Die Meisterschule
In der Berufsschule Garbsen gab es jedes Jahr nur eine Klasse für Meisteranwärter im Maler- und Lackiererhandwerk, die in etwa aus 25 Schülern bestand im Alter von 25 bis 40 Jahren. Wir hatten zwei Lehrer, die uns abwechselnd in den Fächern Fachtheorie und Fachpraxis unterrichteten. Herr Brandes (ca. 58) war als Kunstlehrer ein richtiger Ästhet, aber zugleich auch sehr pflichtbewusst wie ein preußischer Offizier, der sich immer äußerst viel Zeit nahm, um uns die genauen Arbeitsabläufe zu erklären, bevor wir dann endlich mit den Aufgaben beginnen konnten. Herr Stollberg (ca. 45) hingegen war genau das Gegenteil von Herrn Brandes, nämlich ein eher lockerer Malermeister, der selber 20 Jahre einen Betrieb geleitet hatte und daher kein Theoretiker war, sondern aus seiner Erfahrung sprechen konnte. Verständlicherweise war mir Herr Stollberg gleich sympathisch, während ich mit Herrn Brandes eher auf Kriegsfuß stand. Das bestand jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch Herr Brandes hatte mit meiner eher unkonventionellen Art so seine Probleme. Wenn er z.B. beim Erklären durch den Klassenraum ging und dabei sah, dass ich meine Schuhe ausgezogen hatte, dann ließ er es sich nicht nehmen, vor der Klasse zu sagen: „Ach, Herr Poppe, das ist ja wirklich freundlich von ihnen, dass Sie uns alle an dem Duft ihrer Sohlen teilnehmen lassen!“ Aber auch ich hatte manchmal einen Schalk im Nacken, um mir mit Herrn Brandes einen Scherz zu erlauben: Als nach einer Pause der Unterricht wieder begann und Herr Brandes wie gewöhnlich fragte: „Hat jemand noch irgend eine Frage, bevor wir mit dem zuletzt besprochenen Thema weitermachen können?“ da fragte ich ihn: „Herr Brandes, ich habe mal eine ganz allgemeine Frage: Was ist eigentlich der Sinn des Lebens?“ Die Klasse lachte und Herr Brandes versuchte, die unerwartete Frage irgendwie scherzhaft zu beantworten, indem er sagte: „Der Sinn des Lebens ist wohl der, dass wir irgendwann einmal alle ins Gras beißen müssen.“ Ich wollte aber ernst bleiben und entgegnete: „Wenn der Sinn des Lebens in unserem Tod bestehen würde, dann wäre es aber kein Sinn, sondern ein Un-Sinn; mit anderen Worten hätte das Leben dann gar keinen Sinn.“ Herr Brandes überlegte: „Nun, ganz so unsinnig ist das Leben ja auch nicht. Ich z.B. sehe den Sinn meines Lebens darin, dass ich mein erlerntes Malerwissen an die nächste Generation weitergeben kann.“ Darauf erwiderte ich: „Wenn der einzige Sinn Ihres Lebens darin bestanden hatte, dass sie Wissen über den Malerberuf weitervermittelt haben, dann muss das aber ein sehr trostloses Leben gewesen sein mit einem ziemlich elendigen Sinn.“ Die Klasse lachte wieder, aber Herr Brandes wollte diese unbeabsichtigte Beleidigung nicht erwidern, sondern wollte es mir bei der nächst besten Gelegenheit heimzahlen, die auch schon bald folgen sollte.
Da wir von den rund 300,- DM im Monat nicht genug zum Leben hatten, suchte ich in den Stellenangeboten einen Nebenjob, den ich mit freier Zeiteinteilung auch zwischendurch ausüben konnte. Ich fand ein Angebot vom sog. Emnid-Institut, wo es darum ging, Menschen zu befragen nach ihren politischen Ansichten, um die Daten statistisch auswerten zu lassen. Für jede einzelne Befragung gab es etwa 15,-DM, wobei der Fragebogen so lang war, dass man fast eine Stunde dafür brauchte. Ich hatte nun die Idee, gleich mehrere Leute auf einmal zu befragen, dann bräuchte ich die Fragen nicht immer neu stellen, und könnte dadurch mehr schaffen. Da man die unterschiedlichen Zielgruppen, für die es jeweils eigene Fragebögen gab, frei wählen konnte, wählte ich speziell für Jugendliche, damit ich die Lehrlinge der Berufsschule befragen konnte. Zu Beginn der großen Pause ging ich aus der Meisterklasse raus und fragte ein paar Jungen aus der Lehrlingsklasse nebenan, ob sie Lust hätten, an einer Befragung teilzunehmen. Es meldeten sich etwa vier, und wir gingen den Flur runter in einen leeren Klassenraum, wo wir ungestört waren. Zum Glück hatten die Schüler viel Spaß an den Fragen, wo es z.B. u.a. um Rassismus oder gewisse Vorlieben ging. Als jedoch eine halbe Stunde rum war, sagte einer der Schüler, dass der Unterricht wieder begonnen habe und sie zurück müssten. Die anderen drei wollten aber lieber mit mir die Befragung zuendemachen. „Und was soll ich sagen, wenn der Lehrer fragt, wo ihr abgeblieben seid?“ – „Sag ihm einfach die Wahrheit“ sagte ich, „dass sie an einer wichtigen Emnid-Studie teilnehmen und deshalb etwas später kommen. Da brauchst ihm ja nicht auf die Nase binden, dass wir das hier im Klassenraum machen.“ Der Schüler ging also zurück in seinen Klassenraum. Ich ahnte aber nicht, dass ausgerechnet Herr Brandes da unterrichtete.
Erwartungsgemäß fragte Herr Brandes, ob jemand wisse, wo die fehlenden Schüler verblieben seien. Der eine Schüler meldete sich und sagte: „Ich habe mit ihnen an einer Emnid-Umfrage teilgenommen, die ein Meisterschüler mit ihnen durchgeführt hat und die noch nicht ganz beendet ist. Er hat mir aber gesagt, dass ich Ihnen nicht verraten solle, dass er diese Umfrage hier in der Schule macht.“ Herr Brandes wurde rot vor Wut und sagte: „Du wirst mir jetzt sofort zeigen, wo er diese Befragung durchführt!“ Kurz darauf ging die Tür auf in unserem Klassenraum und Herr Brandes schrie mich wutschnaubend an: „WER HAT IHNEN ERLAUBT, HIER WÄHREND DES BERUFSUNTERRICHTS PRIVATWIRTSCHAFTLICHE INTERESSEN ZU VERFOLGEN?! UND WO IST DIE GENEHMIGUNG, DASS SIE HIER ÖFFENTLICHE RÄUME NUTZEN DÜRFEN?! ES IST EINFACH EINE UNVERSCHÄMTHEIT, HERR POPPE, DASS SIE MEINE SCHÜLER HIER FÜR IHRE EIGENEN FINANZIELLEN INTERESSEN MISSBRAUCHEN, UND DAS AUCH NOCH WÄHREND DER UNTERRICHTSZEIT! EINE UNVERSCHÄMTHEIT!!!“ Ich bat Herrn Brandes viele Male um Entschuldigung und gab mich völlig ahnungslos, was aber nicht verhindern konnte, dass er mich von nun an „auf den Kieker hatte„.
April – Juni 1998
Unser Alltag in Neustadt am Rübenberge
Da ich keine reale Chance sah, genügend Freiwillige zu finden für meine Emnid-Umfragen, ließ ich es bleiben und versuchte mich stattdessen weiter im Aktiengeschäft, wobei ich zunächst nur die Theorie erlernte und worauf es ankäme und erst später, wenn ich genug Geld hätte, auch selbst ins Geschäft einzusteigen. Nach der Schule ging ich meist mit Ruth und Rebekka auf einen der vielen Spielplätze und lernte nebenbei für die Prüfung. Ruth machte derweil vormittags ihre Studiengänge an der Tiermedizinischen Hochschule und lernte parallel dazu weiter Deutsch, da sie vielen Erläuterungen der Dozenten auch nicht recht folgen konnte, zumal sie z.T. sehr schnell redeten. Rossana passte vormittags auf Rebekka und Moses auf und machte den Haushalt. An den Wochenenden fuhren wir mit Rossana, Rebekka und Moses zu den nahegelegenen Einkaufszentren oder ans Steinhuder Meer, wo wir zusammen badeten. Ruths Rückenschmerzen in Sacro-Lumbar-Bereich hatten inzwischen deutlich zugenommen, so dass Ruth bald jede Woche irgendeinen Termin bei einem Orthopäden oder in der Schmerzambulanz hatte. Einer von ihnen sagte zu Ruth ganz offen: „Ich bin inzwischen mit meinem Latein am Ende und kann ihnen höchstens noch eine Versteifung ihres Rückens durch einen operativen Eingriff anbieten, obwohl ich Ihnen den keineswegs empfehlen würde. Aber was Sie alles so an Opiaten einnehmen, das haut normalerweise einen Ochsen um!“ Ruth zeigte aber äußerste Willensstärke und wollte unbedingt ihre Tiermedizin-Anerkennung in Deutschland schaffen.
Rebekka hatte schon bald auch zwei Freundinnen auf dem Spielplatt kennengelernt, Pamela und Jaqueline, die beide in ihrem Alter waren und deren Mutter eine Philippinin war, mit der sich Ruth gut verstand. Leider war der viel ältere Ehemann ein Trinker, der seine kleinen Töchter oft schlug. Diese Aggression übertrug sich dann auch auf Pamela, die ihrerseits ständig Rebekka schlug. Rebekka weinte damals oft, weil sie Ungerechtigkeit nicht ertragen konnte. Mit Moses verstand sie sich indessen gut und sie spielten vergnügt mit einander selbst wenn ihre Windeln voll waren und stanken. Wir brachten Rebekka bei, aufs Töpfchen zu gehen, und sie kam jedes Mal dann freudestrahlend in die Küche gelaufen, wenn sie uns wieder mitteilen kann, dass sie ein kleines „Ei“ gelegt habe. Sonntags gingen Ruth und ich öfter mal in die nahe gelegene Baptistengemeinde, wo wir von einem älteren Ehepaar angesprochen wurden, die uns in ihren Hauskreis einluden. Dieser gefiel uns gut, so dass wir dort regelmäßig hingegangen. Ruth freundete sich dort mit einer Schwester namens Dörte an, die uns auch sehr häufig besuchte. Irgendwann bat ich dem Pastor und auch dem Hauskreisehepaar an, dass ich gar nicht mehr an den Gott der Bibel glaube, worauf sie entsetzt reagierten. Der Hauskreisleiter (dessen Name mir entfallen ist) meinte zu mir, dass dies wohl an der Trennung meiner Eltern liege, denn aus seiner psychologischen Erfahrung würden Trennungen der Eltern immer schwerwiegende Auswirkungen auf deren Kinder haben, bis dahin, dass sie von ihrem Glauben abfallen.
Der erste Adoptionsversuch
Allmählich neigte sich Rossanas Zeit in Deutschland dem Ende zu. Sie machte sich Sorgen um ihren Sohn und ihre Zukunft, denn mit einem kleinen Kind würde es fortan sehr schwierig sein, Arbeit zu finden. Sie würde das Los vieler lediger Mütter in Südamerika teilen müssen, deren Söhne dann früher oder später unter die Räder kommen, indem sie z.B. Drogen nehmen und verkaufen, weil sie niemanden haben, der immer für sie da wäre. Rossana wünschte sich deshalb, dass ihr Sohn von einem deutschen Ehepaar adoptiert werde, damit er viel Zuwendung und eine gute Ausbildung bekomme. Wir machten ihr klar, dass sie ihren Sohn dann nie wieder sehen würde, denn soweit mir bekannt war, würden schon die Behörden das nicht zulassen. Rossana war es aber wichtiger, dass ihr Sohn gut versorgt sei, und ihr war bewusst, dass sie dies nicht leisten konnte. Also rief ich beim Jugendamt in Hannover an und machte einen ersten Termin bei einer Beraterin. Wir nahmen Moses mit und sie erklärte uns, dass südamerikanische Kinder heiß begehrt seinen bei Adoptiveltern, weshalb es keine Schwierigkeit geben dürfte, Moses zu vermitteln.
Ein paar Wochen später wurden wir zu einem zweiten Termin geladen, weil man mögliche Adoptiveltern für ihn gefunden habe. Dort im Büro war zeitgleich ein junges Paar geladen, dass Moses sah und sich sofort in ihn verliebte. Sie nahmen ihn auf den Arm und hätten ihn am liebsten gleich mit nach Hause genommen. Die Frau von der Adoptionsstelle erklärte uns jedoch, dass erst viele Formalitäten erledigt werden müssten, u.a. ein ärztliches Attest und eine Einwilligungsbescheinigung von Rossana usw. Wir reichten die gewünschten Unterlagen nach und erhielten eine Woche später einen Anruf von der Behörde. Die Sachbearbeiterin war sehr wütend und sagte mir, dass wir ihr verschwiegen hätten, dass Moses wahrscheinlich geistig behindert sei. Ich fragte sie, warum dies denn einen Unterschied mache und dass das außerdem doch noch gar nicht sicher erwiesen sei. Sie aber sagte: „Herr Poppe, man kann kein geistig behindertes Kind zur Adoption geben, weil NIEMAND ein solches Kind haben will. Merken Sie sich das!“ Ich fand das irgendwie ganz schön diskriminierend, aber ich dachte, sie wird es wohl besser wissen als ich. Damit war also unser erster Versuch gescheitert. Da wir keine Chance auf eine Adoption sahen, überredeten wir Rossana, das Kind doch erst mal mitzunehmen nach Peru.
Ohne Papiere existiert man nicht
Als der Tag der Abreise kam, fuhren wir mit Rossana und ihrem Kind nach Bremen und brachten sie zum Flughafen. Am Check-In-Schalter nahm die Dame am Schalter der Fluggesellschaft den Ausweis und das Ticket von Rossana entgegen und tippte die Daten in den Computer. „Fliegt das Kind mit Ihnen?“ – „Ja.“ – „Dann bräuchte ich auch mal das Ticket für das Kind bitte.“ – – – Ich wurde nervös. „Wieso? braucht das Kind denn auch ein eigenes Ticket?“ fragte ich zaghaft. „Ja, natürlich, oder hatten sie gedacht, dass Mutter und Kind irgendwie eine unzertrennliche Einheit bilden? Das mag vielleicht in der Schwangerschaft gewesen sein, aber jetzt ist es ein eigenständiger Fluggast und braucht deshalb auch ein Reiseticket.“ – „Ach so, das wusste ich nicht. Und was machen wir jetzt?“ – „Machen Sie sich keine Sorgen, sie können auch jetzt noch ein ermäßigtes Ticket für das Kind kaufen, denn es sitzt ja auf dem Schoß der Mutter. Geben Sie mir mal den Reisepass für das Kind.“ Schon wieder geriet ich in Verlegenheit: „Muss denn ein so kleines Kind schon einen eigenen Reisepass haben?“ – „Ja, was denken Sie denn! Selbstverständlich brauchen auch Babys einen Kinderausweis. Das kann ja jeder behaupten, dass das Kind der Mutter gehört. Sie müssen zur Peruanischen Botschaft und sich einen Pass für das Kind machen lassen, sonst kann das Kind nicht mitfliegen.“ – Wir waren geschockt. „Können Sie nicht irgendwie eine Ausnahme machen?“ – „Nein, das geht nicht. Sie können doch nicht einfach glauben, dass das Kind einfach so mitfliegt, das sagt Ihnen doch schon allein ihr gesunder Menschenverstand. Und jetzt gehen Sie bitte weiter und überlegen sich, was Sie machen wollen, denn die Schlange hinter ihnen will auch noch fliegen.“
Wir waren am Boden, und Ruth machte mir Vorwürfe, warum ich daran nicht gedacht hatte. „Wenn Rossana heute nicht fliegt, dann verfällt ihr Ticket und wir müssen wieder Geld sparen, um ein neues Ticket zu kaufen, und das nur, weil Du Dich vorher nicht richtig informiert hattest!“ Rossana versuchte zu beschwichtigen: „Onkel Simon, Tante Ruth, machen Sie sich keine Sorgen! Ich fliege sonst auch ohne Moses, und Sie können ihn ja erst mal hier in Deutschland behalten und ihn dann später mitbringen, wenn Sie das nächste Mal nach Peru kommen.“ – „Das sagst Du so einfach, Rossana“, sagte Ruth, „aber Du weißt, dass wir vormittags beide nicht da sind, weil wir studieren. Der Kindergarten für Rebekka beginnt erst nach den Sommerferien und Moses ist noch zu klein dafür. Und Du weißt auch, dass ich Schmerzen habe und mich nicht um zwei Kinder kümmern kann!“ – „Und wenn wir noch mal versuchen, ihn zur Adoption zu geben?“ fragte ich. „Ich kann doch mal beim Jugendamt in Bremen und ihnen die Situation schildern. Irgendwas wird denen doch schon einfallen.“ So verblieben wir dann, und Rossana stellte sich nochmal in die Schlange, um einzuchecken. Nachdem wir sie verabschiedet hatten, ging ich mit Moses im Arm zum Auto. „Ein so hübscher Junge“ dachte ich, „schade, dass wir ihn nicht einfach behalten können.“
Ich rief beim Jugendamt an und erklärte dem Mann die Situation. „Das Kind kann auch erst mal in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Sie können ja morgen Vormittag mal in mein Büro kommen und alle Unterlagen von dem Kind mitbringen.“ – „Welche Unterlagen meinen Sie?“ – „Ja, z.B. die Geburtsurkunde und eine Vollmacht der Mutter.“ – „Eine Geburtsurkunde habe ich nie bekommen für das Kind.“ – „Wann ist das Kind denn geboren?“ – „Vor einem Jahr.“ – „Waaas??! Und Sie haben es immer noch nicht beim Standesamt angemeldet? Dann wird es aber allerhöchste Zeit, denn ohne Papiere existiert das Kind noch gar nicht!“ – „Ich dachte, das geht alles irgendwie automatisch, wenn ein Kind geboren wird.“ – „Nein, Sie haben doch auch eine Tochter und hatten ihr auf dem Standesamt einen Namen gegeben. Haben Sie das völlig vergessen?“ Ich schämte mich und versicherte, dass ich mich jetzt schnellstens darum kümmern würde. Als ich beim Standesamt anrief, sagte mir die Dame, dass sie vom Krankenhaus damals eine Mitteilung erhalten habe, aber dass Sie noch immer darauf wartete, bei ihr vorstellig zu werden. Wir riefen in Peru an, dass Rossana eine Einverständniserklärung schreiben solle, die notariell beglaubigt und von einem anerkannten Übersetzer auf Deutsch übersetzt werden müsse. Elena wiederum hatte Kontakt zu einer gläubigen Pflegefamilie in Habenhausen, wo Moses erst einmal untergebracht wurde. Wochen später erfuhr ich durch den Kinderarzt Dr. Wahlers durch Zufall, dass Moisés inzwischen von einem Journalisten-Ehepaar in Schwachhausen adoptiert wurde, deren Nachname Mohrmann hieße. Ich traute mich aber Jahre lang nicht, zu diesen Kontakt aufzunehmen, bis eines Samstags im Jahr 2015 Moisés mit seiner Adoptivmutter vor unserer Haustür stand (aber dazu später mehr).
Die Meisterprüfung
In der Meisterschule war ich inzwischen einer der Klassenbesten, weshalb sogar Herr Brandes von meinen Arbeiten beeindruckt war, auch wenn er mich nicht mochte. Ich lernte auch die möglichen Prüfungsfragen der theoretischen Prüfung in und auswendig, so dass ich mich ziemlich sicher fühlte. Kurz vor der Prüfung war im Juni 1998 ein ICE-Zug in der Nähe von Hannover entgleist und hatte über 100 Menschen in den Tod gerissen. Das Zugunglück von Lengede galt als das schlimmste von allen in Deutschland, so dass auch der Lehrer für eine Weile den Unterricht unterbrach. Als dann Ende Juni die Woche der praktischen Prüfung kam, erhielten wir die Aufgabe, den Empfangsbereich eines Hotels zu gestalten, indem wir auf den eigens von uns dafür vorbereiteten 8 Platten (0,5 x 1,00 m) jeweils eine genau vorgeschriebene Technik ausführen sollten, deren Ausführung dann benotet wurde. Die Arbeitsabläufe waren so geplant, dass wir alle 5 Tage brauchen würden, um dies auch zeitlich zu schaffen. Ich hatte mir zuvor schon viele Gedanken gemacht und arbeitete so pingelig und perfektionistisch wie ich nur konnte, weil ich das beste Ergebnis von allen erzielen wollte. Die ersten drei Tage liefen auch völlig im Zeitplan, doch dann hatte ich größte Mühe mit einem Schriftzug, den wir mit Blattgold auf eine Glasplatte bringen sollten, weil sich das Blattgold immer wieder stellenweise löste und nicht so recht kleben wollte auf der sog. Miktion (Kleber). Donnerstagabend wurde mir klar, dass es jetzt ganz schön knapp war mit der Zeit und ich eine Platte noch gar nicht bearbeitet hatte, sondern hatte sie am Donnerstag erst mal nur vorgespritzt, um sie am nächsten Tag mit einer Lilie zu vergolden.
Als ich am Freitagmorgen kam, war diese Platte noch immer nicht trocken, sondern bakte noch. Ich ging zu Herrn Brandes und fragte ihn, was ich jetzt machen könne, da die Platte nicht trocken sei. „In den Ofen können Sie die nicht stellen, denn dann können Sie die heute nicht mehr vergolden, weil der Lack zu weich ist“ – „Und was soll ich sonst machen?“ – „Keine Ahnung. Sie hätten vielleicht mal früher daran denken sollen, die Platte vorzuspritzen!“ Es hatte keinen Zweck, denn er wollte mir nicht helfen. Also ging ich zu Herrn Stollberg und fragte ihn, ob er eine Idee hätte. Er überlegte und sagte dann: „Holen sie mir mal einen Japanspachtel, eine Tube Acrylspachtelmasse und Abtönfarben, z.B. Schwarz und Lila“ – „Was haben Sie denn vor?“ fragte ich verwirrt. „Das werde ich Dir gleich zeigen, wart‘ nur ab!“ Ich brachte ihm die gewünschten Dinge, und er tat sich auf den Japanspachtel eine Mischung aus Acrylspachtel, sowie Schwarz und Lila, vermischte es und trug es plötzlich auf meine Platte auf. „WAS MACHEN SIE DENN DA?“ fragte ich entsetzt. „Ich versuche, Dir den Arsch zu retten! Vertrau mir, ich weiß schon, was ich tue!“ Mein Herz raste und es war mir völlig schleierhaft, was er vorhatte. Er trug die Farbe in kleinen Flecken kreuz und quer auf die Platte auf und überlappte die Flecken bis die ganze Platte bedeckt war. Eigentlich war es streng verboten, dass ein Lehrer uns bei der Herstellung der Platten half, und so war auch Herr Brandes sichtlich geschockt, als er sah, wie sich sein Kollege gerade über die Regeln hinwegsetzte. Als er fertig war, sagte er: „Schau, die Platte ist jetzt schon trocken, aber Du musst sie noch verdichten. Weißt Du wie das geht?“ – „Nein.“ – „Schau her!“ Er nahm den Japanspachtel und rieb damit auf der Farbfläche hin und her, so dass diese anfing zu glänzen. Erst jetzt erkannte ich, dass es eigentlich ein recht schöner Anblick war und machte weiter. Er hatte es geschafft, den Untergrund auf die Schnelle so herzurichten, dass ich noch rechtzeitig meine Vergoldung aufbringen konnte. Und er riskierte dabei sogar, dass sein Kollege ihn verpetzen könnte für diese kleine Schummelei. Das werde ich ihm immer hoch anrechnen!
So wurde ich gerade noch rechtzeitig fertig an jenem Freitag und hatte außer der Glasplatte ein sehr überzeugendes Ergebnis erzielt.
Juli – September 1998
Das Ergebnis
Ich erfuhr, dass wir das Ergebnis am 07.Juli erhalten würden im Rahmen einer Feierstunde. Der 07.Juli war aber zugleich mein 30. Geburtstag, weshalb ich umso mehr bangte, ob ich auch ein positives Ergebnis als Geburtstagsgeschenk erhalten würde. Mein Vater war extra angereist aus Bremen, um mich nach Hannover zu bringen. Wir versammelten uns auf dem Flur der Maler-Innung, während drinnen im Handwerkssaal beraten wurde. Dann ging die Tür auf und einer der Schüler wurde hineingerufen, und zwar Torsten, der ehrgeizigste Streber der Klasse, der immer nur an seinen eigenen Vorteil dachte. Wir waren uns sicher, dass er bestanden hat. Als er jedoch nach einer Weile herauskam, sagte er: „Ich hab’s vergeigt! Und auch nur deshalb, weil ich bei einer Platte eine falsche Technik aufgebracht hatte entgegen der Vorgabe. Ich meinte es nur gut, aber die Prüfer meinten, dass dieser Fehler unverzeihlich sei, weil ich ja auch nicht zu einem Kunden sagen könne, dass die Lackierung doch schön sei, wenn doch der Kunde ausdrücklich eine Lasur gewünscht habe.“
Ich dachte: „Wenn der deswegen schon allein durchgefallen ist, dann bin auch ich durchgefallen!“ Doch dann ging die Tür wieder auf und man hieß uns diesmal alle zusammen hereinzukommen. Was hatte das zu bedeuten? Der Obermeister erklärte uns dann, nachdem er es zuvor sehr spannend gemacht hatte, dass wir anderen alle bestanden hätten und nun jeder nacheinander seine Urkunde bekommen würde. Ich war überglücklich, und als ich an der Reihe war, sagte ich vor der Jury, dass dieser Tag für mich in doppelter Weise besonders sei, da ich auch gerade 30 geworden sei. Dem HErrn sei Dank, dass er mir eine Demütigung erspart hatte! Im Nachherein tat mir der Thorsten wirklich leid, dass er durchgefallen war, und ich fragte mich, warum man bei mir ein Auge zugedrückt hatte.
Anna und Albert
Mitte Juli heiratete meine Schwester Anna ihren Albert in Ratzeburg, wo die beiden immer ihren Urlaub verbrachten. Es war eine schöne Feier und viele waren gekommen. Anna (32) und Albert (33) passten aber auch wirklich gut zusammen, da sie beide sehr konservativ waren, und zwar so sehr, dass sie sich am liebsten für den Rest ihres Lebens in eine Konserve hätten einschließen wollen, in der die Zeit zum Stehen gebracht war und die feindlich empfundene Umwelt ihre Ruhe nicht zu stören vermochte. Tatsächlich war dies dann auch ihr größtes Problem in den folgenden Jahren, dass nämlich ihre Umwelt immer nie so wollte, wie sie es gerne hätten und von ihr erwartet hatten. Sei es nun, dass die Prediger oder Glieder einer Gemeinde nie ganz genau ihren Wunschvorstellungen entsprachen und ihnen deshalb keine andere Wahl blieb, als diese wieder zu verlassen, oder sei es, dass die Vermieter sich nicht an die ihnen zustehende Ruhe hielten oder andere Vorgaben einfach missachteten. Anna und Albert hatten beruflicherseits gelernt, wie man Beschwerdebriefe verfasst, die es aber in sich hatten. Als ich später mal versucht hatte, Albert als Bürogehilfen zu gewinnen, lies ich ihn zur Probe Briefe an Kunden schreiben. Zu meinem Erschrecken waren diese dermaßen eiskalt formuliert, dass ich Albert zur Mäßigung aufrief: „Mein lieber Albert, so kannst Du doch nicht meinen armen Kunden schreiben! Das ist doch absolut grausam und lieblos! Die würden mir nie wieder einen Auftrag erteilen!“
Anna und Albert waren Eigenbrötler, aber sie haben sich immer gut verstanden. Es war beinahe so, als hätten zwei Autisten geheiratet, die beide auf einander Rücksicht nehmen konnten, weil beide unter den gleichen Ängsten und der selben Paranoia litten. Die Welt der beiden war entsprechend klein, aber sie waren nie einsam, denn sie hatten immer einander und ihre Erinnerungen an die 70er und 80er Jahre, in denen sie aufgewachsen sind. Ich habe die beiden immer bewundert wegen ihrer Bescheidenheit und Genugsamkeit. In dieser Hinsicht waren sie genau das Gegenteil von mir, denn ich war schon immer lebenshungrig und risikofreudig. Ihre größte Angst war die vor der Veränderung, und meine größte Angst war die vor der Erstarrung. Während Albert in den ersten Jahren noch shr scheu und zurückhaltend gegenüber uns war, hatte er sich allmählich an uns gewöhnt und zeigte sich auf Geburtstagen als heiteren Witzbold. Selbstironisch bezeichnete er sich selbst immer als der „Schnuff“ wie ihn Anna immer nannte und fühlte sich offensichtlich wohl in dieser Rolle als gemütlicher Teddy wahrgenommen zu werden. Sein teilweise derber Humor wurde von meiner Mutter anfangs eher als Spott empfunden, über den sie nicht lachen konnte. Es ging einmal so weit, dass ich Albert in einem Brief damit drohte, handgreiflich zu werden, wenn er weiterhin seine Scherze mit meiner Mutter trieb. Später aber versöhnten wir uns wieder.
Albert war vielleicht aufgrund seiner etwas korpulenteren Statur nicht gewöhnt, anstrengende Arbeiten zu verrichten, deshalb mied er diese so weit er konnte. Wenn Einkäufe ins Haus getragen werden mussten oder Möbel in den Möbelwagen, fühlte sich Albert in der Regel nicht für zuständig, sondern überließ das Anna. Schon bald hatte er deshalb bei der Familie den Ruf eines „Faulpelzes“ weg. Anna versuchte, dies immer schön zu reden, dass ihr das gar nichts ausmache und Albert dafür eben andere Gaben habe. Es dauerte lange bis ich einsah, dass Albert einfach innerlich gehandicapt war, d.h. es war nicht so dass er nicht arbeiten wollte, sondern er konnte nicht. Kein Wunder dass er deshalb jede Beschäftigung schon nach kurzer Zeit wieder verlor. Selbstverständlich lag das immer an den anderen, aber nie an ihm. Ebenso waren natürlich immer die Vermieter allein daran schuld, wenn Albert und Anna mal wieder wegen Lärmbelästigungen oder ähnlicher Unerträglichkeiten eine neue Wohnung suchten. In den letzten 20 Jahren sind die beiden schätzungsweise schon 6 oder 7 mal umgezogen, und jedes Mal endete ihr Mietverhältnis im Streit.
Der Beginn meiner Selbständigkeit
Am 01.08.1998 meldete ich in Neustadt am Rübenberge mein Gewerbe als selbständiger Malermeister an. Es war wirklich ein Sprung ins kalte Wasser, denn ich hatte zwar auf der Meisterschule alle möglichen, seltenen Maltechniken erlernt, die ich später so gut wie nie mehr anwenden konnte, aber die einfachsten Dinge hatte man mir nicht erklärt, z.B. woher ich eigentlich Material bekomme und wo ich meinen Müll entsorgen könnte. Meine größte Sorge war jedoch zunächst einmal, wie ich überhaupt Kunden gewinnen konnte, denn ich war ja noch vollkommen unbekannt in Neustadt am Rübenberge, so dass ich noch nicht von Mund-zu-Mund-Propaganda profitieren konnte. Erschwerend war noch, dass sich sehr viele Meisterschüler aus Garbsen im Raum Neustadt niedergelassen hatten, so dass es wohl die scheinbar größte Dichte an Malerbetrieben aus ganz Deutschland dort gab. Auch einer der größten Malereibetriebe Deutschlands hatte in Neustadt am Rübenberge ihren Stammsitz mit über 400 Mitarbeitern und eines Bestehens von über 150 Jahren. Wie also sollte eine neu gegründete Firma bei so viel Konkurrenz überhaupt Fuß fassen können?!
Ich versuchte es zunächst mit einer Annonce in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Es meldeten sich gerade einmal nur zwei Interessenten, von denen mir immerhin eine auch einen Auftrag erteilte. Dann kam mir die Idee, einen Werbeflyer zu verteilen, auf dem ich jedem Kunden einen Rabatt von 30 % anbot und einige meiner Leistungen schon konkret benannte mit ihren jeweiligen Einheitspreisen, z.B. „Fassade grundieren und zweimal streichen mit hochwertiger Reinacrylatfarbe: statt 20,-DM/m² nur noch 13,50 DM/m²“ oder „Fenster schleifen und zweimal lackieren mit Lack oder Lasur: statt 18,-DM/m² nur noch 10,-DM/m²„. Da die meisten Malerbetriebe bei ihren Angeboten Einheitspreise verwenden (d.h. Preis pro m² oder m), hatten die Hausbesitzer nun die Möglichkeit zu vergleichen, und so dauerte es nicht lange, dass ich sehr viele Anfragen bekam, aus denen dann auch Aufträge wurden. Ich war einfach unschlagbar billig, und ich merkte es selber nicht einmal. Mein „Glück“ war, dass ich nicht kalkulieren konnte, da ich im Rechnen schon immer schlecht war, und so konnte ich – ohne mir dessen bewusst zu werden – viele Mitbewerber fernhalten, selbst wenn ich so gut wie nichts mehr am Auftrag verdient hatte. Für das Streichen einer Fassade über 1000,-DM zu bekommen, war für mich gefühlt eine Menge Geld, mit dem ich mich gern zufrieden gab, selbst wenn meine Konkurenten für das gleiche Haus über 2000,- DM angeboten hatten. In den ersten drei Monaten hatte ich einen Umsatz von insgesamt 14.265,- DM, was mich zuversichtlich stimmte, dass es nun endlich bergauf ginge. Davon kauften wir uns u.a. Flugtickets, um im Januar 1999 wieder nach Peru zu reisen, wenn es ohnehin kaum Arbeit geben würde. Diesmal wollte auch mein Vater Gregor mitkommen.
Doch schon nach ein paar Wochen litt ich unter der Einsamkeit und Langeweile, denn tagsüber gab es nun keinen Arbeitskollegen mehr, mit dem ich mich unterhalten konnte, so dass ein 8-Stunden-Tag mir unendlich lang vorkam. Da kam mir die Idee, mal meinen Bruder Marco zu fragen, ob er nicht Lust hatte, bei mir eine Umschulung zum Malergesellen zu machen, zumal seine selbständige Treppenhausreinigung auf Dauer auch nicht das Richtige für ihn sein konnte. Marcus fand die Idee gut, zumal auch er daran interessiert war, mit mir mehr Gemeinschaft haben zu können. Also machten Marco und ich einen Ausbildungsvertrag, und er wurde mein erster Mitarbeiter. Da er nach wie vor in Bremen wohnte, bedeutete dies für ihn, dass er nun zwei Jahre lang täglich zwischen Bremen und Neustadt pendeln musste mit dem Zug, eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Normalerweise dauert eine Ausbildung im Handwerk immer drei Jahre, aber Marco war ehrgeizig und wollte seine Ausbildung auf anderthalb Jahre verkürzen, zumal er sich aufgrund seines Alters den jungen Lehrlingen in der Berufsschule ohnehin überlegen sah. Um sich ausreichend praktische Erfahrung anzueignen, machte Marcus sich noch zusätzlich selbständig als Maler- und Lackierer als sog. „Reisegewerbe“ (eine Art „Lücke“ in der an sonsten strengen Handwerksordnung).
Oktober – Dezember 1998
Aller Anfang ist schwer
Am 07.10.1998 kaufte ich schließlich für mich und Ruth je ein Handy für 249,-DM/Stk. Handys wie das Siemens S6 waren damals noch über 15 cm groß und konnten nichts weiter als nur telefonieren. Es war das erste Handy überhaupt, das ich besaß, und ich war auch einer der ersten Kunden des gerade neu gegründeten Konzerns VIAG Interkom, der sich später O2 nannte. Ich konnte mir damals sogar unter 10 attraktiven Nummern noch eine aussuchen, die ich auch bis heute noch habe. Da es damals noch keine Pauschaltarife (Flatrates) gab, waren Handygespräche dermaßen teuer, dass man es nur in Notfällen gebrauchte. Obwohl das Post- und Fernmeldewesen bereits privatisiert war, waren aber auch sog. „Ferngespräche“ Ende der 90er Jahre noch sehr teuer. Ein Anruf von Neustadt nach Bremen kostete z.B. 0,50 DM/Minute, und nach Peru kostete eine Minute sogar 2,-DM. Wenn Ruth damals mit ihrer Familie in Peru telefonierte, dann stand ich daneben oft wie auf glühenden Kohlen, indem ich immer wieder mit dem Finger auf meine Armbanduhr schlug, um Ruth zum Auflegen zu bewegen. Unsere Telefonrechnungen beliefen sich jeden Monat auf bis zu 200,-DM im Monat, so dass wir trotz meiner Selbständigkeit einfach nicht aus den roten Zahlen herauskamen. So trug ich wieder jeden Morgen in der Frühe die Lokalzeitung aus und verteilte dabei zusätzlich meine Flyer, um neue Kunden zu gewinnen. Aufgrund meiner schlechten Rechenkünste, bot ich meinen Kunden die 50,-DM Stundenlohn nicht nur inkl. Lehrling an, sondern auch inkl. Materialkosten, so dass mein eigentlicher Stundenlohn als Meister sich gerade einmal nur bei etwa 35,-DM belief. Hinzu kam, dass ich mich bei der Addition meiner Preise in der Rechnung häufig zu meinen Ungunsten verrechnet haben muss, aber naturgemäß machten mich nur wenige Kunden ehrlicherweise darauf aufmerksam. Wenn das Arbeitsamt mir nicht die ersten 6 Monate immer ein sog. „Übergangsgeld“ in Höhe von 3.200,- DM gezahlt hätte, dann wäre ich schon nach wenigen Wochen zahlungsunfähig gewesen, zumal meine Gesamtkosten nahezu fast genauso hoch war wie mein Umsatz. Die Einnahmen zerronnen wie Wasser in unseren Händen, denn inzwischen musste ich neben der 250,- DM-Monatsrate für das Krankenhaus auch jeden Monat 600,- DM an meinen Vater zahlen, wegen all der Schulden, die ich bei ihm hatte. Auch Hans-Udo meldete sich nun, und wir vereinbarten 500,-DM monatlich, die ich zwei Jahre lang an den Verein zurückerstatten sollte.
Schon bald musste ich leider auch zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass nicht alle Kunden bereit sind, für eine erbrachte Leistung auch zu zahlen. So hatte mich eine Immobilienmaklerin gebeten, ihr ein Angebot zu machen, was es kosten würde, wenn ich die veralgte Fassade ihrer Garage reinigen, grundieren und streichen würde. Ich maß also die Fläche, errechnete den Preis und rief sie abends an, um ihr mein Angebot mündlich am Telefon zu sagen (472,60 DM brutto). Sie war damit einverstanden und erteilte mir den Aufrag. Doch nachdem ich alles erledigt und ihr die Rechnung zugeschickt hatte, erhielt ich kurz darauf ein Fax, in welchem sie behauptet hatte, dass sie mir noch gar keinen Auftrag erteilt habe und deshalb keine Veranlassung sehe, mir überhaupt die Rechnung zu bezahlen. Ich war aufgebracht vor Wut und setzte mich sofort an die Schreibmaschine, um ihr neben einer Mahnung mit Fristsetzung auch noch einen zwei-Seiten-langen Brief zu schreiben, in welchem ich ihr unmoralisches Verhalten in aller Schärfe rügte, wobei ich ihr „Charakterlosigkeit, Menschenverachtung und unersättliche Raffgier“ vorwarf. Bevor ich den Brief abschickte, machte ich eine Kopie und brachte diese bei einem Rechtsanwalt in der Nachbarschaft vorbei mit der Bitte, dass er doch meinen „Fall“ vertreten möge. Er las sich alles durch und fragte mich dann: „Haben Sie den Brief schon abgeschickt?“ – „Ja! warum?“ Er schüttelte den Kopf und sagte: „Warum haben Sie mich denn nicht gleich mit dem Fall betraut, bevor Sie solche Romane schreiben? Und wenn Sie Ihrer Kundin hier z.B. ’niederträchtiges Gebaren‘ oder ‚Raffgier‘ vorwerfen, dann müssen Sie aufpassen, dass diese Sie nicht wegen Beleidigung verklagt! Ich hoffe ja, dass das noch gut geht. Aber in Zukunft sollten Sie das Schreiben lieber dem Anwalt überlassen.“
Tatsächlich erfuhr ich dann 10 Tage später, dass der Anwalt der Kundin meinem Anwalt mitgeteilt hatte, dass seine Mandantin von einer Strafanzeige gegen mich wegen Beleidigung absehen würde, wenn ich im Gegenzug bereit sei, eine Zahlung von gerade einmal nur 150,-DM zu akzeptieren, was mir mein Anwalt dringend anriet, da ich sonst vorbestraft wäre. Ich ärgerte mich zwar, vor allem über meine eigene Dummheit, aber war natürlich damit einverstanden. Obwohl es sich um ein verhältnismäßig geringes „Lehrgeld“ handelte, konnte ich jedoch den Gedanken kaum ertragen, dass diese Kundin auf diese Weise nun einfach Kosten eingespart hatte. Auf legalem Wege konnte ich jedoch jetzt nichts weiter erreichen, deshalb nahm ich mir vor, mich zu einem späteren Zeitpunkt an ihr zu rächen. Als Christ hätte ich mich im Gebet von all diesen negativen Gefühlen der Kränkung und Demütigung von Gott befreien lassen können, aber als Ungläubiger war ich nun auf mich alleine geworfen und musste die Sache mit mir selbst ausmachen. Heute weiß ich, dass diese Ungerechtigkeit mir nur deshalb widerfahren ist, weil ich auch selbst Unrecht übte, indem ich auch selber Behörden und Institutionen Gelder vorenthielt, das ihnen von mir zustand. Ich komme später noch darauf zurück.
Im November 1998 erhielt ich u.a. dann einen Großauftrag, nämlich ein leer stehendes Haus von oben bis unten zu renovieren. Da aber das Haus aber in Bückeburg war, also etwa 60 km entfernt von Neustadt, beschlossen Marcus und ich, uns für eine Woche dort einzuquartieren, womit die Kundin auch einverstanden war. Meine Frau bat mich nur, dass wir auch unseren Papagei mitnehmen sollten, damit er tagsüber nicht so alleine sei. Um den Auftrag überhaupt schaffen zu können, nahmen Marcus und ich uns vor, 14 bis 16 Stunden am Tag zu arbeiten, denn was könnten wir sonst auch tun, ohne uns zu langweilen. Damals erfand ich für den Flur eine Technik, die ich auch später noch oft anwendete, indem ich die Wände mit Latexfarbe spachtelte, so dass sie spiegelglatt wurden. Beim Tapezieren der Räume mit Raufasertapete ist uns dann jedoch ein grober Fehler passiert: Die Kundin hatte nämlich alle Heizungen ausgestellt, so dass es nur etwa 12 oC an Temperatur hatte. Dadurch konnte der Kleister aber gar nicht richtig trocknen. Als wir dann die Decken strichen, fielen uns reihenweise die Tapeten von den Decken, da sie durch die Farbe zuviel Gewicht hatten und der Kleber sie nicht mehr hielt. Wir mussten also im Akkord Bahn für Bahn wieder nachkleben, so dass wir viel Zeit verloren. Am Ende mussten wir bis spät in die Frühe durcharbeiten, um noch rechtzeitig fertig zu werden. Die Nerven lagen inzwischen blank, so dass Marcus und ich oft an einander gerieten. Einmal rastete ich so aus, dass ich Marco einen Tritt in den Hintern verpasste. Daraufhin setzte er sich in das Auto und wollte nicht mehr arbeiten. Es war 4.00 Uhr nachts und ich bettelte ihn an, doch wieder ins Haus zu kommen, denn alleine würde ich es nie schaffen. Am Ende war die Kundin nicht mit unserer Arbeit zufrieden und gab uns statt der vereinbarten 6.000,- DM gerade nur die Hälfte. ich war trotzdem einverstanden, da die Arbeit tatsächlich eines Malers unwürdig war.
Mein Abschiedsbrief
In jener Zeit hörte ich immer häufiger die Musik der Gruppe Rammstein. Die harten und aggressiven Rythmen drückten genau jene Wut und jenen Frust aus, den ich damals empfand. Und dann gab es da noch eine Gothic-Band namens Therion, die düsteren Symphonic Metal spielte, deren satanischer Hintergrund mir zwar bewusst war, aber die ich dennoch leidenschaftlich gerne hörte. Jeder Metal-Fan weiß im Grunde genommen, dass diese Musik ihm hilft, seine unterdrückten Aggressionen abzubauen, indem er diesen durch das Hören hemmungslos „freien Lauf lassen“ kann, als würde er selber diese Musik spielen oder diese Texte singen. Es ist dieses Rauschgefühl von unbändiger, zügelloser Stärke, das den Hörer beflügelt und ihm die Unlustgefühle vergessen hilft. Psychiater sprechen gerne von „körpereigenen Drogen“ wie Endorphin, Serotonin oder Noradrenalin, die durch diese Hardrockmusik freigesetzt wird; aber durch diese „Botenstoffe“ wirkt ein luziferisches Bewusstsein im Menschen, das ihn antreibt zum Aufruhr und Empörung gegen alles Heilige. Satan wollte ja Gott gleich sein, und genauso fühlt sich auch ein von ihm inspirierter Mensch den anderen Mitgeschöpfen gegenüber haushoch überlegen. In Wirklichkeit aber wird er selbst von Satan betrogen, weil diese Rauschzustände – wie bei allen Drogen – nur von begrenzter Dauer wirken und ihn danach wieder frustriert und innerlich leer zurücklassen. In der Folge verlangt der Süchtige noch immer mehr Grenzüberschreitung, vergleichbar einem pubertierenden Jugendlichen, der austesten muss, wie weit er noch gehen kann. Dieser Trieb, mir immer neue Freiheiten herauszunehmen, wurde auch in mir damals (wieder)erweckt, so dass ich „es allen zeigen wollte“.
Mein Freund Bernd Fischer hatte sich bereits ein Jahr zuvor endgültig von mir verabschiedet, indem er mir einen letzten Brief sandte mit einem schwarzen Rand auf dem Umschlag, durch den man damals Trauerbriefe um einen Verstorbenen kennzeichnete. Für ihn war ich jetzt tot. Das tat mir zwar leid wegen unserer jahrelangen Freundschaft, aber ich konnte es nicht ändern, da sich ja bei mir eine Metamorphose vollzogen hatte. Es gab nun kein Zurück mehr. Es war nun die Zeit gekommen, dass auch ich mich noch ein letztes Mal an meine Brüder von früher wenden wollte in einem Abschiedsbrief. Ich machte mir keine Illusion, dass ich dadurch irgendjemanden hätte überzeugen können; mir ging es vielmehr darum, dass keiner glauben sollte, dass ich nur aus Schwachheit und Lauheit in die Welt zurückgekehrt sei, sondern dass ich „gute Gründe“ für meine Entscheidung hatte. Ähnlich wie Saul, der den Samuel nach seiner Verwerfung darum bat, doch wenigstens vor den Ältesten seines Volkes und vor Israel geehrt zu werden, so wollte auch ich gerne wenigstens noch mit erhobenem Haupt davongehen, indem alle erfahren sollten, warum ich kein Christ mehr sein konnte.
Mir kam dabei die Person des „Demas“ in den Sinn, von dem Paulus am Ende des zweiten Briefes an Timotheus beiläufig schrieb: „…denn Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat“ (2.Tim.4:10). Ich fragte mich, ob Demas diese Begründung wohl für sich hätte gelten lassen wollen. Da kam mir die Idee, einen fiktiven Antwortbrief an Paulus zu schreiben, indem ich mich als Demas ausgab, der seine Gründe für seinen Weggang ausführlich schildern wollte. Ich beschrieb darin all mein Leid, dass ich gerade in den letzten Jahren in meiner Beziehung zu Gott erlebt hatte, indem ich mir Gott als ein „Schreckgespenst in meinem Gewissen“ vorgestellt hatte. Dabei zitierte ich aus einem Buch von Tilmann Moser, der in seiner Jugend ähnliche Erfahrungen mit Gott machte: „Gott raubte mir so gründlich die Gewissheit, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit mir auszusöhnen, mich o.k. finden zu können. Mir graut es, wenn ich an die unzähligen Stunden im ‚Morgen-Grauen‘ denke, als ich nur noch flehen konnte: ‚Herr, verwirf mich nicht von deinem Angesicht.‘ Das Morgengrauen ist die Zeit der Hinrichtungen, des Selbsthasses und der Gottesheimsuchung… Ich saß wie in einer Falle: alle mir wichtigen Menschen zeigten keinerlei Zweifel, dass es Gott gebe und er ansprechbar, verständnisvoll, gütig, gerecht, ja sogar lieb und barmherzig sei, wenn auch mit dem Hintergrund düsterer Strafen, deren schlimmste natürlich der Liebesentzug sei, und es galt gleichzeitig als ausgemacht, dass bei dem, der Gott nicht erreichte, etwas Schlimmes vorliegen müsse. Das brachte mich in die Lage einer keuchenden und angstgejagten Ratte, die ihre Tretmühle in wachsender Panik immer schneller tritt… Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins an einen allgegenwärtigen Gott bewirkte eine lähmende Einschüchterung und Ohnmacht in mir und machte mich zu einem korrupten Schmeichler, der sich Gott immer wieder durch Lob und Dank anzubiedern suchte, um seine Gunst zu erlangen… Gott war für viele meiner Glaubensgeschwister für ganze Bereiche ihres seelischen Lebens der einzige Ansprechpartner. Seine erdrückende Wirklichkeit entstammt ihrer Isolierung, ihren Kontaktstörungen, ihrer Sprachlosigkeit anderen Menschen gegenüber. Sie beteten zu ihm und erzählten ihm abends ihren Tag, weil ihnen sonst niemand zugehört hätte. In ihrer Verzweiflung haben sie Gottes Antwortlosigkeit als unendliche Geduld und Wohlwollen gedeutet. Sie hätten ihr Elend auch ihrem Wellensittich zuflüstern können.“ (Tilmann Moser: Gottesvergiftung, Suhrkamp Taschenbuch, 1980).
Diesen „Brief des Demas“ aus dem fiktiven Jahr 63 n.Chr. schrieb ich während des 2. Halbjahrs 1998 und vervielfältigte ihn dann als Büchlein mit 23 Seiten, das ich dann an etwa 50 Glaubensgeschwister in Deutschland versandte. Alle meine Gefährten von früher sollten nun wissen, dass ich nicht mehr zu ihnen gehörte. Allerdings scheute ich mich davor, diesen Abschiedsbrief auch an Edgard und Hedi Böhnke zu verschicken. Denn nach wie vor besuchten wir sie ja regelmäßig wie unsere Großeltern, und ich hatte es bis dahin nie übers Herz gebracht, ihnen von meinem Glaubensabfall zu erzählen, weil sie es nie verstanden hätten. Da sie schon über 70 J. waren, wollte ich ihnen nach all dem Guten, das sie mir angetan hatten, keinen Kummer mehr bereiten, sondern sie bis zu ihrem Tod in Ahnungslosigkeit belassen. Doch ich hatte törichterweise nicht damit gerechnet, dass sie es schon kurz darauf von anderen erfahren sollten. Eines Abends rief ich Hedi an, um sie zu fragen, ob wir sie am Wochenende mal wieder besuchen kommen dürften. Doch Hedi wies mich ab und sagte: „Wir haben gehört, dass Du nicht mehr an unseren HErrn Jesus Christus glaubst. Die Geschwister Domrös haben uns ein Heftchen von Dir geschickt, und Edgard hat es gelesen. Seither ist Edgard tief getroffen und kann Nachts nicht mehr schlafen. Simon, Du hast dem Edgard das Herz gebrochen. Wir haben Dich immer geliebt wie einen Sohn. Aber jetzt gehst Du für immer verloren, wenn Gott Dir nicht noch einmal gnädig sein wird. Wir wollen nie mehr, dass Du zu uns kommst. Das könnten wir nicht ertragen. Du musst umkehren zum HErrn Jesus, Simon, sonst gibt es keine Hoffnung mehr für Dich!“