„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 19

Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 19


Januar – Juni 1990

Ein Bestechungsversuch

Das neue Jahr 1990 begann mit einer ganzen Serie von gewaltigen Orkanen, die sehr viele Todesopfer forderten und Milliardenschäden in ganz Deutschland verursachten. Aber auch in meiner Seele stürmte es heftig, denn ich fühlte mich immer mehr wie ein Gefangener. Obwohl ich alles zum Leben hatte und auch einen immer gleichbleibenden Tagesablauf, spürte ich doch eine Mauer um mein Leben herum, die ich am liebsten aufbrechen wollte wie die Mauer von Berlin. Wenn ich manchmal im Bus saß und vor mir hinstarrte, kam mir die Phantasie, dass ich ein Maschinengewehr in der Hand hätte und ein Massaker unter allen Fahrgästen anrichtete. Mir war klar, dass solch eine Vorstellung völlig ungeistlich und daneben war. Aber irgendwie verschaffte mir dieser Gedanke Erleichterung, denn er gab mir die Möglichkeit, meinen unterdrückten Aggressionen freien Lauf zu lassen. „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich ein kleiner Psychopath bin“ dachte ich. Das ständige Achten auf jedes meiner Worte und Taten war auf Dauer sehr anstrengend. Tatsächlich funktionierte ich nur und entsprach den Erwartungen meiner Umwelt. Aber mir kam es vor, dass das Leben an mir vorbeigezogen war wie ein Zug, den ich verpasst hatte. Mein Freund Manfred studierte jetzt Medizin und Florian Philosophie und Volkswirtschaft. Aber ich war bloß ein kleiner Malerlehrling und hatte weder eine Freundin noch einen Führerschein. Sogar mein Bruder Marcus hatte mit 18 auf Anhieb seinen Führerschein geschafft und im letzten Sommer sogar sein Fachabitur. Alle hatten mich überholt, und ich war allein zurückgeblieben.

Eines Nachts hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass ich ein Soldat sei, der zusammen mit anderen Soldaten spät in der Nacht über ein schlammiges Feld stapfte. Auf einmal wurde der moorige Boden immer beschwerlicher und wir sanken so tief, dass wir die Beine nicht mehr aus dem Morast herausbekamen. Keiner sagte ein Wort, sondern war nur damit beschäftigt, wieder voranzukommen. Aber es ging einfach nicht mehr. Und dann wurde es immer dunkler um uns herum – bis ich aufwachte. Beim Frühstück erzählte ich Edgard von meinem Traum und fragte ihn nach der Bedeutung. Edgard meinte nur, dass dies vom Feind sei, der uns einschüchtern wolle, und dass ich dem Traum keine Beachtung schenken solle. Doch mir ging die Hoffnungslosigkeit dieses Traumes nicht mehr aus dem Sinn, weil er mich an jenes Lied erinnerte, dass wir immer bei den Pfadfindern sangen. Das Lied hieß „Moorsoldaten“ und handelte von Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeit leisten mussten. Darin heißt es: „Auf und nieder gehen die Posten. Keiner, keiner kann hindurch. Flucht wird nur das Leben kosten, vielfach ist umzäunt die Burg“. Ja, genauso fühlte ich mich. Aber in der letzten Strophe heißt es dann: „Doch für uns gibt es kein Klagen, ewig kann nicht Winter sein! Einmal werden froh wir sagen: Heimat, Du bist wieder mein! Dann zieh´n die Moorsoldaten nicht mehr mit dem Spaten ins Moor…“

Kurz darauf erhielt ich plötzlich Post vom Kreiswehrersatzamt. Man teilte mir mit, dass meine Lehre ja nun im Sommer enden würde und ich mir deshalb eine Stelle suchen solle, wo ich meinen Zivildienst machen könne. Da kam mir auf einmal die Idee, dass dies eine echte Gelegenheit sei, mir endlich eine eigene Wohnung zu nehmen, wo ich endlich meine Freiheit hätte. Sofort erzählte ich Edgard und Hedi von dieser Idee und erklärte ihnen, wie wichtig das sei, dass ich endlich auf eigenen Beinen stehen müsse. Hedi war nicht gerade begeistert von dieser Vorstellung und sagte: „Wenn Du von hier wegziehst, dann wirst Du ja gar nicht mehr zu uns unters Wort kommen…“ Ich beruhigte sie: „Nein, nein, keine Sorge: ich werde mir ja hier in Blumenthal eine Wohnung und eine Zivildienststelle suchen, so dass ich auch weiterhin jeden Abend zu Euch zur Bibelstunde kommen werde, versprochen!“ Da waren Edgard und Hedi beruhigt, und ich war hoch erfreut, dass Gott meine Not gesehen hatte und mir nun einen Ausweg gab – so wie den Kindern Israel, die er aus der Sklaverei Ägyptens hinausführte.

Sofort begann ich, mir mögliche Sozialeinrichtungen aus dem Telefonbuch herauszusuchen, wo ich meinen Zivildienst absolvieren könnte. Ich rief bei Altenpflege- und Behindertenheimen an und machte Termine für Vorstellungsgespräche. Zugleich suchte ich auch nach Wohnungsangeboten, die jedoch damals nur sehr gering und z.T. auch sehr teuer waren. Und wenn mal eine Wohnung in Blumenthal angeboten wurde, dann war die Nachfrage so riesig, dass ich am Ende immer den Kürzeren zog, da ich als Lehrling nicht gerade eine Favoritenposition hatte. Doch dann fand ich plötzlich ein Inserat für eine 2-Zimmer-Wohnung in der Hohenbuchener Str., die nur 200 Meter von Böhnkes Haus entfernt war, so dass ich abends in nur 3 Minuten zu Fuß hingehen konnte. Diese Wohnung musste ich unbedingt haben! Doch die Vermieterin hatte gleich alle zehn Bewerber zur selben Zeit dorthin eingeladen, um sich die Wohnung anzuschauen und am Ende ihre Daten dazulassen. Wieder sah ich meine Chance schwinden, denn warum sollte sie ausgerechnet mich nehmen! Doch dann kam mir eine Idee: ich wartete, bis alle gegangen waren und ging dann zu der Vermieterin, um ihr ein unschlagbares Angebot zu machen: „Wenn Sie mir die Wohnung geben würden, dann zahle ich Ihnen für den ersten Monat gleich zwei Mieten auf einmal!“ Die Frau reagierte überrascht, sprach mit ihrem Mann und teilte mir dann mit, dass sie einverstanden sei mit meinem Angebot.

Froh und stolz ging ich nach Haus und erzählte sofort Edgard von meinem genialen Schachzug. Doch Edgard war alles andere als stolz auf mich, sondern schimpfte mit mir: „Wie konntest Du ihr nur solch ein Bestechungsgeschenk machen!? Das ist doch völlig ungerecht, den anderen Bewerbern gegenüber! Weißt Du denn nicht, dass wir Bestechungsgeschenke hassen sollen [Spr.15:27, 29:4]? Du musst auf jeden Fall wieder zurücktreten von diesem Angebot und Dich dafür entschuldigen!“ Ich war bestürzt: „Aber Edgard, dann wird sie doch sauer auf mich werden und mir die Wohnung erst recht nicht mehr geben! Bedenke doch nur, welchen Vorteil ich davon habe, wenn ich nicht von weit her zur Bibelstunde fahren brauche, sondern nur einen ganz kurzen Fußweg habe…“ Edgard schüttelte den Kopf: „Das ist alles nur Menschelei, aber nicht Gottes Wille. Du wolltest wie Jakob Deinem Glück selber etwas nachhelfen, anstatt ganz auf Gott zu vertrauen; aber das wird der HErr niemals segnen. Es steht doch geschrieben: ‚Der Segen des HErrn macht reich, – ganz ohne Anstrengung‘ [Spr.22:10]. Du hättest lieber vorher mal beten sollen, um den HErrn zu befragen. Aber wenn Du jetzt Gott um Vergebung bittest und die Sache wieder rückgängig machst, dann wird der HErr Dir eine viel bessere Wohnung schenken!

Noch besser als diese?‘ fragte ich mich. ‚Wie sollte das denn gehen? Denn diese Wohnung war ja schon vollkommen, und die Warmmiete von 400,- DM war ja auch noch recht akzeptabel.‘ Aber ich hatte keine Chance: Ich musste in den sauren Apfel beißen und das Geschäft wieder stornieren lassen. Ich bat Gott um Vergebung und ging sogleich zur Vermieterin hin. Erwartungsgemäß war sie richtig sauer auf mich, weil sie schon sämtlichen Interessenten abgesagt hatte, und wollte mir die Wohnung auch nicht mehr geben. Doch schon kurz darauf zeigte mir der HErr, dass es sich wirklich lohnt, ganz auf Seine Hilfe zu vertrauen, indem ich eine Zivildienstplatz-Zusage erhielt im Krankenhaus Blumenthal und zugleich auch eine Ein-Zimmer-Wohnung im ehemaligen Schwesternheim, das nun ein Heim für Asylanten war. Ich war zwar dort der einzige Deutsche und sollte mir die Dusche mit 10 Ausländern teilen, aber dafür würde ich nur 220,- DM Miete bezahlen und hätte nur einen Weg von 50 Metern zum Arbeitsplatz. Ich war überglücklich und freute mich schon darauf, am 01. August in meine erste eigene Wohnung zu ziehen.


Ein Hausmeister namens Jesus

Der Fall der Berliner Mauer lag erst drei Monate zurück, aber nun strömten überall DDR-Bürger von Ost- nach Westdeutschland, um ein neues Leben zu beginnen. Wie ich es im Sommer 1988 in der Berufsschule bereits angekündigte, hatte sich nun die Prophezeiung im Danielbuch Kapitel 8 erfüllt und der Ziegenbock aus dem Westen (d.h. der Kapitalismus) den Widder aus dem Osten (Sozialismus) vernichtend geschlagen. Doch nicht alle waren über diese Entwicklung begeistert: Manfred hatte mir bei einem Besuch erzählt, dass einer unserer Klassenkameraden, der ein überzeugter Marxist war, sich nun aus lauter Verzweiflung das Leben genommen hatte. Er hatte seinen Wagen in einer Kurve unter einem Tunnel auf die Gegenfahrbahn gelenkt und war dann verunglückt. Wahrscheinlich erfuhr man erst durch seinen Abschiedsbrief, dass er nicht mehr in einer Welt leben wollte, in welcher der Kapitalismus gesiegt hätte. Wie fanatisch muss man sein! Dabei stellte sich nach der Wende heraus, dass die hohen SED-Funktionäre vom Politbüro der DDR sich heimlich in Wandlitz teure Villen gekauft hatten, wo sie in Luxus leben konnten. Solange der Mensch nicht wirklich von innen erneuert wurde durch die Wiedergeburt, wird er immer nach seinem eigenen Vorteil streben, weshalb die Philosophie des Kommunismus schon von Grund auf zum Scheitern verurteilt ist. Hinzu kommt all die schreckliche Gewalt, die von diesen Atheisten verübt wurde. Wir erfuhren, dass die rumänische Securităţa unter Drogeneinfluss die Menschen auf bestialische Weise gefoltert und ermordet hatte, ähnlich wie es auch unter Pol Pot in Kambodscha geschah. Der größenwahnsinnige Diktator Ceauşescu wurde am 25.12.89 dann von einem militärischen Sondergericht zum Tode verurteilt und dann vor laufender Kamera erschossen, zusammen mit seiner Frau Elena, von der man sagte, dass sie besonders grausam war.

Als ich in jenen Tagen in der Bibliothek der Berufsschule nach Informationen über den Kommunismus suchte, fand ich auf einmal ein Geschichtsbuch der DDR, das mich in völliges Staunen versetzte. Der Umschlag war extrem schlicht – ganz anders als herkömmliche Bücher. Auf den ersten Seiten ging es zunächst um Prometheus, jenem Urrebellen unter den griechischen Göttern, der den Menschen aus Mitleid das Feuer brachte und dafür vom Göttervater Zeus grausam bestraft wurde. Ich fragte mich, was solch ein erfundenes Märchen in einem Geschichtsbuch zu suchen hat. Weiter hinten ging es dann auf vielen Seiten um das Leben und Wirken von Karl Marx, als ob er die herausragendste Persönlichkeit der Weltgeschichte sei. Ich blätterte weiter vor, um zu lesen, was sie über den HErrn Jesus schrieben. Doch zu meinem Erstaunen gab es noch nicht einmal eine einzige Erwähnung von Ihm! Überall hieß es immer nur „v.u.Z.“ = vor unserer Zeitrechnung. Die Autoren taten also, als ob der HErr Jesus nie gelebt hätte bzw. zu unbedeutend sei, um Ihn zu erwähnen. Das ist ja wirklich eine Unverschämtheit! dachte ich. In der Bibel heißt es, dass jeder, der den Sohn leugnet, der Antichrist sei (1.Joh.2:22). Kein Wunder, dass Gott die DDR untergehen ließ. Wohin hätte das noch geführt!

Überall in der BRD entstanden nun provisorische Auffanglager für alle, die „rübermachten“. Man nannte diese Anlaufstationen auch „Übersiedlerheime“ – im Unterschied zu „Aussiedlerheimen“, wo die russlanddeutschen Spätaussiedler vorübergehend einquartiert wurden. Da wir wussten, dass man den Menschen in der DDR kaum etwas vom christlichen Glauben erzählt hatte, machten Edgard, Hedi und ich uns auf den Weg, um unter den DDR-Bürgern im Heim Traktate mit dem Evangelium zu verteilen. Als wir dort einem kleinen Jungen auf dem Flur begegneten, fragte Hedi ihn freudestrahlend: „Na Du, sag mal: Kennst Du auch schon den HErrn Jesus?“ Der Junge antwortete irritiert: „Nein. Ist das der Hausmeister hier?“ Sofort verstand ich, dass für ihn der Name „HErr Jesus“ gleichbedeutend klang wie „Herr Müller“ oder „Herr Meyer“, weil er nie etwas von Jesus Christus gehört hatte. Hedi war jedoch empört über diese Antwort, weil sie sich das nicht vorstellen konnte. Nachdem ich es ihr erklärt hatte, fügte ich noch hinzu: „In gewisser Weise hat er ja sogar Recht gehabt, denn Christus ist ja auch unser Meister und ‚Sohn über Sein Haus‘, wie es im Hebräerbrief heißt. Aber das hat er natürlich nicht gemeint.“

Der Zerfall der staatlichen Strukturen in den Ostblockländern ging einher mit einer unvorstellbaren Armut und Gesetzlosigkeit. Beispielhaft dafür soll ein Bericht sein, den uns Jerzy, ein polnischer Glaubensbruder, der uns besuchen kam, erzählt hatte. Und zwar hatte sich Jerzy im Jahr zuvor ein Haus gebaut in Polen, da die Preise für Grundstücke immer weiter fielen. Doch in einer Nacht waren Diebe in den Neubau eingedrungen und hatten Dinge gestohlen. Jerzy rief daraufhin die Policja, die sofort mit zwei Beamten vorbeikam. Jerzy führte sie durchs Haus und zeigte ihnen, wo die Diebe eingedrungen waren. Doch das Interesse der beiden Polizisten war weniger auf die Einbruchsspuren als vielmehr auf die Baumaterialien von Jerzys Haus gerichtet. Auf einmal sagte der eine zum anderen: „Kannst Du mir mal eben beim Tragen dieses Heizkörpers hier helfen, denn den könnte ich gut gebrauchen.“ Und ehe sich Jerzy versah, trugen die beiden Polizisten den Heizkörper vor Jerzys Augen in ihren Wagen und fuhren davon. Am Ende des Berichts fügte Jerzy nur verbittert hinzu: „Hätte ich bloß nicht die Polizei gerufen, denn die haben mich ja am Ende noch mehr bestohlen!

Von nun an bekamen wir regelmäßig Besuch von polnischen Geschwistern, und da Edgard ja fließend Polnisch konnte, übersetzte er immer, wenn die polnischen Brüder predigten. Ich bewunderte Edgard, mit welch einer Leichtigkeit er die polnische Sprache beherrschte und nahm mir vor, von nun an ebenso Polnisch zu lernen. Da ich mir ja schon selber Spanisch beigebracht hatte, dachte ich, dass es nur ein paar Monate dauern würde, dass ich auch noch Polnisch lernen würde. Aber schon nach wenigen Wochen gab ich es wieder auf, da besonders die Aussprache mir zu schwer erschien. Einer der ersten Sätze, die ich auswendig gelernt hatte, war: „Rozumiem po polski, ale tylko trochę“, d.h. „Ich verstehe Polnisch, aber nur ein bißchen“. An einem Tag schenkte mir Edgard eine polnische Bibel. Ich versuchte, den 23. Psalm zu lesen, aber die Aussprache war doch ganz anders. Deshalb bat ich Edgard, dass er mir Satz für Satz einmal ganz langsam vorsprechen möge, und ich schrieb es dann genauso auf, wie ich es hörte. Als wir fertig waren, lernte ich die Transkription dieses Psalms auswendig. Noch Jahre später konnte ich dann auf Baustellen die polnischen Arbeiter damit beeindrucken, wenn ich ihnen diesen 23. Psalm vortrug („Pan jest moim pasterzem, nicego mi nie zabraknie…“). Als nächstes fing ich mit Italienisch an, da diese romanische Sprache sehr ähnlich war wie Spanisch.


Meine Gesellenprüfung

Inzwischen war es Mai geworden und die Abschlussprüfung stand vor der Tür, nämlich die Renovierung eines Zimmers binnen einer Woche. Damals war es so, dass die praktische Gesellenprüfung aus zwei Teilen bestand, und zwar zuerst die akkurate Tapezierung eines x-beliebigen Zimmers mit allen Vorarbeiten, und dann die Gestaltung eines Ornaments auf einer Platte in der Malerhalle der Berufsschule. Mein Chef hatte die Erlaubnis seiner Tante bekommen, mir ihr Schlafzimmer zur Verfügung zu stellen. Als ich am 21.05. begann, stellte ich zu meinem Erschrecken fest, dass man die ganze Farbe nach dem Nassmachen von der Decke abkratzen konnte, weil sie mit Leimfarbe gestrichen war. So ging der erste Tag allein mit dem Abkratzen und Abwaschen der Decke drauf, sowie dem Nässen und Abkratzen der Wandtapeten. Zwischendurch kam einer der Prüfer vorbei, und zwar Malermeister Früchtenicht, um zu kontrollieren, dass ich die Arbeit auch wirklich ohne fremde Hilfe erledigte. Am zweiten Tag begann ich nach dem Streichen der Decke damit, mehrere Zierlinien und Streifen an die Decke zu malen in Farbtönen der Tapete, um die Decke dadurch einzurahmen im Stil des Barock. Die Idee hatte uns unser Klassenlehrer gegeben, damit wir auf diese Weise zusätzlich punkten könnten. Am dritten Tag begann ich dann mit dem Tapezieren, geriet aber schon nach kurzer Zeit in Panik, weil sich die Tapete trotz ausreichender Einweichzeit wellte. Hillmers Tante hatte sich ja eine sehr empfindliche, seidenglänzende Mustertapete ausgesucht, auf der man jeden Wasserrand und Kleisterfleck sofort sah, weshalb ich ohnehin sehr achtsam sein musste. Ich sah schon alle Felle wegschwimmen, als mich plötzlich meine beiden Arbeitskollegen besuchen kamen. Ich erklärte ihnen meine Sorge, aber sie beschwichtigten mich, dass dies nur mit der Prägung zu tun habe und die Falten wieder verschwinden würden nach der Trocknung. Und so war es auch. Da der Donnerstag ein Feiertag war, bekamen wir noch den darauffolgenden Montag geschenkt; aber ich machte auch am Himmelfahrtstag weiter, um ausreichend Zeit für das Lackieren des Heizkörpers, der Zimmertür und des Fensters zu haben. Als ich Montagmittag fertig war, kamen mich Edgard und Hedi besuchen, zusammen mit Schwester Christiane Hallig (25) aus Sachsenheim, die am Wochenende mit Bruder Daniel zu Besuch kam. Christiane und Hedi halfen mir noch, alles wieder pikobello sauber zu machen, so dass die Abnahme erfolgen konnte.

Zwei Wochen später war dann meine Theoretische Prüfung und wieder eine Woche danach die sog. Arbeitsprobe, d.h. die Anfertigung eines farblichen Ornaments, bei der unsere akribische Genauigkeit getestet wurde. Für die 2-m²-große Arbeitsplatte hatten wir zwei Tage Zeit. Doch schon am Ende des ersten Tages war ich im Grunde damit fertig. Am nächsten Morgen gab uns der Prüfungsausschuss noch ein paar Anweisungen und fragte dann: „Gibt’s noch irgendwelche Fragen?“ Ich meldete mich: „Wie ist das, wenn man schon fertig ist? Darf man dann schon nach Haus gehen?“ Der Prüfer sagte: „Also wenn Du jetzt schon fertig bist, dann bist Du ein Ass, denn das hat bisher noch niemand geschafft!“ Ich freute mich zwar über diese Worte, hatte aber noch keine Antwort auf meine Frage bekommen. Deshalb ging ich nach einer Weile in den Besprechungsraum, wo die Prüfer waren und fragte noch einmal, ob ich gehen könnte. Herr Lohmann fragte mich: „Sind Sie sich sicher, Herr Poppe, dass Sie eine 1 bekommen werden?“ – „Nein“ sagte ich, „aber eine 2 würde mir auch schon reichen.“ – „Dann versuchen Sie es doch nochmal, Herr Poppe, Ihr Ergebnis noch mehr zu verbessern, um eine 1 zu kriegen! Ich traue Ihnen zu, dass Sie es schaffen. Aber leider kann niemand vorzeitig gehen, denn da gibt es klare Regeln; tut mir leid.“ Und so musste ich den ganzen Tag in der Malerhalle warten, bis auch meine Mitschüler fertig waren. Nach einer weiteren Woche erhielten wir unsere Zeugnisse. Für mein Zimmer erhielt ich von 100 möglichen Punkten 91,6. Bei 92 Punkten hätte es für eine 1 gereicht, aber so war es nur eine 2+. Auch für die Arbeitsplatte erhielt ich exakt 91,6 Punkte, so dass ich mich wunderte, warum sie mir nicht eine 1 gegeben hatten. In Theorie bekam ich allerdings nur 86,6 Punkte, also eine glatte 2. Trotzdem war ich damit der Jahrgangsbeste meiner Schule und sollte deshalb bei der Zeugnisübergabe eine besondere Ehrung bekommen. Nach meinem damaligen Glaubensverständnis war es mir jedoch von der Schrift untersagt, Ehre von Menschen anzunehmen („Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Ehre voneinander annehmet?Joh.5:44). Deshalb blieb ich der Feierstunde in der Handwerkskammer fern.

Jetzt hatte ich also endlich mal etwas erreicht in meinem Leben. Ich war überglücklich und Gott von Herzen dankbar. Mein Zwillingsbruder Marcus hatte nach seinem Fachabitur eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen, dann aber abgebrochen aus Gründen, die ich bis heute nicht weiß. Wie gerne wäre auch ich lieber Krankenpfleger geworden, aber meine Pflegeeltern Edgard und Hedi hatten mir ja davon abgeraten. Dabei ist es für einen Christen ja um ein Vielfaches ehrwürdiger, das Leid anderer Menschen zu lindern, anstatt ihre Häuser zu verschönern. Das Anstreichen von Wänden kommt in der Bibel an drei Stellen vor, nämlich in Hes.1:10-15, Mt.23:27 und Apg.23:3, und jedes Mal ist es negativ konnotiert („übertünchen“). Wie oft habe ich mich während der Ausbildung gefragt: ‚Warum gebe ich mir eigentlich so viel Mühe, wenn doch schon bald der HErr Jesus wiederkommen und alles in Schutt und Asche legen wird!‘ Aber wenigstens konnte ich jetzt mal durch meinen Zivildienst für 18 Monate in einem Krankenhaus arbeiten, um dadurch einen Einblick zu bekommen in den Beruf. Auch meine Schwester Diana hatte ihre Ausbildung zur Notargehilfin beendet, wollte aber nicht in diesem Beruf arbeiten, sondern eine neue Ausbildung zur Altenpflegerin beginnen. Als meine Mutter mir davon erzählte, musste ich laut lachen, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ausgerechnet meine verzärtelte Schwester alte Leute waschen oder ihnen den Hintern abwischen könnte. Aber da hatte ich sie völlig unterschätzt, denn sie übt diesen Beruf bis heute aus, und zwar voller Engagement und Überzeugung.

Auch meine Mutter fing nun an, ehrenamtlich in einem christlichen Altenheim namens Elim zu arbeiten, nachdem sie zuvor zwei Jahre lang im Behindertenheim Bethesda als Köchin gearbeitet hatte. Allerdings war meine Mutter inzwischen sehr enttäuscht von der Hohentorsgemeinde, dem Träger dieser beiden Sozialeinrichtungen, da sie merkte, dass der christliche Anspruch, den behinderten oder alten Leuten das Wort Gottes zu bringen, so gut wie kaum erfüllt wurde, sondern nichts als Makulatur war. Denn obwohl das Altenheim Elim gleich neben der Gemeinde gebaut war, kam keiner der jungen Christen mal auf die Idee, die alten Leute nebenan auch mal zu besuchen. Meine Mutter z.B. besuchte jeden Freitagnachmittag ehrenamtlich die alten Leute, die sich jedes Mal total freuten, wenn sie kam. Sie las ihnen zunächst etwas aus der Bibel vor und betete mit ihnen. Und dann erzählte meine Mutter ihnen Erlebnisse und Anekdoten aus unserer Familiengeschichte, was den Alten ganz besonders gefiel. Sie fieberten jedesmal mit, wenn meine Mutter ihnen spannende Geschichten über uns erzählte und zehrten dann die ganze Woche davon. Für die alten Menschen waren wir wie die eigenen Kinder geworden, und sie nahmen Teil am Freud und Leid unserer Familie. Als meiner Mutter irgendwann die erlebten Geschichten ausgingen, erfand sie einfach neue Geschichten, um die alten Leute nicht zu enttäuschen.

Meine Eltern erfuhren durch eine Bekannte, dass es im berüchtigten Steintorviertel eine freie Gemeinde gab, die in den 70er Jahren von einem Amerikaner namens Hugh Morrain gegründet wurde. Inzwischen hatte die Gemeinde ihren Gründer jedoch wegen Ehebruch gekündigt, so dass fortan sich alle Brüder abwechselnd am Predigtdienst beteiligten. Meine Mutter war sofort begeistert von dieser Versammlung, die sich „Bibelgemeinde“ nannte und lernte schon in den ersten Tagen eine Schwester namens Iris Hamelmann (50) kennen, mit der sie bis zu ihrem Tod 2015 aufs Engste befreundet war.


Juli – Dezember 1990

Neue Geschwister aus der DDR

Von der neuen Reisefreiheit machten nun auch viele Christen aus der DDR Gebrauch, und einige ließen sich dann auch gleich in der BRD nieder, aufgrund der besseren Wirtschaftslage. Zu ihnen gehörte auch ein Bruder aus Schmalkalden namens Thomas Schaum (30), den ich bereits auf der Bibelfreizeit über Ostern kennengelernt hatte. Thomas hatte schon damals einen sehr langen Bart und war gerade dabei, Griechisch zu lernen in einer Bibelschule. Da ich dies ebenso vorhatte, setzte ich mich zu ihm an den Tisch, und er erklärte mir die verschiedenen grammatischen Fälle, die er schon gelernt hatte, um mir einen Eindruck zu geben. Ich war schwer beeindruckt von dem Bruder und freundete mich mit ihm an. Da er im Sommer nach Sachsenheim ziehen wollte, hatte Bruder Daniel mich gebeten, ebenso nach Sachsenheim zu kommen für eine Woche, um die neue Wohnung für Thomas und seine Familie im Nachbarort Metterzimmern zu renovieren. Bruder Daniel war so hoch erfreut, einen kompetenten Bruder wie Thomas Schaum gefunden zu haben, dass er alle Kosten für die Renovierung übernehmen wollte. So fuhr ich mit Daniel zum Baumarkt und konnte mir nach Herzenslust aussuchen, was ich zum Tapezieren der Wände und zum Lackieren der Türen brauchte. Daniel machte an der Kasse sein Portemonnaie auf und bezahlte alles, ohne mit der Wimper zu zucken.

Als die Arbeiten fertig waren, gab mir Daniel eine finanzielle Aufwandsentschädigung und lud mich ein, mit ihm in die DDR zu fahren, um dort zu evangelisieren. Damals hatten sich viele Missionswerke und Gemeinden aus dem Westen in der DDR niedergelassen, um dort neue Ableger zu gründen, da die DDR sich als Missionsfeld ideal anbot. So wunderte es mich nicht, als ich bei unserer Ankunft in Magdeburg die Missionsgemeinde aus Bremen antraf, die auch gerade evangelisierte. Wir hatten gute Gespräche mit den Leuten und wurden viele Traktate los. Anschließend fuhren wir zu Bruder Walter Oertelt (40) nach Schmalkalden (Thüringen), wo sich über Jahre die Hausgemeinde versammelte, die Daniel immer besucht hatte. Walter war ein glühender Anhänger von Daniel Werner und hatte schon damals viele kleine Söhne, mit denen er von nun an regelmäßig nach Sachsenheim fuhr zu den Bibeltagen. Der sozialistische Staat hatte ihm damals ein großes Haus an einem Berghang zugewiesen, dass bei der Gründung der DDR enteignet wurde und einer reichen jüdischen Familie gehörte, die es nun nach dem Mauerfall zurückforderte. Die Bonner Regierung hatte damals die Devise vertreten: „Rückgabe vor Entschädigung“, so dass viele ehemalige Besitzer von Häusern und Grundstücken nun ihren früheren Besitz zurückforderten. Da Walter aber schon viele Jahre in dem Haus wohnte und es von Grund auf renoviert hatte, war er verbittert, dass er es nun einfach aufgeben sollte. Vor allem: wo sollte er mit seiner großen Familie hin? Seltsamerweise war Walter in Fällen, wo es ihn selbst nicht betraf, genauso rigoros und unerbittlich, z.B. wenn es um die Wiederheirat von Geschiedenen ging. Hier vertrat er konsequent die Auffassung von Bruder Daniel, dass die neue Ehe von Geschiedenen nicht galt und sie sich deshalb wieder trennen müssten, selbst wenn sie schon gemeinsame Kinder hätten. Da fiel mir auf, dass es im Prinzip das gleiche war, was auch er jetzt erlitt, nämlich Recht vor Gnade. So wie wir messen, wird uns gemessen werden.

Dann fuhren wir weiter zu einer Schwester namens Ruth Feldberg nach Elstertrebnitz im Süden von Leipzig, wo wir übernachteten. Am Sonntag hatten wir eine kleine Versammlung und fuhren dann nach dem Mittagessen los Richtung Sachsenheim. Nach dem Einsteigen in den Bibeltransporter sagte Daniel zu mir: „Simon, mir ist aufgefallen, dass Du am Ende eines Mittagessens Dir noch immer den Rest der Schüssel auffüllen lässt, wenn Dich die Gastgeberin darum bittet.“ – „Ja, das stimmt. Das habe ich so von Hedi gelernt, damit sie dann die Schüssel abwaschen kann“ sagte ich. „Das ist aber nicht gut, wenn Du gar keinen Hunger mehr hast. Du musst auch mal lernen, ‚Nein‘ zu sagen. Denn wenn Du jedes Mal aus lauter Höflichkeit immer ‚Ja‘ sagst, dann wirst Du nicht nur immer dicker, sondern Du sündigst auch, weil Du isst, ohne Hunger zu haben. Das musst Du Dir wirklich mal abgewöhnen, denn das ist mir schon oft bei Dir aufgefallen!“ – „Ja, ist gut“ sagte ich, und dann schwiegen wir eine ganze Weile. Nach zehn Minuten sagte Daniel dann: „Hör mal, Simon: Die Magdalena hatte mir ein Butterbrot für die Reise mitgegeben, das ich jetzt gar nicht mehr verwendet habe. Es ist eigentlich schade, das wegzuwerfen, weil es noch gut ist. Möchtest Du es vielleicht essen?“ – „Ja, kann ich machen“ sagte ich und nahm es von ihm. Als ich es auspackte, fragte mich Daniel: „Aber hast Du denn überhaupt noch Hunger? Denn wir haben doch gerade erst gegessen.“ – „Ach geht schon. Ich ess das eben, und dann ist es weg.“ – „Nein, Simon! Ich hab Dir doch gerade erst gesagt, dass Du nicht essen sollst, wenn Du keinen Hunger hast!“ Ich hielt inne und erwiderte: „Aber sagtest Du nicht auch, dass es Dir leidtäte, wenn Du das Brot wegwerfen müsstest?“ – „Ja, aber wenn Du keinen Hunger hast, dann darfst Du es nicht essen! Das musst Du wirklich mal lernen!“ Ich packte das Brot wieder ein und reichte es dem Daniel wortlos. Er schaute zu mir und sagte: „Willst Du es jetzt nicht mehr essen? Du kannst es essen, wenn Du willst.“ – „Aber Du hast doch eben zu mir gesagt, dass ich es nicht essen soll…“ – „Nur wenn Du keinen Hunger mehr hast!“ Mir wurde es jetzt zu bunt, und aus lauter Frust packte ich die Stulle wieder aus und biss hinein. „Also hast Du jetzt doch Hunger?“ fragte er. „Ich denke, ja.“ sagte ich.

Nach einer Weile hielt Daniel an einer Raststätte, um zu tanken. Da ich wusste, wie sehr er immer darauf wertlegte, die gelegene Zeit zu nutzen, nahm ich mir ein paar Traktate und fing an, sie auf dem Rastplatz zu verteilen. Auf einmal hielt genau vor mir ein Wagen mit vier Neonazis an, die sich genauso wie die SA in hellbraunen Hemden mit einer weiß-roten Armschärpe gekleidet hatten, die jedoch kein Hakenkreuz, sondern ein anderes Symbol hatte. Sofort übergab ich auch diesen jungen Leuten mit Seitenscheitel jeweils ein Traktat. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Dame, die eine Frisur hatte wie aus den 50er-Jahren. Als sie auf mein Traktat blickte („Vier Dinge, die Gott dir sagen will“), fing sie auf einmal lauthals kreischend an zu lachen und kriegte sich gar nicht mehr ein. Ich wandte mich ab und wollte zum Transporter zurückgehen, da tippte mir einer der Neonazis auf die Schulter und sagte mir höflich: „Entschuldigen Sie, aber wir möchten diese nicht“. Dann übergab er mir die Traktate, und ich bedankte mich, dass er sie nicht einfach weggeworfen hatte.

Als ich in den Wagen stieg, war auch Daniel gerade fertig und hatte sich gesetzt. Da sagte er zu mir: „Schau mal, Simon, Du wolltest Dich zwar nützlich machen und hast deshalb Traktate verteilt. Aber etwas ganz anderes wäre jetzt viel wichtiger gewesen. Überleg mal, was!“ Ich war verunsichert: Was könnte denn jetzt noch wichtiger gewesen sein, als Schriften zu verteilen? „Ich komme nicht drauf.“ sagte ich. „Aber Du hast doch Augen im Kopf – schau doch einfach mal geradeaus, dann fällt es Dir bestimmt ein!“ – Was meinte er nur…? Ich hatte keinen blassen Schimmer. „Ich weiß es wirklich nicht. Was meinst Du denn?“ fragte ich. „Schau doch einfach mal auf die Windschutzscheibe, die doch voller Insektenflecken ist! Das sieht man doch sofort. Wenn ich schon die ganze Zeit fahren muss, dann ist es doch eine Selbstverständlichkeit, dass Du auch mal auf die Idee kommst, die Scheibe sauber zu machen, ohne dass ich Dir das extra sagen muss!“ Ich stieg sofort aus und schnappte mir den Eimer, um die Scheibe abzuwaschen. Insgeheim dachte ich: Warum hat Daniel immer nur etwas an mir auszusetzen? Warum kann er nicht einfach mal nett zu mir sein und freundlich zu mir reden?


Beginn des Zivildienstes

Am 01.August war es endlich so weit, dass ich meinen Zivildienst im Krankenhaus Blumenthal antreten durfte. Ich wurde für den OP eingeteilt, und man erklärte mir, was meine Aufgaben seien. Gleich morgens um 7:00 Uhr brachte man die Patienten in Betten an eine Schleuse, von wo sie vom unreinen (septischen) Bereich in den reinen (aseptischen) Bereich des OPs überführt wurden. Ich sollte sie entgegennehmen, entkleiden und auf den fahrbaren OP-Tisch schieben, von wo aus ich sie in den jeweilen OP-Saal schieben sollte. Nach den OPs sollte ich die OP-Tische immer wieder pikobello reinigen und mit Formalin desinfizieren. Zwischendurch sollte ich dann immer Gewebeproben aus dem OP ins Labor bringen außerhalb des Gebäudes, damit die operierenden Ärzte wussten, um was es sich handele. Dabei musste ich jedesmal beim Verlassen des aseptischen Bereiches die OP-Kleidung ausziehen, die dann als Schmutzwäsche galt und mir anschließend beim Betreten neue OP-Kleidung anziehen. Wenn ich nichts zu tun hatte, durfte ich bei den OPs zuschauen. Bei der ersten OP, als einer Frau ein Kropf im Hals entfernt wurde, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden unter der Maske, und ich musste schnell hinauslaufen, um frische Luft zu atmen. Aber danach hatte ich mich daran gewöhnt, Blut zu sehen und sah zum ersten Mal, wie der menschliche Körper von innen aussieht. Ich sah die blitzeblanken Gedärme eines hübschen Mädchens, die am Blinddarm operiert wurde, aber auch die aufgeschnittene Hüfte von älteren Leuten, die einen Oberschenkelhalsbruch hatten. Überall roch es nach verbranntem Fleisch, denn die Ärzte verwendeten beim Aufschneiden der Muskeln elektrisch erhitzte Skalpelle, um die feinen Blutgefäße zu veröden, damit es nicht so viel blutete. Das Zuschauen bei den verschiedenen OPs war spannender als ein Fußball-Länderspiel, denn wann bekam man schon mal so etwas zu sehen! Allerdings vergaß ich vor lauter Faszination auch immer wieder meine Verpflichtungen, so dass die Krankenschwestern mit mir schimpften.

Am ersten Wochenende bin ich dann mit all meinen Sachen in das möblierte Zimmer im ehemaligen Schwesternheim eingezogen, das nun ein Asylbewerberheim war. Ich war so glücklich, dass ich jetzt endlich völlig unabhängig war und meinen eigenen Haushalt führte. Noch nie hatte ich bisher für mich selbst eingekauft oder meine Wäsche selbst waschen und bügeln müssen. Ich fühlte mich zum ersten Mal richtig erwachsen und vor allem FREI. Am ersten Abend, als ich mich gerade auf den Weg machen wollte, um mit dem Fahrrad zur Bibelstunde zu fahren, klopfte es an die Tür. Als ich aufmachte, standen die zwei polnischen Kinder von nebenan vor der Tür und lächelten mich mit ihren Zahnlücken an während sie mit einen Kuchen von ihrer Mutter als Begrüßungsgeschenk überreichten. Ich fand das so süß, dass ich aus Dankbarkeit ganz laut „Proszę! Proszę!“ sagte. Erst als sie wieder gegangen waren, fiel mir ein, dass das Wort „Danke!“ auf Polnisch „Dziękuję!“ heißt und nicht Proszę („Bitte!“). Die meisten Bewohner des Asylbewerberheimes waren allerdings Türken bzw. Kurden. Da ich mir die Waschmaschine und die Dusche mit zehn Familien teilen musste, duschte ich immer schon abends, da sie dann meistens frei war. Erstaunt hatte mich aber der ausgeprägte Familiensinn der Türken, denn man sah die Frauen und Kinder im Sommer von morgens bis abends alle zusammen auf der großen Wiese hinterm Wohnblock sitzen, um sich miteinander zu unterhalten bis die Sonne unterging.

Anfang September musste ich dann drei Wochen lang zur Zivildienstschule nach Kiel, wo wir Unterricht bekamen in der Patientenpflege. Besonders beeindruckt hat mich dabei das Thema Autismus, das mir zuvor völlig fremd war, aber worin ich mich z.T. selbst ein wenig wiedererkannte, da es mir sehr schwerfiel, mit unbekannten Personen über belanglose Dinge zu plaudern. Deshalb versuchte ich jede freie Minute weiter Italienisch zu lernen. Doch nach einer Weile unternahm ich den Versuch, einen meiner Zivildienstkollegen anzusprechen, der gerade das Buch „Der Fremde“ von Abert Camus las. Zufällig kannte ich das Buch, weil wir es mal in der Schule lasen. Es handelt von einem jungen Mann, der sich aus purer Langeweile in Bandenstreitigkeiten begibt und dann völlig emotionslos einen Menschen erschießt. Sein Todesurteil nimmt er vor Gericht völlig gleichgültig zur Kenntnis. Erst als er in der Todeszelle von einem Geistlichen besucht wird, beginnt ein spannender Dialog über den Sinn des Lebens, bei dem mir folgende Aussage des Mörders haften blieb: „Auch wenn ich nicht an Gott glaube, so bin ich mir wenigstens meiner selbst bewusst“. Diesen Satz nahm ich zum Anlass, mich mit ihm über Gott zu unterhalten. Er sagte, dass niemand mehr ernsthaft „nach Ausschwitz“ an einen persönlichen Gott glauben könne. Daraufhin erklärte ich ihm, dass das Leid der Juden im 3. Reich eine angekündigte Bestrafung Gottes an Seinem Volk sei, damit sie Buße tun und umkehren. Auf einmal sagte der Student: „Wenn Du nicht so ein netter Typ wärest, dann würde ich Dir jetzt die Brille abnehmen und Dir ein in die Fresse schlagen“. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, aber war schon etwas schockiert über diese Aussage, obgleich ich sie verstand. Während der drei Wochen lernte ich auch Gläubige aus der Brüdergemeinde kennen, die mich sonntags zum Gottesdienst einluden. Sie gaben mir ein Buch mit allen Adressen der Brüdergemeinden in ganz Deutschland, wenn ich mal unterwegs sei.

Abenteuer im Krankenhaus

Als ich wieder zurück in Bremen war, stieg ich an einem Nachmittag in den Bus, wo ich plötzlich Wilfried und Gertrud Dörner wiedersah, die sich vier Jahre zuvor von unserer Hausgemeinde getrennt hatten, da wir uns nicht von Daniel Werner trennen wollten. Die Begrüßung verlief zunächst etwas kühl, aber dann fing Wilfred an, mit mir zu plaudern. Als ich ihm erzählte, dass ich jetzt meinen Zivildienst im Zentralkrankenhaus Bremen-Nord mache, wo er als Krankenpfleger gearbeitet hatte, war Wilfried sofort empört und beschwor mich, dass ein Christ doch niemals in einem Krankenhaus arbeiten dürfe: „Ich habe es ja selbst jahrelang selbst erlebt, wie man ständig faule Kompromisse mit der Sünde eingehen muss. Du kannst mir nicht erzählen, dass Du nicht jetzt schon mehrere nackte Frauen und Männer im OP gesehen hast. Wie kannst Du das nur mit Deinem Gewissen vereinbaren! Du solltest Dich wirklich schämen!“ Ich versicherte, dass ich zwar schon öfter nackte Männer gesehen hätte, aber noch nie nackte Frauen. Aber er wollte das nicht glauben und meinte nur, dass er sehr enttäuscht von mir sei, wie ich nur so tief hätte sinken können. Und dann gab er mir ein Beispiel, wie er zuletzt konsequent jeder Versuchung widerstanden hätte: „Einmal fragte mich z.B. eine Kollegin, ob ich ihr für die Weihnachtsfeier mal den Karton mit den Christbaumkugeln vom Schrank runtertragen könne. Da habe ich mich rigoros geweigert, ihr diesen Gefallen zu tun, da ich das heidnische Weihnachtsfest unter keinen Umständen unterstützen könne.“ – Ich war überrascht: „Ich finde das aber ganz schön übertrieben. Der syrische Hauptmann Naaman bat nach seiner Bekehrung sogar um Rücksicht, dass er noch weiter seinen König bei der Anbetung im Götzentempel unterstützen müsse, weil er sonst seinen Job verlieren würde, und der Prophet Elisa hatte es ihm erlaubt.“ Wilfried empörte sich: „Nein, nein, nein! Niemals würde Gott das gutheißen, dass wir andere beim Götzendienst unterstützen, weil wir uns dann mitschuldig machen!“ – „Aber der Prophet segnete ihn doch danach und sagte: ‚Gehe hin in Frieden!‘“ sagte ich. Wilfried stand vor Empörung auf, nahm seine Gertrud und wollte nicht länger mit mir reden.

In jenen Tagen kam uns eine junge Schwester aus Sachsenheim besuchen, und zwar Maria Pfleiderer (18), deren Familie früher mal zur Gemeinde von Daniel gehörte, bis sie sich im Streit getrennt hatten. Sie erzählte von ihrer Kindheit im gläubigen Elternhaus, wo es für sie gar nicht so einfach war, sich zu bekehren: „Meine Eltern haben uns ja schon von Kind auf vom HErrn Jesus erzählt, dass Er für unsere Sünden gestorben sei, und das war für uns Kinder das Normalste von der Welt. Es hat uns einfach nicht mehr berührt, weil wir es schon zu oft gehört hatten. Erst als ich mal zu Besuch in der Gemeinde vom Kurt Hoster in Mönchengladbach war und das Evangelium zum ersten Mal von jemand anderes hörte, da habe ich mich bekehrt.“ Als ich von der Gemeinde in Mönchengladbach hörte, horchte ich auf, denn dort ging ja auch mein Freund Daniel Ahner hin. Dieser hatte mir zuletzt mitgeteilt, dass er Ende des Jahres die Tochter von Bruder Kurt Hoster heiraten würde. Ich war darüber sehr traurig, denn für mich war dies ein Nachgeben vor der Fleischeslust. Ich schickte ihm darauf die Schrift eines alten Bruders, der mit der Bibel nachzuweisen versucht hatte, dass Geschlechtsverkehr die Ursünde sei und der Sex deshalb ohne Erregung und nur zur Kindererzeugung erlaubt sei. Daraufhin brach Daniel ohne weitere Erklärung den Kontakt zu mir ab. Zur gleichen Zeit lernte ich einen Bruder namens Ralf Daubermann kennen, der mir regelmäßig lange Briefe schrieb, um mich zu überzeugen, dass auch ein Wiedergeborener noch verloren gehen könne, wenn er wieder in der Sünde lebe.

Obwohl ich fast jeden Abend zur Bibelstunde fuhr – immerhin 5 km hin und 5 km zurück – fühlte ich mich doch ziemlich einsam in meinem kleinen Asylbewerber-Zimmer. Auch der intensive Briefwechsel mit diversen Brüdern wie Ralf und anderen konnten die Stille in meinem Zimmer nicht wegnehmen. Und so kaufte ich mir ein Radio, was ja eigentlich „verboten“ war. Ich sagte mir, dass Gott wohl dafür Verständnis haben würde. Ich weiß noch, dass es Anfang Oktober 1990 war, als ich mir das gekauft hatte, denn kurz darauf kam der Tag der deutschen Einheit, wo man am Abend die 9. Symphonie von Beethoven spielte („Alle Menschen werden Brüder…“). Samstags gab es jeden Abend den Radiokrimi, auf den ich mich jedes Mal richtig gefreut habe.

Die Arbeit im OP war abwechslungsreich, aber ich wurde von der Oberschwester sehr oft kritisiert, bald wegen jeder Kleinigkeit. Einmal habe ich versehentlich einen Patienten in den falschen OP-Saal geschoben. Der Pfleger hob erst das eine Bein und dann das andere Bein hoch und fragte den Opa, welches Bein es denn sei. Er sagte, wieso denn das „Bein“, wo er doch am Hals operiert würde… Beim Zuschauen während der OPs, konnte ich beobachten, wie unser Körper von innen aussah, z.B. wie sauber und glänzend die Gedärme eines hübschen Mädchens aussahen oder wie einem jungen Türken ein großer Tumor am Steißbein herausoperiert wurde. Einmal wurde ich in einen OP-Saal geschickt, um das amputierte Bein einer Oma in die Pathologie zu bringen. Als ich reinkam, feilte der Arzt gerade den Knochenstumpf rund. Man gab mir das Bein in einem Müllsack mit und ich ging zur Pathologie. Da diese jedoch schon geschlossen war, ging ich noch unten zur Information, um mir den Schlüssel geben zu lassen. „Was wollen Sie denn in der Pathologie?“ fragte mich die Empfangsdame in Anwesenheit zahlreicher Besucher, die hinter mir in der Schlange standen. „Ich habe hier ein Bein im Sack, das ich in den Kühlschrank tun soll“. Ich hörte Gelächter aber auch entsetztes Getuschel hinter mir und bekam den Schlüssel.

Einmal schaute ich bei einem sog. „Aorta-bi-femoralen Bypass“ zu, d.h. einer OP, bei welcher dem Patienten ein Stück seiner durch Alkohol und Nikotin völlig verkalkten Beinarterie herausgeschnitten und durch eine Gefäßprothese ersetzt wird. Plötzlich fing die operierende Oberärztin an, mir die einzelnen OP-Schritte zu erklären. Weil sie dabei jedoch auch ihr Medizinerlatein verwendete, merkte ich alsbald, dass sie mich wohl für einen jungen Arztpraktikanten hielt. Da wir ja alle OP-Kleidung trugen, konnte man äußerlich nicht erkennen, wer was ist. Und ich sah ohnehin älter aus, weil ich mir gerade einen Bart stehen ließ. Die Krankenschwestern, die mich kannten, kicherten, aber ließen die Ärztin in ihrem Glauben. Doch an einem Tag ging es sogar mal um Leben und Tod: An einem OP-freien Mittwoch, als ich ganz allein auf der OP-Station war, kam ein Notfall, denn die Wunde eines Aorta-Patienten hatte sich geöffnet, und der Patient hatte schon jede Menge Blut verloren. Der Krankenpfleger in der Schleuse, der dem Patienten die Beinader mit bloßen Händen zudrückte, schrie mich an, ich solle sofort alle verfügbaren Ärzte aus der Kantine herbeirufen. Ich rannte so schnell ich konnte, so dass der Patient gerettet werden konnte. Ich aber erlitt einen Schock.

Ende November hatte die Oberschwester von mir die Nase voll, weil ich zu viele Flüchtigkeitsfehler machte. Schon das leichte Berühren eines Tuchzipfels im OP-Saal hatte ja schon zur Folge, dass man das Tuch für septisch erklärte und es ausgetauscht werden musste. Und wenn ich dies nicht meldete – weil ich es nicht nachvollziehen konnte – war ich auf Dauer nicht mehr tragbar für den OP, weshalb ich zwangsversetzt wurde in die Sterilisationszentrale. Von nun an sollte ich die Metall-Container mit dem gereinigten OP-Besteck in den Sterilisationsofen schieben und dann auf der anderen Seite herausholen, um sie in die richtigen Regale einzuordnen. Diese Tätigkeit war natürlich deutlich eintöniger, aber ich machte sie so beflissen, wie ich nur konnte, um einen besseren Eindruck zu hinterlassen. Die Steri-Leiterin Anette war denn auch sehr zufrieden mit mir, weil ich als einziger Mann ohnehin am meisten Kraft und Ausdauer hatte, um die schweren Container jedes Mal umzuladen. Zwischendurch durfte ich dann auch OP-Instrumente auf die unterschiedlichen Stationen verteilen für ambulante Eingriffe. Dabei träumte ich davon, einmal auch ein Patient zu sein, der von allen fürsorglich gepflegt wurde und nichts tun bräuchte als nur dazuliegen.

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