Januar – März 1997
Mein Vater
Nach unserer Rückkehr aus Peru waren wir finanziell erst einmal wieder völlig ausgebrannt, so dass unser Vater Gregor (54) uns erst einmal wieder unter die Arme greifen musste. Als „Gegenleistung“ durfte er aber so oft er wollte bei uns ein- und ausgehen. Von diesem Angebot machte er denn auch regen Gebrauch, so dass wir ihn allmählich als Teil unserer kleinen Familie ansahen. Meistens lag er einfach still im Wohnzimmer und las Zeitung. Er war völlig anspruchslos, nahm aber gerne an unseren Mahlzeiten teil. Wir litten mit ihm an der Trennung von meiner Mutter, die inzwischen schon über ein Jahr zurücklag und ermutigten ihn, geduldig auf sie zu warten, bis sie wieder Liebe für ihn empfände. Auch auf meine Mutter wirkten wir immer wieder ein, dass sie sich doch wieder mit ihm versöhnen möge. Aber sie sagte nur, dass sie es schon oft genug versucht habe, aber inzwischen einfach keine Kraft mehr habe, da er sie mit seiner übertriebenen Sparsamkeit und seinem taktlosen Sarkasmus all die Jahre schon tyrannisiert habe.
In der Tat war mein Vater sehr sparsam. Einmal nahm er sich vor unseren Augen eine gefrorene Pizza aus dem Eisschrank, machte die Folie weg und biss hinein; während er auf der gefrorenen Pizza kaute, sagte er: „Ist alles ’ne Sache des Willens!“ Und einen solch eisernen Willen hatte mein Vater schon immer gehabt. Schon sein Vater Bruno (geb. 1891), ein überzeugter Nazi und Träger des Eisernen Kreuzes wegen guter Verdienste im 1. Weltkrieg, hatte meinen 50 Jahre jüngeren Vater von klein auf mit dem Rohrstock erzogen und ihm ins Lebensbuch geschrieben: „Lerne, übe, leiste was! – dann bist du, dann hast du, dann kannst du was!“ Nach seiner Schlosserlehre wollte mein Vater dann mit 17 Jahren 1958 mit dem Fahrrad nach Tokyo fahren, er kam aber nur bis Rosenheim nahe der österreichischen Grenze. Großvater Bruno wollte, dass er sein Technikum machte, aber dann verliebte er sich in meine Mutter Renate, die damals in der Ausbildung zur Krankenschwester war. Ihr zuliebe brach er sein Studium ab und machte ebenfalls eine Ausbildung zum Krankenpfleger, um ihr nahe zu sein. Mein Opa sagte damals zu ihm: „Wenn du diese hässliche Vogelscheuche heiratest, dann bist du nicht mehr mein Sohn!“ Diese Androhung machte er dann wahr, als meine Eltern 1965 heirateten und hielt sie stur durch bis zu seinem Tod 1979. So nahmen an der Hochzeit meiner Eltern nur zwei Gäste teil: mein Opa Fritz, der Vater meiner Mutter, und mein Onkel Detlef, der Bruder meines Vaters. Meine Großmütter habe ich nie kennengelernt, weil sie schon früh verstarben.
Schon in ihrer Verlobungszeit zeigte mein Vater zu meiner 1,80 m großen Mutter oftmals wenig Taktgefühl. Als sie mal im Park spazieren gingen und er seinen Schulfreund Zweibrück traf, stellte er ihm meine Mutter vor, indem er sagte: „Als ich zum ersten Mal Renates kräftige Beine sah, bin ich um sie herumgegangen wie um einen Weihnachtsbaum und habe sie für gut befunden.“ Als Zweibrück ihr dann die Hand gab, fügte mein Vater hinzu: „Handschuhgröße 10„. Da bekam er von meiner Mutter eine Ohrfeige. Auch später hatte er meine Mutter oftmals vor ihren Freundinnen blamiert, wenn er ihnen persönlichste Dinge über ihre Ehe erzählte, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren. Wenn sie dann mit ihm schimpfte, dann lachte er nur laut und genoss es scheinbar, wie sie sich genierte.
In den ersten Jahren ihrer Ehe waren meine Eltern so arm, dass sie die ersten Jahre in einem feuchten Keller lebten in Bremen-Gröpelingen, wo auch wir Zwillinge geboren wurden. Als sie im Steintorviertel mal einen günstigen Wohnzimmertisch gekauft hatten, wollte mein Vater das Geld für eine Anlieferung sparen und sagte zu meiner Mutter: „Komm, Renate, fass an!“ und dann trugen sie den Tisch quer durch Bremen zu ihrer 6 km entfernten Wohnung. Alles eine Sache des Willens. Durch seine Briefmarkensammel-Leidenschaft hatte er Freunde in der DDR, denen er auch heiß begehrte Produkte aus dem Westen in seinem VW-Käfer lieferte. Einmal wurde er dabei erwischt, musste sich nackend ausziehen und sein Wagen wurde völlig auseinander genommen. Die in der Belüftung versteckten Devisen hatten sie dennoch nicht gefunden, was meinen Vater sehr stolz machte.
Seine eigenwillige und unkonventionelle Art kam uns als Kindern oftmals zu Gute: Als ein Nachbarjunge eines Tages mein neues Fahrrad stahl und ich dies meinem Vater meldete, schnappte sich mein Vater den Jungen, hielt ihn an den Beinen über Kopf und brachte ihn zu uns in den Keller, während dieser heulte und schrie. Dann fesselte mein Vater den Jungen vor meinen Augen an einen Stuhl und brüllte ihn an, dass er jetzt so lange hier warten müsse, bis die Polizei käme und ihn dann in ein Kinderheim bringen würde, wo er seine Eltern nie mehr wiedersehen würde. Er plärrte aus Leibes Kräften, bis mein Vater ihn irgendwann wieder befreite. Er würde jetzt sicherlich kein Fahrrad mehr stehlen. Einmal wurde ich von einem großen Jungen verprügelt und klagte dies vor meinem Vater. Er ging dann mit mir zu dem Jungen, hielt ihn fest und sagte: „So, Simon, jetzt schlag ihm ihn mal ordentlich in die Fresse… nochmal, das war zu schwach… so, und jetzt noch einmal richtig fest auf die Nase!“ Der Junge heulte so sehr, dass er mir fast schon leid tat. Eine Frau aus dem Hochhaus, die das beobachtet hatte, rief herunter: „Wenn das mein Sohn wäre, dann hätte ich jetzt die Polizei gerufen!“ Die Brutalität meines Vaters bekamen wir natürlich auch selbst manches Mal zu spüren. Als ich mich einmal mit meinem Bruder Marco zankte, kam mein Vater die Treppe hoch, schlug uns beiden wortlos mit aller Wucht ins Gesicht und ging wieder die Treppe runter. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben und interessierte sich gar nicht für den Grund unseres Streits. Wir waren so geschockt, dass wir erst zeitverzögert anfingen zu heulen und zu schluchzen, vor allem wegen seiner Kaltherzigkeit.
Doch obwohl es meinem Vater gelang, das 1977 gekaufte Haus durch seine eiserne Sparsamkeit innerhalb weniger Jahre abzubezahlen, hatte mein Vater doch immer wieder den Eindruck, dass wir sein sauer verdientes Geld mit vollen Händen wieder ausgaben. So klopfte er immer wieder gegen die Badtür, wenn wir uns als Jugendliche beim Duschen in seinen Augen zu viel Wasser verbrauchten. Wenn er dann selber duschte, dann ließ er immer nur durch einen feinen Rinnsal seine Haut benetzen, so dass man wirklich nicht sagen konnte, dass er geizig sei, sondern nur sparsam, denn er gönnte sich auch selber nichts. Mitte der 80er Jahre fing mein Vater dann an, die Heizungen immer wieder herab zu drehen, denn in seinen Augen waren 21 C völlig übertrieben, sondern 18 C seien ausreichend. Als wir dann immer wieder die Heizungen auf Stufe 5 hochdrehten, begann ein „Heizungskrieg“ zuhause. Immer wieder kamen wir von der Schule nach Hause und das Haus war völlig unterkühlt. Aber auch die Heizungen gingen nicht mehr, weil mein Vater die Zentralregelung im Wohnzimmer ausgeschaltet und die Wohnzimmertür abgeschlossen hatte. Wir gingen dann alle in die Küche und machten unsere Hausaufgaben bei geöffneter Backofentür, was letztlich auf Dauer ein Vielfaches an Strom verbrauchte.
Meine Mutter hatte sich Anfang der 80er Jahre emanzipiert und sich von den meist geschiedenen Freundinnen aus einer „Selbsterfahrungsgruppe“ beschwatzen lassen, sich von meinem Vater scheiden zu lassen. 1983 machte meine Mutter deshalb in einem Familienrat mit uns 4 Kindern eine Abstimmung, wer denn für eine Scheidung sei und wer dagegen. Alle außer mir waren damals gegen eine Scheidung. Ein Jahr später, als ich inzwischen schon gläubig geworden war, wiederholte meine Mutter die Abstimmung. Diesmal war es genau anders herum: alle waren für eine Scheidung, nur ich war dagegen. Meine Mutter hatte es also geschafft, uns alle so sehr zu beschwatzen, dass am Ende fast alle auf ihrer Seite waren. Das lag auch daran, dass mein Vater so gut wie nie zuhause war, da er vier Berufe gleichzeitig ausübte: Morgens klebte er Werbeplakate, zwischendurch befüllte er seine Zigaretten- und Süßwarenautomaten und abends ging er dann ins Krankenhaus, um dort Nachtdienst zu machen. Und dann gab es noch einen Hausverkauf von Bier und Limonaden, den meistens meine Mutter oder wir für ihn ausführten, da er ja meist nie zuhause war. Durch das ständige Abstellen der Heizung fühlte sich meine Mutter schließlich so sehr gedemütigt und entmündigt, dass es eines Tages vor der Wohnzimmertür zu einem Handgemenge zwischen den beiden kam, in dessen Folge mein Vater am 23.05.1986 per Gerichtsbeschluss das Haus verlassen musste. Er wohnte dann ein Jahr lang auf einer Parzelle bis meine Mutter – die inzwischen gläubig geworden war – ihn wieder zurück nach Hause holte. Doch die Ehe meiner Eltern hing weiter am seidenen Faden, so dass meine Mutter sich dann im Frühjahr 1995 endgültig von ihm trennte und auszog.
Mein Vater hatte diese Trennung als dermaßen demütigend empfunden, dass er jahrelang darunter litt und sie sein häufigstes Gesprächsthema war. Und jetzt sah er, wie glücklich Ruth und ich miteinander waren und empfand sowohl Neid als auch Wehmut. Nun wollte er dies wieder gut machen, indem er uns umso großzügiger mit Unterstützung bedachte. Es war so, als würde er sein Leben nun durch mich weiterleben wollen, und so spendierte er mir den 4. als auch den 3. von insgesamt vier Lehrgängen der Meisterschule (Pädagogik und Wirtschaft), die ich von Januar bis März 1997 besuchte und erfolgreich bestand. Zwischendurch unternahm ich Fahrstunden und schaffte dann am 09.04.1997 endlich meinen Führerschein, nachdem ich zuvor zweimal durchgefallen war. Mit dem Geld meines Vaters kaufte ich mir dann auch meinen ersten Gebrauchtwagen, einen 12 Jahre alten Ford Taunus, den ich später von beige nach dunkelblau umlackierte. Allerdings wusste ich nicht, dass mein Vater jede einzelne Spende auf einen Zettel notierte und später es einmal von mir wieder zurückforderte, weil es aus seiner Sicht nur geliehen aber nicht geschenkt war. Ich zahlte es dann auch später über Jahre in Raten zurück.
„Wer ist Jesus für dich„?
Als ich im November 96 mit Hans-Udo Hoster in Ecuador war und ihm bekannt hatte, dass ich nicht mehr gläubig sei, fragte er mich: „Wer ist denn jetzt der HErr Jesus für dich?“ Diese Frage konnte ich damals nicht beantworten, und ich war auch vier Monate später nicht dazu in der Lage. Mir war aufgefallen, dass ich zwar wusste, woran ich nicht mehr glauben konnte, aber ich konnte eigentlich noch gar nicht sagen, an was ich jetzt glaube. Hatte der HErr Jesus all das wirklich gesagt und getan, was in den Evangelien von Ihm gesagt wurde? Wenn Nein, dann muss sich dies alles ein unglaublich genialer Phantast ausgedacht haben, was kaum wahrscheinlich ist (Man denke nur an solche äußerst weisen Aussagen wie: „Wenn jemand dich auf die rechte Wange schlagen will, dann halte ihm auch die Linke hin“ oder „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist“ oder „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein„). Wenn Jesus diese Sätze aber wirklich gesagt hat, dann muss Er entweder doch das sein, was Er von sich sagt, nämlich der Sohn Gottes, oder aber Er müsste ein größenwahnsinniger Geisteskranker sein, der sich für Gottes Sohn hielt. Aber dies dem HErrn zu unterstellen, traute ich mich damals nicht.
In den letzten Monaten war ich viel zu sehr abgelenkt und fand keine Zeit, mich mit meinem neuen Glauben selber erst einmal ernsthaft auseinanderzusetzen. Aber wenn schon eine solch simple Frage mich völlig aus der Bahn warf, wie sollte ich mich dann in Zukunft mit anderen Gläubigen auseinandersetzen? Wie konnte ich behaupten, dass ich nach wie vor an Gott glauben würde, wenn dieser Glaube doch inzwischen überhaupt keine Grundlage mehr in der Schrift hatte? Man würde mir zu recht den Vorwurf machen, dass ich mir ein Wunsch-Gottesbild konstruiert hätte, da ich meinen Glauben auf keinerlei Beleg gründen würde. Jetzt, wo ich noch arbeitslos war, hatte ich Zeit, mir mal eine neue Argumentationsbasis anzueignen; aber dazu musste ich Bücher lesen, um mal zu sehen, wie andere Gelehrte und Theologen über diese Fragen dachten. Ich musste mir aus den vielen Ansichten anderer mal eine eigene Meinung bilden. So ging ich also in die Stadtbibliothek und fand ein Buch von Bertrand Russel mit dem Titel: „Warum ich kein Christ bin„. Ja, genau das wollte ich ja wissen. Russel schrieb über Jesus, dass durch Seine Lehre von der Hölle viel Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit über die Welt gekommen sei, und dass man, würden diese Sätze wirklich von Ihm stammen, Ihn auch dafür verantwortlich machen müsste. Aber stimmt das? Konnte man Jesus für die Kreuzzüge und die Inquisition verantwortlich machen? Nein, denn Er hatte ja gar nicht erlaubt, Menschen zu töten. Aber wären die Menschen auch dann noch so unbarmherzig gewesen, wenn der HErr nie von einer Hölle oder einem Endgericht gesprochen hätte? Konnten die Menschen sich denn nicht auch Gott zum Vorbild nehmen, indem sie sich sagten: „Wenn Gott quälen darf, dann dürfen auch wir quälen!„?
Bertrand Russel schrieb auch über das sinnlose Streben des Menschen, das vergängliche Glück durch die Hoffnung auf ein ewiges Leben festhalten zu wollen. Einen Satz von ihm habe ich mir gelb markiert, weil ich ihn damals ziemlich gut fand: „Die wahre Liebe ist es auch dann noch, wenn sie vergeht, und auch das Leben und das Glück verlieren nicht ihren Wert, nur weil sie nicht ewig sind.“ Mit anderen Worten: Was ist so schlimm daran, dass das Leben vergänglich ist? Reichen denn nicht 80 Jahre aus, um genügend Glück im Leben erfahren zu haben? Was will der Mensch mit einem unendlich währenden Leben anfangen? Wäre es nicht geradezu ein Alptraum, wenn man in alle Ewigkeit immerzu einen geltungsbedürftigen Gott loben müsste, ohne noch irgendetwas anderes machen zu können/dürfen? Und welchen Sinn soll das haben? – Früher hätte ich mich nie getraut, mir solche Fragen zu stellen oder überhaupt solch ein Buch zu lesen, denn das war absolut tabu. Jetzt aber fühlte ich mich in meinem Denken frei und wollte wie René Descartes erst einmal alles in Zweifel ziehen, bevor ich wieder irgendetwas als gegeben voraussetzen wollte. Ganz allmählich dämmerte mir, dass der biblische Gott zu viele allzu menschliche Eigenschaften hatte, die Ihn aus meiner Sicht als echten Gott disqualifizierten. Stattdessen drang sich mir umso mehr der Verdacht auf, dass die Bibel nur ein Erklärungsversuch für das Unverstandene sei, dabei aber ein Gott beschrieben wurde, dessen Charakter in sich widersprüchlich sei und damit das ganze Konzept der Bibel nicht ausreichend durchdacht war. Wozu sollte Gott z.B. Rache üben wollen, wenn Rachegefühle doch eigentlich ein Zeichen von charakterlicher Schwäche sind? Und welchen Sinn sollte der Glaube machen, wenn Gott doch auch eindeutige Offenbarungen für alle Menschen hätte schenken können?
Ich nahm mir vor, einen Abschiedsbrief schreiben zu wollen, in welchem ich all meinen Glaubensgeschwistern die Gründe für meinen Abfall nennen würde, damit ich sie nicht immer in jedem Einzelfall wiederholen müsse. Doch zuvor musste ich erst einmal selbst mich mit Argumenten wappnen, um mögliche Schwachpunkte in meiner Beweisführung zu vermeiden. Dazu wollte ich mir aus der Bibliothek mehr Bücher zum Thema ausleihen und die Argumente prüfen lassen, indem ich sie in Briefen an die Brüder Hans-Udo und Bernd verwenden würde. Nach und nach würde ich dadurch feststellen können, welche Beweise wirklich stichhaltig sind, um sie dann in meiner Streitschrift verwenden zu können. Sollte es jedoch passieren, dass mir dabei ein Argument von Seiten des christlichen Glaubens begegnet, dem ich nicht widerstehen könnte, dann würde ich dies noch einmal zum Anlass nehmen, die Gründe für meinen Zweifel noch einmal anzuzweifeln und neu zu überdenken.
Ich war jetzt auch bereit, meiner Mutter und meinen Geschwistern meinen neuen Standpunkt zu bekennen, aber nicht mehr im Sinne eines gescheiterten Glaubens, sondern als eine – wie ich es tatsächlich sah – Weiterentwicklung des Glaubens auf eine höhere Stufe der Einsicht in die eigentlichen Absichten Gottes. Meine Mutter sollte nicht denken, dass ich jetzt weniger Glauben habe, sondern MEHR Glauben, weil ich nicht nur die sichtbaren Zeilen der Bibel verstanden habe, sondern nun auch zwischen den Zeilen lesen könne, was Gott eigentlich wolle. Vielleicht würde es mir gelingen, meine Mutter sogar für meine Sichtweise zu gewinnen. Und wenn nicht, dann solle sie wenigstens nicht betrübt oder enttäuscht sein, dass ich mich verändert habe. Tatsächlich hatte meine Mutter mein Bekenntnis mit Fassung aufgenommen. Meine Gedanken verstand sie nicht, aber sie war sich sicher, dass auch ich eines Tages bei Jesus im Paradies sein und Er mir dann alles recht erklären würde.
Nach und nach bekannte ich dann meinen beiden geistlichen Vätern Bernd Fischer und Hans-Udo Hoster, dass ich die Bibel für mich nicht mehr als Glaubensgrundlage anerkennen könne, da ich zu viele grundsätzliche Zweifel und unbeantwortbare Fragen im christlichen Glauben gefunden habe. In vielen Briefen versuchten beide nun eifrig, auf meine Fragen einzugehen. Bruder Bernd war der Überzeugung, dass meine Herzensverstockung ihre Ursache in einer nicht von mir bekannten und damit auch nicht vergebenen Sünde lag, wodurch der Widersacher ein Anrecht bekam, mich zu täuschen und blind für die Wahrheit zu machen. Seiner Vermutung nach, bestand diese Sünde aber nicht etwa darin, dass ich schon öfter mal Pornofilme angesehen oder mich mit antichristlicher Literatur beschäftigt hatte, sondern darin, dass ich meine GEZ-Gebühren nicht entrichtet hatte, obwohl ich doch schon seit einiger Zeit wieder fernsehen guckte. Ich empfand diesen Vorwurf als eine lächerliche Bagatelle, aber für Bernd war dieses Unrecht vergleichbar mit der Sünde Achans, durch die er einen Bann und einen Fluch auf sich und das Volk Gottes gebracht hatte. Bernd schrieb mir am 16.02.97, dass ich über diese Sünde Buße tun möge, selbst sogar dann, wenn ich gar nicht davon überzeugt sei, und die GEZ-Gebühren nachträglich entrichten sollte, damit Gott mir den Schleier meiner Blindheit hinweg nehmen könne. Er bot mir sogar an, mir bei der finanziellen Erstattung behilflich zu sein. Ich fragte mich jedoch, welchen Wert denn eine Tat haben könnte, wenn sie nicht aus Glauben geschehe, sondern nur aus Menschengefälligkeit.
Hans-Udo hingegen hatte eher den Eindruck, dass ich hochmütig sei, da ich nicht bereit war, die Lehre von der Allversöhnung, an die er glaubte, wirklich noch einmal gründlich zu prüfen, denn gerade dieser Widerspruch, dass der in der Bibel beschriebene Gott der Liebe angeblich die Ungläubigen für alle Ewigkeit verdammen würde, war ja einer der Hauptgründe, warum ich nicht mehr an die göttliche Autorenschaft der Bibel glauben konnte und wollte. Für ihn war der Feuersee nicht nur ein Ort der Bestrafung, sondern auch der Zurechtbringung, weil durch diese Haftstrafe der Mensch Gelegenheit zum Nachdenken und Umdenken bekomme, um dann am Ende Gott um Vergebung und Begnadigung zu bitten. Ich entgegnete ihm, dass ihm, dass Jesus aber doch von einer „ewigen Qual“ spräche, also einer sinnlosen Folterung, die allein der Befriedigung angeblicher Rachegefühle diene, die eines echten Gottes doch unwürdig seien. Und selbst wenn dieses „fire boarding“ tatsächlich dem Zwecke dienen würde, den Menschen zu brechen, so sei es doch eine höchst unmoralische Erpressung und ein Geständnis, das erst durch Folterung erzwungen wurde und daher wertlos sei. „Könne man sich vorstellen“, so fragte ich Hans-Udo damals, „dass sich die vom Feuer gegrillten und verkohlten Wesen sich nach jahrhundertelanger Marter am Ende in die liebenden Arme eines Gottes werfen, der ihnen selbst diese Qualen bereitet hatte?“
Meine neue Arbeit als Betriebsmaler
Beim regelmäßigen Lesen der Stellenanzeigen, fand ich eine, die meine Aufmerksamkeit erregte: Im Industriegebiet von Stuhr-Brinkum, also in unmittelbarer Nähe von Bremen-Kattenesch, wo wir wohnten, suchte eine Kran-Spedition einen Betreibsmaler. Etwas Besseres konnte es doch für mich gar nicht geben, denn dann könnte ich mein eigener Chef sein und niemand würde mich mehr kontrollieren! So rief ich bei der Fa. Mertens & Wittmann GmbH & Co KG an und vereinbarte ein Vorstellungsgespräch. Der Chef, Herr Wittmann, sprach selbst mit mir, und meinen Ehrgeiz, diesen und sonst keinen Job haben zu wollen, schien er wohl gespürt zu haben, so dass er mir am Ende die Zusage gab. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, wie sie sich damals bei der Personalchefin des Evangelischen Diakonissenkrankenhauses bewarb. Sie sagte damals zu ihr: „Ich weiß, dass ich diesen Arbeitsplatz bekommen werde.“ – „Ach, tatsächlich? und was macht sie da so sicher?“ fragte die Oberin. „Weil Gott selbst es mir gezeigt hat. Gott will nämlich, dass ich hier arbeiten soll, wissen Sie.“ – „Na wenn das so ist“, sagte die Oberin, „dann brauche ich ja jetzt auch keine Entscheidung mehr treffen, denn wie vermöchte ich gegen den Willen Gottes etwas zu unternehmen!“
Auch Ruth wollte nach der Anerkennung ihres Doktortitels in Peru nun endlich als Tierärztin in Deutschland arbeiten; doch so einfach war es dann doch nicht. Nachdem sie ihre übersetzten und beglaubigten Diplome bei der Tierärztekammer Bremen vorgelegt hatte, erklärte man ihr, dass sie eine sog. Homologation bedürfe, d.h. eine Feststellung der Gleichwertigkeit der Studiengänge zwischen der Universität San Marcos in Lima und der Tierärztlichen Hochschule in Hannover. Nachdem wir diese dann beantragt hatten, teilte man uns in Hannover mit, dass Ruth noch in mehreren Fächern nachgeschult werden müsse. Das Fach Radiologie wurde z.B. in Lima überhaupt nicht behandelt; aber auch mehrere andere Fächer entsprachen nicht dem deutschen Standard. Das bedeutete aber, dass Ruth etwa ein Jahr lang regelmäßig wieder zur Uni nach Hannover gehen müsse, um am Ende auch ihre Anerkennung in Hannover zu erlangen. Deshalb überlegten wir uns, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn wir zum Ende des Jahres nach Hannover ziehen, zumal ich dann auch dort die Teile 1 (Fachtheorie) und 2 (Fachpraxis) meiner Meisterschulausbildung in Vollzeit absolvieren könnte. In der Zwischenzeit könnte Ruth erst mal richtig gut Deutsch lernen, denn ihre damaligen Kenntnisse reichten gerade einmal nur dazu aus, um sich verständlich zu machen, aber nicht, um an einer Universität zu studieren. Die Volkshochschulen boten ja zum Glück auch Intensivkurse an, durch welche man jeden Tag vormittags innerhalb eines halben Jahres sehr schnelle Fortschritte mache im Deutschlernen. Deshalb meldete sich Ruth für einen solchen an für das Semester von Februar bis August. Allerdings brauchten wir dafür ein Kindermädchen, das während des Tages auf Rebekka aufpassen sollte. Uns kam dafür Rossana (22) in den Sinn, die Pflegetochter von Ruths Bruder Israel, die seit ihrem 14. Lebensjahr im Hause von Israel und Alexandra wohnt und sich schon damals um deren Kinder gekümmert hatte, als sie noch Babys waren. Am Ende hatten mein Schwager und seine Frau die Rossana einfach als Tochter angenommen, so dass Rossana den Israel immer „meinen Papa“ nannte. Wir fragten Rossana also, ob sie bei uns für ein Jahr als Au-Pair-Mädchen arbeiten würde, und sie willigte ein. Dann beantragten wir für Rossana ein Jahresvisum und kauften für sie einen Hin- und Rückflug für die Zeit von Ende Mai 1997 bis Ende Mai 1998. Die Kosten hierfür konnte sie abarbeiten. Obwohl sie recht hübsch war, vertraute mir Ruth, dass ich schon nicht in Versuchung kommen könnte, die 6 Jahre jüngere Rossana zu verführen, denn sie kannte mich gut genug, dass ich so etwas nie machen würde.
Auf der neuen Arbeitsstelle sollte ich zunächst die große Werkhalle streichen, dann einzelne Fahrzeugteile spritzen und schließlich die Fassaden der Gebäude nacheinander streichen vom Gerüst aus. Ich konnte mir die Arbeitsaufgaben tatsächlich selber aussuchen und meine Zeit frei einteilen. Niemand machte mir Vorschriften oder kontrollierte mich. Auch die Materialien durfte ich im nahe gelegenen Großhandel selbstständig auf den Namen der Firma einkaufen. Zu Mittag ging ich dann in den gemeinsamen Aufenthaltsraum und unterhielt mich beim Essen mit meinen Kollegen. Zwei davon waren Kfz-Mechaniker, aber die anderen waren alle Fernfahrer und auch schon etwas älter als ich. Eines Tages fragte mich einer der Mechaniker, wie viel ich denn verdiene als Betriebsmaler, und ich antwortete ihm wahrheitsgemäß „21,35 DM/Std.“ – „Echt?!“ – „Ja, wieso?“ – „Ich kriege gerade einmal nur 18,95 DM/Std, und die Fahrer bekommen sogar nur 17,60 DM/Std. Dann verdienst Du ja scheinbar hier am meisten!“ – „Naja“ sagte ich „ich bekomme einfach nur meinen normalen Tariflohn. Aber ich habe auch darauf bestanden, denn wenn der Chef mir weniger bezahlen wollte, hätte ich diesen Job hier gar nicht angenommen„. Als ich zwei oder drei Tage später in die Firma kam, rief mich einer der Vorgesetzten zu sich in sein Büro und sagte: „Herr Poppe, wir haben ein ernstes Problem. Sie haben einem Mitarbeiter auf die Nase gebunden, wie viel Sie verdienen, und das hätten Sie nicht machen dürfen! Gestern kam einer der Fahrer zu mir ins Büro und hat sich beschwert, weil er schon 15 Jahre in der Firma arbeitet und trotzdem deutlich weniger bei uns verdient als Sie, obwohl Sie erst seit einem Monat bei uns arbeiten. Das hätten Sie nicht tun dürfen, denn das gibt doch böses Blut!“ – „Es tut mir leid,“ sagte ich, „dass ich dieses verraten hatte, aber ich wusste ja nicht, dass die anderen hier alle viel weniger verdienen. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“
In den Tagen danach verschlechterte sich die Beziehung zwischen mir und den Arbeitern etwas, was aber wohl auch daran lag, dass ich mich schon immer eher zurückzog und ein Einzelgänger war. Vor allem litt ich aber unter ständiger Müdigkeit, da ich nachts immer aufstehen musste, wenn Rebekka ihr Fläschchen wollte. Manchmal suchte ich mir während der Arbeit einfach ein stilles Plätzchen, wo ich ein Nickerchen machen konnte. Einmal stand ich während der Mittagspause auf, weil ich mich schämte, am Tisch zu dösen, und ging auf Toilette, um in der abgeschlossenen Kabine heimlich zu schlafen. Dabei muss ich wohl etwas laut geschnarcht haben, denn die Kollegen hatten es gemerkt und unter sich gespottet: „Der Poppe ist doch glatt auf Toilette eingeschlafen!“ Aus Spaß hatten sie dann leise einen Eimer voll mit Wasser gefüllt und ihn über der Kabinentür auf mich entleert, indem sie lachend wegliefen. Ich musste mich danach erst mal umziehen. Ein anderes Mal war ich gerade dabei, die Reling der Yacht meines Chefs mit Klarlack zu lackieren, als mich eine totale Müdigkeit überfiel. Weil ich ganz allein in dieser Yachthalle war, ging ich einfach in die Kajüte und legte mich dort für 10 Minuten hinein. Auf einmal hörte ich draußen Stimmen und mein Herz schlug mir bis zum Hals: Es war der Chef Herr Wittmann höchst persönlich zusammen mit einem der Vorgesetzten! Ich dachte: „Wenn die jetzt auf die Yacht steigen und mich in der Kajüte erwischen, wo sonst Herr Wittmann mit seiner Frau schläft, dann bin ich geliefert!“ Aber glücklicherweise gingen sie nach einer Weile wieder hinaus und ich setzte meine Arbeit fort.
Samstags fuhr ich dann immer mit Ruth und Rebekka in die Innenstadt, wo Ruth mit ihr auf den Flohmarkt ging, während ich die Stadtbibliothek besuchte, um mir Bücher und CDs auszuleihen. Schon früher war Musik meine Leidenschaft gewesen, aber ich hatte mich ihr aus Glaubensgründen all die Jahre enthalten. Nun aber konnte ich mir nach Herzenslust wieder Musik anschaffen ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben, zumal Ruth ja selber auch gerne Musik hörte. Zunächst hörte ich einfach nur Popmusik, aber allmählich merkte ich immer mehr meinen Hang zur sog. Gothic-Musik. Hierbei handelt es sich um sehr romantische, aber zugleich auch schwermütige Lieder mit traurigen Texten über Gott und die Welt. Mitte der 90er Jahre war in Deutschland eine regelrechte Szene entstanden für diesen Musikstil, weil sich viele junge Erwachsene nicht mit der vorherrschenden Rave- und Dance-Musik identifizieren konnten, da diese völlig seelenlos war und nur dem Zweck diente, sich in einen rauschhaften Trance-Zustand zu versetzen. Die Gothic-Musik hingegen drückte jene Melancholie und Weltschmerz hervorragend aus, den scheinbar nicht nur ich, sondern auch viele aus meiner Generation empfanden. Die meist deutschen Texte behandelten vorwiegend die Tatsache des Todes, als würde man sich dagegen auflehnen wollen, dass diese von allen anderen Menschen immer nur verdrängt und geleugnet würde. Auch wenn man den Tod selbst auch nicht ungeschehen machen konnte, wollte man dieser Tatsache doch lieber während des Lebens immer ins Gesicht sehen, um sich besser damit abzufinden. Tatsächlich wirken durch diese Lieder dämonische Kräfte – wie mir heute bewusst ist, die den Menschen immer mehr verblenden und verhärten in seiner Enttäuschung gegenüber Gott und Ihn als Urheber für das menschliche Elend ansehen.
April – Juni 1997
Der Untergang des Hauses Israels
Mitte April erreichte uns eines Nachmittags ein Anruf aus Peru von meinem Schwager Israel. Den Tränen nahe teilte er uns mit, dass seine Frau Alexandra das Haus verlassen habe und im sagte, dass sie sich von ihm scheiden lassen wolle. Wir fragten erschrocken, ob denn irgendetwas passiert sei, aber Israel sagte nur, dass sie auf einmal völlig „verrückt“ sei und er sie selber nicht verstehen könne. Für mich kam diese Entscheidung wirklich aus heiterem Himmel, denn ich habe Alexandra immer als ernste und eifrige Glaubensschwester gesehen und die Ehe der beiden als vorbildliche Musterehe in Erinnerung. Ruth hatte sogar mal gesagt, dass sie im Vergleich zu Raquel die Alexandra für die geistlichere von beiden hielte, denn ihre Briefe seien immer voller hochgeistlicher Gedanken gewesen. Aber Ruth hatte schon lange den Verdacht, dass Alexandra nur auf eine Gelegenheit gewartet habe, sich von ihrem Bruder zu trennen, denn dies war auch nicht das erste Mal. 1989 hatte Alexandra ihren Mann schon einmal verlassen nach der Geburt ihrer ersten beiden Söhne und war für ein Jahr nach Ecuador zurückgekehrt, wo sie selbst geboren und aufgewachsen war. Als sie 1990 zurückkam zu Israel, war sie schon kurz nach der Versöhnung wieder schwanger und bekam ein paar Monate später ihr drittes Kind, Angel Salomon. Schon damals munkelten einige aus der Familie hinter vorgehaltener Hand, dass dieses Kind nicht von Israel stamme, zumal es im Gegensatz zu seinen Brüdern viel hellhäutiger war; aber Israel bemerkte dies nicht und hatte auch nie einen Verdacht. 1993 nahm Gott den kleinen Angel Salomon durch eine Krankheit schon nach kurzer Zeit zu sich, wodurch Er indirekt zu Alexandra redete.
Und in der Tat war es auch diesmal so, wie sich später herausstellte, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Israel war von Anbeginn der Ehe sehr arm und konnte seiner Frau nichts bieten. Das Leben in einem Haus aus Lehm mit einer Strohdecke in Parcona, dem ärmsten Stadtviertel von Ica, war für Alexandra nicht mehr die Erfüllung ihrer Träume, sondern allmählich zum Alptraum geworden. Israel hatte in den letzten 10 Jahren immer wieder versucht, die Familie mit kleinen selbständigen Tätigkeiten über Wasser zu halten, und Alexandra hatte Kleidung für Barbiepuppen gehäkelt, die aber in diesem armen Land auch keiner brauchte. Aber Israel konnte Alexandra vielleicht auch in anderer Hinsicht nicht so viel bieten, zumal es einen deutlichen Altersunterschied zwischen ihnen gab. Wörtlich sagte seine 11 Jahre jüngere Frau später zu Israel: „Als ich Dich damals [1984] mit 19 Jahren geheiratet hatte, habe ich einen Vater gebraucht. Nun aber bin ich erwachsen geworden und brauche einen richtigen Mann!“ Tatsächlich hatte der darin enthaltene Vorwurf eine Ursache in einer bis dahin nicht bekannten Erbkrankheit der Familie meiner Frau, nämlich der sog. Schilddrüsenunterfunktion (Hypotyroidismus), bei dem die Betroffenen unter ständiger Antriebslosigkeit und Schlaffheit leiden. Erst durch Zufall ist diese Krankheit bei Familie Condori entdeckt worden, so dass seither alle (inkl. meine Frau und meine Tochter) jeden Tag ein Medikament nehmen müssen namens Thyroxin, das das fehlende Schilddrüsenhormon ersetzt. Trotzdem konnte Israels Antriebslosigkeit natürlich in keinster Weise die Entscheidung Alexandras rechtfertigen, ihren Mann und ihre beiden Kinder im Alter von 9 und 10 zu verlassen, erst recht nicht, wenn sie bekennt gläubig zu sein.
Aber was für ein Verrat war dies nun an Gott und auch an Israel, dass sie ihren Mann nach 13 Ehejahren verlassen wollte, wo doch die Bibel dies klar verbietet! Wurde hier nicht einmal mehr deutlich – so fragte ich mich insgeheim damals – dass das ganze Christentum nichts weiter als ein großes moralisches Possenspiel sei, in welchem die Schauspieler bei der erstbesten Gelegenheit die Bühne wieder verlassen, wenn sie ihren Akt zuendegespielt haben? Ist nicht hier einmal mehr der Beweis geführt, fragte ich mich, dass es mit dem neuen Leben aus Gott und die Kraft der Auferstehung zu einem Leben in Heiligkeit doch nicht allzu weit her ist? Aber ich wollte angesichts der Tragik in der Familie meiner Frau keine Häme in mir aufkommen lassen, sondern empfand vielmehr tiefes Mitgefühl für meinen Schwager. Ruth und ich waren uns einig, dass wir Israel und seinen beiden Söhnen von nun an jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen wollten. Wir wollten Geld sparen, um sie alle erst mal nach Deutschland zu holen, damit Israel getröstet und abgelenkt werde. Wir beantragten also je ein Visum für sie alle und sparten Geld, damit sie im August oder September zu uns nach Bremen kommen könnten.
Das Au-pair-Mädchen, das noch jemanden mitbrachte
Ende Mai holten wir dann Rossana Maldonado (22) vom Flughafen ab und freuten uns, dass wir nun eine Haushaltshilfe und ein Kindermädchen zugleich bei uns hatten aus unserem engsten Familienkreis. Rossana war still und demütig, und sie machte bereitwillig jede auch noch so geringfügige Arbeit im Haus. Zudem war sie auch sehr verantwortungsbewusst und kümmerte sich auch sehr gut um Rebekka, wenn wir nicht zuhause waren. Ich hatte sie jedoch auch nach drei Wochen noch immer nicht bei der Krankenkasse angemeldet, was ich mir an einem Montag Mitte Juni fest vornahm. Als ich jedoch nach Hause kam, sagte Ruth mir: „Simon, Du musst mit Rossana zum Arzt, denn sie fühlt sich schlecht und hat Schmerzen.“ – „Ich kann morgen mit ihr hingehen, aber heute Nachmittag wollte ich sie erst mal bei der Krankenkasse anmelden, denn ich habe sie ja immer noch nicht versichert.“ – „Nein, Simon, Du musst jetzt gleich gehen, denn Rossana hat starke Cholikschmerzen, und vielleicht ist es etwas Ernstes.“ – „Ja, gut, dann spreche ich mal mit unserem Hausarzt, ob er das Behandlungsdatum etwas zeitversetzt notieren kann.“ – „Nein, das geht nicht, Simon, denn Rossana muss zur Frauenärztin, denn sie hat Schmerzen im Unterleib.“ – „Aber ich habe doch schon gesagt, dass das nicht geht, weil ich sie erst noch versichern muss! Sonst müssten wir das aus unserer eigenen Tasche bezahlen.“ – „Dann nimm doch einfach meine Versicherungskarte und sage, dass Rossana Deine Frau sei und den Namen Ruth Condori habe. Das merkt schon keiner!“ sagte Ruth [damals gab es noch kein Foto auf der VK].
So fuhr ich also mit Rossana zur Frauenärztin in Bremen-Neustadt, ging die Treppe hoch und erklärte der Arzthelferin: „Meine Frau klagt seit heute Nachmittag über starke Unterleib-Schmerzen.“ Rossana kam auch bald an die Reihe, und die Frauenärztin sagte: „Dann schau ich mir mal ihre Frau an. Wollen Sie sich dabei hier hinsetzen oder eben draußen warten?“ – „Ach, ich warte ruhig eben draußen.“ sagte ich. Ich setzte mich im Flur hin, doch schon nach fünf Minuten ging die Tür wieder auf und die Frauenärztin rief mir zu: „Herr Poppe, kommen Sie bitte schnell herein!“ – Ich hatte schon ein sehr mulmiges Gefühl, aber hoffte in diesem Moment erst mal nur, dass ich Rossanas Blöße nicht sehen würde, was zum Glück auch nicht der Fall war, da sie mir abgewandt lag. Die Ärztin erklärte mir aufgeregt: „Herr Poppe, ihre Frau ist doch HOCHSCHWANGER, und die Schmerzen sind Geburtswehen gewesen! Sie wird jeden Moment ein Kind bekommen, denn de Fruchtblase ist schon geplatzt. Sie muss jetzt sofort ins Krankenhaus gebracht werden, damit das Kind dort entbunden wird. Ich werde sofort einen Krankenwagen bestellen und einen Notarzt!“ – In diesem Moment sah ich keinen anderen Ausweg, als die Wahrheit zu sagen: „Entschuldigen Sie, Frau Doktor, aber ich muss Ihnen bekennen, dass ich nicht ganz ehrlich war, denn diese junge Dame ist nicht meine Frau, aber ich wusste auch nicht dass sie schwanger ist. Das Problem war nämlich, dass sie nicht versichert ist und ich deshalb die Versicherungskarte meiner Frau verwendet hatte. Ich muss das jetzt alles aus eigener Tasche bezahlen, deshalb wollte ich mal fragen, ob ich Rossana selber ins Krankenhaus fahren kann?“ Die Ärztin schaute mich überrascht an und erwiderte dann: „Nein, tut mir leid, aber das kann ich nicht verantworten! Sie muss auf jeden Fall jetzt mit dem Krankenwagen abgeholt werden, und ich habe das eben gerade auch schon veranlasst.“
Der Krankenwagen kam. Rossana wurde auf eine Bahre gelegt und von mehreren Sanitätern die Treppe runtergetragen. Ich fuhr in meinem Auto hinterher und zitterte am ganzen Leib. Als ich in den Wartebereich des Kreißsaals ankam, ging die große Schiebetür auf und ein junger Arzt kam heraus mit Mundschutz und einem kleinen Baby im Arm. Der Junge wog bei seiner Geburt nur 1900 Gramm, was wohl der Grund war, dass man der Rossana gar nicht ansah, dass sie schwanger war. Der Junge wurde nach Aussagen der Ärzte im 9. Monat geboren, aber aufgrund seiner Unterentwicklung erst einmal in den Brutkasten gebracht, um ihn zu beobachten. Ich rief vom Krankenhaus aus Ruth an und erzählte ihr alles. Sie kam dann her und wir gingen gemeinsam in Rossanas Zimmer. „Rossana, warum hast Du uns nicht gesagt, dass Du schwanger bist?“ – „Ich hatte doch selber keine Ahnung!“ antwortete Rossana ängstlich, „Ich habe doch bis jetzt fast immer noch meine Regel gehabt. Außerdem habe ich auch noch nie mit einem Mann geschlafen, ich schwöre es!“ Ruth und ich schauten uns an, und weil ich etwas zögerte, sagte Ruth: „Rossana, die einzige Frau, die bisher als Jungfrau ein Kind bekommen hatte, war Maria, die Mutter Jesu, und ich glaube nicht, dass auch Du jungfräulich empfangen hast.“ Ich ergänzte Ruths Worte: „Rossana, wenn Du mit jemandem eine Beziehung hattest, dann kannst Du uns das ruhig sagen, wir verstehen das schon. Aber bitte sage uns die Wahrheit.“ Rossana sagte dann aufgeregt: „Es gibt da eine Möglichkeit, wie das vielleicht passiert sein konnte: Das gibt da so einen jungen Mann, der mich immer vom Institut abgeholte, wo ich studiert hatte und mich auf dem Heimweg begleitete. Eines Tages lud er mich auf eine Cola ein. Ich glaube, dass er irgendetwas ins Getränk hineingetan haben muss, denn an jenem Tag wachte ich Stunden später auf und hatte den Eindruck, dass er mich entjungfert hat, war mir aber nicht sicher.“
Konnte man diese Geschichte glauben? Ich glaubte sie. Denn ich hielt Rossana einfach für viel zu einfältig, als dass ich ihr zugetraut hätte, uns anzulügen. Später musste ich jedoch feststellen, dass ich Rossana völlig unterschätzt hatte, da ich noch viele Male mitbekam, wie sie gekonnt log (Not macht ja bekanntlich erfinderisch). Auf jeden Fall war Rossana jetzt Mutter geworden, und als solche trug sie von nun an Verantwortung vor Gott. „Willst Du das Kind behalten oder zur Adoption geben„, fragte Ruth. „Ich weiß nicht so recht“ sagte sie, „denn einerseits ist es ja mein Kind, das ich mir immer gewünscht habe; aber andererseits wird der Junge dann keinen Vater haben und deshalb ein schweres Leben. Was meint ihr?“ Ruth sagte: „Ich denke, dass Du das Kind annehmen solltest, denn Gott hat dies so gewollt“. – „Du hast recht, Tante Ruth, dann mach ich das so mit Gottes Hilfe.“ – „Weißt Du schon einen Namen für Dein Kind?“ fragte ich sie. „Ach, tío Simon, mir wäre es ganz lieb, wenn Du einen Namen für den Jungen auswählst!“ Ich überlegte und dachte in diesem Moment an das Findelkind Moses, das die Mutter nicht behalten konnte und deshalb in einen Korb in den Nil gab, damit es jemand anderes finden und auferziehen möge. „Was hältst Du von dem Namen Moisés?“ – „Ja, das ist ein schöner Name, dann nennen wir ihn so“ sagte sie.
Es war Montag, der 17.06.1997, als Moses (span. Moisés) am späten Nachmittag geboren wurde. Als ich am Abend nach Haus fuhr, machte ich mir Sorgen, wie viel das alles wohl kosten würde, denn ich musste es ja jetzt alles aus eigener Tasche bezahlen. Da erinnerte ich mich an meine Mutter, wie sie damals immer wieder viel Erfolg hatte, wenn sie über Radio Bremen einen Spendenaufruf gemacht hatte. Wenn der Radiosender dafür im Gegenzug eine rührselige Geschichte bekommt, dann würde er das bestimmt machen. Fragen kostet ja nichts. Ich rief also am nächsten Tag bei Radio Bremen an und erzählte dem Redakteur die Geschichte, und ob man da nicht einen Spendenaufruf machen könne. Dem Redakteur gefiel die Geschichte und er schickte prompt einen Reporter ins Krankenhaus, der mich und Rossana interviewte. Er machte dann auch noch ein kurzes Interview mit dem zuständigen Frauenarzt im Krankenhaus, ob dies überhaupt möglich sei, dass eine Frau nicht merkt, dass sie schwanger sei. „Ja, das kommt durchaus häufiger vor, als man denkt, denn manche Frauen verdrängen ihre Schwangerschaft so sehr, dass sie die deutlichen Zeichen einfach ignorieren und sie anders interpretieren. Das ist also vor allem ein psychologisches Phänomen.“ Als der Reporter dann wieder gehen wollte, fragte ich ihn, ob es denn am Ende des Beitrages auch einen Spendenaufruf geben würde. „Nein, das können wir nicht machen.“- „Warum nicht?“ – „Einfach deshalb, weil niemand etwas dafür spenden würde. Sagten Sie nicht selbst, dass sie Frau Maldonado nicht rechtzeitig versichert hatten? Glauben Sie, dass jemand wegen Ihrer Nachlässigkeit bereit wäre, eine Spende zu geben?„
Am nächsten Tag wurde Rossana entlassen, aber ihr Kind sollte weiter im Brutkasten versorgt werden. Erst nach einer Woche konnten wir Moses mitnehmen mit der Auflage, dass er weiter unter ärztlicher Kontrolle bleiben müsse. So brachten wir ihn zum Kinderarzt Dr. Wahlers, der schon mich und meine Geschwister als Kleinkinder verarztet hatte. Dieser untersuchte Moses gründlich und stellte zunächst bei ihm einen sog. Nystagmus fest, d.h. ein unkontrollierbares Wackeln der Augenpupille. Eine Untersuchung seines Kopfes ergab, dass der Mittelbalken seines Gehirns angeblich nicht zusammengewachsen und deshalb damit zu rechnen sei, dass „das Kind geistig behindert sei“ (Wahlers). Zum Glück stellte sich Jahre später heraus, dass Dr. Wahlers sich in dieser Einschätzung geirrt hatte. Aber wir mussten Mose regelmäßig wöchentlich zur Physiotherapeutin bringen, da er aufgrund seiner Sehschwäche auch in der Wahrnehmung seiner Umgebung und damit seiner Orientierung eingeschränkt war. Die Kosten hierfür übernahm die Versicherung, aber die Kosten für den Krankenhausaufenthalt in Höhe von 9.400,-DM musste ich selber aufbringen. Ich durfte sie jedoch in Raten von 200,-DM im Monat abbezahlen. Was ich in jenen Tagen und Wochen jedoch völlig übersehen hatte, war, dass ich Moses beim Standesamt hätte registrieren müssen. Offiziell existierte er so also noch gar nicht, denn seine Daten waren noch nirgendwo gespeichert. Erst ein Jahr später war dies durch Zufall aufgefallen und wurde dann von mir nachgeholt.
Moses war ein sehr hübscher Junge. Er wollte immer getragen werden, und sobald Rossana ihn absetzte, fing er immer an zu schreien. Deshalb band ihn Rossana mit einem Tuch auf ihren Rücken, damit sie die Hände frei hatte. Nun musste sie sich tagsüber um zwei Kinder kümmern, da ja inzwischen auch Ruth wieder angefangen hatte, vormittags zu arbeiten. Aber auch Elena, unsere Nachbarin die unter uns wohnte, half öfter mal aus, zumal sie früher mal als Kinderhelferin gearbeitet hatte. Verständlicherweise hatte sich inzwischen auch unser Verhältnis zu Elena deutlich verbessert. Wir gingen damals aber soweit ich weiß noch in keine Gemeinde, außer in den Spanischkreis. Alle 2 bis 3 Monate besuchten wir auch die Geschwister Edgard und Hedi Böhnke in Blumenthal, die sich jedes Mal sehr darüber freuten.