„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Einmal auf dem Schoß Gottes sitzen“ Teil 10, (Jan. – Dez. 2000)

Januar – Juni 2000

„Demas“ bekommt eine Antwort

Im Winter hatte ich endlich Zeit, das Internet mal richtig auszukundschaften. Eigentlich bestand es ja schon seit 10 Jahren, aber für mich war es eine ganz neue Welt. Facebook gab es damals noch nicht, aber es gab schon jede Menge Gesprächsforen, wo man Leute traf, die die gleichen Interessen mit einem teilten. Es war jetzt wesentlich einfacher, Freundschaften zu knüpfen und seine Meinung einer großen Bevölkerungsgruppe kundzutun. Auch die ersten Firmen hatten die ungeahnten Möglichkeiten entdeckt, ihre Firma auf einer eigenen Internetseite darzustellen und sogar ihre Waren über das Internet zu verkaufen. Viele verglichen das Internet bereits mit der Erfindung des Buchdrucks vor 500 Jahren, da durch die Verbreitung von Information die Welt auf einmal sehr viel kleiner geworden war.

Es dauerte nicht lange, da fand ich auch schon ein geeignetes Forum auf „Jesus.de„, wo ich mich mit Christen über die Glaubwürdigkeit der Bibel austauschen konnte. Leider war ich in meinem vermeintlich aufklärerischen Eifer sehr unbesonnen und provozierte die Gläubigen allzu oft (z.B. mit einem Vergleich von Hitler mit dem Gott der Bibel), so dass ich erst eine gelbe und später eine rote Karte von den Administratoren bekam, was eine Sperre zur Folge hatte. Nachdem ich nach einer Auszeit mich neu einloggen konnte, versuchte ich, vorsichtiger zu agieren, indem ich die Jesus.de-Teilnehmer zu privaten Chats einlud, wo die Administratoren nicht mitlesen konnten. So erfuhr ich, dass es durchaus viele schwache Christen gab, die schon drauf und dran waren, den Glauben ganz aufzugeben, da sie keinen Sieg in ihrem Leben verspürten. Einer schrieb mir z.B. und sagte, dass er meine Auffassungen im Grunde alle teilen könne, aber dass er nicht den Mut habe, so wie ich den allerletzten Schritt zu gehen, um sich von Jesus ganz loszusagen, denn er sagte sich: „Was wäre, wenn ich mich nun irren würde und es doch eine Hölle gäbe? Dann gäbe es kein Zurück mehr, und ich wäre für ewig verloren. Dieses Risiko kann ich aber nicht eingehen, deshalb bleibe ich lieber vorsichtshalber noch Christ.“ Trotzdem lobte er mich für meinen „Mut“.

Unter den Gesprächsteilnehmern war auch ein Pastor namens Helmut Schütz, der sich sehr für die Gründe meines Glaubensabfalls interessierte. Deshalb sandte ich ihm meinen Demas-Brief, in welchem ich ja ausführlich die Gründe benannte, warum ich kein Christ mehr sein konnte. Nachdem er diesen gelesen hatte, schrieb er mir, dass er den Brief sehr gut fand, weil dieser ihn zum Nachdenken über seinen eigenen Glauben angeregt habe. Pastor Schütz, mit dem ich mich fortan duzte, hatte nun die Idee, eine Replik zu schreiben, d.h. einen Antwortbrief an Demas, in welchem er zu all den genannten Argumenten Stellung beziehen wolle, und zwar aus der Perspektive eines bibelkritischen Theologen. Um den von mir erfundenen Stil eines fiktiven Briefes aus der Apostelzeit von Demas an Paulus zu wahren, hatte Helmut die Idee, den Evangelisten Markus einen Brief an Demas schreiben zu lassen, in welchem dieser dem Demas angeblich seinen Standpunkt aus Sicht eines historisch-kritischen Bibelverständnisses versuchte schmackhaft zu machen, um Demas (d.h. mich) für den christlichen Glauben zurückzugewinnen. Dieser Brief kam dann auch ein paar Wochen später, und Helmut war auf 17 Seiten Punkt für Punkt auf meine Zweifel eingegangen.

Zunächst äußerte Markus (alias Helmut Schütz) absolutes Verständnis für meine ablehnende Haltung gegenüber dem Bild von einem tyrannischen Gott, der die Menschen für alle Ewigkeit in der Hölle quälen will für seine Taten, die diese während eines relativ kurzen Erdenlebens aus mangelndem Glauben verübt haben. Allerdings betonte Markus zugleich, dass dieses Gottesbild auch nicht dem wahren Gott der Heiligen Schrift entsprechen würde, sondern eher dem Unverstand eines für ihn befremdlichen, fundamentalistischen Bibelverständnisses geschuldet sei. Er konnte gar nicht nachvollziehen, warum ich die Göttlichkeit und Inspiriertheit der Heiligen Schrift überhaupt davon abhängig gemacht hatte, dass sie auch fehlerlos und widerspruchslos sein müsse. Diese Bedingung beruhe auf einer tragischen Fehldeutung des eigentlichen Anliegens Gottes in der Bibel und behindere ein lebendiges Bibelverständnis trotz aller Unvollkommenheit. Sie habe letztlich zu einem toten Buchstabenglauben geführt, vor dem Paulus doch gewarnt habe. Man müsse vielmehr lernen, zwischen den Zeilen zu lesen, um die eigentliche Botschaft aus der scheinbaren Aussage herauszufiltern. Diese Herangehensweise überzeugte mich jedoch gar nicht, weil sie der Beliebigkeit und einem Wünsch-dir-was-Glauben Tür und Tor öffnete. Das war m.E. auch mitnichten die Absicht dieses Gottes bzw. der Bibelschreiber, dass jeder nach Belieben gerade das aus der Bibel herauslesen konnte, was nach seinem Gusto war. Jedoch teilte ich damals seine Auffassung in dem Sinne, dass die Bibel ein von Menschen mit guter Absicht geschriebener Erklärungsversuch war, um Gott und die Welt besser zu verstehen.

Helmut Schütz wollte nun meinen und seinen Brief hintereinander auf seiner Webseite www.bibelwelt.de veröffentlichen und bat mich um meine Erlaubnis. Ich bejahte dies zwar, wollte aber auch auf diesen Antwortbrief des Markus eine Entgegnung des Demas schreiben, wo ich begründen wollte, warum die historisch-kritische, entmystifizierende Theologie für mich keine annehmbare Alternative sei, sondern bestenfalls ein Rettungsversuch um die Daseinsberechtigung des Christentums noch zu rechtfertigen, angesichts ihrer De-facto-Irrationalität. Dennoch bewunderte ich den Helmut, dass er trotz seiner Unsicherheit und Zweifel sich inmitten des undurchdringlichen Dickichts an Möglichkeiten sich einen für ihn gangbaren Weg geschlagen hatte, an einen gütigen und barmherzigen Gott glauben zu können und aus diesem Glauben Glück und Zuversicht für sein Leben zu schöpfen. Auch gefiel mir sein Plädoyer, sich im Sinne der Botschaft Jesu für die Schwachen und Benachteiligten einzusetzen, um an ihnen die Barmherzigkeit zu üben, die auch wir von Gott für uns ersehnen. Nur entsprach es wohl eher dem heutigen, neomarxistischen Zeitgeist mit seiner sog. „Befreiungstheologie„, dass Helmut seinen Markus aus dem „Wort vom Kreuz“ eine Aufforderung zu politischem Handeln zugunsten einer gerechteren Welt ableiten ließ.

Zu einer Widerlegungsschrift ist es allerdings nicht mehr gekommen, denn unser Umzug stand kurz bevor. Wir hatten unsere Wohnung in Neustadt a.Rbge bereits zu Ende Februar gekündigt und eine Wohnung in Delmenhorst gefunden, in die wir zum 01.03.2000 einziehen konnten. Marco, Michal und ich erledigten noch schnell die letzten Aufträge in Neustadt – u.a. die Renovierung sämtlicher Klassenräume einer Schule in Poggenburg, und meine Frau Ruth versuchte noch schnell, die nötigen Fahrstunden zu absolvieren, um gerade noch rechtzeitig ihren Führerschein zu schaffen. Die praktische Prüfung sollte dann am 22.02. stattfinden, ausgerechnet an jenem Tag, an welchem eigentlich unser Umzug nach Delmenhorst geplant war. Der Lkw war schon gemietet und die Umzugshelfer bestellt, deshalb wäre es fatal, wenn Ruth die Prüfung nicht bestehen würde. Allerdings bezweifelte ich, dass Ruth die Fahrprüfung gleich auf Anhieb bestehen würde, da ich selbst es ja auch nicht gleich geschafft hatte und ich mich selbst insgeheim für klüger hielt als meine Frau. Ich traute es ihr einfach nicht zu. Umso überraschter und beschämter war ich dann, als Ruth dann plötzlich während des Möbelverladens freudestrahlend nach Hause kam mit dem Führerschein in der Hand. Da hatte ich meine liebe Frau tatsächlich völlig unterschätzt (und das nach inzwischen sieben Jahren Ehe!).

Als wir dann am frühen Abend mit dem Möbelwagen in die Einfahrt der Thüringerstr.24 in Delmenhorst hineinfuhren, erlebten wir eine große Überraschung und zugleich herbe Enttäuschung. Denn als der Vormieter die Wohnungstür öffnete und unseres Ansinnens gewahr wurde, sagte er: „Herr Poppe, Sie wollen jetzt schon einziehen?! Wir sind aber doch noch gar nicht ausgezogen! Waren wir zuletzt nicht so verblieben, Sie würden erst Ende März einziehen?“ – „Nein! Ich hatte gesagt, dass wir Ende Februar einziehen, weil Sie Mitte Februar ausziehen wollten!“ – „Ja, ursprünglich wollten wir Mitte Februar ausziehen, aber dann erfuhren wir ja, dass unser neues Haus noch nicht ganz bezugsfertig ist und haben deshalb den Auszug um einen Monat verschoben. Aber hatten wir Ihnen das nicht mitgeteilt? Ich dachte, das wüssten Sie…“ – „Nein, das haben Sie mir nicht gesagt, denn sonst hätte ich Ihnen ja mitgeteilt, dass das nicht ginge, da wir unsere Wohnung ja bereits gekündigt hatten!“ – „Und was machen wir nun?“ fragte der Vormieter. Ich überlegte und sagte dann: „Wir können unsere Möbel ja erst mal hier in den hinteren Garten stellen und mit Planen abdecken. Denn ich muss den Lkw morgen früh wieder zurückgeben. Wir können die nächsten Tage auch erst mal im Haus meiner Eltern übernachten. Wann könnten Sie denn frühestens ausziehen?“ Er besprach sich mit seiner Frau und sagte dann: „Spätestens nächste Woche Freitag, den 03.03. sind wir hier raus, und ihr könnt dann am Samstag einziehen.“ – „So machen wir´s!“ sagte ich.

Die Blase platzt

Am 01.03.2000 war mein Aktienbestand auf insgesamt 64.000,- DM angewachsen. Darin enthalten waren 11.000,-DM, die ich selbst investiert hatte und der Rest von 53.000,- DM war reiner Gewinn. Ich hatte plötzlich die dunkle Ahnung, dass ich jetzt alles verkaufen und mich mit diesem beachtlichen Gewinn zufrieden geben sollte. Während ich also gerade am Hauptbahnhof stand, rief ich spontan bei meiner Bank an und bat darum, alles zu verkaufen, egal zu welchem Preis. Ich wollte plötzlich nicht mehr. Es war so eine Anwandlung, wie eine innere Stimme, dass ich jetzt aufhören müsse. Doch in den Tagen danach wurde ich von Zweifeln geplagt, weil die Kurse einfach immer weiter stiegen. Warum hatte ich nur alles verkauft? Vor allem konnte ich jetzt nicht mehr weiterfiebern wie bisher und litt regelrecht unter Entzugserscheinungen. Nein, ich wollte es wieder tun, wollte dieses Gefühl des Gewinnens weiter haben (Spr.23:35). Wie ein wahnsinniger Spieler verteilte ich wieder all meine Chips auf dem „Roulettetisch“ der Börse und freute mich, dass mein Einsatz sich zunächst auch scheinbar lohnte. Doch am 10.03. kippte die Stimmung plötzlich. Die Kurse brachen ein, zum ersten Mal nach Monaten. Sollte dies das von vielen angekündigte Platzen der Spekulationsblase sein? Ich wollte es nicht glauben, und auch die meisten anderen Privatanleger nicht. Sicherlich war dies nur eine kleine Konsolidierung und danach würde es fröhlich weitergehen nach oben, dachte ich.

Was ich jedoch nicht ahnen konnte, war, dass der absolute Gipfel inzwischen erreicht war. Von nun an sollte es nur noch nach unten gehen. Das tückische an dieser Baisse war jedoch, dass der Absturz nicht auf einmal kam innerhalb weniger Tage wie beim großen Börsencrash von 1929, sondern diese Talfahrt sollte insgesamt drei Jahre anhalten. Da aber niemand wissen konnte, dass es so kommen würde, wurde immer weiter spekuliert in der Hoffnung, dass es schon bald wieder bergauf gehen werde. Da es immer wieder Aktien gab, die dem Trend trotzten und an manchen Tagen über 50 % stiegen (z.B. Infineon) wurde die Hoffnung gehegt, dass man nur die richtigen Aktien kaufen müsse, um Gewinn zu machen. Aber mein Spielerglück hatte mich verlassen, und meine gerade erworbenen Aktien befanden sich Ende März schon alle im zweistelligen Minus. Wenn ich jetzt wieder alles verkaufen würde, dann hätte ich einen Verlust von fast 10.000,- DM, und das konnte ich doch unmöglich zulassen, dachte ich. Vielleicht würden die Kurse schon bald wieder steil nach oben schießen, und dann würde ich mich am Ende ärgern, dass ich so früh schon aus lauter Verzagtheit verkauft hätte. Hatte nicht der große Börsenexperte Kostolany gesagt, man solle erst Aktien kaufen und dann Schlaftabletten, weil man sich sonst ganz verrückt machen würde? Langfristig konnte man mit Aktien doch ohnehin immer nur gewinnen, also musste ich einfach nur Geduld haben. Manche Werte hatten sich inzwischen so sehr verbilligt, dass nun sicher viele wieder einsteigen würden und es nach oben ginge, glaubte ich.

Inzwischen hatte auch mein Freund Jochen das Anlegerfieber gepackt und ich erklärte ihm, wie das praktisch funktioniert mit den Aktien. Innerhalb kürzester Zeit hatte Jochen sich aber schon so sehr mit dem Thema befasst, dass er sogar mich belehren konnte. Er sagte: „Simon, Du solltest keine Aktien kaufen, sondern lieber Optionsscheine. Denn diese sind unabhängig von einem bestimmten Börsentrend, weil Du auch auf fallende Kurse wetten kannst. Und dann gibt es auch noch Derivate und Futures. Du kannst mit Optionen an der Börse spekulieren, ohne sie erst bezahlen zu müssen, indem Du sie verkaufst und erst nachträglich mit dem Gewinn bezahlst.“ Jochen hatte mir dies viele Male erklärt, aber ich begriff es einfach nicht, weil mein mathematisches Denken dafür eher unterentwickelt war. Jochen hingegen war Elektroingenieur, jedoch arm wie eine Kirchenmaus, so dass er kein Geld hatte zum realen Spekulieren. Deshalb begnügte er sich damit, auszurechnen, wie viel er theoretisch gewonnen hätte.

Im Sommer 2000 war mein investiertes Kapital um 18.000,- DM herunter geschmolzen, so dass ich jede Lust am weiteren Spekulieren verlor. Aber Verkaufen wollte ich auch nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es noch immer weiter nach unten gehen sollte. Ich steckte einfach den Kopf in den Sand und wollte nichts mehr wissen von Aktien. Irgendwie war ich auch innerlich wie gelähmt und unfähig, noch eine Entscheidung zu treffen. Ich ärgerte mich nur noch, dass ich nicht bei der Entscheidung Anfang März geblieben war, sondern aus lauter Dummheit und Habgier immer weiter gemacht hatte. Jetzt ging es mir nur noch darum, mir und allen anderen zu beweisen, dass mich Geld nicht mehr interessiert, obwohl ich mich damit selbst belog. Denn insgeheim hoffte ich noch immer, dass die Talfahrt endlich aufhören würde und sich meine Geduld auszahlen könnte. Erst anderthalb Jahre später konnte ich mich endlich dazu durchringen, mein Portfolio aufzulösen, das zu diesem Zeitpunkt nur noch einen Restwert von 15.000,- DM hatte, d.h. ich hatte mittlerweile 50.000,- DM wieder verloren. Ich nahm es mit Gelassenheit und sagte mir, dass ich abzüglich meiner ursprünglichen Investition immerhin noch einen Gewinn von 4.000,- DM übrig habe.

Der Streit mit dem Ex-Vermieter

Die neue Wohnung in der Thüringer str. 24 in Demenhorst lag im Obergeschoß eines Zwei-Familien-Hauses. Unten wohnte die alte Mutter des Vermieters. Es gab einen schönen Garten, wo unsere Tochter spielen konnte und auch einen Kindergarten ganz in der Nähe, wo ich Rebekka anmeldete. Ruth fand schon bald einen Praktikumspatz bei einer Tierärztin in Ganderkesee und ich verteilte meine Handzettel, um nun auch in Delmenhorst Kunden zu werben. Es dauerte nicht lange, dass die ersten Neukunden Interesse bekundeten, so dass ich auch mein Versprechen einlösen konnte, den Michal Wollny fortan für zwei Jahre als Umschüler zu nehmen. Alles lief eigentlich bestens – doch dann entwickelte sich unerwartet allmählich ein furchtbarer Streit mit unserem Ex-Vermieter in Neustadt a.Rbge:

Bevor wir umgezogen waren, hatte Marco auf unserem Balkon etwas lackiert; doch als er das Material wieder verladen wollte, fiel ihm die Dose Lack auf den Fußboden und lief aus. Ich schimpfte mit ihm, aber er sagte, dass wir doch sowieso ausziehen würden und den Teppich dann entsorgen müssten, womit er Recht hatte. Damit aber niemand in den frischen Lackfleck treten konnte, nahm Marco kurzerhand sein Cutter-Messer und schnitt ein kreisrundes Stück aus dem Teppich heraus, auf dem der Fleck war. Dabei hatte Marco jedoch nicht beachtet, dass sich unter dem Teppich ein PVC-Boden befand, der dem Vermieter gehörte und der nun Schnittspuren aufwies. Als dann ein paar Wochen später der Umzug anstand, nahmen wir den alten Teppich hoch und entsorgten ihn. Die Schnittspuren hatten wir dabei gar nicht bemerkt. Als wir uns jedoch eine Woche später mit unserem Vermieter Herrn Werner trafen, bemerkte dieser die Schnitte im PVC und verlangte Ersatz von mir. Ich wies ihn darauf hin, dass man diese auch verkleben könne, und dass doch die offenen Nähte der PVC-Bahnen weitaus auffälliger waren. Er aber ließ nicht mit sich reden, sondern verlangte einen neuen PVC-Belag. Zudem konnte ich ihm auch nur drei von insgesamt vier Schlüsseln von der Wohnungstür zurückgeben, weil ich ein Jahr zuvor einen Schlüssel verloren hatte. Aber auch hier genügte ihm nicht ein neuer Schlüssel, sondern er verlangte einen Austausch der gesamten Schließanlage, da dieser Schlüssel zugleich auch für die Haustür passte. Ich hielt es indes für sehr unwahrscheinlich, dass ein potentieller Dieb selbst nach einem Jahr noch versuchen würde, ins Haus einzubrechen, aber mein Vermieter war da ganz anderer Meinung, so dass wir im Streit auseinander gingen.

Zu allem Pech kam noch hinzu, dass ich infolge der Renovierarbeiten in der neuen Wohnung und all den übrigen Verpflichtungen ganz vergessen hatte, den Dauerauftrag zu löschen, so dass Herr Werner eine weitere Miete in Höhe von 1300,-DM für den Monat März im Voraus erhielt, obwohl wir ja gar nicht mehr dort wohnten. Zusätzlich zu dem Deponat von 3.000,- DM schuldete mir Herr Werner also insgesamt 4.300,-DM, die ich aufgrund mangelnder Liquidität gut hätte gebrauchen können. In den Wochen nach unserem Auszug rief ich den Vermieter deshalb immer wieder an, auch um einen Termin zu vereinbaren, um einen neuen PVC zu verlegen. Erst einen Monat später erreichte ich ihn schließlich und wir vereinbarten einen Termin zum Verlegen. Als ich jedoch damit beginnen wollte, den neuen PVC auf den alten zu legen, protestierte der Vermieter und verlangte, dass wir zuerst den alten PVC herausreißen sollten und den gesamten Fußboden erst neu verspachteln müssten, um dann erst den neuen PVC zu verlegen. Ich erklärte ihm, dass es die fachlich korrekte Verfahrensweise sei, dass man den neuen auf den alten PVC verlege, zumal dies auch für die Langlebigkeit des PVCs viel besser sei, da der Untergrund etwas weicher sei. Aber Herr Werner glaubte mir nicht und weigerte sich schließlich, dass wir es auf unsere Weise tun sollten. Ich empfand sein Verhalten als reine Schikane und entschied mich deshalb, die Frage durch einen Sachverständigen klären zu lassen.

Ich rief also bei zwei Fußbodenlegern an und bat um eine fachliche Stellungnahme. Beide bestätigten mir, dass es völlig unsinnig sei, den alten PVC herauszureißen, da man durch diesen einen viel glatteren Untergrund hätte. Einer gab mir noch den Tipp, dass man die Schnitte problemlos mit einer sog. Kaltschweißpaste wieder abdichten könne, so dass man hinterher nichts mehr sehe. Von all diesen Argumenten wollte sich der Vermieter jedoch nicht überzeugen lassen, sondern behauptete, dass auch er inzwischen bei der Handwerkskammer Hannover angerufen habe und sich angeblich von einem Gutachter habe bestätigen lassen, dass der alte PVC zuvor entfernt werden müsse, da dies sonst „Pfusch“ sei. Ich konnte mir solch eine abweichende Ansicht kaum vorstellen und überprüfte seine Angaben, indem ich mir die zuständige Tel.-Nr. des vereidigten Gutachters der Handwerkskammer geben ließ. Und siehe da: Herr Weber hatte mich angelogen, denn der Gutachter Huisnik hatte nie mit ihm gesprochen. Auf meine Frage, ob es denn Pfusch sei, was ich Herrn Werner angeboten hatte, antwortete er: „Nein, das ist totaler Quatsch. Wir haben gerade erst letzte Woche im Technologiezentrum Vahrenwald viele Tausend Quadratmeter PVC aufeinander geklebt.“

Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass ich gute Chancen hätte, einen gerichtlichen Streit zur Not zu gewinnen. Ich schrieb dem Vermieter, dass ich ihm hiermit eine letzte Frist setze bis zum 18.05.00, um mir mein Deponat und die überzahlte Miete für März zurückzuerstatten, da ich ihn andernfalls auf Zahlung verklagen würde. Zugleich bot ich ihm jedoch an, dass ich selbstverständlich bereit sei, jederzeit vorbei zu kommen, um meinen PVC auf seinen zu verkleben, wenn er mir nur einen Termin nennen würde. Leider hatte ich damals den weisen Rat Salomons vergessen, der doch gesagt hatte: „Einen Rechtsstreit anfangen ist, als ob man Wasser entfesselt; darum lass ab vom Zank, ehe er heftig wird“ (Spr.17:14). Und auch der HErr Jesus hatte empfohlen: „Erweise dich rechtzeitig entgegenkommend gegenüber deinem Streitgegner, während du mit ihm noch auf dem Wege bist (zum Gericht)“ (Mt.5:25). Ich erklärte mich zwar Ende Mai zwar noch bereit, ihm auch noch neue Zylinder einzubauen, aber da war es schon zu spät, denn sein Anwalt teilte mir mit, dass sein Mandant bereits einen Fußbodenleger beauftragt habe und auch die Zentralschließanlage mit 10 Schlössern durch eine Fachfirma auswechseln lassen wolle. Die Kosten von 2.727,40 DM für den Fußboden und 996,50 DM für die Schließanlage würde man mir von meiner Forderung von 4.300,- DM abziehen, zzgl. 45,-DM für die Reinigung der oberen Türfalzen, da man bei einer erneuten Begutachtung festgestellt hatte, dass dort Kotspuren unseres Papageien waren.

Ich kochte vor Wut, wollte aber nicht noch einmal der Versuchung erlegen sein, wie beim letzten Streit mir eine Strafanzeige wegen Beleidung androhen zu lassen, sondern übergab den Fall diesmal gleich an meinen Anwalt. Es folgte nun ein Rechtsstreit, der sich über ein Jahr hinzog und erst am 14.01.2001 durch einen Vergleich entschieden wurde. Demnach sollte ich aus meiner Forderung von 4.300,-DM noch 1.926,-DM erhalten, wobei auch noch anteilige Anwaltskosten von 512,14 DM davon abzuziehen sind. Doch obwohl ich eigentlich hätte froh sein können, dass ich wenigstens knapp die Hälfte meiner Forderung endlich erstattet bekam, war ich sehr erbittert und wurde geplagt von Rachegefühlen, denn ich fühlte mich bestohlen. Da ich das Handeln Gottes in meinem Leben nicht mehr (an)erkannte, konnte ich auch nicht wie Hiob feststellen: „Der HErr hat gegeben, der HErr hat genommen; der Name des HErrn sei gelobt!“ (Hiob 1:21), sondern ich verhielt mich eher wie Jona, der den Schatten des Wunderbaums wie eine Selbstverständlichkeit annahm, sich aber dann beklagte, als dieser am nächsten Tag aufgefressen wurde, obwohl er nichts dazu beigetragen hatte, dass er diesen Wunderbaum doch wenigstens für eine Weile genießen konnte (Jona 4:10).

Juli – Dezember 2000

Mein „kleiner“ Bruder Patrick

Obwohl mein vier Jahre jüngerer Bruder Patrick mit seinen 1,97 Metern noch 3 cm größer ist als ich, war er für uns immer der kleine „Pelle„, wie wir ihn seit seiner Kindheit liebevoll nannten. Dies änderte sich auch nicht, als er am 22.07.2000 seine Freundin Manuela heiratete. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor kennengelernt über das Internet. Damals schrieb Patrick aus Langeweile eine Kontaktanzeige über ein Chatprogramm namens ICQ, bei der er sich aus Quatsch genau entgegen gesetzt beschrieb als wie er wirklich war: „Pummeliger und nicht gut aussehender Junge (26) sucht eine Partnerin„. Damals war Patrick arbeitslos und fühlte sich trotz seiner pompösen Statur tatsächlich wie ein Versager. Manuela hingegen war eine Einser-Abiturientin und studierte gerade auf Lehramt Physik und Mathematik, als sie dies las während einer Israelreise und antwortete ihm aus Neugier. Da sie sich mit „Schalom“ von ihm verabschiedete, nahm Patrick an, dass sie auch gläubig sein müsse. Sie schrieben sich eine ganze Weile hin und her und verabredeten sich dann im September´98 auf einem Stadtfest. Patrick verliebte sich auf Anhieb in diese selbstbewusste junge Frau, die ein wenig aussah wie Angela M. in ihrer Jugendzeit. Durch sie schaffte es Patrick schließlich auch, seine Ängste und Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, die ihn von früher Jugend an plagten.

Weil er der jüngste von uns vier Kindern war, muss er sich wohl oft benachteiligt und „abgehängt“ vorgekommen sein, war aber deshalb umso mehr „Mamas Liebling„. In der Schule war er genauso wie ich immer sehr verträumt und mochte den Unterricht nicht, weshalb er manchmal einfach früher nach Hause ging. Als mein Bruder Marco ihn 1988 auf eine Evangelisation von Wilhelm Pahls mitnahm, bekehrte er sich und wechselte schon bald darauf in die Freie Evangelische Bekenntnisschule (FeB), die gerade neu in Bremen gegründet war. Da er der einzige Christ unter den Schülern war, ließ der gläubige Lehrer ihn oftmals vor der Klasse das Gebet sprechen, womit bis heute jeder Unterricht dort morgens beginnt. Durch die Liebe und den Zuspruch der Lehrer dort verbesserten sich allmählich auch seine Noten, so dass er von der Hauptschule auf die Realschule wechseln konnte und später sogar sein Fachabitur machte. Nachdem er 1992 seinen Zivildienst im Krankenhaus beendet hatte, wollte Patrick am liebsten nur noch zuhause sein oder sich mit Freunden treffen, von denen er viele hatte durch die christliche Gemeinde. Doch nach einem Jahr sah Patrick die Notwendigkeit, eine Lehre zu machen und bewarb sich in einer Tischlerei, die ihn auch nahm.

Leider war Patrick als Tischler nie besonders gut, so dass er zum Ende seiner Lehre entlassen wurde. Er bemühte sich dann bei einer anderen Firma, aber ging jeden Tag mit Angst zur Arbeit, weil er glaubte, jeden Moment gekündigt zu werden. Als er eines Tages allein in der Werkstatt ein Möbelstück an einer CNC-Maschine bearbeitete, kam es aufgrund einer falschen Einstellung zu einem lauten Knall, so dass das Werkstück kaputt ging. Daraufhin ging Patrick schnell nach Hause, legte sich ins Bett und verkroch sich unter der Bettdecke. Da er in der Folge schon wieder seine Arbeit verlor, beschloss Patrick, sich von nun an nur noch seinen Hobbies zu widmen, nämlich dem Computer und der Fotographie. Er merkte, dass er dies viel besser konnte als jeder andere und verdiente sein erstes Geld durch kleine Aufträge. Weil Patrick ziemlich attraktiv aussah (ähnlich wie der Schauspieler Matt Damon) und auch gut reden konnte, hatte er schon bald viele junge Frauen aus der Gemeinde, die sich von ihm professionell fotografieren ließen, vorzugsweise in Schwarz-weiß-Bildern, die er selber entwickelte in seiner Dunkelkammer zuhause. Er lebte mit meinem Bruder Marco mietfrei im Elternhaus und sah daher nicht die Notwendigkeit, wieder Arbeit zu suchen.

Das änderte sich aber dann, als er Manuela kennenlernte, die bis dahin immer nur auf der Überholspur durchs Leben fuhr. Sie animierte ihn, sich wieder als Tischler zu bewerben und machte ihm Hoffnung, dass sie auch ihr Leben mit ihm teilen würde. Sie trafen sich nun jedes Wochenende und machten zusammen Sport wie z.B. Rollerskaten. Als sie dann ein Jahr später ihr Studium beendet hatte und einen Referendariatsplatz in Stade bekam, fragte sie Patrick, ob er sich vorstellen könne, mit ihr zusammenzuziehen. „Nur wenn Du mich vorher heiratest!“ sagte Patrick laut lachend. Sie wollte, aber machte ihm später den Vorwurf, dass sein Heiratsantrag so „schrecklich unromantisch“ gewesen sei. Einen Tag vor ihrer Hochzeit wurde Patrick schon wieder gefeuert; doch als er traurig nach Hause kam, umarmte ihn Manuela und tröstete ihn. Später sagte er: „Das war das Schönste, was ich je erlebt hatte!“

Der Katastrophenlehrling

Inzwischen hatte ich wieder eine gute Auftragslage und mir deshalb auch einen neuen Gebrauchtwagen als Firmenwagen gekauft, einen weißen Opel Kadett Kombi, der ähnlich wie der vorige etwa 10 Jahre alt war und auch nur 3.000,- DM kostete. Um Rebekka eine Freude zu bereiten, kaufte ich auch einen kleinen Hundewelpen, einen Mischlingsrüden, den wir Bobby nannten. Die alte Nachbarin unten war über diese Idee gar nicht so begeistert, zumal Bobby auch häufig lange bellte, wenn wir aus dem Hause gingen. Deshalb beschloss ich, unseren Hund einfach mitzunehmen auf die Baustellen. Dort wo es sich um leere Häuser handelte, die wir tapezieren sollten, war dies ja auch kein Problem, zumal Bobby die meiste Zeit ohnehin schlief am Tage. Eines Tages sprach mich eine Kundin an und sagte: „Herr Poppe, Sie sind doch so ein guter Mensch! Vielleicht könnten Sie meiner Tochter einen Gefallen tun. Sie hat nämlich seit kurzem ihren ersten Freund und möchte ihm gerne helfen. Er ist ein ganz lieber Kerl von 19 Jahren, aber er sucht dringend einen Ausbildungsplatz und findet einfach keinen. Hätten Sie nicht Interesse, ihn als Lehrling zu nehmen?“ Ich hatte nichts dagegen, und so vereinbarten wir, dass er einfach mal vorbei kommen solle.

Kurz darauf meldete sich Patrick Mücher bei mir und kam am Nachmittag mit seiner Bewerbung vorbei. Vor mir saß ein gut gestylter junger Mann mit modischer Kleidung und selbstbewusstem Auftreten. Er hatte ein einnehmendes Lächeln wie Stefan Raab, so dass ich seinem Charme kaum wiederstehen konnte. Ich dachte mir: „Wenn der so gut arbeitet, wie er reden kann, dann wird das bestimmt ein toller Lehrling werden!“ Patrick erwies sich in der Tat als „toll„, allerdings in der ursprünglichen, biblischen Bedeutung des Wortes, nämlich als TOLLkühn und geradezu psychopathisch! ich hatte später nie mehr solch einen verrückten und katastrophalen Lehrling wie Patrick gehabt, der mir fast den Verstand rauben sollte! Denn was ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, war, dass Patrick vor keiner noch so verwegenen Straftat zurückschreckte, sondern sich in fast kleptomanischer Besessenheit alles nahm, was er wollte. Ich wusste nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jugendstrafen verbüßt hatte wegen Einbruch, Diebstahl, Körperverletzung und Fahren im angetrunkenen Zustand. Da ich ihn sehr sympathisch fand, nahm ich ihn als Lehrling. Er sollte die nächsten fünf Jahre zu meinem Alptraum werden…

Einen Monat später stellte ich einen weiteren Lehrling ein namens Volkmar Priefer. Da Patrick und er etwa gleich alt waren, verstanden sie sich auf Anhieb und wurden gute Freunde. Wir lachten viel auf der Arbeit, aber manchmal erschrak ich über den derben Humor, den die beiden hatten. Doch eines Tages stellte ich zu Feierabend fest, dass mir 100,- DM im Portemonnaie fehlten. Da ich an jenem Tag nur mit Patrick allein auf der Baustelle gearbeitet hatte, konnte nur er sie mir gestohlen haben. Am nächsten Morgen stellte ich ihn zur Rede, aber er stritt es natürlich ab. Daraufhin filzte ich ihn und fand einen 50,-DM-Schein in seiner Latzhose. „Komm, Patrick, sag die Wahrheit! Erzähl mir doch nicht, dass das Dein Geld hier ist, denn Du hast doch sonst NIE Geld dabei!“ – „Das Geld ist von meiner Freundin. Sie hat es mir heute Morgen geliehen, damit ich mir was zu essen kaufen kann.“ – „Ok,“ sagte ich, „dann werde ich Deine Freundin nachher mal anrufen und sie fragen, ob das stimmt.“ – „Ja, kannst sie ruhig fragen, sie wird es Dir bestätigen!“ Dann musste ich noch mal kurz ins Haus, um etwas zu holen. Aber in der Zwischenzeit rief Patrick heimlich seine Freundin an auf dem Handy und flüsterte ihr zu: „Mein Chef wird Dich gleich anrufen und Dich fragen, ob Du mir heute Morgen Geld geliehen hast. Bitte sage ihm, Ja! mein Schatz. Ich erklär Dir alles später.“ Und tatsächlich bestätigte sie mir dann brav die Lüge von Patrick. Was er jedoch nicht ahnte, war, dass Loyalität immer nur so lange währt, wie eine Freundschaft; aber wenn eine solche zu Ende geht, dann wird manchmal auch schmutzige Wäsche gewaschen und Lügen kommen ans Licht…

Schon während der Probezeit erlebte ich es leider immer wieder, dass Patrick oder Volkmar sich morgens krank meldeten. Mir war klar, dass sie meistens nur zu spät ins Bett gegangen waren oder abends zu viel getrunken hatten. Als Patrick eines Morgens mal wieder mit verkaterter Stimme auf den AB sprach, dass er „krank“ sei, rief ich ihn sofort zurück, aber er ging nicht mehr ans Handy. Daraufhin fuhr ich zu ihm nach Hause und klingelte an seiner Tür. Er machte auf und sah mich erschrocken aus seinen schlafverquollenen Augen an, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich es bin. Da er noch in Unterhose war, sagte ich im Befehlston: „LOS! ZIEH DICH AN UND KOMM MIT!“ Sofort parierte er und saß im Nu mit mir im Auto. So „krank“ war er also offensichtlich doch nicht. Aber auch Patrick war wahrscheinlich verwundert über meine rüden Erziehungsmethoden. Da ich jedoch im Auto auch noch Rammstein hörte, fiel es ihm schwer, in mir eine Respektperson zu sehen, sondern ich war für ihn wohl eher so etwas wie ein großer Bruder.

Die Probezeit war noch nicht abgelaufen, und trotzdem tanzte mir Patrick ständig auf der Nase herum. Als er eines Tages mit Volkmar alleine auf der Baustelle war und ihn dazu überredete, einfach schon eine Stunde eher Feierabend zu machen, da ist mir der Kragen geplatzt, als ich es erfuhr, und erteilte Patrick eine fristlose Kündigung. Ich dachte, dass ich diese Nervensäge nun endlich los sei, aber die Geschichte war damit noch lange nicht zu Ende. Drei Wochen nach der Kündigung rief mich Patrick an. Mit einer Engelszunge und übertriebener Freundlichkeit erklärte er mir, dass er gerade ein Regal baue für seine Mutter und zu diesem Zwecke etwas flexen müsse. Er fragte, ob er sich von mir den Winkelschleifer ausleihen dürfe und in meiner Werkstatt etwas damit schneiden dürfe. Ich sagte: „Ja, kein Problem.“ Eine halbe Stunde später kam Patrick mit einem anderen Burschen zu mir und ich schloss ihnen die Werkstatt auf. Dann ging ich wieder über die Gartentreppe rauf in unsere Wohnung. Da wir schon November hatten, war es schon um 17.00 Uhr sehr dunkel draußen. Ich hörte den dumpfen Krach aus der Werkstatt. Nach einer Weile ging ich wieder runter, um zu sehen, was Patrick da eigentlich macht. Doch als mich sein Kumpel sah, der rauchend vor der Tür stand, rief dieser leise aber hörbar durch den Türspalt: „Achtung, er kommt!“

Das machte mich misstrauisch. Patrick hörte sofort auf zu schneiden und machte die Tür auf, so dass eine große Staubwolke aus der Werkstatt kam. Ich sagte: „Warum machst Du denn die Tür zu beim Schneiden? Du staubst ja alles voll hier!“ Patrick stellte sich demonstrativ in die Tür, damit ich nicht sehen konnte, was er da gerade gemacht hatte und sagte: „Nee, das ist ja nur, damit die Nachbarn sich nicht beschweren wegen dem Krach, denn es ist ja schon Abend.“ Ich wusste, dass er etwas zu verbergen hatte, ließ mir aber nichts anmerken und sagte so gleichgültig wie möglich: „Sagt mir bescheid, wenn Ihr fertig seid, damit ich wieder zuschließe.“ Ich ging wieder die Treppe nach oben, aber behielt die beiden im Blick. Doch schon 2 Minuten später sprang unten der Wagen an und sie waren wieder weggefahren ohne Bescheid zu geben. Ich ging runter in den Schuppen, machte Licht an und sah, dass alles vollgestaubt war. Und dann bemerkte ich, dass in der Ecke auf dem Boden eine Metallplatte lag. Ich hob sie auf und betrachtete sie. Um ein Regal zu schneiden hätte ein 1 – 2 mm dickes Blech genügt, aber dies hier war fast eine 1 cm dicke Stahlplatte. Ich nahm sie mit nach oben und dachte: „Das sieht er aus, als hätten sie einen Tresor aufgeschnitten.“

Ich nahm den Hörer und rief die Polizei an. „Ja, hier Polizeinotruf.“ – „Entschuldigen Sie, aber ich habe mal eine Frage: Wurde in letzter Zeit mal ein Tresor gestohlen in Delmenhorst?“ – „Es wird öfter mal ein Tresor gestohlen; wieso? Was wissen Sie denn?“ – „Ach, ich wollte nur mal fragen, weil ich den Eindruck habe, dass gerade eben in meiner Werkstatt ein Tresor aufgeschnitten wurde, denn ich halte hier ein ziemlich dickes Stück Stahl in der Hand.“ – „Können Sie mir dazu mal genauere Angaben machen?“ – „Nein, ich möchte eigentlich lieber nichts weiter sagen, denn sonst würde ich einen jungen Mann belasten, der möglicherweise unschuldig ist.“ – „Wenn Sie jemanden decken, dann machen Sie sich aber ebenso strafbar. Wenn der Betreffende aber unschuldig ist, dann hat er doch nichts zu befürchten. Und selbst wenn er etwas ausgefressen hat, dann helfen Sie ihm nicht, wenn Sie ihn decken, sondern unterstützen ihn sogar indirekt, weil er es immer weiter machen wird. Also, wollen Sie jetzt reden?“ – Ich überlegte und sagte dann: „Sie haben recht. Es handelt sich um einen ehemaligen Lehrling von mir. Er heißt Patrick Mücher und wohnt hier in Delmenhorst.“ Dann erzählte ich die Einzelheiten und gab die genaue Adresse bekannt.

Sofort fuhr ein Streifenwagen zu seiner Wohnung, wo sie aber nur die Mutter antrafen. Sie gab den Beamten die Adresse von seiner Freundin, wo er übernachtete. Dort angekommen, durchsuchten sie die Wohnung und fanden unterm Kopfkissen jede Menge Bündel mit Geldscheinen, sowie Briefmarken im Wert von rund 1000,-DM. Sie verhafteten Patrick und nahmen ihn mit auf die Wache. Patrick war geständig und gab zu, dass er in der Orthopädischen Klinik in Ganderkesee absichtlich ein Fenster im Erdgeschoss offen gelassen hatte, durch das er dann in der Nacht eingestiegen sei, um einen Tresor herauszutragen. Er tat ihn auf den Gepäckträger seines Fahrrads, deckte ihn zu und schob das Fahrrad dann in eine Nebenstraße, wo er einen Cousin anrief, um ihn abzuholen. Da Patrick bereits einschlägig vorbestraft war, drohte ihm nun eine Haftstrafe nach dem Jugendstrafrecht. Doch da keine Fluchtgefahr bestand, konnte er bis zum Beginn seines Prozesses noch in Freiheit verbringen.

Nach etwa drei Wochen rief mich die Kundin Preusse an, deren Tochter mit Patrick befreundet war. Sie bat darum, ob ich Patrick nicht noch mal eine Chance geben könnte, denn wenn er in einer Ausbildung sei, könnte die Strafkammer möglicherweise von einer Haftstrafe absehen. Ich erklärte ihr, dass ich Patrick für gefährlich halte, zumal er ja früher auch schon mal in psychiatrischer Behandlung war. Frau Preusse zeigte Verständnis und erklärte dies ihrer Tochter. Was ich jedoch nicht ahnte, war, dass diese nichts von Patricks Psychiatrie-Aufenthalt wusste. Da die Beziehung wohl ohnehin schon am seidenen Faden war, machte Bettina im Streit nun ganz mit ihm Schluss, rief mich an und verriet mir, dass Patrick mir damals tatsächlich die 100,-DM gestohlen hatte, sie aber nicht länger mit einem kriminellen Psychopathen zusammen leben wollte.

Als ich am nächsten Tag morgens mit Bobby in mein Auto steigen wollte, war die Heckscheibe zerschlagen. Ich rief sofort Patrick an und sagte ihm, dass er mir diesen Schaden ersetzen werde. „Gar nichts werd‘ ich tun, sondern ich werde Dir eins aufs Maul hau´n! Warum hast Du Bettinas Mutter erzählt, dass ich mal in der Psychiatrie war?!“ – „Ich wusste nicht, dass sie es nicht wusste. Tut mir leid dafür. Aber Du hättest mit mir reden können und nicht einfach feige die Heckscheibe zerdeppern sollen! Ich will, dass Du heute zu Feierabend herkommst, und dann reden wir über alles!“ – „Einen Sch… werd ich tun! Warum sollte ich?“ – „Du wirst kommen, sonst komme ich zu Dir! Wir müssen reden!“ Ich legte auf.

Als ich mit Volkmar dann zu Feierabend die Einfahrt hochfuhr, stand Patrick da mit geballten Fäusten und zornigem Blick. Ich musste fast darüber lachen, aber verkniff es mir. Wir stiegen aus und ich ging auf Patrick zu. „Lass uns mal zusammen in den hinteren Garten gehen zum reden„, sagte ich und verabschiedete mich von Volkmar. Als wir durch die Pforte gingen, war mein erster Satz: „Weißt Du, Patrick, eigentlich mag ich Dich…“ In diesem Moment merkte ich, wie eine tonnenschwere Last von Patrick abfiel und sich seine aufgestaute Wut in Staub auflöste. Er war fast den Tränen nahe, denn mit diesem Satz hatte er gar nicht gerechnet, und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum ich das sagte. Auf jeden Fall war die Stimmung auf einmal gelöst, und wir konnten völlig entspannt mit einander reden. Es ging sogar so weit, dass Patrick mir am Ende versicherte, dass er die Scheibe gerne ersetzen würde; aber ich sagte ihm, dass er das nicht mehr bräuchte. Ja, wie stark kann doch eine Versöhnung sein. Im Wort Gottes heißt es: „Eine gelinde Zunge zerbricht Knochen“ (Spr. 25:15). Natürlich bedeutet das nicht, dass Patrick von dem Moment an moralisch geläutert war. Ganz im Gegenteil: Einen Monat später brach er nachts in einen Kiosk ein, der dem Freund seiner Mutter gehörte, und kam dafür ein Jahr ins Gefängnis. Aber damit war das Kapitel „Patrick“ noch lange nicht beendet, denn es sollte noch 5 Jahre weiter gehen…

Mitte Dezember brach der Winter ein und wir hatten starken Schneefall, so dass es zum ersten Mal nach Jahren sog. „weiße Weihnachten“ geben sollte. Als ich bei Aldi ein Weihnachtsmann-Kostüm fand, wurde ich an meine Kindheit erinnert, wie mein Vater früher immer für uns den Weihnachtsmann spielte, ohne dass wir es bemerkten. Prompt nahm ich es mit, weil ich auch Rebekka diesen Spaß bereiten wollte.

Meine Mutter hatte damals immer behauptet, dass mein Vater leider Nachtdienst hätte und deshalb nicht dabei sein könne, wenn der Weihnachtsmann kommt. Als es dann abends im Hof klingelte, sagte sie: „Schaut mal, Kinder, ich hab‘ da draußen ´was gehört…“ Wir liefen alle zum Fenster und sahen im Dunkel den Weihnachtsmann, wie er mit einer kleinen Glocke bimmelte und in der anderen Hand einen Sack trug voller Geschenke. Er rief uns, und wir machten ihm schnell die Tür auf. Einmal, als er gerade die Geschenke verteilt hatte und wieder gehen wollte, sagte er: „Ich fliege jetzt wieder mit meinen Schlitten in den Himmel und möchte gerne einen von euch mitnehmen! Simon, was hältst du davon, wenn du mit mir fliegst?“ Mir schlug das Herz bis zum Hals, denn ich hatte panische Angst, dass ich vom Schlitten runterfallen könne. Wir gingen hinunter in den Keller, und plötzlich nahm mein Vater seine Maske ab und grinste uns an. Meine Schwester sagte sofort: „Ich wusste, dass Du das bist!“ Ich hingegen war wirklich total überrascht, aber auch sehr erleichtert und hüpfte den Flur rauf und runter, denn der Weihnachtsmann hatte mir schon immer etwas Angst gemacht.

Nach alter Tradition kaufte ich auch einen Weihnachtsbaum, was ich früher immer abgelehnt hatte, weil dieser heidnischen Ursprungs war. Aber Rebekka sollte mit ihren 5 Jahren nun auch mal erleben, wie man richtig Weihnachten feiert, dachte ich mir. Das Kostüm passte perfekt und ich spielte meine Rolle so glaubhaft wie nur irgend möglich. Doch schon nach ein paar Minuten fragte Rebekka: „Papa, dat bist Du, näch?“ – „Wie kommst Du denn darauf?“ fragte ich. „Weil das Deine Stiefel sind! Die kenne ich doch.“ Wir lachten alle, und ich dachte: „Was für eine clevere Tochter haben wir, dass die das so schnell gemerkt hat!“

 

 

 

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