam nach Peru. Immer häufiger telefonierte sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder Israel, was mir gar nicht recht war, weil die Telefonanrufe sehr teuer waren. Ruth weinte und schimpfte mit mir, dass mir das Geldsparen immer wichtiger sei als ihr Wohlergehen. Immer häufiger sehnte sich Ruth nach Peru zurück, aber wir hatten einfach noch nicht genug Geld, um dorthin zu reisen. Doch dann kam Ruth eine Idee: „Meine beste Freundin Raquel, mit der ich schon von Kind auf befreundet bin, hat mir geschrieben, dass ihr Freund Ruben aus Venezuela gerade mit ihr schlussgemacht hat. Sie ist jetzt sehr traurig und verzweifelt. Was hältst du davon, wenn wir Raquel nach Deutschland einladen, damit sie bei uns wohnen kann? Ich bin dann nicht mehr so allein tagsüber, und vielleicht lernt sie dann sogar einen deutschen Glaubensbruder kennen, um ihn zu heiraten…“ Ich war skeptisch: „Wir haben aber nur ein sehr kleines Zimmer hier. Außerdem wollen wir doch nächstes Jahr ohnehin nach Ecuador auswandern, so dass sich das kaum noch lohnt.“ Schließlich überredete mich Ruth aber, und wir luden Raquel für den Februar ´94 nach Deutschland ein.

Ruth sandte auch regelmäßig Geld an ihren Bruder Israel, der kaum genug verdiente, um seine Familie über Wasser halten zu können. Aber auch wir selbst mussten umso mehr darauf achten, mit dem Rest meines Gehalts über den Monat zu kommen, da es nur gerade eben so reichte. Also beschloss ich, wieder nach einer Nebenbeschäftigung Ausschau zu halten. Dann las ich in eine Stellenanzeige: „Nebentätigkeit als Finanzdienstleister, bei der Sie bis zu 2.000,- DM im Monat dazu verdienen können“. Das machte mich neugierig, und ich verabredete mich mit dem Anbieter. Der junge Mann war kaum älter als ich und hatte sein Büro in einer privaten Hochhauswohnung, was mich etwas irritierte. Er arbeitete für eine Firma namens FINANZ-HANSA und erklärte mir, dass ich einfach nur neue Kunden suchen bräuchte, die sich für die Themen Versicherungen und Altersvorsorge interessieren würden, um sie an einen Finanzberater der Firma zu vermitteln. Statt eines Gehalts würde ich dann für jedes Finanzprodukt, das der Kunde abschließt, dann eine Provision von 500,- bis 1000,- DM erhalten. Auf diese Weise könnte ich dann sehr schnell sehr viel Geld verdienen, wenn ich nur fleißig Werbung machen würde. Er selbst habe bisher als Monteur für Konzertveranstaltungen gearbeitet, konnte aber dann seinen Job aufgeben, weil er als Finanzdienstleister weit mehr verdiene. Bald würde er sich ein eigenes Haus mit Garten kaufen und eine Familie gründen. „Und was hast du davon, wenn ich auch für diese Firma arbeite?“ fragte ich. „Ich bekomme für jeden neuen Mitarbeiter eine Gewinnbeteiligung. Das kannst du übrigens auch, also neue Mitarbeiter rekrutieren.“

Er lud mich auf eine Veranstaltung nach Hamburg ein, wo die Aufgabe noch einmal ganz genau erklärt wurde. Ich war beeindruckt und dachte: Warum nicht? So fuhren wir zwei Tage später in seinem Wagen nach Hamburg, wo ein braungebrannter Geschäftsmann uns und etwa 50 anderen Gästen zwei Stunden lang erklärte, um was es ging und mit welchen Argumenten wir unsere Verwandten und Bekannten dazu bewegen könnten, gemeinsam einen Fragebogen auszufüllen, um ihren Versicherungs- und Finanzbedarf zu ermitteln. Der Redner im Alter von etwa 40 Jahren sagte: „Ich war früher einmal Koch. Aber heute habe ich einen Porsche und ein Haus in Blankenese, – und das nur, weil ich das Prinzip verstanden habe, dass man mit der Vermittlung von Lebensversicherungen und Bausparverträgen mehr Geld verdienen kann als mit jeder anderen Beschäftigung. Wenn das so weiter geht, dann kann ich mich in fünf Jahren vorzeitig zur Ruhe setzen, weil ich dann so viel Geld verdient habe, dass es für den Rest meines Lebens reicht. Und wer möchte das nicht von Ihnen? – finanzielle Unabhängigkeit! Es gibt nichts Schöneres!

Unvermittelt dachte ich an das Gleichnis vom reichen Kornbauern, der sagte: „Seele, du hast einen großen Vorrat angehäuft auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und sei guten Mutes!“ (Luk.12:19) Aber in derselben Nacht wurde seine Seele von ihm gefordert, dass er starb, und all sein Mühen war umsonst. Es ist eine Sünde, wenn man mehr Reichtum aufhäuft als nötig. Aber durch glückliche Umstände schneller Geld zu verdienen, kann ja an sich nicht falsch sein, dachte ich, weil man dann ja mehr Zeit hat, um Gutes zu tun. Und den Menschen zu sagen, dass sie Vorsorge für die Zukunft treffen müssen, ist ja an und für sich ganz ähnlich wie die Evangeliumsbotschaft. Vielleicht könnte ich beide Angebote sogar nacheinander vermitteln… Denn wenn ich erst einmal einen Neukunden erreicht habe, dann könnte ich dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, so nach dem Motto: ‚Sie wollen das Heil in Christus nicht annehmen? Na gut, dann kann ich Ihnen aber sonst auch noch einen Aktienfonds anbieten mit hoher Rendite…‘

Im Nachhinein kann ich heute nicht mehr sagen, warum bei mir damals nicht die Alarmglocken geschrillt hatten, um zu begreifen, dass diese ganze Finanzbranche durch und durch auf Betrug aufgebaut ist. Mein Gewissen war diesbezüglich abgestumpft, und ich war einfältig der Meinung, dass der HErr nichts gegen Anlagegeschäfte hatte, zumal Er ja selbst empfohlen hatte, sein Vermögen nötigenfalls auf eine Bank zu geben, um es mit Zinsen zurückzuerhalten (Mt.25:27). Jedenfalls ließ ich mich blenden von der Aussicht, die materielle Armut in absehbarer Zeit zu überwinden und stimmte einem Vertrag mit der Firma FINANZ-HANSA zu, um zukünftig Neukunden für sie zu werben.

Doch kurz darauf las ich ein weiteres Inserat, dass ebenso hohe Einkünfte versprach und ich rief auch dort an. Die Firma mit dem ungewöhnlichen Namen HERZ-ASS hatte ihre Büroräume direkt im Stadtzentrum an der Domsheide. Ein junger Mann setzte sich mit mir an einen der Tische und begann mir das Konzept der Firma zu erklären: „Wir sind eine Firma im Bereich Multi-Level-Marketing. Was das ist, werde ich Ihnen im Folgenden erklären: Nehmen wir mal an, Sie würden bei uns einsteigen. Dann müssen Sie einen Mitgliedsbeitrag von 86,- DM bezahlen. Ab dann sind Sie berechtigt, all Ihre Bekannten, Freunde und Verwandten einzuladen, um ebenso bei uns zu investieren. Für jedes neue Mitglied bekommen Sie von uns dann 42,- DM zurückerstattet, d.h. bei drei neuen Mitgliedern hätten Sie Ihren Einsatz bereits wieder eingenommen und wären sogar in der Gewinnzone. Wenn nun jeder dieser neuen Teilnehmer wiederum jeweils zwei oder drei neue Mitglieder anwirbt, dann bekommen Sie von jedem dieser Rekruten anteilig 12,- DM von uns überwiesen, ohne dass Sie irgendwas dafür tun mussten. Stellen Sie sich das mal vor!“ Ich war irritiert: „Das heißt, Sie produzieren gar nichts, sondern es werden einfach nur immer wieder neue Investoren gesucht?“ – „Richtig! Das System ist absolut genial und wurde vor fünf Jahren von einem Mathematikprofessor erfunden, der heute schon mehrfacher Millionär ist. Und durch jeden neuen Teilnehmer wächst unsere Firma immer mehr und mehr.“ – Für mich klang dies alles irgendwie zu schön, um wahr zu sein. „Wie kann ich mir sicher sein, dass dies kein Betrug ist?“ wollte ich wissen. „Ganz einfach, ich werde es Ihnen beweisen!“ Dann rief er einen der Kollegen vom Nachbartisch zu sich und sagte: „Das ist Wolfgang – darf ich vorstellen. Einer von seinen Bekannten hat mich selbst erst vor zwei Wochen angeworben, während Wolfgang schon seit rund zwei Monaten dabei ist. Wolfgang, zeig ihm doch mal, wie viel du inzwischen schon verdient hast!“ Der korpulente Mann setzte sich neben mich und holte aus seiner Tasche ein Sparkassen-Büchlein mit Kontoauszügen. Dann blätterte er darin und zeigte mir, dass er jede Woche zwischen 3.000,- und 5.000,- DM von der Firma HERZ-ASS überwiesen bekam. Ich war so überrascht, dass ich selbst einmal die Kontoauszüge in die Hand nehmen wollte, denn ich konnte meinen Augen nicht trauen. Aber es war so.

Ich erbat mir Bedenkzeit und fuhr völlig durcheinander nach Hause. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen: ‚Die machen ja quasi Gewinne aus dem Nichts! Einfach nur dadurch, weil jeder weitere Teilnehmer neue Kandidaten anwirbt, bekommen sie immer mehr Provision! Und zahlen tut die Firma ja tatsächlich, denn ich habe die Kontoauszüge ja mit meinen eigenen Augen gesehen! Und drei neue Teilnehmer zu finden, ist ja an sich keine Kunst, denn man wäre ja schön blöd, wenn man bei so einem Goldesel-System nicht mitmachen würde! Aber was ist, wenn das jetzt ein abgekartetes Spiel war und die Kontoauszüge eine Fälschung? Aber die Kontoauszüge waren doch echt, denn da waren ja auch andere Zahlungsein- und ausgänge – ich hatte es doch gesehen! Meine Neugier und meine Habsucht waren am Ende doch größer als mein Verstand, und ich wurde geblendet wie einst Josua, weil ich mich vom äußeren Anschein überzeugen ließ (Jos.9:6-16). Ich überwies die 86,- DM und war dadurch Mitglied der Firma.

Nun stellte sich die Frage, wen ich als erstes fragen könnte, um mitzumachen. Jener Mitarbeiter Stefan, der mich geworben hatte, bot mir an, mich bei meinen ersten Kundenbesuchen zu begleiten. Er gab mir den Tipp, erstmal nur bei der weitläufigeren Verwandtschaft zu fragen und nicht gleich am Telefon mit der Tür ins Haus zu fallen. Also rief ich meinen Onkel Detlef an zu einem Treffen und nahm den Stefan dann mit. Detlef freute sich, mich nach langer Zeit mal wiederzusehen. Wir plauderten eine Weile über alles Mögliche, und dann erklärte ich ihm unser neues Geschäftsmodell. Als Detlef Fragen hatte, übernahm Stefan das Gespräch. Doch irgendwie wurde Onkel Detlef misstrauisch, obwohl ich ihm versicherte, dass das Geld tatsächlich überwiesen wurde. Es hatte aber keinen Zweck. Am Ende wollte er nicht. Dann fuhr ich mit Stefan zu einem Bruder aus der Bibelgemeinde. Martin Beichter war Lehrer an der Evangelischen Bekenntnisschule und wohnte in einem großen Haus in Habenhausen. Er hörte uns an und antwortete dann mit ruhiger Stimme, dass er kein Geld für so etwas übrighätte. Er habe zwar Geld auf einem Sparkonto, aber dies sei ausschließlich für Reparationen am Haus gedacht.

Dann rief ich einen ehemaligen Klassenkameraden an und erzählte zunächst nichts von HERZ-ASS, sondern nur, dass ich jetzt als Finanzberater arbeiten würde. Zu meiner Verwunderung fing Hans-Jörg sofort an zu lachen: „Ach, dann weiß ich auch, warum du mich anrufst, denn du willst mich als Kunden werben, – habe ich recht? Aber du brauchst mir nichts erzählen, denn das kenne ich alles schon. Ich habe vor ein paar Jahren auch so angefangen, um den Leuten eine Versicherung anzudrehen, bis ich herausfand, dass diese Vertriebsfirmen dich nur dazu missbrauchen, um an deine Bekanntschaft ranzukommen. Tatsächlich ist dieses Geschäft sehr mühselig und man verdient kaum etwas daran. Vergiss es!“ Diese Nachricht machte mich ziemlich unsicher, aber ich wollte mich nicht sofort geschlagen geben und erklärte ihm dann das Geschäft von HERZ-ASS. Aber auch diese Form war ihm nicht unbekannt: „Das ist ein so genanntes Schneeballsystem. Davon profitierten eigentlich nur diejenigen, die schon länger dabei sind. Aber auf Dauer funktioniert das nicht, denn irgendwann fliegt der Schwindel auf und die Letzten gehen dann leer aus. Deshalb sind Schneeballsysteme eigentlich auch sittenwidrig.“ – „Aber worin soll denn der Schwindel bestehen?“ fragte ich erschrocken. „Ganz einfach, weil wir in einer endlichen Welt leben, in der es keine unendlichen Gewinne geben kann. Und den Letzten beißen am Ende die Hunde. Du musst wissen: Die Gewinne der einen, sind immer die Verluste der anderen. Außerdem findet ja gar keine Wertschöpfung statt, sondern es ist ein reines Glücksspiel, wo das Geld nur von einem zum anderen hin- und hergeschoben wird bis dann irgendwann das Spiel aus ist und es wenige Gewinner aber viele Verlierer gibt.“ – „Aber ist es im Kapitalismus nicht immer so, dass es Gewinner und Verlierer gibt?“ – „Ja, aber bei einem fairen Wettbewerb werden die Teilnehmer über die Risiken aufgeklärt, während sie in Schneeballsyytemen absichtlich getäuscht und belogen werden.

Marcus bekommt Depressionen

Ich war also auf eine unseriöse Firma reingefallen und hatte 86,- DM verloren. Aber auf der anderen Seite hatte ich etwas dazu gelernt und würde zukünftig etwas vorsichtiger sein. Mir wurde aber allmählich immer mehr bewusst, dass ich mich durch den Wunsch nach dem schnellen Geld weit vom HErrn entfernt hatte, so wie Paulus auch ganz richtig gesagt hatte: „Die, welche reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke und viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen in Untergang und Verderben stürzen. Denn die Geldgier ist eine Wurzel alles Bösen; etliche, die sich ihr hingegeben haben, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich selbst viele Schmerzen verursacht“ (1.Tim.6:9+10). Vor allem hatte ich mich zuletzt zu wenig um Ruth gekümmert, die ja ständig starke Schmerzen im Rücken hatte. Der peruanische Orthopäde hatte ein sog. Sacro-Lumbar-Syndrom bei ihr festgestellt, d.h. eine ständige Entzündung der Muskeln durch Reibung eines Wirbelzapfens am Beckenknochen. Er verschrieb ihr neben dem Opiat Tramal eine Erholungs-Kur in Cuxhaven für April 1994.

Um Ruth etwas aufzumuntern, fuhr ich an einem Wochenende mit ihr nach Paris, wo wir die Stadt besichtigten und in einem Hotel übernachteten. Wir gingen auf dem Champs Elysee zum Arc de Triomphe, wo wir Tauben fütterten. Dann besichtigten wir den Louvre, wo die Mona Lisa ausgestellt ist und in dessen Innenhof jene Pyramide aus 666 Glasscheiben errichtet war. Wir hatten den Eindruck, dass die ganze Stadt ein riesiges Museum ist. Abends stiegen wir dann auf den Eiffelturm und sahen Paris von oben an. Es war sehr schön und romantisch.

An einem Abend kam mich mein Bruder Marcus besuchen. Wir machten einen Spaziergang am Weseruferpark, und er erzählte mir, dass es ihm seelisch gerade sehr schlecht ginge. Bisher hatte er sich in seiner Ausbildung zum Erzieher sehr wohlgefühlt. Jetzt aber, wo er in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche arbeitete, hatte er schon mehrere Demütigungen erfahren, weil die Heranwachsenden ihn überhaupt nicht respektierten. Schlimmer aber war für ihn das, was eine Freundin meiner Mutter, eine Diakonisse aus Rehrßen, ihm während eines seelsorgerlichen Gesprächs sagte: „Marcus, ich habe den Eindruck, du bist fremdbestimmt!“ Dieser Satz hatte sich bei ihm eingebrannt und ließ ihn nicht mehr los. „Was hatte sie damit gemeint?“ fragte er sich immer wieder. Er bekannte mir, dass er seit seiner Bekehrung eigentlich immer nur bemüht war, anderen zu gefallen, aber dass er inzwischen gar nicht mehr sicher war, ob er eigentlich je ein Kind Gottes geworden ist. Denn er fühlte sich eher als Schauspieler, der gar keine wirkliche Beziehung zu Gott hatte. Vielleicht würde er eines Tages einer jener Gäste sein, die „kein Hochzeitskleid“ anhaben und deshalb vom Reich Gottes ausgeschlossen würden… (Mt.22:11-12). Aber wie konnte er das herausfinden?

In der Tat hatte ich damals auch nicht den Eindruck gehabt, dass Marcus wirklich ein wiedergeborener Christ war, weil er so ziemlich jede Sünde immer relativierte und über alles diskutieren wollte. Er mochte keine starren Festlegungen, sondern hatte eher die Vorstellung von einem unendlich toleranten Gott, der immer locker und gesellig sei. Aber auf einmal erlebte er die totale Ernüchterung. Jetzt kam es ihm vor, dass alles eine Lüge war und er sich und anderen immer nur etwas vorgemacht hatte. Er spürte, dass er so nicht mehr weiterleben konnte, sondern sich etwas grundlegend ändern musste bei ihm. Er hatte das Gefühl, dass keiner ihn verstehen würde, aber dass er sich auch nicht länger hinter seiner christlichen Fassade verstecken dürfe. Ich empfahl ihm, dass er unbedingt mal in eine andere Gemeinde gehen solle, denn diese Baptisten-Gemeinde, wo er hinging, war ja wirklich sehr oberflächlich. Als wir zwei Wochen später im Lankenauer Hof am Silvesterabend als ganze Familie zusammen beim Essen saßen und bei ausgelassener Stimmung fröhlich lachten, saß Marcus einfach nur ernst da und sagte kein Wort. Später flüsterte er mir zu: „Simon, ich kann mich über nichts mehr freuen…“ Einen Monat später verübte er mehre Selbstmordversuche – doch dazu später mehr…

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