„Such, wer da will, ein ander Ziel“ Teil 1
Einleitung
Als es Gott gefiel, sich mir im Mai 2014 nach 18-jähriger Gefangenschaft im Atheismus von einem Moment zum anderen zu offenbaren, war es mir, als wäre ich geistig aus einem tiefen Schlaf erwacht. Mir wurde auf einmal klar, dass ich in den Jahren zuvor ein Sklavendasein geführt hatte in einer Art dämonischer Matrix, die alles darangesetzt hatte, mir den Zugang zur geistlichen Welt zu verwehren. Der HErr Jesus hatte mich noch gerade rechtzeitig wie einen Brandscheit aus dem Feuer gezogen. Denn da ich bereits einmal in meiner Jugendzeit Christ war und die Bibel kannte, war es besonders verwerflich, dass ich nach 12 Jahren Christusnachfolge vom Glauben abgefallen war und dann ein Leben in Sünde und Gottlosigkeit führte. Nach Hebr. 6:4-6 ist es normalerweise „unmöglich“, einen Abtrünnigen wieder zur Buße zu leiten, und in der Tat hatten es viele vergeblich versucht. Menschlich war es praktisch unmöglich, „aber bei Gott sind alle Dinge möglich“ (Mt.19:26). Wie jener Sohn im Gleichnis war ich tot gewesen und nun wieder lebendig geworden, verloren und wieder gefunden worden (Luk.15:24). Lob und Ehre sei unserem HErrn Jesus Christus, dass Er sich noch einmal meiner erbarmte und auch für meine Schuld am Kreuz von Golgatha starb und auferstand, damit ich Vergebung meiner Sünden und das ewige Leben geschenkt bekam! Jetzt kann ich nur beschämt bekennen: „Ich hatte gesündigt und das Rechte verkehrt, und Er hat mir nicht vergolten. Er hat meine Seele erlöst vor dem Abstieg in die Grube, und mein Leben darf das Licht schauen.“ (Hiob 33:27-28).
Als Mose seinem Schwiegervater berichtete, was er alles mit Gott erleben durfte, kam dieser zum Glauben an den wahren Gott: „Gepriesen sei der HErr, der euch gerettet hat … Nun habe auch ich erkannt, dass der HErr größer ist als alle Götter…“ (2.Mo.18:10-11). Zeugnisse können auch heute noch Menschen ansprechen und zum Nachdenken bewegen über Gottes Handeln. Aus meinem vorigen Leben hatte ich bereits in zwei Büchern erzählt: Im ersten Teil „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ berichte ich von meiner Jungendzeit als junger Christ, und wie ich dann Missionar in Südamerika wurde (1968-1994). Und im zweiten Teil „Einmal auf Gottes Schoß sitzen“ schildere ich die Umstände, wie ich 1996 meinen Glauben verlor und Gott ihn mir nach 18 Jahren wiedergab (1995-2014). In diesem dritten Teil möchte ich erzählen, wie der HErr mich seit meiner Umkehr geführt hat, welche Niederlagen und Siege ich bisher hatte im Glaubenskampf und welche ungewöhnlichen Erlebnisse und Begegnungen ich hatte mit skurrilen Gläubigen, die ich kennenlernen durfte. Wie bisher tue ich dies in Form einer Chronik, um dem Leser durch die Nennung von Monaten und Jahren eine Orientierung zu geben. Chronisten hat es ja schon immer gegeben, aber durch die Erzählung der eigenen Geschichte lernen wir Gottes Lektionen, und zwar auch (und gerade) durch Rückschläge und Enttäuschungen, die uns widerfahren. So wird sich der Leser sicherlich durch das ein oder andere Erlebnis selbst wiederfinden und vielleicht durch die nachträgliche Beschäftigung damit seine eigenen Rückschlüsse ziehen.
Als Jakob am Ende seines Lebens vom Pharao gefragt wurde, welche Bilanz er über seine bisherige Zeit auf Erden ziehen könne, musste Jakob demütig eingestehen: „Wenig und böse waren die Tage meiner Lebensjahre, und sie erreichen nicht die Tage der Lebensjahre meiner Väter in den Tagen ihrer Fremdlingschaft“ (1.Mo.47:9). Diese Feststellung überrascht, wenn man bedenkt, wie viel Jakob mit Gott erleben durfte und wie reich der HErr ihn am Ende gesegnet hat. Doch wenn wir an unser eigenes Leben denken, wird uns sofort bewusst, wie viel Lebenszeit wir zwar mit irgendwas verbracht aber nicht wirklich genutzt haben zur Ehre Gottes. Ebenso haben wir Menschen enttäuscht oder sind von anderen Gläubigen enttäuscht worden. Wie viele Ziele haben wir nicht erreicht, wie viele Projekte sind gescheitert und wie viele Anstrengungen waren am Ende vergeblich gewesen. „Das Krumme kann nicht gerade werden, und das Fehlende nicht gezählt werden“ (Pred.1:15). Als Gläubige sollte uns vor allem schmerzen, wie oft wir den HErrn betrübt und enttäuscht haben durch unsere Trägheit und Nachlässigkeit (Luk.24:25). „Du hast Mir zu schaffen gemacht mit deinen Sünden, du hast Mich ermüdet mit deinen Missetaten“ (Jes.43:24). Und deshalb sollten wir uns nicht über all die Personen beklagen, die uns enttäuscht und unsere Zeit gestohlen haben, sondern sollten uns lieber über unsere eigenen Versäumnisse dem HErrn gegenüber beklagen (Klag.3:40).
Trotzdem hinterlassen Christen, die uns schwer enttäuscht haben, Verletzungen in unserer Seele – gerade dann, wenn sie uns einmal viel bedeutet haben. Die Eingangsworte aus Psalm 55 beschreiben sicherlich auch den Schmerz, den der HErr Jesus empfand, als Er den Verrat von Judas Iskariot erlebte. Brüder, mit denen ich mich Woche für Woche traf, die ich immer wieder umarmt hatte, zeigten mir auf einmal die kalte Schulter und behandelten mich wie einen Aussätzigen. Diesen Schmerz der verratenen Bruderliebe konnte ich nur durch das tiefe Mitleid überwinden, wie ich es z.B. bei Jeremia las: „Wenn ihr aber nicht hört, dann wird meine Seele im Verborgenen weinen wegen eures Hochmuts; und tränen wird mein Auge und von Tränen rinnen, weil die Herde des HErrn gefangen weggeführt ist“ (Jer.13:17). Gerade in der heutigen Zeit des pharisäerischen Hochmuts all der Laodizea-Gemeinden sind Wut und Rachegefühle völlig fehl am Platz. Vielmehr sollten wir weinen über die Treulosigkeit und den Unglauben, so wie der HErr es tat (Joh.11:35). „Wasserbäche fließen aus meinen Augen, weil sie Dein Gesetz nicht halten“ (Ps.119:136).
Enttäuschungen sind unverzichtbar für unsere geistige Reifung, denn wir lernen dadurch, uns nicht immer wieder täuschen zu lassen. Ich selbst bin schon von Kindheit an ein sehr leichtgläubiger Mensch gewesen. Als ich z.B. als 6-Jähriger mit meiner Mutter durch den Bürgerpark ging, zeigte sie auf ein kleines Haus im Wald und erklärte mir, dass dort der Osterhase wohne. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, zumal ich ja auch selbst schon mal das regelmäßige Kommen des Osterhasen nachgewiesen hatte: Ich hatte ihm nämlich einmal in der Nacht vor Ostern eine Karotte auf den Teller gelegt, die am nächsten Tag angeknabbert war, und das war für mich Beweis genug. Die Welt war für mich schon immer voller bunter und glänzender Seifenblasen, denen ich fröhlich hinterherlief, bis sie auf einmal vor meiner Nase zerplatzten. Vielleicht waren es diese vielen Enttäuschungen durch andere, die bei mir im Lauf der Jahre bewirkt hatten, dass ich jedes Mal sehr empfindlich und rechthaberisch reagierte, wenn Christen mich oder andere täuschen wollten. Doch bei allen unerfüllt gebliebenen Erwartungen, die ich in Menschen hatte, kann ich rückblickend nur immer wieder feststellen, dass Gott mich nie ent-täuscht hat, auch wenn es manchmal zunächst den Anschein hatte, sondern immer treu und geduldig an meiner Charakter- Veränderung gewirkt hat. Alles machte am Ende immer einen Sinn, der mir am Anfang noch verborgen war. „Der Fels: Vollkommen ist sein Tun, ja, alle Seine Wege sind recht! Ein treuer Gott, der niemals täuscht, gerecht und gerade ist Er!“ (5.Mo.32:4)
Bremen, 07.05.2023 Simon Poppe
Januar – Juni 2015
Weissagen oder Wahrsagen
Nachdem meine Mutter am 14.01.2015 nach Hause gegangen war und wir sie auf dem schneebedeckten Friedhof von Huckelriede verabschiedet hatten, beschlossen meine Frau Ruth und ich, dass wir auch weiterhin in die Freie Evangelische Gemeinde Bremen (FeG) gehen wollten, die meine Mutter 17 Jahre zuvor mitgegründet hatte. Seit Jahren pflegten wir schon viele freundschaftliche Kontakte mit den Geschwistern dieser Gemeinde in Bremen-Walle. Nicht nur, dass wir bei uns im Wohnzimmer einmal wöchentlich einen Hauskreis mit einigen von ihnen abhielten, bei dem wir gemeinsam in der Bibel lasen und beteten, sondern die Gemeinde war ja zugleich auch der Vermieter meiner Werkstatt, die unterhalb des großen Gottesdienstsaales war, und die Ehefrau des Ältesten Richard war meine Bürokraft. Da die Gemeinde in den letzten Jahren immer größer geworden war, mieteten sie noch zusätzlich die Aula einer christlichen Grundschule in Bremen-Vahr an, um dort die Gottesdienste per Liveschaltung übertragen zu lassen.
Ende Januar erfuhren wir aus dem Radio, dass es einen Skandal gab in Bremen wegen einer Predigt, die der evangelische Pastor Olaf Latzel am 18.01.15 in seiner St.-Martini-Gemeinde gehalten hatte: In einer Predigt über Gideon hatte er die Vermischung der Christen mit anderen Religionen wie den Islam und den Buddhismus scharf kritisiert und wurde daraufhin von der Presse und den anderen Bremer Pastoren als „Hassprediger“ betitelt. Erst zwei Wochen zuvor geschah ja der islamistische Terroranschlag auf die Pariser Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, bei dem 12 Menschen getötet wurden. Deswegen wollte der Bremer Senat die Muslime in Deutschland nicht auch noch mit einer Kritik am Islam provozieren und debattierte deshalb in der Bürgerschaft über Maßnahmen gegen Latzel. Zu meiner Überraschung distanzierte sich auch die Evangelische Allianz in Bremen von der Ausdrucksweise des bibeltreuen Pastors, wodurch sie ihm quasi in den Rücken fielen, anstatt ihm den Rücken zu stärken.
Anfang Februar hatte mich mein Bruder Patrick dann auf eine Männerfreizeit seiner Gemeinde eingeladen in eine Tagungsstätte an der Nordsee. Da ich niemanden kannte, war ich zunächst etwas schüchtern, aber Patrick stellte mich allen mit seiner fröhlichen und einnehmenden Art vor, so dass ich mich schon bald angenommen fühlte. Der Prediger Ingo Bröckel gab mir dann auch Gelegenheit, ein Zeugnis zu geben, wie ich zunächst vor Jahren vom Glauben abgefallen und dann 18 Jahre später wie durch ein Wunder wieder vom HErrn zurückgebracht wurde zur Herde. Als wir dann beim Mittagessen waren, setzte sich Ingo neben mich und wir plauderten eine Weile. Als er mir erzählte, dass er zum Vorstand der Bremer Evangelischen Allianz gehöre, bekannte ich ihm, dass es mir ganz und gar nicht gefallen habe, dass sie sich von Pastor Latzels Kritik an der Religionsvermischung distanziert hätten. Ingo erklärte mir: „Es ging uns um das Zeugnis. Wenn ein Pastor in aller Öffentlichkeit sagt, dass das islamische Zuckerfest ‚Blödsinn‘ sei und Buddha ein ‚fetter Mann‘, dann bringt er damit auch uns Evangelikale in Misskredit“. – „Aber Johannes der Täufer nannte die Juden sogar ‚Otternbrut‘ und fügte hinzu: ‚Wer hat euch gewiesen, dem kommenden Zorn zu entfliehen?‘“ Da stand Ingo vom Tisch auf und sagte: „Na ja, Simon; wenn Du meinst, dass Du die Aufgabe hast, die Ungläubigen mit solchen Ausdrücken zu beschimpfen, dann mach es doch einfach!“ und ging dann weg. Offensichtlich wollte er nicht mit mir diskutieren.
Insgesamt schienen mir die Brüder dieser Gemeinde sehr oberflächlich und nur wenig gottesfürchtig. Einer las z.B. aus der sog. Volxbibel, ein anderer gab der Bedienung des Gasthofs aus Spaß einen Klaps auf den Po – wie es eigentlich nur Weltmenschen tun. Aber mein Bruder war voller Begeisterung über die gute Stimmung, die unter den Männern war. Einer von ihnen namens Stefan lud mich nach dem Wochenende zu einem Männer-Gebetskreis in die Gemeinde ein und bat mich, auch dort nochmal mein Zeugnis zu erzählen. Das tat ich dann auch, indem ich zum Schluss meine Liebe zu Gottes Wort bezeugte, das ich jeden Tag dreimal lesen würde, morgens, mittags und abends. Nach einigen Liedern und Gebeten, stand nun ein älterer Bruder auf und sagte: „Liebe Brüder, der HErr hat mich in einer Vision schauen lassen, dass in diesem Jahr 2015 in ganz besonderer Weise Ströme des Heiligen Geistes ausgehen werden, so dass es überall auf der Welt Erweckungen geben wird. Ich habe darüber auch mit einem Propheten in den USA gesprochen, und auch er hat mir bestätigt, dass die Propheten in den USA dasselbe bestätigt haben. Von daher ist es sicher.“
Ich war schwer beeindruckt und erinnerte mich an die Weissagung des Propheten Agabus in Apg.11:28, der eine Hungersnot vorhergesagt hatte. Ließe sich so eine Geistesausgießung eigentlich irgendwie überprüfen? Doch dann ging es auf einmal richtig zur Sache: Stefan, der mich eingeladen hatte, stand nun auf und geriet in eine Art Verzückung. Und dann ging er auf einen der sitzenden Brüder zu, fasste ihm auf die Schulter und sagte: „Ich sehe, wie du dich abmühst für mich, aber immer wieder versagst. Sei guten Mutes, mein Kind, denn ich sehe dein Herz und deinen guten Willen. Fürchte dich nicht.“ Dann brach plötzlich ein anderer Bruder spontan in einen Weinkrampf aus und bekannte vor uns allen, dass er noch immer nicht frei sei von leiblicher Befleckung und schon fast seinen Glauben verloren habe. Nun schritt Stefan zu ihm, legte ihm die Hand auf und sprach: „Auch du, Michael, fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir und werde dich nicht verlassen. Ich weiß um deine Schwachheit, aber ich vergebe dir.“ Schluchzend ergriff dann Michael die Hand von Stefan, als würde er die Hand Jesu ergreifen, und schmiegte sich an ihn. Dann stellte ein weiterer Bruder eine Frage zu seiner persönlichen Situation, und Stefan ging wie ein Medium zu ihm, um ihm mit ebenso sanften Worten zu „weissagen“.
Nachdem wir dann noch zusammen gebetet hatten, war die Stunde vorbei und alle standen auf. Während ich meine Jacke anzog, kam Stefan zu mir und fragte, ob es mir gefallen hätte. Ich sagte: „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass deine Weissagung echt war, denn du hast immer nur Zuspruch erteilt und kein einziges mahnendes Wort. Einen falschen Propheten erkennt man aber nach der Schrift daran, dass er die Übeltäter ermutigt und ihnen Frieden zuspricht, selbst wenn sie weiter ihren Herzenslüsten frönen. Der HErr sagte mal durch den Propheten Jeremia: ‚Hätten diese Propheten aber wirklich in meinem Rate gestanden, dann hätten sie mein Volk abgebracht von ihrem bösen Weg‘“. Stefan war bestürzt und erwiderte: „Ich find‘s gefährlich, wenn Du so urteilst; denn wenn der HErr eine Weissagung schenkt, darf man diese nicht infrage stellen.“ Ich entgegnete: „Es steht aber auch geschrieben, dass wir nicht jedem Geist glauben sollen, sondern die Geister prüfen müssen, ob sie aus Gott sind (1.Joh.4:1). Und wenn in einer Versammlung Propheten reden, dann sollen die übrigen Brüder es erstmal prüfen an Hand des Wortes, ob es glaubwürdig ist (1.Kor.14:29). Das hat aber keiner von den anderen getan, sondern es einfach für bare Münze angenommen. Das ist aber dann kein biblisches Weissagen mehr, sondern eher ein Wahrsagen. Deswegen will ich nicht mehr kommen.“
„Wo steht, dass Bekehrungen nach dem Tod nicht mehr möglich sind?“
Nachdem der HErr mich im Vorjahr wieder zur Buße geführt hatte, wollte ich unbedingt wieder den Kontakt aufnehmen mit jenen Brüdern, die ich damals so sehr enttäuscht hatte, besonders zu meinem Freund Bernd Fischer (75). Aber da inzwischen fast 20 Jahren vergangen waren, hatten die meisten schon andere Telefonnummern und wohnten auch nicht mehr an ihren damaligen Wohnorten. Ich bat den HErrn, dass ich doch irgendwie den Bernd wiederfinden möge, denn er war offensichtlich aus Eisenach weggezogen. Doch dann gab mir ein Bruder die neue Nummer von Bernd, und ich rief ihn sofort an. Bernd freute sich sehr, dass ich wieder umgekehrt sei zu Gott und bekannte, dass er in den letzten Jahren gar nicht mehr für mich gebetet hatte, da er glaubte, dass ich wohl die Lästerung des Geistes begangen hätte, die nach den Worten Jesu nicht vergeben werde.
Bernd war – nachdem der Kontakt zu mir 1996 abbrach – mit seiner Frau Brigitte nach Ludwigsstadt gezogen in Nordbayern, um seine Eltern bis zu deren Tod zu pflegen. Da mein Zwillingsbruder Marcus mich zu einer Bibelfreizeit im März ins Erzgebirge eingeladen hatte, verabredete ich mich mit Bernd, ihn auf der Hinreise mit Marcus besuchen zu kommen. Marcus stand zu jener Zeit noch immer in sehr enger Gemeinschaft mit Bruder Thomas Schaum, der meine Bekehrung anzweifelte und noch immer glaubte, dass ich mich nur zum Schein wieder als Christ ausgab, um die Gläubigen auszuspionieren. Marcus hatte inzwischen aber noch einen weiteren Prediger als großen Lehrmeister auserkoren namens Karl-Hermann Kauffmann, den er zusammen mit seiner Freundin Viola regelmäßig besuchte. Auf der Fahrt nach Ludwigsstadt erzählte mir Marcus, dass er der Viola, die schon 10 Jahre sehnsüchtig darauf gewartet hatte, nun endlich einen Heiratsantrag gemacht habe, nachdem er lange gezögert hatte, da sie an ihrer Zungenrede festhielt und auch nicht ihren Beruf als Sozialarbeiterin und ihren Wohnort in Hannover nach einer Hochzeit aufgeben wollte. Doch zu seiner Überraschung war es nun Viola, die sich noch nicht zu einer Ehe mit Marcus entschließen wollte und weitere Bedenkzeit erbat.
Als wir am Abend in Ludwigsstadt ankamen, lud uns Bernd zur Bibelstunde bei seinen leidblichen Schwestern in Lichtentanne ein. Wir lasen einen Text in 1.Kor.7 über das Thema Heiraten, und Bernd erklärte, dass eine von ihrem ungläubigen Mann Geschiedene nicht sklavisch an ihren ersten Mann gebunden sei. Ein Gläubiger sollte jedoch im Falle einer ungewollten Scheidung auch keine neue Frau suchen, sondern sich vom HErrn Kraft zur Ehelosigkeit erbitten. Wenn er aber in Versuchung gerät, in Hurerei zu fallen, sei es für ihn besser zu heiraten, wenn er einer ledigen Glaubensschwester begegnet, denn es steht ja geschrieben: „Wenn er aber doch heiratet, so sündigt er nicht…“ (1.Kor.7:28). Hier unterbrach ihn Marcus und brüllte laut: „DAS IST EINE IRRLEHRE!!! EIN GESCHIEDENER DARF SICH NIE WIEDER NEU VERHEIRATEN! DAS SAGT DIE BIBEL GANZ KLAR!“ Ich dachte in diesem Moment: Oh nein, wie respektlos redet Marcus hier zu dem alten Bruder! Aber Bernd ließ sich von der Schreierei gar nicht einschüchtern, sondern sagte mit ruhiger Stimme zu Marcus: „Nein, sondern Du hast einfach keine Ahnung.“ Damit die Situation nicht weiter eskalierte, bat ich Marcus um Mäßigung, damit Bernd doch mal seine Position von der Schrift her begründen möge. Bernd erklärte nun, dass der Vers 27 „bist du frei von einer Frau“ ungenau übersetzt sei, denn im Grundtext hieße es wörtlich: „bist du von einer Frau GELÖST WORDEN“, d.h. geschieden worden. Und erst dann mache auch Vers 28 Sinn, denn dass es keine Sünde sei, als Lediger eine Ledige zu heiraten, sei so selbstverständlich, dass Paulus dies hier nicht gemeint haben könne, sondern es gehe hier um einen Bruder, der gegen seinen Willen von seiner Frau geschieden wurde.
Am nächsten Tag gab uns Bernd noch mehrere Stunden lang einen ganz wertvollen Bibelunterricht, bei dem ich vieles Neue lernte und alles aufschrieb. Irgendwann kamen wir auf das Thema Allversöhnung zu sprechen, und ich bekannte dem Bernd, dass auch ich inzwischen die Allversöhnung als biblisch erkannt hätte, worüber er sich freute. Während Bernd weiter erklärte, kam mir auf einmal der Gedanke, dass Bernd wirklich der mit Abstand beste Bibellehrer ist, den ich je kennengelernt hatte und ich gut daran täte, wenn ich von nun an immer auf seinen Rat hören würde. In diesem Moment verband sich meine Seele mit ihm und ich erwählte ihn still und heimlich als meinen geistlichen Vater. Von nun an wollte ich ihn und seine Frau Brigitte regelmäßig besuchen kommen.
Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Neudorf ins Erzgebirge, wo die Bibelfreizeit stattfinden sollte. Da Marcus schon viele Male an solchen Tagungen teilgenommen hatte, kannte er schon sehr viele dieser Brüder und unterhielt sich sofort mit ihnen. Am ersten Abend gab es einen Vortrag von einem Bruder namens Rudolf Ebertshäuser über die endzeitlichen Verführungen der Christenheit. Der Bruder machte auf mich einen sehr kompetenten Eindruck, weshalb ich mich am nächsten Tag beim Mittagessen ihm gegenübersetzte und mich vorstellte. Höflich stellte er mir Fragen zu meiner Geschichte, und ich erklärte ihm, wie es zu meinem Glaubensabfall kam und wie der HErr mich am Ende wieder zurückführte. Als ich ihm dann berichtete, dass ich jetzt an die Allversöhnung glaube, verzog er das Gesicht und rümpfte missbilligend die Nase. Ich hatte gehofft, dass er vielleicht noch Interesse hätte an meinen biblischen Begründungen, aber er und seine Frau standen plötzlich auf und gingen einfach weg.
Diese ablehnende Erfahrung machte ich von nun an immer wieder auf der Freizeit: Jedes Mal, wenn ich Zeugnis gab von meiner Vergangenheit und wie der HErr mir noch einmal gnädig war, freuten sich die Geschwister; aber sobald ich dann hinzufügte, dass diese Rückbekehrung auch etwas mit der Allversöhnung zu tun hatte, durch die Gott mir die Augen öffnete für Seinen Heilsplan, reagierten die Geschwister irritiert und bestürzt, da sie diese beiden Dinge einfach nicht zusammenbringen konnten. Ich aber dachte, meine Brüder würden verstehen, dass Gott auch die Ungläubigen nicht endgültig abgeschrieben habe, sondern dass auch ihnen eines fernen Tages die Rettung durch den HErrn Jesus zuteilwerden solle. Sie aber verstanden es nicht und wollten es scheinbar auch nicht verstehen. Ein gewisser Tobias wiederholte immer nur gebetsmühlenartig, dass die Allversöhnung eine Irrlehre sei, über die man nicht diskutieren dürfe. Doch dann kam Bruder Lothar Gassmann mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu und bot mir die Möglichkeit zu einer spontanen Debatte über die Allversöhnung an, bei der etwa 15 Geschwister zuhörten. Zum Einstieg stellte ich dem Bruder Lothar die Frage: „Wo steht in der Bibel, dass eine Bekehrung nach dem Tod nicht mehr möglich ist?“ Eine ganze Weile verging, ohne dass dem Lothar eine Bibelstelle einfiel. Tobias wollte ihm zu Hilfe kommen und sagte: „Es ist dem Menschen gesetzt einmal zu sterben, danach aber das Gericht – Hebr.10:28“. Ich entgegnete: „Diese Stelle beantwortet aber nicht die Frage, denn laut 1.Petr.4:6 können Tote gerichtet und trotzdem gerettet werden.“
Nun meldete sich Lothar mit einer Gegenfrage zu Wort: „Wo steht denn in der Bibel, dass man auch nach dem Tod noch gerettet werden kann?“ – „Da gibt es sehr viele Stellen, die kaum Beachtung finden. Zum Beispiel Psalm 136: Die Güte Gottes währt ewiglich. Oder Psalm 34: Gott errettet, die zerbrochenen Herzens und zerschlagenen Geistes sind.“ – „Ja, hier auf der Erde!“ riefen alle zugleich. „Das steht da aber nicht!“ entgegnete ich. „Außerdem: wenn Gott nach dem Tod nicht mehr gütig wäre, würde Seine Güte nicht ewig wären. Und wenn Menschen im Feuersee weinen und mit den Zähnen knirschen, sind dies Zeichen eines reuevollen Zerbruchs, der sie für die Errettung bereit macht.“ Nun mischte sich Tobias wieder ein: „Und was ist mit Offenbarung 21:8, wo es heißt, dass das Teil der Sünder am Ende im Feuersee sein wird? Das steht hier am Ende der Bibel, und danach kommt nichts weiter – von wegen Buße und Errettung aus dem Feuersee!“ – „Die Bibel ist nicht immer chronologisch geschrieben, sondern man muss die Aussagen im Alten und Neuen Testament auf einer prophetischen Zeitlinie richtig einordnen. Das letzte Ereignis der Weltzeit ist 1.Kor.15:28, wo es heißt, dass am Ende der Zeit alles dem Christus unterstellt sein wird und sich danach auch Christus selbst dem Vater unterstellt, damit Gott dann ‚alles in ALLEN‘ sein wird. Das ist aber nur möglich, wenn dann alle errettet sind.“ Wir sprachen dann noch eine ganze Weile über das Wort AeION, das eigentlich nicht „Ewigkeit“ sondern nur „Zeitalter“ bedeuten kann, da in 1.Kor.10:11 und Hebr.10:26 von einem „Ende der Äonen“ die Rede ist. Dann gab ich noch ein Zeugnis von meiner Vergangenheit, dass ich schon einmal wegen dieser Frage meinen Glauben verloren hatte. Dies bestürzte einige und führte sie dazu, nicht mehr auf mich einzureden – wohl um mich nicht noch einmal in Anfechtung zu bringen.
Auf der Rückfahrt im Auto erklärte ich Marcus, dass unser Prediger Marco das allegorische Auslegen von Bibelstellen grundsätzlich ablehne, obwohl Paulus doch selbst diese Methode immer wieder anwendete, z.B. in Gal.4:21-31. Marcus wusste nicht so recht, was ich meinte, weshalb ich ihm als Beispiel die Geschichte von Jakob und Esau nannte: „So wie Jakob sich durch das Schaffell unerkannt seinem Vater Isaak nahen konnte, so können auch wir uns heute dem himmlischen Vater nahen, weil wir mit der Gerechtigkeit Jesu bekleidet sind“. Das leuchtete Marcus ein, und ich machte den Vorschlag, mal gemeinsam eine plausible Auslegung zu finden für die Frage, die Rahel an den Engel stellte, was es mit ihren Schmerzen im Bauch auf sich habe. Marcus überlegte und hatte plötzlich eine ganz wunderbare Auslegung: „Esau ist ein Bild auf das Fleisch und Jakob ein Bild auf den Geist. Der Kampf in ihrem Bauch stellt symbolisch unseren Kampf im Innern zwischen dem Geist und dem Fleisch dar.“ – „Ja, genau! Und deshalb sagt der Engel auch zu Rahel, dass der Ältere dem Jüngeren dienen soll, also das Fleisch vom Geist beherrscht werde!“
„Simon, such dir bitte eine andere Gemeinde!“
Marcus hatte mich zu seinem Hauskreis eingeladen bei Bruder Jens in der Neustadt. Dort lernte ich einen Bruder namens Lars kennen, der ein wenig Hebräisch konnte. Lars erzählte, dass er gerade kostenlos einen Hebräischkurs für Gläubige begonnen hätte und lud mich ein, daran teilzunehmen, was ich gerne annahm. Zugleich hatte ich zusammen mit einem Bruder Günther begonnen, regelmäßig jeden Samstag von 14:00 bis 16:00 Uhr in der Innenstadt von Bremen das Evangelium zu predigen und Traktate zu verteilen. Als ich meinem Seelsorgerbruder Richard davon berichtete, war er zu meiner Überraschung gar nicht begeistert davon: „Das Predigen auf der Straße schreckt die Leute nur ab, weil sie dich für einen Verrückten halten. Und wenn Du die Leute dann auch noch in unsere FeG einlädst, ist das noch schlimmer, weil das dann auf uns zurückfällt. Wir evangelisieren schon seit 30 Jahren nicht mehr auf der Straße, weil es heute viel bessere Methoden gibt.“ – „Und die wären?“ fragte ich. „Wir nehmen z.B. als Gemeinde regelmäßig an Stadtteilfesten teil mit einer eigenen Bühne, machen Musik und Sketsche, um die Leute anzulocken; und dann laden wir sie bei Kaffee und Kuchen in unsere Gemeinde ein.“ – „Und die Leute brauchen gar keine Buße mehr tun?“ – „Das kann ja später immer noch kommen. Aber wir sagen heute auch nicht mehr ‚Buße‘, denn das versteht keiner mehr. Die würden denken: ‚Wieso? – habe ich etwa ein Bußgeld nicht bezahlt?‘ Du musst dich einfach mal mit moderner Missiologie beschäftigen.“
Richard und Marco hatten schon öfter mit mir geschimpft, weil sie meine biblischen Überzeugungen über das Kopftuch und das Reden von Frauen in der Gemeinde nicht teilten. Als ich nach einem Gottesdienst einmal vor mehreren Geschwistern laut erklärte, dass das Fernsehen aus meiner Sicht ein Götzendienst sei, mahnte mich Marco, dass ich diese Meinung nicht mehr laut sagen dürfe, da es die neuen Geschwister irritiere. Als ich dann einer Muslimin in der Gemeinde erklärte, dass Mohammed ein 9-jähriges Mädchen missbrauchte, bekam ich schon wieder Ärger. Selbst ein evangelistisches Schild durfte ich nicht mehr in das Fenster meiner Werkstatt stellen, weil die FeG als mein Vermieter das nicht wünschte. Am Ostersonntag begrüßte unser Prediger Marco die Gemeinde dann zu Beginn des Gottesdienstes lächelnd mit „Frohe Ostern!“ Daraufhin schrieb ich ihm eine SMS, dass „Ostern“ ein heidnisches Fest sei. Marco schrieb mir zurück: „Simon, such dir bitte eine andere Gemeinde!“
Nach einer Aussprache mit Marco, gelobte ich, mehr Rücksicht zu nehmen, aber Marco blieb skeptisch. Seltsamerweise hatte er kein Problem damit, dass ich an die Allversöhnung glaubte, sondern störte sich nur an meinem „Fanatismus“ und meiner Besserwisserei. Er fragte: „Was willst du eigentlich in meiner Gemeinde?! Ich kann dir ohnehin nichts mehr beibringen, habe aber den Eindruck, dass du dich mit deinen konservativen Ansichten in einer Brüdergemeinde viel wohler fühlen würdest. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dich in meiner Gemeinde glücklich fühlst!“ Ich sagte: „Gott hat mich hier her gestellt, und nach meinem Schriftverständnis darf man sich nicht einfach die Gemeinde aussuchen, wie’s einem gefällt. Außerdem geht es ja auch nicht darum, dass nur du mir sondern auch ich dir ein Segen sein soll.“ Da musste Marco grinsen: „Da kann ich gerne drauf verzichten! Du hast eine ganz andere Hermeneutik als ich, d.h. wir verstehen die Bibel völlig unterschiedlich. Daher ist es für mich Zeitverschwendung, mit dir zu diskutieren. Such dir doch einfach eine andere Gemeinde!“ Am Ende einigten wir uns schließlich, dass ich zwar bleiben könne, jedoch nicht mehr in die Hauptgemeinde in der Utbremerstr. gehen solle, sondern mit meiner Familie in die neu gegründete Zweigstelle in der Otto-Braun-Str., wo der Bruder Henry sich mit etwa 20 anderen sonntags trifft.
Obwohl Henry 15 Jahre jünger war als ich, wurde er als „Ältester“ bezeichnet, aber das störte mich nicht. Was mir jedoch missfiel, war, dass Henry nicht predigte, sondern es jeden Sonntag immer eine Live-Schaltung gab zur Hauptgemeinde, die wir uns auf einem großen Bildschirm angucken sollten. Was soll das denn?! fragte ich mich. Da kann ich mir ja auch genauso gut eine Predigt im Internet anschauen. Als dann an einem Sonntag auf einmal die Live-Schaltung auch nach mehreren Versuchen nicht funktionierte, ging Henry ans Mikrophon und sagte: „Sorry, ihr Lieben, aber heute muss der Gottesdienst leider ausfallen, weil wir leider keinen Empfang kriegen.“ Spontan stand ich auf und sagte: „Ja, na und? Hier sind doch wirklich genug Brüder, die an Marcos Stelle ein Wort der Erbauung bringen können! Was für ein Armutszeugnis ist das, wenn wir alle nur auf Marco angewiesen wären!“ Henry hatte sich schon wieder gesetzt und sagte: „Wenn du das meinst, dann teile du doch selbst ein Wort mit uns.“ Mittlerweile diskutierten jedoch die Geschwister schon alle zu zweit oder zu dritt untereinander, als hätten sie sich damit abgefunden, dass kein Gottesdienst mehr stattfinde. Also nutzte ich die Gelegenheit und sprach mit etwas fünf umhersitzenden Geschwistern über die biblische Prophetie.
Anfang Mai erklärte auf einmal Bruder Martin (32) und seine Frau Heidi (29), die immer zu uns in den Hauskreis kamen, dass Heidi sich von Martin scheiden lassen wolle. Alle redeten auf Heidi ein, aber sie hatte sich fest entschieden und wollte sich nicht mehr umstimmen lassen. Martin war völlig am Boden zerstört, zumal Heidi auch gar keinen Grund nannte. Dies war nicht der erste Scheidungsfall in der FeG, denn einige Zeit vorher hatte sich schon einmal eine junge Frau von ihrem Mann getrennt, wobei sie sogar eine leitende Funktion in der Gemeinde inne hatte. Makaber war auch, dass die beiden auch weiterhin in die Gemeinde kamen, aber offenbar keinerlei Eheberatungs-Gespräche stattfanden, um die beiden wieder miteinander zu versöhnen. Die Frau hätte eigentlich auch sofort ihr Amt verlieren müssen, aber niemand stellte diese Forderung auf, um ihr nicht zu nahe zu treten. Heidi hingegen war insofern konsequent, dass sie fortan nicht mehr zu uns in den Hauskreis kam, – wohl auch deshalb, weil sie sich schämte. Ich wiederum fragte mich, ob ich nicht tatsächlich lieber in eine andere Gemeinde gehen sollte, wo nicht so viel Sünde toleriert werde. Aber Bruder Bernd riet mir, solange wie möglich in dieser Gemeinde zu bleiben, um von innen positiv auf die Geschwister einzuwirken.
Hat das Gesetz Mose noch Gültigkeit?
Durch den Bruder Lars erfuhr ich von einer sog. „Messianischen Gemeinde“ in Sottrum, wo es einen ukrainischen Bruder namens Asarja gäbe, durch den Lars damals Hebräisch gelernt hatte. Das machte uns neugierig, und so fuhren wir dort hin, um uns diese mal anzuschauen. Sie versammelten sich samstags nachmittags in einer evangelischen Gemeinde. Allerdings erinnerte nichts bei ihnen an einen christlichen Gottesdienst: die Lieder wurden auf Hebräisch gesungen, teilweise waren sie auch jüdisch gekleidet. Es wurden drei Kapitel aus der Tora gelesen (2.Mo.21-23) und anschließend darüber gepredigt. Nach Gebet und Gesang wurde zum Schluss auch noch mit allen Gläubigen ein folklorischer Reigen getanzt. Nach dem Gottesdienst setzten wir uns zum Gespräch zusammen. Ich fragte sie, wie sie zum Glauben an den HErrn Jesus gefunden haben. Ein leitender Bruder namens Samuel Spitzer erklärte, dass er mit seiner Familie in einer Pfingstgemeinde aufgewachsen sei, was mich etwas stutzig machte. Er habe dann die Predigten eines US-Predigers namens Jim Staley gehört, die ihn überzeugt hätten, dass das Gesetz Mose noch immer gültig sei und wir Nachfahren Abrahams seien. „Also bist du gar kein echter Jude?“ fragte ich. „Doch, natürlich. Aber ich wurde im christlichen Glauben erzogen, bis ich meine jüdischen Wurzeln entdeckte.“ Dann erklärte uns Bruder Asarja, dass er – wie die meisten von ihnen – keine Juden von Geburt seinen, sondern Christen, die nach dem Gesetz Mose leben wollten. Er sei damals aus der Ukraine nach Israel gereist und habe dann einfach so die israelische Staatsbürgerschaft bekommen, weil man davon ausging, dass er Jude sei. „Sie haben es nicht kontrolliert, weil jeder Ukrainer als Jude galt.“ Innerlich fühle er sich aber als aschkenasischer Jude.
„Wenn ihr nach dem Gesetz leben wollt, feiert Ihr dann auch die Feste des HErrn, z.B. das Laubhüttenfest?“ fragte ich. „Ja, natürlich.“ – „Aber warum opfert ihr dann nicht nach der Vorschrift, denn das gehört ja dazu?“ – „Weil der HErr Jesus bereits für uns gestorben ist als Lamm Gottes.“ – „Aber dann feiert ihr die Feste nicht vorschriftsgemäß, wie es in 3.Mo.23 steht. Außerdem könntet ihr ja auch die Erstlingsfrüchte der Ernte und auch Räucherwerk darbringen.“ – „Ja, aber wir haben ja keinen Räucheraltar und auch kein Heiligtum.“ – „Steinigt ihr dann auch Ehebrecher oder Sabbatbrecher?“ Sie lächelten: „Wir sind ja hier in einem säkularen Staat, wo die Tora nicht als Verfassung gilt. Daher dürfen wir das nicht.“ – „Ich finde, dass ihr aber ganz schön viele Abstriche macht. Dabei sagt Jakobus doch, dass jemand aller Gebote schuldig wird, wenn er auch nur eines gebrochen hat. Und Paulus sagt, dass alle, die unter dem Gesetz sind, unter dem Fluch stehen. Was sagt ihr dazu?“ – „Paulus wird oft falsch verstanden. Und Petrus erwähnt dies auch, dass viele seiner Briefe ‚schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Unbefestigten verdrehen zu ihrem eigenen Verderben‘ (2.Petr.3:16).“ – „Das ist aber recht willkürlich, wenn ihr dies einfach auf das Gesetz bezieht, denn aus dem Zusammenhang geht das nicht hervor.“ – „Paulus sagt aber an vielen Stellen, dass es Gott um ‚das Halten der Gebote‘ geht (1.Kor.7:19). Wenn wir Gott lieben, dann sollen wir auch ‚Seine Gebote halten, und Seine Gebote sind nicht schwer‘, heißt es in 1.Joh.5:3. Und dort heißt es zuvor, dass ‚die Sünde die Gesetzlosigkeit ist, d.h. erst durch das Gesetz kann überhaupt erst definiert werden, was Sünde ist“ erklärten sie mir. – „Aber Paulus sagt auch, dass das Gesetz nicht für Gerechte bestimmt ist, sondern für Gesetzlose, um sie von ihrer Schuld zu überführen (1.Tim.1:9). Für uns im Neuen Bund gelten die Gebote des Alten Bundes nicht mehr, weil wir mit Christus dem Gesetz gestorben sind (Röm.7:4).“ – „Ach was, der HErr Jesus sagt doch, dass wir noch nicht einmal ein geringes Gebot auflösen dürfen, sondern wir sollen sie ‚tun und lehren‘ (Mat.5:19).“ – „Aber ihr tut sie ja gar nicht vollständig, sondern pickt euch nur ein paar Gebote heraus, die einfach sind. Seid ihr eigentlich beschnitten?“ Einer von ihnen antwortete: „Da ich vor meiner Bekehrung noch nicht beschnitten war, brauch ich heute keine Beschneidung mehr (1.Kor.7:18). Aber meine Söhne werde ich demnächst beschneiden lassen.“ – Das schockierte mich. „Du weißt aber, dass jemand, der sich als Christ beschneiden lässt, aus der Gnade gefallen ist und dass Christus ihm dann nichts mehr nützen wird (Gal.5:2-4). Ich kann euch nur warnen, denn ihr spielt mit eurem Seelenheil!“
Durch die Argumentation von Samuel und Asarja wurde mir nun verständlich, warum diese Lehre von der Gesetzesbefolgung solch eine verführerische Anziehungskraft hat auf heutige Christen. Man will einerseits sich seines Heils sicherer fühlen, weil man Gott ja vermeintlich besser diene und kann sich andererseits über die gewöhnlichen Christen erheben, weil man sozusagen ein Christsein 2.0 führe, indem man noch ein paar Gebote aus dem Alten Testament halte. In den letzten Jahren war diese eigenwillige Frömmigkeit besonders durch das Internet beliebt geworden durch den sog. Endzeitreporter MCM oder durch Nature23. Aber Paulus warf solchen Christen im Galaterbrief vor, dass sie zwar im Geiste angefangen, aber dann eigenmächtig im Fleische weitergemacht hätten, da sie sich „bezaubern“ ließen (Gal.3:1.3). Der HErr Jesus und der Heilige Geist spielten bei ihnen scheinbar nur noch eine untergeordnete Rolle. Zwei Monate später erfuhr ich, dass ihr großes Idol, der Pastor Jim Staley, verhaftet wurde, weil er als Investmentbanker Kunden um mehrere Millionen Dollar betrogen hatte. Erst konnte ich das gar nicht glauben, aber weil Staley diesen Vorwurf nicht bestritt, musste es wohl zutreffen. Er wurde zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Der HErr Jesus warf den Pharisäern vor, dass sie „getünchte Gräber seien, die von außen zwar schön aussehen, aber von innen voller Totengebeine und Unreinheit sind“ (Mat.23:27).
Im Juni wurde ich auf einmal schwer geprüft vom HErrn. Nachdem wir bei einem jungen Ehepaar die Fassade gestrichen und die Fenster lackiert hatten, weigerten sie sich, meine Rechnung über 2.800,- Euro zu bezahlen, da angeblich beim Schleifen Staub auf ihre schwarzen Natursteinfliesen gefallen sei und sich die Fliesen in diesen Bereichen angeblich verfärbt hätten. Tatsächlich war die erste Reihe beim großen Terrassenfenster etwas ausgeblichen durch die Sonneneinwirkung, aber mit unserem Schleifen hatte das garantiert nichts zu tun, zumal wir den Fußboden abgedeckt hatten. Die Kundin, die gerade hochschwanger und entsprechend gereizt war, wollte sich aber nicht überzeugen lassen, sondern bestand darauf, dass ihr gesamter Fliesenfußboden im EG ausgetauscht werden müsse. Ich erklärte ihr, dass es gar nicht möglich sei, dass diese kaum sichtbare Aufhellung dieser Fliesenreihe von unserem Schleifstaub herrühren könne.
„Wie soll das denn möglich sein?“ fragte ich. Sie erklärte: „Die Fliesen sind zwar spiegelglatt, aber sie haben ganz feine Poren, die man nicht sieht, und durch diese ist der Staub eingedrungen.“ – „Wenn das stimmen würde, dann müsste man den Staub ja auch wieder aus den Poren raussaugen können.“ – „Nein, das haben wir schon versucht“ sagte sie, „der Staub sitzt so tief drinnen, dass man ihn nicht mehr rausbekommt.“ – Aber das ist doch völlig unlogisch!“ sagte ich. Aber dann kam mir eine Idee: „Wir machen das so: Ich werde an einer anderen Stelle absichtlich Schleifstaub auf eine Fliese tun, und dann lassen wir diesen eine Woche lang ‚einwirken‘ und schauen mal, ob die Fliese sich dann verfärbt hat.“ Sie musste sich notgedrungen auf dieses Experiment einlassen. Als ich nach einer Woche wieder vorbeikam, hatte sie den Staub wieder weggefegt, ohne dass die Fliese sich verfärbt hatte. „Ich kann doch nicht die ganze Woche den Staub so liegen lassen, denn was sollen denn unsere Besucher denken!“ Trotzdem bestand sie weiterhin darauf, mir wegen des angeblichen Austauschs der gesamten Fliesen 1.400,- Euro von meiner Rechnung abzuziehen.
Mir war klar, dass diese Kundin unverschämt war und vor Gericht nicht damit durchkommen würde. ‚Jetzt geht das schon wieder los!‘ dachte ich. Denn ich hatte mir ja seit meiner Bekehrung vor einem Jahr vorgenommen, nicht mehr mit Kunden vor Gericht zu gehen, sondern mich nach dem Gebot des HErrn in Mat.5:39-40 zu verhalten: „Widerstehet nicht dem Bösen, sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die linke hin und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel!“ So schrieb ich der Kundin einen Brief, dass ihre Forderung ungerechtfertigt sei, dass ich sie aber aufgrund meines Glaubens erfüllen würde. Danach zog der Friede Gottes in mein Herz und ich bereue diese Entscheidung bis heute nicht. Denn was sind schon 1.400,- Euro im Vergleich zur Seligkeit!