„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 12

„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 12


Juli bis September 1986

Auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz

Zu meiner Überraschung nahmen meine Eltern den Schulabbruch mit geradezu fatalistischem Gleichmut hin, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie selbst gerade so viele Probleme hatten und ebenso einer völlig ungewissen Zukunft entgegen gingen. Aber auch meine Mitschüler und Lehrer versuchten gar nicht erst, mich von meiner Entscheidung abzubringen, sondern interessierten sich praktisch gar nicht dafür. So bekam ich kurz vor Beginn der Sommerferien mein Abschlusszeugnis ausgehändigt und freute mich, dass ich in den Leistungsfächern Englisch und Kunst je 11 Punkte bekam (d.h. eine 2) und in Pädagogik sogar 14 Punkte (eine 1). Dennoch war mir bewusst, dass ich mit diesem Zeugnis praktisch nichts anfangen konnte, denn auch im Glauben gilt ja schließlich: Fast erreicht, ist doch verfehlt. Aber wenn man bei Gott reich werden will, dann kostet es im irdischen Leben nun einmal Opfer, – so wie Jim Eliott einmal schrieb: „Der ist kein Narr, der aufgibt, was er nicht behalten kann, damit er gewinnt, was er nicht verlieren kann.“ Mein Zwillingsbruder Marcus hatte inzwischen die Realschule geschafft und wollte als nächstes nun aufs Fachgymnasium. Während er also an mir vorbeizog und aufstieg, stieg ich freiwillig hinab. Dabei hatte ich noch keine Ahnung, wie tief hinab es karrieremäßig am Ende gehen sollte…

Am 07.07.86 war unser 18. Geburtstag, so dass Marcus und ich nun volljährig waren (aber was heißt das schon!). So weit ich mich erinnern kann, haben wir diesen Geburtstag noch nicht einmal gefeiert, da uns nicht danach zumute war. Für mich war jetzt nur noch mein Auszug aus der Hermann-Osterloh-Str. 83 wichtig, denn in diesem Haus wollte ich einfach nicht länger wohnen. Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, als wenn mein Elternhaus voller böser Geister war, denn es gelang mir noch nicht einmal, in Ruhe zu beten. Mitte Juli kamen Edgard und Hedi, um mich abzuholen. Ich weiß noch, wie wir im Wohnzimmer zusammen mit meiner Mutter zum Kaffee und Kuchen saßen und meine Mutter sich bei ihnen bedankte, dass sie sich bereit erklärt hatten, mich bei sich aufzunehmen. Hedi antwortete darauf: „Liebe Renate, der HErr Jesus hat uns verheißen: ‚Wer irgend ein solches Kindlein aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt Mich auf‘. Für uns ist es deshalb umso mehr eine Freude, dass wir den Simon bei uns aufnehmen dürfen. Er ist für uns ein Geschenk vom HErrn, denn wir haben uns schon immer einen eigenen Sohn gewünscht, und jetzt hat der HErr unser Gebet erhört!“ Meine Mutter und ich waren sehr gerührt von diesen Worten.

Als wir schließlich bei Böhnkes ankamen in die Angerburgerstr. 46 in Bremen-Blumenthal und ich mit meinem Koffer hinter Edgard die Treppe hoch in mein neues Zimmer ging, war ich sehr bewegt: Ich sah das Bett, in dem ich auch zuvor immer übernachtet hatte, den Schrank, den Tisch und Stuhl und ein Regal, auf dem zur Begrüßung ein Geschenk für mich lag, das ich mir von Herzen gewünscht hatte, und zwar eine vollständige Konkordanz zur Elberfelder Bibel, in welcher alle Worte der Bibel alphabetisch mit Angabe der jeweiligen Stelle aufgelistet sind, um schnell mal eben alle Stellen zu einem Wort zu finden. Sie war zwar in altdeutscher Frakturschrift, aber das störte mich nicht. Endlich konnte ich immer sofort eine passende Bibelstelle finden und brauchte nicht mehr lange suchen! Wie wichtig mir das war, konnte kaum ein Außenstehender erahnen. Aber mindestens genauso wichtig war mir diese Ruhe im Zimmer, dass ich jetzt endlich mein eigenes Reich ganz für mich allein haben durfte ohne jegliche Ablenkung. Es war ja wie die Betkammer in einem Kloster, wo es nichts gab, dass die Sinne reizen könnte außer der Bibel. Was für jeden anderen Jugendlichen vielleicht der reinste Horror gewesen wäre, war für mich das Paradies auf Erden, denn ich wollte ja auch gar nichts anderes. Hier war ich bei Geschwistern, die mich verstanden und mich so liebten, wie ich war. Und hier konnte ich wie die Kinder Israel in der Wüste mich ganz auf Gott und Sein Wort konzentrieren. Die Angerburgerstraße lag zudem direkt am Rande des 3000 ha großen Wifo-Waldes (30 km²), so dass man wunderschöne Spaziergänge machen konnte. Besser gings nicht.

Schon gleich am ersten Abend erklärten meine neuen Eltern mir die Hausregeln: Um 7:00 Uhr morgens ist gemeinsame Gebets- und Bibellesezeit, danach das Frühstück. Um 12:00 Uhr gibt es Mittagessen und danach lesen wir gemeinsam den Mittagstext. Vor und nach der gemeinsamen Bibellese sangen wir immer ein Loblied ohne Musikbegleitung und beteten auf den Knien. Abends nach dem Abendbrot ist um 19:00 Uhr wieder Bibelstunde, bei der auch immer andere Geschwister zu Gast sind aus der näheren Umgebung, z.B. die 82-jährige Amanda Krick, die genau gegenüber von uns wohnte, oder die Eheleute Hermann und Friedel Fröse (73 und 75) aus Schwanewede, sowie der Bruder Raimund Schmidt (32), der auch in Blumenthal wohnte bei seinen Eltern. Samstagnachmittags war dann jede Woche ein missionarischer Einsatz, bei dem Edgard und ich immer Traktate an die Briefkästen verteilen würden (ich hatte bereits an solchen Einsätzen teilgenommen). Und sonntags war dann um 10:00 Uhr Gottesdienst im Versammlungsraum, der hinter dem Haus im Anbau lag. Sonntagsabends fand früher dann immer das Abendmahl statt (weil man ein Abendmahl ja nicht morgens feiern kann); allerdings hatte Bruder Daniel inzwischen eine neue Erkenntnis gewonnen, dass wir nämlich keine echte Versammlung (Ekklesia) nach der Heiligen Schrift sind und deshalb auch nicht würdig seien, ein Abendmahl nach der Schrift zu feiern. Stattdessen lasen wir sonntagabends immer einen Text aus der Passionsgeschichte, und zwar der Reihenfolge nach aus Matthäus, Markus, Lukas, Johannes und dann Jesaja 53 und Psalm 22, um dann nach 6 Wochen wieder von vorne zu beginnen. Auf diese Weise wollten wir wenigstens uns an die Leiden und den Tod des HErrn Jesus erinnern.

Nachdem ich mich umgemeldet hatte, ging ich zunächst mal zum Arbeitsamt, um mich anzumelden. In der Berufsberatung fragte man mich, für welchen Beruf ich mich denn interessieren würde bzw., wo denn meine Stärken und Schwächen lägen. „Auf jeden Fall brauche ich einen Beruf im Büro, denn körperliche Arbeit liegt mir nicht so, glaube ich.“ – „Vielleicht wäre dann der Beruf des Bürokaufmanns etwas für Sie?“ fragte mich die Berufsberaterin. Ich war es noch gar nicht gewohnt, dass man mich auf einmal siezte: „Ja, Bürokaufmann, – das hört sich gut an.“ Prompt gab sie mir dann mehrere Ausbildungsangebote, wo ich mich bewerben solle. Ich schrieb daraufhin mehrere Bewerbungen, erhielt aber keine Reaktionen. Daraufhin bewarb ich mich auf Stellenangebote aus der Zeitung und wurde dann von der Reederei Dettmar zum ersten Vorstellungsgespräch eingeladen. Vielleicht hätte ich Edgard und Hedi nicht dazu mitnehmen dürfen, denn am Ende hieß es, dass sie „lieber ein Mädchen“ wollten. Dann kam eine Einladung der Firma Renault zu einem Ausbildungseignungstest. Denn Renault suchte gleich mehrere Auszubildende und wollte deshalb die Besten von insgesamt etwa 20 Kandidaten. Den ganzen Vormittag sollten wir verschiedene Zettel mit Matheaufgaben lösen, bei denen es u.a. um Schnelligkeit ging. Doch schon nach einer Stunde kam eine Frau zu mir und sagte: „Entschuldigen Sie, aber ich darf Sie bitten, schon jetzt zu gehen, denn nach Auswertung des ersten Aufgabenzettels haben wir herausgefunden, dass es mit Ihnen keinen Zweck hat, da Sie sowohl zu langsam sind, als auch zu viele Rechenfehler haben.“ – „Ja, in Kopfrechnen war ich noch nie wirklich gut. Aber wozu muss man denn Kopfrechnen können, wenn man doch im Büro arbeiten will?“ wollte ich wissen. „Sie hatten sich doch zum Kaufmann beworben, nicht wahr? Und ein Kaufmann muss selbstverständlich rechnen können. Was hatten Sie denn gedacht?“

Enttäuscht und irritiert fuhr ich wieder nach Haus. Außer Gemäldemalen konnte ich scheinbar wirklich nichts, aber wer konnte schon einen Kunstmaler gebrauchen? Ich rief meinen Vater an, um ihn zum Wochenende wieder nach Blumenthal einzuladen. Nebenbei erzählte ich ihm von meiner Suche nach einem Ausbildungsplatz. „Werde doch wie ich Krankenpfleger, denn dann hast Du immer einen Beruf mit viel Abwechslung, und vor allem bist Du dann unkündbar!“ – „Ja, das ist wirklich eine gute Idee. Dazu hätte ich richtig Lust“ sagte ich. Mein Vater war total begeistert: „Ich würde Dich dann immer unterstützen können bei den Prüfungen und Du könntest hier bei mir im Zentralkrankenhaus Bremen-Ost arbeiten. Ich könnte da für Dich auch ein gutes Wort einlegen bei der Stationsleitung.“ – „Ja, ich bin sicher, dass das der richtige Beruf für mich ist. Ich spüre das auch richtig, dass die Krankenpflege genau meine Berufung ist von Gott. Vor allem kann man dann Menschen dienen und sie pflegen. Etwas besseres gibt’s doch gar nicht!“ Mein Vater war hoch erfreut. Sofort ging ich zu Edgard und Hedi und erzählte ihnen von meiner Idee. „Nein, Simon, die Krankenpflege ist ganz und gar nicht das Richtige für ein Kind Gottes. Das macht ja Bruder Wilfried, und er hat uns erzählt, dass man dabei leider ständig nackte Menschen sehen muss. Das geziemt sich nicht für einen Gläubigen. Außerdem hättest Du dann auch oftmals am Herrentag Frühschicht und könntest dann nicht zur Versammlung kommen. Das geht wirklich nicht!“ Ich war sehr enttäuscht über die Worte von Edgard, aber ich musste zugeben, dass er recht hatte. Als mein Vater dann am Wochenende kam, gingen dann im Wifo-Wald spazieren. Als ich ihm mitteilte, dass ich nun doch nicht Krankenpfleger werden konnte, warf mein Vater auf einmal sein dickes Schlüsselbund auf den Boden und rief einen Fluch aus. „Die immer mit ihren Bedenken!“ Er konnte nicht verstehen, warum ich ihnen gegenüber so hörig war.

Ich musste also weiter nach Ausbildungsplatzangeboten suchen. Aber so viele gab es gar nicht in den 80ern, und wenn ich mal was fand, hatten die Geschwister sofort immer einen neuen Einwand. „Hier wird eine Ausbildung bei der Post angeboten!“ rief ich beim Zeitungdurchstöbern. „Da kann ich dann ja beim Postausteilen auch immer gleich ein Traktat verteilen!“ – „Ja, aber Du musst dann auch ganz unanständige Post verteilen, was Du gar nicht mit Deinem Gewissen vereinbaren kannst!“ wandte Raimund ein. „Ja, stimmt auch wieder.“ An einem Sonntagmittag sprach mich ausgerechnet der herrschsüchtige Bruder Wilfried an: „Sag mal, Simon, ich habe gehört, dass Du schon seit vier Wochen einen Ausbildungsplatz suchst. Das kann doch eigentlich gar nicht so schwer sein. Vielleicht sollte ich und Gertrud Dir mal dabei helfen!“ – „Ach, das braucht Ihr eigentlich nicht. Ich finde schon was mit Gottes Hilfe.“ – Doch am Nachmittag rief mich Wilfried an: „Hier Simon, ich hab‘ was gefunden für Dich! Hol Dir mal ein Blatt Papier und einen Stift! Und zwar ist das hier eine Lehrstelle zum Konditor! Ruf doch am Montag da mal an unter der folgenden Nummer:…“ – „Ach nee, lass mal Bruder Wilfried. Ich glaube, der Konditor-Beruf ist nicht so das richtige für mich…“ – „Und wieso nicht?! Was spricht dagegen?“ – „Ich weiß nicht… z.B. müsste ich dann ja immer schon um 3:00 Uhr nachts anfangen…“ – „ACH SO!, JETZT VERSTEHE ICH! Du möchtest also immer schön AUSSCHLAFEN! Und so richtig ARBEITEN willst Du wahrscheinlich auch nicht, weil das so anstrengend ist! Hab‘ ich’s mir doch gleich gedacht! DAS ist also der Grund, warum Du bis jetzt noch nichts gefunden hast, weil der Herr immer irgendwelche Sonderwünsche hat!“ – „Nein, das stimmt nicht“ verteidigte ich mich. „Dann notier Dir bitte die Nummer und ruf da am Montag an!“

Seufzend ließ ich mir die Nummer von ihm geben und verabschiedete mich. Dann erzählte ich dem Edgard, von Wilfrieds aufdringlichem Einmischen in meine Angelegenheit und sein unerbetenes Arbeitsangebot. Edgard sagte: „Nein, Konditor ist auch nichts Richtiges für ein Kind Gottes. Denn da muss man ja zu Ostern immer irgendwelche Hasen und zu Weihnachten dann Engel und Weihnachtsmänner machen. Und wenn Du dann immer schon so früh aufstehen musst, könntest Du abends auch nicht an den Bibelstunden teilnehmen. Das ist also auch nicht das Richtige.“ Mit dieser guten Nachricht rief ich dann sofort Bruder Wilfried an und berichtete ihm, warum der Konditorberuf völlig unbiblisch sei. „Na gut, das akzeptiere ich!“ gestand mir Wilfried zu. „Aber ich werde nicht akzeptieren, wenn Du uns die nächsten Monaten weiter erzählen willst, dass Du nichts Anständiges findest. Du bist schließlich schon seit einem Monat bei den Böhnkes und gammelst nur rum, anstatt zu arbeiten! Das geht so nicht weiter!“ Ohne sich zu verabschieden knallte er den Hörer auf. Ich dachte nur: Was kann ich nur machen, damit Wilfried sich nicht ständig so sehr in mein Leben einmischt? Doch schon bald darauf erledigte sich das Problem von ganz alleine, denn Wilfried und Gertrud Dörner entschieden sich, nicht mehr zu kommen. Dem voran war eine erpresserische Forderung an Edgard ergangen, dass Edgard sich wegen Daniels Wiederheirats-Irrlehre unverzüglich von Daniel trennen müsse, da andernfalls Wilfried sich von Edgard trennen müsse. Edgard wollte natürlich lieber dem Daniel treu bleiben, und so ging Bruder Wilfried, so dass wir endlich unsere Ruhe hatten.


Zwei unerwartete Bekehrungen

An einem Abend saß ich mit Edgard und Hedi beisammen und erzählte ihnen aus meiner Vergangenheit. Unter anderem berichtete ich ihnen, dass ich mal ein Fahrrad gefunden hatte und dann vor einem Jahr wegen Diebstahl und Hehlerei angeklagt wurde, weil ich das Fahrrad statt zum Fundamt zu bringen einfach verkauft hatte. Edgard war entsetzt: „Das ist aber kein gutes Zeugnis gewesen für den HErrn Jesus! Da solltest Du Dich wirklich schämen. Hast Du Dich denn wenigstens entschuldigt bei dem Jungen und seiner Mutter?“ – „Ich hatte gar keine Gelegenheit mehr dazu, weil ich ja kurz darauf nach Amerika flog. Ehrlich gesagt habe ich den Jungen noch nie gesehen und auch zu seiner Mutter, der Besitzerin des Edeka-Ladens in Arbergen, habe ich seither nie mehr Kontakt gehabt.“ – „Das ist nicht in Ordnung vor Gott, Simon. Du solltest so schnell wie möglich zu ihr hinfahren und die Sache in Ordnung bringen.“ – „Aber ich habe doch damals die 50,- DM wieder zurückgegeben“ entgegnete ich. Aber Edgard bestand darauf: „Ja, aber Du musst Dich auch noch bei ihnen entschuldigen!

Also machte ich mich auf die weite Reise von Blumenthal nach Arbergen, fast zwei Stunden mit Bus und Bahn, um meinen Fehler von damals wieder gutzumachen. Als ich schließlich ankam, ging ich in den Edeka-Laden hinein. Die Ladenbesitzerin Monika Schnelle (ca. 40), saß gerade an der Kasse und bediente Kunden. Als sie fertig war, teilte ich ihr mit, dass ich mal etwas Persönliches mit ihr besprechen müsste. Sie beauftragte daraufhin ihren Mann, die Kasse zu übernehmen und ging mit mir nach hinten in einen Personalraum. Wir setzten uns an einen Tisch und ich erzählte ihr, dass ich vor zwei Jahren das Fahrrad ihres Sohnes genommen und verkauft hätte, und dass ich mich deshalb bei ihr und ihrem Sohn entschuldigen wolle. Dann erzählte ich ihr, dass ich ein überzeugter Christ sei und dass es deshalb nicht recht war, mich so lange nicht bei ihr gemeldet zu haben. Dann fragte sie mich noch ein wenig wegen meines Glaubens und meiner Gemeindezugehörigkeit. Ich gab ihr bereitwillig Auskunft und wollte mich dann verabschieden. Zum Schluss fragte sie mich: „Geht es Dir denn jetzt besser?“ – „Ja,“ sagte ich. – „Na, denn ist ja gut.“ Und dann fuhr ich wieder zwei Stunden zurück nach Blumenthal.

Mitte September rief mich meine Mutter an und war ziemlich verbittert und aufgebracht: „Simon, Du hast Dich in den letzten zwei Monaten nicht ein einziges Mal bei uns gemeldet! Vielmehr bin ich immer diejenige, die Dich anruft. Du aber kommst nie auf die Idee, mich mal anzurufen und mich zu fragen, wie’s mir geht. Ich finde das nicht so schön!“ Ich versuchte, sie zu beruhigen: „Muddi, Du musst bedenken, dass Du es warst, die nicht mehr wollte, dass ich zuhause bleibe.“ – „Ja, aber Du bist inzwischen 18 und kannst mittlerweile auf eigenen Füßen stehen. Aber trotzdem kannst Du mich von Zeit zu Zeit doch auch mal anrufen!“ Ich überlegte, was ich erwidern konnte: „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich immer nicht, worüber wir reden könnten. Denn wenn ich Dir von meinem Glauben erzähle, dann langweilst Du Dich, und wenn Du mir von diesen Musikclowns Erwi und Alvi erzählst, dann langweile ich mich. Das Problem ist, dass Du kein echtes Interesse hast am HErrn Jesus, und ich habe kein Interesse an Deiner Welt. Deswegen sagte der HErr Jesus auch zu Seinen Jüngern: ‚Wer ist meine Mutter oder meine Geschwister? Die den Willen Gottes tun!‘ Aber Du willst den Willen Gottes ja nicht tun. Also, was soll ich machen?“ Meine Mutter fing an zu weinen und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Ich finde das ganz schlimm, was Du gerade sagst. Wie kannst Du nur so etwas sagen! Ich bin schließlich Deine Mutter, und ich werde immer Deine Mutter bleiben!“

Mir wurde auf einmal bewusst, dass ich zu hart zu ihr war. Aber war es nicht auch wichtig, dass ich ehrlich zu ihr bin? fragte ich mich. Immerhin betete ich jeden Tag für meine Familie, dass der HErr sie erretten möge, aber es tat sich gar nichts. Aber egal, was ich auch sagte, sie nahmen nie etwas von mir an. Doch zwei Wochen später geschah etwas völlig Unerwartetes: Meine Mutter rief mich an und teilte mir voller Begeisterung mit, dass sie jetzt auch gläubig geworden sei. Ich war sofort sehr skeptisch und wollte ihr kein Wort glauben. Doch dann erzählte sie mir, wie es dazu kam: Sie war eine Woche zuvor mit ihrer Freundin Jutta auf einem katholischen Seminar nach Damme gefahren übers Wochenende. Sie wusste nicht, um was es bei diesem Seminar ging und war deshalb ziemlich irritiert, als sich am Freitagabend ein Mann vorstellte, der Jude war und mit den Teilnehmern einen Meditationskurs machen wolle, der sich „Hinwendung zum Zen“ nannte. Sie fragte sich, was ein Jude denn in einer katholischen Einrichtung zu suchen hätte und warum er den Leuten den Buddhismus beibringen wolle. Sofort weigerte sich meine Mutter, bei den Übungen mitzumachen, aber sie versprach, wenigstens dabei zuzusehen. Am nächsten Tag sah sie, wie ihre Freundin mit den Teilnehmern in dem großen Raum auf dem Rücken lag und der Guru merkwürdige Anweisungen gab: „Wir atmen in die Erde ein … und jetzt atmen wir aus der Erde aus…“ Meine Mutter konnte das nicht länger ertragen und rief in die Runde: „Was hat dies alles noch mit dem Christentum zu tun? Das ist doch eher fernöstlicher Hokuspokus! Da will ich nicht mehr mitmachen. Ich werde jetzt gehen!“ Sofort begannen sämtliche Leute auf meine Mutter einzureden und sie doch zum Bleiben zu bewegen, aber meine Mutter verlangte, dass ihre Freundin sie wieder zurückbringen möge nach Bremen.

Wieder zurück in Bremen, war sie völlig verstört und hatte nur den einen Wunsch, dass sie endlich ihr Verhältnis zu Gott bereinigen und zu Ihm umkehren wolle. Da erinnerte sie sich auf einmal an die Mutter meines damaligen Schulfreundes Burkhardt Storm, bei dem ich als Kind immer gespielt hatte. Sie hatte sich damals mit der Mutter unterhalten und war seinerzeit irritiert von deren Aussage, sie habe Jesus gesehen und rede immer mit Ihm. Aus lauter Verzweiflung griff meine Mutter zum Telefonhörer und rief bei Familie Storm an. Man lud sie zu sich nach Hause, und schon am ersten Abend bekannte meine Mutter vor Gott im Gebet ihre Schuld übergab ihr Leben in die Hände Jesu. „Jetzt verstehe ich Dich auch, Simon, warum Du immer so distanziert zu uns warst, denn es macht ja wirklich einen Unterschied, ob man eine lebendige Beziehung zum Herrn Jesus hat oder nicht.“

Ich war immer noch misstrauisch und dachte, dass sich ja jetzt in den nächsten Monaten zeigen würde, ob das wirklich schon eine echte Bekehrung war oder nicht. Doch schon bald darauf erfuhr ich von meiner Mutter die nächste Sensation: Sie erzählte, dass eine Nachbarin der Storms vor kurzem Interesse bekundet habe am christlichen Glauben, und zwar jene Monika Schnelle, die nur 200 Meter von Familie Storm entfernt wohnt. Sie hatte im Hauskreis von meinem Besuch erzählt und auch, dass ihr Mann vor einiger Zeit die Diagnose Krebs erhalten habe, weshalb sie sehr verzweifelt sei. Auch Frau Schnelle war nun bereit, Christin zu werden und sprach mit dem Hauskreisleiter Willi Storm ein Übergabegebet. Da war ich wirklich sehr überrascht und fragte mich, ob Gott vielleicht auch mein Schuldbekenntnis bei ihr benutzt habe, um sie zur Buße zu leiten. Doch viele Monate später sollte die Geschichte noch ein tragisches Ende nehmen: Denn nachdem ihr Mann auf einmal an Krebs gestorben war, verfiel Monika Schnelle in tiefe Depressionen. Eines Tages kamen ihre pubertierenden Kinder von der Schule nach Haus und riefen ihre Mutter. Da sie keine Antwort gab, durchsuchten sie das Haus und fanden ihre Mutter schließlich erhängt auf dem Dachboden…


Bessere Voraussetzungen

Anfang September ´86 hatte ich einen Brief von Bruder Daniel Werner erhalten. Auf den ersten beiden Seiten hatte er wie immer viele belehrende Gedanken über Gottes Wort mitgeteilt (wie es auch Paulus in seinen Briefen immer tat), bis er dann im letzten Teil seines Briefes zur Sache kam und sein eigentliches Anliegen mitteilte. Er hatte gehört, dass ich immer noch keine Arbeit gefunden hätte und sich deshalb Sorgen mache, zumal er es ja war, der mir geraten hatte, die Schule abzubrechen. Deshalb schlug er vor, dass ich doch besser zu ihm nach Sachsenheim kommen solle, zumal dort doch auch die Voraussetzungen für meine Entwicklung viel besser seien. Ich las den Brief Edgard und Hedi vor. Edgard sagte sofort: „Was meint er damit, dass die Voraussetzungen bei ihm besser seien? Will er damit etwa sagen, dass wir hier nicht in der Lage sind, uns um Dein geistliches Wohl richtig zu kümmern?!“ – „Könnte sein“ sagte ich, „aber vielleicht bezieht er das ja auch nur auf den Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg, dass man dort leichter einen Ausbildungsplatz finden würde.“ Hedi war bestürzt über den Vorschlag von Bruder Daniel. Vielleicht wunderte sie sich, warum Bruder Daniel sich überhaupt nicht gefragt habe, wie es Edgard und ihr dabei gehen würde, wenn ich sie schon bald nach meinem Umzug zu ihnen schon wieder verlassen würde.

Edgard und Hedi wurden beide sehr traurig, aber sagten kein Wort zu mir. Als das Abendessen kam, wollte Hedi nicht mitessen. Sie ging ins Wohnzimmer und verbrachte die Zeit im Gebet. Doch auch am nächsten Morgen wollte sie nicht frühstücken und noch nicht einmal etwas trinken, sondern verbrachte die ganze Zeit im Gebet. Ich versicherte Hedi, dass sie sich keine Sorgen machen brauche, da ich schon nicht nach Sachsenheim ziehen würde. Aber Hedi schien mir nicht zu glauben, da ich ja schon einmal dem Zureden von Bruder Daniel nachgegeben hatte. Es war eine gedrückte Stimmung im Haus, deshalb hielt ich mich auch zurück und hoffte, dass doch bald die Freude zurückkehren möge. Doch auch zum Mittag aß Hedi wieder nichts und auch nicht zum Abendbrot. Edgard beschwichtigte mich, dass Hedi nun einmal gerade eine Fastenzeit verbringen würde und dass das nichts mit mir zu tun habe. Ich war mir da jedoch nicht so sicher, weshalb ich am Nachmittag noch schnell einen Brief an Daniel geschrieben hatte, dass ich doch lieber gerne in Bremen bleiben wolle. Nebenbei erwähnte ich, dass meine Gasteltern sehr betrübt wurden durch seinen Brief und Hedi angefangen habe, weder zu essen noch zu trinken, aber dass dies wohl nur einen Tag andauern würde. Doch auch am folgenden Tag wollte Hedi immer noch nichts essen und trinken, so dass ich mir inzwischen ernste Sorgen machte über ihren Gesundheitszustand. Jedes Mal, wenn ich ins Wohnzimmer ging, sah ich Hedi auf den Knien und leise beten. Ich konnte also noch nicht einmal mit ihr reden, weil ich sie ja nicht stören durfte im Gebet. Ohne Essen vermag ein Mensch ja sogar viele Wochen auszuhalten, aber ohne Trinken schafft man es maximal nur drei Tage. Als der dritte Tag kam, war ich in Alarmbereitschaft. Wenn Hedi bis zum Nachmittag wieder nichts essen würde, musste Edgard etwas unternehmen. Das war ja schon nicht mehr normal. Doch dann kam am Vormittag plötzlich ein Brief von Bruder Daniel. Als ich ihn aufmachte und vorlas, standen Edgard und Hedi gespannt neben mir. Daniel entschuldigte sich vielmals für seinen Vorschlag, und dass das doch ein Missverständnis gewesen sei, da er die „besseren Voraussetzungen“ allein auf die Arbeitsmarktsituation bezogen habe. Aber selbstverständlich könne ich doch auch gerne in Bremen bleiben, zumal Edgard und Hedi doch so sehr an mir hingen.

Hedi war außer sich vor Freude und Dankbarkeit und brach ihr Fasten auf der Stelle ab. Sie dankte Gott, dass Er ihr Gebet erhört habe, aber ich fragte mich, was passiert wäre, wenn dieser Brief von Daniel nicht gekommen wäre. Nicht auszudenken, wenn sie auf einmal ein akutes Organversagen wegen Dehydrierung erlitten hätte! Warum nur war Hedi dieses Risiko eingegangen? Wie konnte sie überhaupt so standhaft bleiben? Was für eine Liebe muss Hedi zu mir haben, dachte ich, dass sie sogar bereit war, ihr Leben für mich zu geben! Aber warum hatte sie meiner Zusage nicht geglaubt? War ich denn wirklich so wankelmütig, dass auf mein Wort gar kein Verlass sei? Auf jeden Fall wusste ich jetzt, dass mein Platz in Bremen war.

Kurz darauf erhielt ich einen weiteren Brief, diesmal von der Schulbehörde. Es war eine Mahnung, da ich noch immer schulpflichtig sei und die Schulpflicht erst nach 12 Jahren enden würde. Da ich aber noch keinen Ausbildungsplatz oder dergleichen gefunden habe, müsse ich nötigenfalls ab dem 01.10. zur Allgemeinen Berufsschule im Steffensweg 171 gehen. Aber da wollte ich auf keinen Fall hin, denn dort wären praktisch nur Ausländer oder Asoziale, die grundsätzlich keinen Ausbildungsplatz finden würden und deshalb dort nur zwangsbetreut werden. Ich musste also so schnell wie möglich irgendetwas finden. Ich ging also am nächsten Tag zum Arbeitsamt und sagte dem Sachbearbeiter, dass ich bereit sei, jeden Job zu machen, egal was auch immer. Er sagte, dass es jetzt im September kaum noch eine Chance gäbe, einen Ausbildungsplatz zu finden, da schon alle vergeben seien. Doch dann schaute er in seinen Unterlagen nach und fand ein Schreiben von der Innung des Bauhandwerks, dass man Praktikanten suche für ein sog. „Berufspraktisches Jahr“ (BPJ), wo man ein Jahr lang auf Baustellen mithilft und einmal in der Woche Berufsschulunterricht im Mauererhandwerk bekommt. Ich war einverstanden und verabredete mich mit Herrn Loos von der Bauhandwerker-Innung.

Hermann Loos war ein Kettenraucher, aber als ich ihm von meinem christlichen Glauben erzählte, war er sofort begeistert und bekannte, dass auch er ein wiedergeborener Christ sei. Er vermittelte mich dann an das Bauunternehmen Georg Kröger in Blumenthal und meldete mich in einer Berufsschulklasse an. Endlich hatte ich also etwas gefunden! Ich dankte Gott für Seine Führung. Doch ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde…

Fortsetzung folgt.

                                                                                                                  

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