„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 23

„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 23

Januar – Februar 1992

Meine Reise nach Peru

Inzwischen wohnte ich wieder bei meinen Eltern in Bremen-Arbergen und hatte noch bis zum 27.01.92 Zeit bis zu meinem Abflug nach Peru. Ich wunderte mich allerdings, dass ich aus Peru noch überhaupt keine Bestätigung bekommen hatte, dass die Familie Condori über meine Ankunft informiert sei; denn das wäre für mich ja eine schreckliche Vorstellung gewesen, wenn ich dort ankäme in Lima und keiner mich abholen würde. Da die Condoris kein eigenes Telefon hatten, rief ich bei meinem Freund Omar Llanos an und fragte ihn, ob er mal seine Schwester Elsa in Lima informieren könne, damit sie der Familie Condori vorsichtshalber nochmal Bescheid geben möge, dass ich käme. Das tat sie dann auch, und dabei stellte sich heraus, dass sie tatsächlich auch nichts davon wussten, weil mein Brief gar nicht angekommen war. Ruth Condori (29) hatte sogar schon überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass ich noch Interesse an einer Freundschaft mit ihr hätte, da sie seit Monaten ja nichts mehr von mir gehört hatte. Umso überraschter war sie nun, als sie hörte, dass ich nach Lima kommen würde und konnte es fast nicht glauben.

Mittlerweile hatte ich auch schon mehrere Male bei Edgard und Hedi angerufen und mit ihnen geplaudert, so als ob nichts wäre. Sie hatten mir keine Vorwürfe gemacht, dass ich einfach abgehauen war, sondern freuten sich einfach nur, dass ich als ihr „verlorener Sohn“ wieder zurück sei. Ich verabredete mich also mit ihnen und besuchte sie in Bremen-Blumenthal. Dann berichtete ich ihnen von meinen Erlebnissen auf der Reise und wie Gott mich schließlich sogar nach Rumänien geführt hatte. Dann erzählte mir Edgard, dass auch bei ihnen sich etwas getan habe: „Du weißt ja, dass ich schon seit ein paar Jahren immer wieder von russlanddeutschen Gemeinden und Hauskreisen eingeladen wurde. Und auf einen dieser Treffen lernten wir einen alten Bruder aus der Brüdergemeinde kennen, der mit seinen Eltern ebenso wie wir aus Polen vertrieben wurde. Er lud uns zu sich ein nach Oberneuland, wo er ein Atelier hat, da er Kunstmaler ist. Wir sprachen über die biblische Lehre, und er erklärte uns, dass die Symbole beim Abendmahl, wie sie Daniel uns immer erklärt hat, einen alttestamentlichen Charakter hätten und daher für uns gar nicht mehr gelten würden, da wir ja im Neuen Bund leben. Er lud uns ein zu seiner Versammlung in den Lehrer-Lämpel-Weg, und da stellten wir fest, dass sie eine ganz wunderbare Wortverkündigung hatten, was uns gut gefiel. Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir von jetzt an freundschaftlichen Kontakt zu diesen Brüdern pflegen möchten, auch wenn das dem Bruder Daniel nicht gefallen wird. Letzten Sonntag habe ich den Geschwistern angekündigt, dass wir von nun an wieder das Abendmahl feiern, aber nicht mehr abends, sondern vormittags, wenn wir uns zum Gottesdienst versammeln. Alice und Waldemar haben dagegen protestiert und angekündigt, dass sie dann nicht mehr kommen würden; aber alle anderen waren damit einverstanden.“

Damit hatte ich absolut nicht gerechnet, dass Edgard eines Tages nochmal gegen den alten Bruder Daniel aufbegehren würde. „Weiß Daniel denn davon?“ fragte ich. „Die Alice wird es ihm inzwischen wohl gesagt haben.“ – „Und wollt Ihr euch jetzt von Bruder Daniel trennen?“ – „Nein. Er kann ja gerne weiterhin zu uns nach Bremen kommen, aber er muss nun mal akzeptieren, dass wir ab jetzt nicht mehr ganz so engherzig sein wollen, wie er es immer von uns verlangt hat.“ – „Aber du weißt doch, dass Daniel das niemals akzeptieren kann.“ – „Ja, aber das ist dann seine Entscheidung. Wir gehören ja nicht ihm, sondern dem HErrn. Als du uns verlassen hast, habe ich dich dem Daniel gegenüber verteidigt und ihm gesagt, dass die Väter auch nicht immer zu streng mit den Söhnen sein dürfen, damit sie nicht entmutigt werden. Ich kann das im Nachhinein verstehen, dass du diese ständige Bevormundung vom Daniel nicht mehr ertragen konntest. Mich hat das auch schon immer gestört, dass Daniel uns ständig von allen Kontakten nach außen abgeschottet hat, wo wir uns doch von manchen Christen lehrmäßig kaum wesentlich unterscheiden. Wenn Daniel jetzt nicht mehr nach Bremen kommen will, dann werde ich mal mit den Geschwistern sprechen, ob wir uns nicht ganz der Brüdergemeinde anschließen sollten.“ Wer hätte das gedacht! Dabei war Edgard dem Daniel immer so hörig gewesen. Und jetzt hatte Gott auch dem Edgard gezeigt, dass das ein falscher Weg ist! Dann erklärte ich den beiden noch, dass ich ja jetzt für drei Monate nach Peru reisen würde, aber dass ich nach meiner Rückkehr wieder regelmäßig zum Gottesdienst kommen und mit ihnen verbunden bleiben würde. Edgard gab mir seinen Segen und Hedi fragte neugierig: „Willst du dir in Südamerika eine Ehefrau suchen?“ – „Wie kommst du denn darauf?“ fragte ich. „Ach, nur so. Das muss ja der HErr führen. Aber ich habe schon mit Edgard gewettet: er meint, dass du die Ruth nehmen wirst und ich tippe eher auf die Leslie Molina aus El Salvador...“ Dann kicherte Hedi, und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

Bruder Raimund war so freundlich, dass er mich mit meinem Gepäck nach Hamburg fuhr, von wo aus der Flug losgehen sollte (von Bremen aus gab es damals noch keine Verbindung). Von Hamburg ging es dann nach Amsterdam, und von dort aus auf die Karibikinsel Aruba, wo das Flugzeug auftanken musste, um nach Lima weiterzufliegen. Als ich durch Gottes Gnade nach insgesamt 15 Stunden am nächsten Vormittag wohlbehalten in Lima ankam und aus dem Flugzeug stieg, kam mir sofort eine heiβe Luft entgegen. Ich passierte die Zollkontrolle, nahm mein Gepäck vom Band und verließ das Flughafengebäude. Draußen standen an die zweihundert Menschen, die ihre Gäste in Empfang nehmen wollten. Überall riefen mir Leute zu: „Taxi! Mister, Taxi…!“ Und dann sah ich auf einmal Luis Condori (72), der ein Schild hochhielt, auf dem mein Name stand. Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich dankte Gott. Dann ging ich freudestrahlend auf Luis zu und umarmte ihn. Neben ihm stand ein kleines, zierliches Mädchen, zu der ich mich hinunterbeugte, um sie ebenso zu begrüßen, auch wenn ich sie nicht kannte. Aber ich wunderte mich, dass Ruth nicht gekommen war. Dann rief Bruder Luis ein Taxi, und wir luden mein Gepäck ein. Überall wimmelte es nur so von Menschen, die wie Ameisen dicht gedrängt umherschwirrten. Ich überragte sie alle um eine Kopflänge. Als wir dann losfuhren, sprach mich das Mädchen auf dem Rücksitz an, wie meine Reise war etc., und erst da schnallte ich überhaupt erst, dass das Ruth war. Ich hatte sie von den Fotos ganz anders in Erinnerung.

Nach etwa einer Stunde Taxifahrt kamen wir schließlich in der nahe dem Stadtzentrum gelegenen Wohnblocksiedlung Matute an, wo die Condoris im Erdgeschoss eine Eigentumswohnung hatten. Sie ließen mich auf dem Sofa platznehmen und Mutter Lucila (58) überreichte mir zur Begrüßung ein Glas selbstgemachten Maracuja-Saft. Dann setzten sich alle um mich herum und befragten mich. Zum Glück reichten meine Spanischkenntnisse nicht nur, um sie zu verstehen, sondern auch, um ihnen zu antworten. Mir fiel auf, dass Luis und Lucila stark indianische Gesichtszüge hatten, während Ruth zwar dunkelhäutig, aber eher normal aussah (wenn auch deutlich jünger und sehr hübsch). Dann zeigten sie mir mein Zimmer und boten mir an, dass ich auch erst mal duschen könne von der langen Reise, was ich dann auch tat. Das Wasser war zwar eiskalt, aber trotzdem angenehm, denn ich war recht durchgeschwitzt aufgrund der sommerlichen Hitze. Von überall aus den nachbarlichen Wohnblöcken hörte man laute Salsa-Musik erschallen. Die Condoris lebten in dieser 42-qm-Wohnung recht ärmlich, aber für peruanische Verhältnisse war das wohl ganz normal.

Als ich mich dann in die Küche setzte, klopfte es an der Tür. Es war Bruder Maximo Carmen (68), der vorbeigekommen war, um mich zu begrüßen. Dann wollte er sich auch an den Küchentisch setzen, sah aber auf einmal, dass hinter dem Küchentisch jemand auf dem Fußboden saß. Es war Filomena Quispe (91), die indianische Großmutter von Ruth. Ich stand sofort auf, um sie ebenfalls zu begrüßen und entschuldigte mich, weil ich sie gar nicht bemerkt hatte beim Reinkommen. Dann fragte ich sie, warum sie denn auf dem Fußboden sitze, aber sie verstand mich nicht. Maximo redete mit ihr und erklärte dann: „Sie sagt, sie habe sich nicht getraut, mit dir an einem Tisch zu sitzen, da du ja ein Weißer bist und sie deshalb Ehrfurcht habe.“ Ich war peinlich berührt und bat sie, doch keine Scheu vor mir zu haben. Wir halfen ihr auf, und sie setzte sich. Ich dachte nur: Andere Länder, andere Sitten. Dann kam Ruth herein und sagte, dass sie jetzt zur Uni müsse, aber am späten Nachmittag wieder zurück sei. Plötzlich beugte sie sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich war wie vom Schlag getroffen und dachte: Nanu? Ist sie etwa in mich verliebt und will mir dies auf so eine direkte Art zeigen? Damals wusste ich noch nicht, dass es in Südamerika so üblich war, dass man sich zwischen Männern und Frauen zur Begrüßung und zur Verabschiedung einen kurzen Wangenkuss gibt. Dann sagte mir Luis, dass er mir gerne am nächsten Tag mal die schönsten Plätze von Lima zeigen wolle und fragte mich, was mich denn am meisten interessieren würde. „Ehrlich gesagt, würden mich schöne Gebäude gar nicht reizen,“ sagte ich, „sondern am liebsten würde ich mal die Slums der Stadt besichtigen, um mal zu sehen, wie die Ärmsten der Armen so leben.“ Luis hatte dafür überhaupt kein Verständnis und erklärte mir, dass es ohnehin für einen Gringo wie mich nicht ganz ungefährlich sei, mich in Lima auf der Straße aufzuhalten wegen der vielen „rateros“, d.h. Taschendiebe, aber dass es in den Slums, noch nicht einmal Polizeipatrouillen gäbe, um mich zu schützen, wenn ich angegriffen werde.


Der Leuchtende Pfad

Am nächsten Tag kam mich ein Bruder namens Raúl Bendezú (59) besuchen und lud mich ein, mit ihm zusammen seinen Sohn Vladimir in Ancón, im Norden Limas, zu besuchen. Während der Busfahrt erzählte er mir, dass er eigentlich aus der Provinz Ayacucho komme, aber 1987 mit seiner Familie nach Lima flüchten musste, nachdem sein Sohn Ivan von den Terroristen des Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) ermordet wurde. Ich fragte ihn, wie es dazu kommen konnte, und dann begann er, mir alles ausführlich zu erzählen:

Anfang der 70er Jahre war Raúl Bendezú auch selbst noch ein überzeugter Kommunist und erzog seine drei Söhne im Glauben an eine baldige Weltrevolution. Doch dann lernte Raúl durch den Verkündigungsdienst von Bruder Luis Condori den HErrn Jesus kennen und ließ sich taufen. Auch fast alle aus seiner Familie wurden Christen, außer sein Sohn Ivan. Dieser schloss sich Ende der 70er Jahre der maoistischen Terrororganisation vom Leuchtenden Pfad an, die damals vom Philosophie-Professor Dr. Abimael Guzmán (1934-2021) gegründet wurde. Dieser lehrte einen eher nationalistischen Befreiungskampf der mehrheitlich indigenen Bevölkerung Perus gegen die weißen Besatzer nach dem Vorbild von Mao Zedong (1893-1976). Nach seinem Verständnis sei jeder Indio, der sich diesem revolutionären Freiheitskampf verweigere, ein Volksverräter und müsse deshalb getötet werden. 1980 wurden nachts zunächst überall in Lima streunende Hunde an Laternenmasten aufgehängt, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Aber dann wurden am laufenden Band Bombenanschläge verübt, bei denen in den folgenden 12 Jahren rund 70.000 Menschen starben. Sogar Kinder wurden zu Selbstmord-Attentätern missbraucht. Das peruanische Militär verhielt sich nun ebenso grausam und versuchte, den Terroristen die Rückzugsmöglichkeiten im Gebirge abzuschneiden, indem sie jeden Bauern zur Mitarbeit verpflichtete, sei es durch Verrat oder durch den direkten bewaffneten Kampf. Wer sich weigerte, galt ebenso als heimlicher Kollaborateur der Terroristen und wurde sofort erschossen. So standen die Indios also zwischen Hammer und Amboss und hatten nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Irgendwann kamen dem Ivan Zweifel an der Grausamkeit seiner compañeros (Genossen), aber ihm war bewusst, dass ein Ausstieg als Verrat galt und mit dem Tod bestraft wurde. Ivans Vater Raúl redete immer wieder auf ihn ein, dass er sich doch zum HErrn Jesus Christus bekehren möge, um dadurch unter Gottes Schutz zu kommen, nicht nur zeitlich, sondern auch für ewig. Er schenkte ihm eine Bibel, die Ivan dann heimlich las. Doch irgendwann bekamen die Terroristen davon Wind, dass Ivan sie verlassen und dann zum Verräter werden könnte. Daraufhin besuchten sie ihn eines Morgens, um ihn unter einem Vorwand mitzunehmen. Seine Mutter hatte schon eine böse Ahnung, als er an jenem Tag nicht zurückkam. Am nächsten Morgen schickte sie ihre Tochter los, um nach ihm zu suchen. Sie fand ihn schon bald am Ufer eines Flusses. Sie hatten ihn ausgezogen und ihm bei lebendigem Leib Ohren, Nase und Zunge abgeschnitten, sowie die Genitalien. Auch die Augen hatten sie ihm rausgeschnitten, sowie die Zunge. Seine Zähne hatten sie mit einem Stein zertrümmert und ihn einfach liegen gelassen bis er qualvoll starb. Verzweifelt suchte Raúl daraufhin in den Hinterlassenschaften seines Sohnes nach Hinweisen, ob er sich doch wenigstens vor seinem Tod noch bekehrt habe. Dann sah er, dass sein Sohn zwar tatsächlich viel in der Bibel gelesen hatte, aber leider viele Stellen, mit denen er nicht einverstanden war, einfach durchgestrichen hatte, um dadurch sein Missfallen auszudrücken. Resigniert zog Raúl das Fazit, dass er alles unternommen habe, um seinen Sohn zu retten, aber er nicht wisse, ob es am Ende ausgereicht habe.

Als ich mittags wieder im Haus der Condoris ankam, erzählte ich ihnen von dem, was mir Raúl berichtet hatte. Luis erklärte mir, dass auch der Bruder seiner Frau Lucila drei Jahre zuvor von den Senderistas ermordet wurde. Sein Schwager Julio war damals sogar Bürgermeister eines kleinen Gebirgsdorfes, als plötzlich die Terroristen kamen. Sie hatten sich jedoch als Regierungssoldaten verkleidet, indem sie sich die Uniformen von ermordeten Soldaten angezogen hatten. Sie verkündeten dann im Dorf, dass sie noch Rekruten benötigten für den bewaffneten Kampf gegen die Terroristen. Julio und einige andere meldeten sich aus Furcht. Unter dem Vorwand, sie zu Ausbildungszwecken mitzunehmen, führten sie die Freiwilligen außerhalb des Dorfes. Dann gaben sich die Terroristen zu erkennen und wollten die Verräter standrechtlich erschießen. Doch Julio und sein Freund konnten gerade noch fliehen. Völlig außer Atem versteckten sie sich hinter einem Felsvorsprung, während die Terroristen ihnen nachjagten. Sein Freund wollte weiterlaufen, aber Julio hatte keine Kraft mehr zum Flüchten. Dann sah sein Freund aus einem Versteck heraus, wie sie den Julio ergriffen und ihm mit einem Messer den Bauch aufschnitten, dass seine Gedärme herausfielen.

Das ist auch der Grund, Bruder Simón, warum ich dich jetzt nicht zu einer Reise ins Gebirge ermutigen kann, denn im Moment ist das viel zu gefährlich. Gerade die Weißen sind für die Senderistas das größte Hassobjekt. Die machen keine Gefangenen und entführen auch niemanden wie in Kolumbien, um ein Lösegeld zu erpressen, sondern töten die Ausländer gleich ohne Vorwarnung. Erst kürzlich haben sie erst wieder drei weiße Touristen gefoltert und ermordet. Du kannst gerne zu meinem Sohn Israel nach Ica reisen, aber ins Gebirge zu reisen, wäre reiner Selbstmord. Selbst im Lima vergeht derzeit keine Woche, in welcher nicht wieder irgendwo eine Bombe hochgeht. Wenn du willst, können wir übermorgen mal einen Ausflug nach Chosica machen, das außerhalb der Stadt liegt. Und nächste Woche fahren wir, wenn Gott will, nach Ica, das etwa 5 Stunden von hier entfernt ist im Süden von Peru.“ Und dann setzte sich Bruder Luis auf einmal direkt neben mich und sagte mir im verschwörerischen Ton: „Bruder Simón, die Brüder Raúl Bendezú, Maximo Carmen und Ricardo Pineda haben sich heimlich gegen mich verschworen. Sie werden versuchen, auch dich gegen mich einzunehmen, aber du darfst ihnen kein Wort glauben, wenn sie etwas über mich sagen, denn sie lügen!“ Ich war ganz überrascht: „Aber bisher hat keiner von ihnen schlecht über Sie geredet. Und was sollten sie auch sagen? Wie kommen Sie denn darauf, dass sie etwas gegen Sie hätten?“ – „Sie sind schon seit Wochen am Murren wegen der Spendengelder, die man mir aus Deutschland schickt und sind der Meinung, ich würde diese veruntreuen, weil ich ihnen bisher nicht offen mitgeteilt habe, wieviel Spenden ich jedes Mal bekommen habe. Aber sie mischen sich da in etwas ein, was sie gar nichts angeht, denn schließlich sind MIR ja die Spendengelder anvertraut worden und nicht ihnen.“ Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, war aber sehr betrübt darüber, dass die Brüder der Gemeinde gar nicht mehr alle eines Sinnes waren.


„Rede bloß nichts gegen die Katholische Kirche!“

Beim Mittagessen lernte ich einen jungen Bruder namens Rubén (25) kennen, der erst seit kurzem in die Versammlung kam. Ich fragte ihn, ob er mich in die Innenstadt von Lima begleiten könne, um Traktate zu verteilen. So fuhren wir mit dem Bus die Abancay-Straße hinunter bis zum Museo de la Inquisición und begannen in einem Park Traktate zu verteilen. Auf einmal sprach mich ein großgewachsener Peruaner an und bekannte mir, dass er früher mal homosexuell war, aber nun ein Kind Gottes sei. Auch er würde regelmäßig mit seiner Pfingstgemeinde evangelisieren, hielt aber nichts vom Verteilen von Traktaten: „Wenn du die Leute erreichen willst, musst du auf der Straße predigen!“ Er lud mich und Rubén ein, mit ihm beim nahe gelegenen Plaza de Armas das Evangelium zu verkünden, und wir folgten ihm. Auf halber Strecke traf er in der Junín-Gasse auf eine alte Schwester aus seiner Gemeinde und bat sie, doch mit uns zu kommen zum Evangelisieren. Als wir nun zu viert auf den großen Platz vor dem Regierungsgebäude ankamen, war dieser voller Menschen, die uns z.T. von Weitem beobachteten.

Ich fühlte mich sehr unsicher und machte den Vorschlag, dass wir vielleicht erst noch ein wenig Traktate verteilen sollten. „Nein!“ sagte der Ex-Homosexuelle, „als erste sollten wir mal ein Loblied singen!“ – „Aber vorher sollten wir gemeinsam beten!“ entgegnete die alte Schwester. Und ehe ich mich versah, knieten die beiden sich auf den Boden nieder und erhoben die Hände zum Gebet. Auch Rubén schloss sich ihnen an, aber ich traute mich nicht, weil alle auf uns guckten und sich fragten, was das wohl werden soll. Sie beteten mit lauter Stimme und sangen dann ein Lied, das ich nicht kannte. Dann erhoben sie sich, und der Pfingstlerbruder begann laut zu predigen: „FRÜHER WAR ICH MAL SCHWUL, ABER DANN IST MIR JESUS CHRISTUS BEGEGNET…“ Als er nach fünf Minuten fertig war, machte gleich die alte Schwester weiter und rief laut: „ICH WAR FÜHER MAL EINE PROSTITUIERTE, ABER JESUS HAT MICH VÖLLIG NEU GEMACHT…“ Während sie redete, ging sie laut rufend auf und ab, ohne dabei irgendjemand anzuschauen, so dass es den Eindruck machte, dass sie eine Verrückte sei. Leider hörte überhaupt keiner zu, so dass ich mich sehr schämte. Dann machte Rubén den Vorschlag, dass wir lieber in die nahe gelegene Fußgängerzone im Jirón de la Unión gehen sollten, weil dort die Akustik besser sei.

Der Pfingstler lud mich ein, dass doch auch ich mal predigen sollte, aber ich traute mich noch nicht. Rubén machte also weiter und predigte etwa zehn Minuten, ohne dass ihm überhaupt einer zuhörte. Nun sollte ich reden, aber ich schämte mich noch immer, da ich es nicht gewohnt war. Aber Rubén sprach mir Mut zu und sagte: „Erzähl einfach, was der HErr an dir getan hat und wie Er dich verändert hat. Aber du solltest auf keinen Fall etwas gegen die Katholische Kirche sagen, denn die Leute sind hier fast alle katholisch und mögen das gar nicht!“ Da erinnerte ich mich spontan an die Worte des Propheten Micha, der sich kein Rede-Tabu auferlegen lassen wollte, sondern bezeugte: „So wahr der HErr lebt: Nur was der HErr mir sagen wird, DAS werde ich reden!“ (1.Kön.22:14). Warum sollten die Leute nicht wissen, dass in der Katholischen Kirche Götzendienst betrieben wird und die Menschen abgehalten werden vom Reich Gottes? Also begann ich zunächst mit einem kurzen Zeugnis von mir, sprach aber dann vom HErrn Jesus als den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen und dass Maria nur eine bevorrechtigte Jüngerin des HErrn war, die genauso Erlösung brauchte wie alle anderen Menschen und deshalb nicht als Gottesmutter oder Fürsprecherin angerufen werden dürfe, da dies verbotene Totenbeschwörung sei. Schon nach kurzer Zeit blieben ein paar Leute stehen, um mir zuzuhören. Dann wurden es allmählich mehr und mehr, weil die Leute aus Neugier wissen wollten, warum da so viele andere stehen blieben. Nach etwa 10 Minuten war der Jirón de la Unión so sehr überfüllt, dass keiner mehr durchkam. Die Leute hörten aber nicht nur zu, sondern stellten mir auch Fragen.

Doch da kam ein Beamter vom Serenazgo (Ordnungsamt) und bat mich, die Versammlung aufzulösen, da niemand mehr durchkäme. Ich erklärte dies kurz den Zuhörern und bat sie, mitzukommen auf den Plaza de la República. Tatsächlich folgten mir die meisten, so dass ich den Dialog mit ihnen fortsetzen konnte: „Mister, Jesús hat gesagt, dass es nur EINE wahre Kirche geben werde, die von Petrus gegründet wurde. Warum sagen Sie, dass dies nicht allein die katholische Kirche sei, sondern auch all diese Sekten?“ Eine andere Frau fragte: „Wenn Jesús doch sagte: `Dies IST mein Leib´, warum sagen Sie, dass die Hostie doch nicht Sein Leib sei?“ Rubén half mir zum Glück, die Fragen der Leute zu beantworten, was er als ehemaliger Katholik auch besser konnte. Aber die beiden Pfingstler waren inzwischen verschwunden. Und so vergingen gefühlte zwei Stunden, in denen ich mich völlig verausgabte, indem ich bald mit drei Personen gleichzeitig diskutierte, während etwa 50 Menschen einfach nur zuhörten. Irgendwann bemerkte ich, dass auch Rubén längst gegangen war und ich inzwischen Hunger und Durst verspürte. Also verabschiedete ich mich von den Leuten, aber sie hörten einfach nicht auf, mich mit Fragen zu bedrängen. Erst als ich zügig fortging, waren es nur noch drei und schließlich nur noch einer, der mir hartnäckig folgte, weil er wissen wollte, wo wir uns versammeln würden. Ich kannte zwar die Adresse, war mir aber gar nicht mehr sicher, wie ich dort hinkommen konnte. Der HErr schenkte jedoch Gnade, dass mich der junge Mann nach Matute zu den Condoris begleitete und versprach, von nun an auch selbst in unsere Versammlung zu kommen. Ich war völlig überwältigt von diesem Erlebnis und dankte Gott dafür, dass Er mich so unverhofft gebraucht hatte, um Sein Wort zu bezeugen.


Verdacht auf Typhus

Am Abend kam nun auch endlich mein Freund Ricardo Pineda (36) zu Besuch, der uns vor drei Jahren in Deutschland besucht hatte und mit dem ich mich seither schon öfters geschrieben hatte. Er freute sich sehr, mich zu sehen und lud mich zu einem Spaziergang ein. Auf dem Weg erzählte ich ihm, von meinem Erlebnis in der Fußgängerzone, aber auch von der Kritik von Bruder Luis an ihnen. Dieser war darüber sehr verwundert: „Ja, wir hatten den Bruder Luis in der Tat ermahnt, dass er die Verwaltung der Spenden offenlegen sollte, damit keine bösen Verdächtigungen entstehen. Aber dass wir uns gegen ihn verschworen hätten, ist absolut dummes Zeug. Bruder Luis kann offensichtlich schlecht mit Kritik umgehen und bauscht diese deshalb völlig unnötig auf. Unser Rat war aber nur gut gemeint, und wir haben doch sonst gar nichts gegen den alten Bruder.“ Dann erzählte mir Ricardo, dass er vor zwei Jahren ein 15 Jahre jüngeres Mädchen aus Piura kennengelernt und geheiratet habe. Inzwischen habe er mit seiner Frau Esperanza (21) auch ein Baby und habe sich von seinen Ersparnissen eine Eigentumswohnung in Matute gekauft. Als Ingenieur habe er einen festen Job in der Fischindustrie und hoffe, dass er irgendwann genug Geld gespart habe, um mit seiner Familie Deutschland zu besuchen. Das Jahr 1988, als er in Deutschland war, sei für ihn die bisher schönste Zeit seines Lebens gewesen. Dann sahen wir, wie eine Frau an einem Straßenstand abends Cerviche verkaufte, das peruanische Nationalgericht, das aus rohem Fisch, geröstetem Mais und Süßkartoffeln besteht und sehr scharf gewürzt ist. Ricardo lud mich auf eine Portion ein, um diese typische Mahlzeit mal kennenzulernen. Es sollte sich jedoch am nächsten Tag herausstellen, dass dieses Gericht mir tatsächlich zum „Gericht“ wurde.

Am nächsten Tag fuhr ich mit Bruder Luis nach Chosica, wo ich zum ersten Mal in Peru Wald und Wiesen sah. Doch so richtig genießen konnte ich die Natur nicht, denn mir war durch die lange Busfahrt zunehmend schlecht geworden. Luis spendierte mir zur Erfrischung eine Flasche Inca-Cola, eine knallgelbe Limonade, die stark nach Kaugummi schmeckte. Aber mein Übelkeitsgefühl wurde nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Als wir auf der Rückfahrt kurz vor der Ankunft im vollbesetztem Bus waren, gab ich dem Luis ein Zeichen, dass ich mal an die frische Luft müsse. Luis wollte dem Busfahrer zum Anhalten auffordern, doch da war es schon zu spät: die Inca-Cola kam mir im hohen Bogen aus Mund und Nase wieder herausgeschossen. Ich torkelte aus dem Bus und musste mich erstmal auf den Gehweg hinsetzen, da mir ganz schwindelig war. Ein Taxi brachte uns dann zunächst nach Hause, wo ich mich sofort ins Bett legte. Es muss das Cerviche gewesen sein, dachte ich, denn Ruth hatte mir ja eingeschärft, ich solle nichts auf der Straße essen, erst recht nichts Rohes, da es meist nicht hygienisch genug sei. Omar Llanos hatte mich ja schon vorgewarnt, dass jeder Ausländer nach einer Woche in Peru erst mal krank werde, weil unser Immunsystem sich erst an die neuen Bedingungen gewöhnen müsse. Nun hatte ich also jene berüchtigte Magenverstimmung, dachte aber, dass ich am nächsten Tag wieder fit sei. Doch am Morgen fühlte ich mich noch schlechter und hatte sogar Schüttelfrost. Condoris riefen den Hausarzt, der bald darauf vorbeikam, mir Blut abnahm und meine Temperatur maß. Ich hatte 40 °C Fieber! „Der junge Mann hat möglicherweise Typhus. Aber wir müssen das Blutergebnis abwarten.“ Dann verschrieb er mir Antibiotika und Bettruhe.

Vier bis fünf Tage lag ich nun im Bett, aß kaum mehr etwas und schwitzte mein Kopfkissen nass. Zwischendurch kam Ruth immer mal ins Zimmer und legte kalte Eier an meine Schläfen, um – wie sie sagte – „das Fieber zu senken“. Dann half sie mir dabei, das nasse Unterhemd zu wechseln. Jedes Mal genoss ich diese kurzen Momente und fragte mich, ob Ruth vielleicht meine Frau werden sollte. War ich überhaupt schon bereit, zu heiraten? Warum eigentlich nicht? denn ich sehnte mich ja nach Liebe und Zärtlichkeit. Ruth hatte so etwas ausgesprochen Weibliches und erinnerte mich ein wenig an meine Schwester Diana, mit der ich mich ja auch sehr gut verstand. Wenn ich sie um ihre Hand bitten würde, dann würde sie vielleicht Ja sagen. Aber noch kannte ich sie ja kaum, deshalb wollte ich es nicht überstürzen. Wenn der HErr wollte, dass ich Ruth heiraten solle, dann werde Er mir das noch rechtzeitig zeigen. Nach etwa fünf Tagen verbesserte sich mein Gesundheitszustand, und es stellte sich heraus, dass es doch kein Typhus war, sondern nur eine harmlose Infektion. Dem HErrn sei Dank!

An einem Abend holte mich dann Fatima Tito (30), eine gute Freundin von Ruth, ab, um mich zu ihrer Chefin mitzunehmen, die mich eingeladen hatte. Fatima arbeitete nämlich als Dienstmädchen für eine Schweizer Millionärin. Wir kamen zu einer Villa im noblen Stadtteil San Isidro, wo die betagte Dame zusammen mit ihrer Schwester wohnte. Sie luden mich in ihren üppig ausgestatteten Salon mit schweren antiken Möbeln ein und plauderten etwas auf Deutsch über das alte Europa, das ihre Eltern vor 100 Jahren verlassen hatten. Dann setzten wir uns an einen sehr langen Tisch, und ein Butler servierte uns die Speisen. Auf einem Tablett zeigte er mir, was zur Auswahl stünde, und ich genierte mich wegen all dem Luxus, den ich gar nicht gewohnt war. Fatima durfte aber die ganze Zeit nicht mit uns am Tisch sein, weil das wohl nicht standesgemäß gewesen wäre. Auf dem Nachhauseweg erklärte mir Fatima, dass man in Südamerika noch immer viel Wert auf die Rasse eines Menschen lege: „Wer wie Du aus Europa kommt und dazu noch groß und hellhäutig ist, der steht hier bei jedermann nun einmal hoch im Ansehen, während ich als kleingewachsene Dunkelhäutige keine Chance habe, zu Rang und Ansehen zu gelangen. Diese Rangordnung ist tief im kulturellen Denken verwurzelt“. Diese Erklärung tat mir sehr leid. Und nun verstand ich auch, warum ich bei meinem evangelistischen Einsatz so viele Zuschauer hatte.


Taufe im Meer

In der zweiten Woche fuhren wir nach Ica, bzw. einem Vorort, nämlich dem Armenviertel Zona Sur de Parcona, wo Ruths Bruder Israel Condori (37) mit seiner Frau Alexandra (26) und ihren drei Söhnen – Jonatán (5), Joel (4) und Angel Salomón (2) – lebte. Ica ist eine Stadt mitten in der Wüste, umgeben von Bergen aus Sand und Felsen. Da es hier am Rande der Atacama-Wüste so gut wie nie regnet, werden die Felder am Stadtrand alle künstlich bewässert. Israels Familie wohnte – wie alle dort – in einem lehmverputzten Haus mit Bambusdach. Israel war früher mal bei der Marine, aber seit seiner Hochzeit 1984 hielt er sich und seine Familie nur noch mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Trotzdem hatte er eine sehr fröhliche und positive Ausstrahlung und träumte immer davon, noch einmal ganz groß herauszukommen. Immerhin hatte er es schon geschafft, Leiter einer Hausgemeinde von etwa zehn Geschwistern zu sein und leitete darüber hinaus noch eine Kindergruppe.

Als wir angekommen waren und etwas zu Mittag gegessen hatten, begleiteten mich die Brüder Mateo Asto (31) und Roger Ccanto (23) zu einem Spaziergang auf das nahe gelegene Gebirge, um das Dorf einmal von oben zu sehen. Als wir auf einem der Gipfel ankamen, konnte man bis in weite Ferne diese Gebirgswüste sehen, wobei die Sicht durch den feinen Wüstensand so gleißend hell war, dass ich mir am liebsten eine Sonnenbrille gewünscht hätte. Da ich mich auch nicht eingecremt hatte, waren meine Beine und Arme am Abend knallrot von der Sonne. Bruder Roger sagte mir, dass er sich am nächsten Tag taufen lassen wolle und bat mich, ob ich ihn taufen könnte. Für mich war dies eine große Ehre, da ich bis dahin noch nie jemanden getauft hatte. Da ich Roger jedoch noch nicht so gut kannte, war ich auf das positive Zeugnis der anderen angewiesen, das alle von ihm gaben. Roger war ein Bergarbeiter aus dem Gebirge von Ayacucho, war aber gerade zu Besuch bei seinen Brüdern Abad und Santiago in Ica. „Ich möchte auf dieser Reise auch noch unbedingt mal ins Gebirge fahren, und zwar zur alten Inca-Stadt Machu Picchu. Das muss ja wirklich beeindruckend sein, nicht wahr?“ – „Keine Ahnung“ sagte Roger, „denn ich war noch nie da.“ – „Echt?! – Mir hat man gesagt, dass jeder, der in Peru war und Machu Picchu nicht gesehen habe, im Grunde dann auch nichts von Peru gesehen hat. Aber du bist doch Peruaner – hatt´ dich das denn noch nie gereizt, diese Inca-Stadt auch mal zu besuchen?“ – „Das schon,“ sagte Roger, „aber ich habe nicht das Geld dafür.“ Das beschämte mich, und ich wurde still. Mit welchem Recht sollte ich als Ausländer Machu Picchu sehen dürfen, während er als Einheimischer sich die Reise finanziell nicht leisten konnte? Da kam mir eine Idee: „Ich mach Dir einen Vorschlag, Roger: Ich verzichte auf eine Reise nach Machu Picchu und werde stattdessen Dir die 200,- Dollar geben, um da mal hinzufahren. Was hältst du davon?“ – „Das ist sehr lieb von dir, Bruder Simon.“ Er umarmte mich vor Rührung und wir gingen weiter. Nach einer Weile sagte Roger: „Ich hab mal eine Frage...“ und dann fuhr er fort: „Darf ich das Geld auch für andere Zwecke verwenden?“ Beschämt antwortete ich: „Selbstverständlich.“

Am nächsten Tag fuhren wir mit der halben Gemeinde im Bus zum Strand von Carhuas, etwa anderthalb Stunden von Ica entfernt. Zum ersten Mal sah ich den Pazifik. Es war traumhaft schön und roch nach Meer. Man sah überall Pelikane und andere Wasservögel, die sich aus der Brandung kleine Fische schnappten. Wir legten unsere Sachen ab und begannen, ein Loblied zu singen. Dann knieten wir uns hin und hatten eine Gebetsgemeinschaft, wobei alle für den Roger Segen erbaten vom HErrn für seinen Glaubensweg. Dann bekannte Roger vor der Gemeinde seinen Glauben an den HErrn Jesus Christus und wir gingen dann gemeinsam ins Meer. Dort taufte ich ihn aufgrund seines Glaubens gemäß den Worten des HErrn „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Nach der Taufe und dem anschließenden Gottesdienst, den Bruder Israel leitete, verteilten die Schwestern an uns Mittagessen, das sie in Töpfen mitgebracht hatten. Leider gab es keinen schattigen Platz und zum Trinken nur diese süße Ina-Cola, die ich nicht mochte. Um mich etwas abzukühlen, schwamm ich nach dem Mittagessen ins Meer hinaus, etwa 20 Minuten und wollte dann wieder zum Strand zurückschwimmen. Auf einmal hatte ich jedoch den Eindruck, dass ich kaum vom Fleck kam, egal wie schnell ich auch schwamm. Ich hatte den Eindruck, dass mich das Meer immer weiter vom Strand abtrieb. Ich erschrak und betete, dass der HErr mir doch Kraft schenke, um wieder zurückzuschwimmen. Doch dann spürte ich, dass ich mich wohl geirrt hatte und kam heil wieder an den Strand, dem HErrn sei Dank!

Kurz bevor wir wieder aufbrachen, sah ich oben auf dem Strandweg einen mobilen Laden, der Getränke verkaufte. Ich stieg also hinauf und entschied mich für eine Flasche Bier, da mir die gelbe Inka-Cola oder Coca-Cola zu süß waren. Ich bezahlte und wollte gerade gehen, da sagte der Verkäufer zu mir, dass ich den halben-Liter Bier an Ort und Stelle austrinken müsse, da ich die Glasflasche danach wieder zurückgeben müsse. Ich dachte: Was soll´s, und fing an zu trinken. Da sah ich, wie die Geschwister nun alle die Anhöhe hochkamen. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass in Südamerika das Trinken von Bier unter Gläubigen in etwa so verwerflich war, als würde ich mir gerade ein Pornoheft anschauen. Doch es war zu spät: Laut rief der 5-jährige Jonatan: „Papa! Tio Simón está tomando cerveza!“ („Onkel Simon trinkt ja ein Bier!“). Israel konnte die peinliche Situation gerade noch retten, indem er seinem Sohn erklärte: „Sí, es por causa de su salud!“, womit er so tat, als ob ich das Bier aus rein medizinischen Gründen nehmen müsse aufgrund einer seltenen Erkrankung. Ruth lief schnell zu mir und flüsterte mir zu: „Esconde la botella, antes que los otros lo vean!“ („Versteck die Flasche schnell, bevor die anderen sie sehen!“). Ich bezahlte dem Besitzer einen Pfand für die Flasche und stieg mit den anderen auf die Ladefläche eines Lasters, der als Sammeltaxi umfunktioniert war. Alle schauten mich irgendwie ernst an, aber sagten nichts. Um das Missverständnis zu klären, nutzte ich die Gelegenheit am Sonntagabend, um in der Predigt im Gottesdienst den Geschwistern zu erklären, dass es zwischen den Kontinenten kulturelle Unterschiede gäbe, so dass es gelte, entsprechend Röm.14:5 tolerant, aber auch rücksichtsvoll zu sein. Ich wusste jedoch gar nicht, dass die meisten Geschwister noch nicht einmal eine Ahnung hatten, dass Deutschland ganz weit weg sei. Nach der Versammlung fragte mich ein Bruder: „Hermano, ¿cuantos micros tengo que tomar para llegar a Alemania?“ („Wie oft muss man im Bus umsteigen, um nach Deutschland zu kommen?“).

Da ich nun noch über zwei Monate Zeit hatte, fragte ich Bruder Israel, wo ich denn sonst noch hinreisen könnte, um Geschwister kennenzulernen. Israel erklärte: „Zu unserem Gemeindeverbund gehören ja sehr viele Gläubige aus Mittel- und Südamerika, die du noch alle besuchen könntest. Wir geben dir jetzt mal die Adresse und Telefonnummer der Familie Ramirez in Ecuador, und von dort kannst du dann weiter nach Kolumbien, Costa Rica und El Salvador weiterreisen, denn überall gibt es dort Geschwister von uns.“ – „Das Problem ist, dass ich nur 1000 Dollar mitgenommen habe, und jetzt habe ich schon $300 ausgegeben (allein schon $200 für Roger), und dann muss ich ja auch noch die ganze Strecke später wieder zurück…“ – „Mach dir keine Sorgen, Simón. Wenn du die ganze Reise per Bus machst, ist das gar nicht so teuer. Von Lima nach Guayaquil zahlst du etwa 30 – 40 Dollar in einem Bus 2. Klasse, und so sind auch in etwa die Preise in den anderen Ländern.“ – „Das klingt ja wirklich nicht viel. Aber wie lange dauert denn die Busreise nach Guayaquil?“ – „Bis zur Grenze nach Tumbes sind es etwa 22 Stunden, und von Tumbes nach Guayaquil noch einmal rund 5 Stunden, also 27 Stunden insgesamt. Aber keine Sorge: Die Zeit geht schnell rum. Ich bin die Strecke ja auch schon Dutzende Male gefahren, weil ich ja auch mal in Guayaquil gewohnt habe. Dort habe ich ja vor 8 Jahren auch Alexandra kennengelernt.“


Bei den Wilden in Ecuador

So fuhr ich also Mitte Februar 1992 auf der Panamericana von Lima aus nach Tumbes und von dort mit dem Taxi zum Grenzort Huaquillas. Als ich an der Grenze meinen Pass zeigte, sagte der Grenzbeamte: „Das macht 50 US$, Mister.“ – „Entschuldigen Sie, aber davon hat man mir gar nichts gesagt. Wofür muss ich die denn bezahlen?“ – „Das ist die Zollgebühr. Die muss jeder bezahlen, der die Grenze auf dem Landweg überquert.“ Ich gab ihm 50 Dollar, aber hatte ein ungutes Gefühl. Später erfuhr ich, dass er mich angelogen und meine Ahnungslosigkeit ausgenutzt hatte, indem er die 50 Dollar einfach für sich einsteckte. Auf der weiteren Fahrt änderte sich nun schlagartig das Klima und die Vegetation: während man zuvor nur wüste Einöde sah und die Luft warm, trocken, sonnig und windig war, wurde es plötzlich tropisch heiß und schwül. Rechts und links der Straße wuchsen überall Bananenbäume und man sah im Hinterland bewaldetes Gebirge im Nebel. Als ich nach weiteren 5 Stunden endlich in Gayaquil ankam, wurde ich von Bruder Ernesto Coronel (64), dem Besitzer einer kleinen Chemiefabrik, am Busbahnhof abgeholt. Er war sehr freundlich zu mir und sagte: „Ihr Deutschen seid alle hochintelligent und großgewachsen, das habe ich schon immer gewusst.“ Ich widersprach ihm, aber er redete so viel, dass das gar nicht bei ihm ankam. Er fuhr mich zur Familie von Nicolás Ramirez (60), die im südlichen Teil der Stadt wohnte. Dort wurde ich von Mutter Gladys Ramirez (51), ihrer Tochter Cecilia (25) und ihrem Sohn Felix (19) herzlich mit einem Wangenkuss willkommen geheißen.

Die feuchtheiße Luft in Guayaquil konnte man nur mit Ventilator einigermaßen ertragen. Überall sah man etwa 5 cm große Cucarachas (Kakerlaken) herumkrabbeln, sogar an den Wänden der Dusche. Aber die Einheimischen hatten sich längst daran gewöhnt und nahmen einfach eine Latsche in die Hand, um sie totzuschlagen. Mit ihrer herzlichen Art erinnerten mich Nicolás und Gladys schon bald an Edgard und Hedi. Sie hatten gerade eine recht korpulente Schwester aus Naranjál zu Besuch namens Fidelia Gutierrez (50). Wir unterhielten uns viel, und ich erfuhr einiges über die Gläubigen dort: So hatte es vor kurzem eine Spaltung gegeben in der Hausgemeinde, jedoch nicht wegen einer Lehrfrage, sondern aufgrund einer moralischen Frage, nämlich weil einer der Leiter der Gemeinde, ein gewisser Nelson Mogollón (58), unter Verdacht geraten war, mit den jungen Frauen aus der Gemeinde zu flirten. So hatte Schwester Fidela bei einem Besuch bei Nelson eines Morgens gesehen, dass eine seiner Schützlinge, Matilde (21), die er wie eine Tochter aufgenommen hatte, bei ihm im Bett lag. Nelson hatte erklärt, dass sie in der Nacht zu ihm ins Bett gestiegen war, weil sie nicht schlafen konnte, er sie aber nie berührt hätte. Die eine Hälfte der Gemeinde glaubte ihm, aber die andere war skeptisch und hatte ohnehin schon lange etwas gegen Nelson, da er durch seine schulmeisterliche und zugleich machohafte Art immer wieder Anstoß erregte. So versammelte sich Familie Ramirez und Ernesto mit ein paar anderen nun im Haus der Ramirez, während sich Nelson mit den anderen Brüdern im Haus der Familie von Jorge Calvache (55) versammelte.

Am nächsten Tag war abends Versammlung, und die Geschwister baten mich, die Predigt zu halten. Ich sprach über das Thema Lauheit und Weltliebe, da ich sah, dass die Schwestern z.T. geschminkt, mit Ohrringen und kurzen Hosen zum Gottesdienst gekommen waren. Zudem stand in der Ecke des Wohnzimmers genau neben mir ein großer Fernseher, der die meiste Zeit des Tages an war. Während ich predigte, kam auf einmal Bruder Israel Condori dazu, der wohl gerade unerwartet aus Ica angereist war. Er grüßte alle kurz und setzte sich leise hin. In diesem Moment sagte ich gerade: „Der Teufel versucht seit Jahren, durch ein Trojanisches Pferd in die Häuser der Gläubigen einzudringen und durch die Weltliebe ihre Treue zum HErrn zu zerstören. Dieses trojanische Pferd ist heute der Fernseher, durch den es Satan gelungen ist, all den Dreck dieser Welt in die Häuser und Herzen der Gläubigen zu bringen, weshalb man ihn auch als Teufelskasten (caja del diablo) bezeichnen kann.“ Während ich dies sagte, tippte ich mit der Hand auf den Fernseher und spürte in dem Moment, wie Bruder Israel am liebsten vor Fremdscham im Boden versunken wäre. Wie konnte dieser junge deutsche Bruder die Gläubigen schon gleich beim ersten Mal so derart vor den Kopf stoßen und sie als vom Teufel Verführte hinstellen, wo sie ihm doch solch eine Liebe und Gastfreundschaft erwiesen haben! Damals wusste ich nicht, dass Südamerikaner mit solch einer scharfen und direkten Kritik gar nicht umgehen können, da sie – im Gegenteil – Meister der Diplomatie und Schmeichelei sind.

Am dritten Tag wollte ich nun auch gerne mal den Bruder Nelson kennenlernen, und Felix brachte mich zu ihm. Nelson war früher mal Lehrer, arbeitete nun aber als Schlosser, der vorwiegend Fenstergitter und Metalltüren herstellte. Nelson erklärte mir, dass er zusammen mit Bruder Jorge Calvache, einem Elektromeister, und dem jungen Grundschullehrer Abraham Mora (22) regelmäßig aufs Land fahre, um unter den Eingeborenen zu missionieren. Dort habe er auch die Schwestern Matilde und Rosita kennengelernt und mit sie nach Guayaquil genommen. Im Übrigen sei an den Gerüchten nichts dran, und Fidela sei eine furchtbare Tratschtante, die ständig Gerüchte in die Welt setze, um sich dadurch wichtig zu tun. So fuhren wir mit Jorge und Abraham schon bald darauf zusammen aufs Land in der Nähe von Daule, um die bereits für den HErrn Jesus gewonnenen Indios zu besuchen. Diese lebten in Pfahlbauten, d.h. Bambushütten auf Pfählen, da es in dieser Region sehr häufig Überschwemmungen gäbe. Überall auf dem Land wurde Reis angebaut. Jetzt in der Regenzeit gab es jede Menge Mücken, weshalb wir uns die Haut mit citronela einrieben, einem Öl, das aus Zitronengras gewonnen wird. Mit der Bibel in der Hand stapften wir also von Hütte zu Hütte, um die Einheimischen zu einer spontanen Versammlung einzuladen. Und diese Indios waren in der Tat bettelarm. Sie trugen selbst zusammengenähte Stoffhöschen und hatten alle Plattfüße, da sie noch nie in ihrem Leben Schuhe anhatten. Während ich ihnen mit ganz einfachen Worten das Evangelium erklärte, schauten sie mich die ganze Zeit an wie einen Außerirdischen und waren wahrscheinlich gar nicht in der Lage, mir zuzuhören. Abraham erzählte mir, dass sie die Indigenen mithilfe eines ehrenamtlichen Schulprogramms gewinnen würden. Denn da die Schulen weit entfernt liegen und die Kinder deshalb oft gar nicht zur Schule gingen, hatte Abraham sich angeboten, gelegentlich Unterricht zu geben unter freiem Himmel und dann nebenbei auch die Evangeliumsbotschaft zu verkünden. Ich fand die Idee sehr schön und versprach Abraham, dass ich in Deutschland Spenden sammeln wolle, damit er ein regelmäßiges Gehalt beziehen könne, um dann hauptberuflich als evangelistischer Lehrer für die Kinder zu arbeiten. Abraham war dazu sofort bereit, zumal Lehrer wie er in Südamerika ohnehin immer unterbezahlt sind und von ihrem Gehalt kaum leben können.

Bruder Jorge Calvache bot mir nun an, am Sonntag in der Pfingstgemeinde zu predigen, zu der er früher hinging und zu der er immer noch ein freundliches Verhältnis hatte. Nachdem er mit dem Pastor gesprochen hatte, fragte dieser mich, ob ich auch an einer Evangelisationsveranstaltung am Samstag sprechen könne. Sie hatten zu diesem Zweck eine große Bühne in der Innenstadt aufgebaut und aus Lautsprechern schallte laute „Lobpreismusik“, die eher an Discomusik erinnerte. Dann kündigte ein Redner mich an und übergab mir das Mikrophon. Ich predigte etwa 15 Minuten lang zu den etwa 150 Leuten auf dem Platz und gab das Mikrophon dann zurück. Als sie auf einmal klatschen, war ich irritiert, denn scheinbar waren dann wohl die meisten von ihnen bereits gläubig. Am nächsten Tag sollte ich dann in deren Pfingstgemeinde predigen. Ich nutzte die Gelegenheit und predigte über das Thema Geistesgaben, wobei ich betonte, dass die allermeisten Zungeredner heutzutage gar nicht durch den Heiligen Geist reden, sondern durch einen dämonischen Geist. Während ich meine provokante These mit vielen Bibelstellen zu rechtfertigen versuchte, standen die ersten auf und gingen einfach hinaus, weil sie es wohl nicht ertragen konnten. Plötzlich ging einer nach vorne zu mir ans Rednerpult. Ich dachte: Will er mich jetzt am Reden hindern? Aber stattdessen ging er vor mir auf die Knie und betete, was mich ziemlich nervös machte. Dann rief der Pastor aus einer hinteren Reihe mir zu: „Junger Bruder, ich weissage jetzt schon seit 30 Jahren und bete in Zungen. Willst Du etwa behaupten, dass ich seit 30 Jahren von einem Dämon verführt werde?“ Ich antwortete: „Auch der Prophet Zedekia glaubte, dass er durch den Geist Gottes weissagte, aber in Wirklichkeit war es ein Lügengeist (1.Kön.22:24)“. Jetzt war ich wohl eindeutig zu weit gegangen, und der Pastor brach den Gottesdienst vorzeitig ab, da er mit meinen Ansichten absolut nicht einverstanden war.

An nächsten Tag ging ich mit Bruder Nelson in die Slums der Stadt an einen Nebenfluss des Rio Guayas. Die Armen hatten sich dort dicht aneinandergedrängt Pfahlhütten gebaut, die z.T. weit in den Fluss hineinragten. Das Flussufer war eine stinkende Kloake voller Müll, in dem Kinder und Hunde spielten. Auch hier hatte Nelson bereits erfolgreich missioniert und brachte mich deshalb zu einer 40 Jahre alten Glaubensschwester, die im Sterben lag, weil sie Krebs im Endstadium hatte. Als wir die Hütte betraten, lag sie in einer Hängematte mit schmerzverzerrtem Gesicht und um sie herum ihre 10 Kinder im Alter von 3 bis 12 Jahren. Nelson stellte mich ihr vor und bat mich, ein Gebet für sie zu sprechen und ihr ein Wort der Ermutigung aus der Bibel vorzulesen. Aber gab es überhaupt eine Bibelstelle, die einer so akut notleidenden Frau noch Trost und Zuversicht spenden konnte, ohne als Verharmlosung ihrer Schmerzen missverstanden zu werden? Doch dann schenkte mir der HErr spontan das beste Trostwort der Bibel, um es ihr vorzulesen: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Seine Volk sein, und Er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb.21:1-5). Die Frau in der Hängematte lächelte kurz und griff meine Hand. Sie sagte aber kein Wort, weil der Krebs sie wohl daran hinderte, aber ich spürte, dass diese Worte ihr sehr geholfen hatten.

Nach einer Woche sprach ich mit Familie Ramirez über meine Weiterreise. Sie empfahlen mir, die beiden Gomez-Brüder zu besuchen, die ebenso zu diesem Percy-Heward-Kreis gehörten und vom kanadischen Bibellehrer Dr. Arturo Vicente immer besucht wurden. Der Luis Gomez wohne in Quito, der Hauptstadt Ecuadors im Gebirge, und sein Bruder Pepe (José) wohne in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien. Cecilia, die Tochter der Ramirez, bot an, mich auf der Reise nach Quito zu begleiten. Als die dicke Schwester Fidela das hörte, wollte auch sie gerne mitkommen, da sie schon länger nicht mehr in Kolumbien gewesen sei. Wir nahmen den Nachtbus nach Quito und kamen nach 8 Stunden im 3000 Meter höher gelegenen Quito an. Morgens um 7:00 Uhr erreichten wir dann mit einem Taxi das bescheidene Haus von Luis Gomez (39) am Stadtrand von Quito. Luis war eher phlegmatisch, hatte ein pausbackiges Gesicht mit Oberlippenbart und sprach mit dem typischen Akzent, wie man ihn im Gebirge sprach. Nachdem wir bei ihm gefrühstückt hatten, ging ich mit Cecilia hinaus in die Natur zu einem Spaziergang. Sie erzählte mir, dass sie vor drei Jahren geheiratet hatte, aber ihr Mann sie häufig schlug und sehr rücksichtslos war. Deshalb habe sie sich im Jahr zuvor wieder von ihm getrennt und wohne jetzt wieder bei ihren Eltern. Ich erzählte ihr, wie ich das von der Schrift sah und nannte ihr als Beispiel meine Eltern, die sich auch mal getrennt, aber dann wieder versöhnt hatten. Während wir so im Gespräch vertieft waren, fiel uns nach etwa einer Stunde auf, dass wir gar nicht auf den Weg geachtet hatten. Zu unserem Erschrecken wurde uns bewusst, dass wir noch nicht einmal eine Adresse von Luis Gomez hatten, um Leute nach dem Weg zu fragen, da ja nur Fidela die Adresse kannte und im Haus geblieben war. Wir beteten, dass der HErr uns wieder zurückbringen möge, und Gott erhörte unser Gebet, so dass wir nach etwa zwei Stunden wieder zurückgefunden hatten.

Luis gehörte keiner Gemeinde an, sondern versammelte sich nur mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Ich empfahl ihm, doch auch mal Kontakt zu Christen aus anderen Kreisen aufzunehmen, aber er wollte mit den zahlreich vorhandenen Pfingstlern und Adventisten lieber keine Gemeinschaft haben. Am nächsten Tag fuhr er mit uns zum Denkmal „mitad del Mundo“ im Norden von Quito, wo exakt die Äquatorlinie verläuft. Dann verabschiedete ich mich von ihm und der Cecilia und fuhr mit Schwester Fidelia weiter nach Kolumbien. Nach fünf Stunden erreichten wir den Grenzort Ipiales und von dort ging es noch mal 22 Stunden lang im Bus bis wir endlich Bogotá erreichten. Die Landschaft unterwegs war zwar wunderschön, da es quer durch die Anden ging, aber die Busfahrt war eine harte Tortur, zumal die dicke Fidelia in der Nacht ständig laut schnarchend auf meine Seite rutschte und mir kaum nach Platz ließ. Ständig musste ich sie wieder rüberschieben auf ihren Platz. Hinzu kam die furchtbare Hitze in den Talebenen (gefühlte 40˚C), die gefolgt wurden von frostigen Temperaturen um den Gefrierpunkt im Hochgebirge, wenn wir wieder auf 3.500 m Höhe waren.

Fortsetzung folgt…

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