„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 3

Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte  (Teil 3)

 

Jan.-Juni 1982

Meine Mutter gründet eine Schülertheatergruppe

Meine Schwester Diana war mittlerweile 15 geworden und verbrachte immer mehr Zeit mit ihrer Clique von sechs Freundinnen. Häufig kam sie spät nach Haus, weshalb meine Mutter sich Sorgen machte. Diese Mädchen stellten viel Unfug an (einmal kamen sie morgens vor Unterrichtsbeginn auf die Idee, alle nacheinander hinter die Tafel zu pinkeln, um der Lehrerin dadurch einen Streich zu spielen) und übten keinen guten Einfluss auf Diana aus. Ständig stritt sie sich mit meiner Mutter und war manchmal rotzfrech. Auch ich hatte häufig Streit mit ihr, weil sie sich nie an der Hausarbeit beteiligte und sich darüber hinaus auch noch so zickig und unverschämt verhielt, dass ich es kaum ertragen konnte. Vor Wut rannte ich dann auf sie zu und wollte sie schlagen; aber sie rannte so schnell wie möglich die Treppe hoch auf ihr Zimmer und versuchte, noch schnell die Tür zu verschließen. Wenn ich sie dann aufdrücken wollte, war es schon zweimal passiert, dass meine Fingerkuppe in der Tür gequetscht wurde und blau anlief. Später verlor ich dann auch noch meinen ganzen Nagel. Ich schrie sie dann an mit Worten wie „DU NUTTE!“ oder „DU BLÖDE HEXE!“, während sie nur schallend lachte.

Diana hatte uns Brüder gegenüber viele Sonderechte, was wir als sehr ungerecht empfanden. Sie hatte nicht nur ihr eigenes Zimmer, sondern wurde von unseren Eltern auch mit viel mehr Rücksicht behandelt, da sie eben die einzige Tochter war. Doch eines Tages musste meine Mutter mit Diana ein ernstes Wort reden: „Hör mal, Diana, wenn Du Dich weiter an jeder Ecke mit diesen Mädchen rumtreibst, dann wird das kein gutes Ende nehmen. Es braucht nur mal ein junger Mann auf Dich aufmerksam werden und Dich missbrauchen, das wäre furchtbar! Ich mache mir wirklich Sorgen um Dich, Diana.“ Sie redeten lange miteinander, und Diana zeigte sich einsichtig.

Auf einmal hatte Diana eine Idee, mit welcher sie alle Probleme auf einmal lösen konnten: „Wir gründen als Familie zusammen mit meinen Freundinnen eine Schüler-Theatergruppe, und Du, Mutti, bist unsere Regisseurin und Managerin!“ Als die Diana mich fragte, war ich sofort begeistert von dieser Idee, und auch Marcus ließ sich schließlich dazu überreden. Diana rief dann ihre Freundinnen Bianca, Birgit und Manuela an, die sofort einverstanden waren. Ich fragte in meiner Klasse, und es fand sich der kleine Nicolai Hobbie, der auch gerne mitmachen wollte. Es dauerte nicht lange, da hatte sich Diana auch unser erstes Theaterstück ausgedacht mit dem Titel „Lustig ist das Zigeunerleben“. Es handelte von der heimlichen Liebe einer Grafentochter (Manuela) mit einem Zigeunerjungen (Bianca). Als die Tochter auf einmal schwanger wurde, dachten alle, dass das Kind von ihrem blasshäutigen Verlobten (Birgit) stammte. Doch bei der Geburt kam auf einmal ein dunkelhäutiges Baby zur Welt (eine mit Schuhcreme eingefärbte Puppe), so dass da etwas nicht stimmen konnte. Die Tochter bekannte nun ihr Techtelmechtel vor den Eltern. Während die Zigeunermutter (Diana) diese Liaison begrüßte, war der Graf (Simon) und die Gräfin (Birgit) strikt dagegen. Der Graf sandte nun seinen Adjutanten (Marcus), der den Nebenbuhler ermorden sollte. Nach vielen Irrungen und Wirrungen konnte das ungleiche Paar am Ende dann doch heiraten und alle waren glücklich und versöhnt.

Nach einigen Wochen Probe waren wir so weit, um es aufzuführen. Wir nannten uns von nun an „Hau-Ruck-Theater“ und ließen Plakate machen, die wir in Schulen aufhängten. Doch zunächst kamen nur sehr wenig Zuschauer, was uns jedoch nicht entmutigte. Da wir keine auswendig gelernten Texte sprachen, sondern „aus dem Stegreif“ vortrugen (d.h. improvisiert), war jede Vorführung immer etwas anders, so dass wir uns auch immer selbst amüsierten. So kam es dann gelegentlich zu völlig sinnfreiem Klamauk, als ich z.B. als jähzorniger Graf meinen Butler (Nikolai) rief: „Wo bleiben Sie denn?! Oder hatten Sie mal wieder ihre Tage?“ Durch die Lacher im Publikum fühlten wir uns in der Einschätzung bestätigt, dass es nicht darum ging, eine kulturell anspruchsvolle Inszenierung vorzutragen, sondern dass wir unserer Kreativität freien Lauf geben durften. Doch nicht alle fanden unsere Auftritte komisch: Als wir einmal eine Vorführung auf der großen Bühne im SZ Drebberstr. hatten vor ca. 100 z.T. rowdyhaften Schülern „mit Migrationshintergrund“, wurden wir ausgebuht, anpöbelt und sogar mit Pausenbroten beworfen. Vielleicht war unsere Themenwahl doch etwas zu kitschig und realitätsfern.

Meine Mutter bemühte sich unterdessen um mehr Publikum. Sie rief beim berühmten „Schnürschuhtheater“ in Bremen an, das schon seit Jahren professionelle Theaterstücke präsentiert vor ausverkauftem Publikum. Meine Mutter war den Schauspielern mit ihrer herzlichen Art sofort sympathisch: „Renate, Du musst einfach mal ein richtiges Kulturfestival organisieren, am besten im Bürgerhaus Weserterrassen. Ruf doch mal bei einer Künstleragentur an und frag nach, ob da ein paar Newcomer-Bands mal kostenlos auftreten würden, um dadurch größere Bekanntheit zu erlangen. Der Bürgerhausverein kümmert sich dann, um für das Event Werbung zu machen, und Ihr könnt dann vor viel größerem Publikum auftreten.“ Meine Mutter fand die Idee genial und rief sofort dort an.

Nach vielen weiteren Telefonaten kam dann endlich das große Kulturfestival zustande, wo mehrere Künstler vor bis zu hundert Gästen auf einer Bühne auf der großen Wiese hinter dem Bürgerhaus ihre Auftritte hatten. Da der Eintritt frei war, waren im Nu alle Plätze besetzt. Später gab es jedoch Ärger von verschiedenen Seiten. Nicht nur gab es eine Anzeige von der GEMA, weil einer der Bands unerlaubt Stücke der Gruppe Van Halen spielte, sondern auch meine Mutter wurde wüst beschimpft, weil der Name unseres Stückes angeblich die Sinti und Roma verunglimpfen würde. Wir aber waren stolz auf unsere Mutter, dass sie solch ein Kulturfestival überhaupt ins Leben rufen konnte. Das hätten wir ihr nie zugetraut. Doch wir ahnten noch nicht, dass meine Mutter noch zu ganz anderen Dingen fähig war…

Casa Materna – ein Waisenhaus in Italien

An einem Abend besuchte meine Mutter mit ihrer Freundin Marlene Kothe einen Vortrag im Gemeindehaus Bremen-Hemelingen, wo die Mitarbeiterin eines Spendenvereins über ein christliches Kinderheim in Neapel berichtete. Das Waisenhaus wurde Ende der 40er Jahre von den zwei Brüdern Santi gegründet, nachdem sie ein Schlüsselerlebnis hatten, durch welches Gott zu ihnen geredet hatte. Einer von beiden ging kurz nach dem Krieg eines Abends durch die Straßen von Neapel, als er auf einmal zwei kleine, ausgehungerte Kinder sah, die am Straßenrand Streichhölzer verkauften. Er sprach sie an, wo denn ihre Eltern seien, und sie erzählten ihm, dass sie auf der Straße leben würden, da ihre Eltern tot seien. Er nahm sie mit zu sich nach Haus, wo seine Frau ihnen ein Abendessen gab und sie badete. Von nun an durften sie bei den Santis wohnen. Doch in den Wochen danach fand er immer mehr obdachlose Kinder, die er in seine Wohnung aufnahm. Da kaum noch genügend Platz war, nahm nun auch sein Bruder bei sich verwahrloste Kinder auf. Da sie beide gläubige Christen waren, ließen sie sich von dem Wort Jesu leiten: „Wer solch ein Kind aufnehmen wird in meinem Namen, der nimmt mich auf“ (Mt.18:5).

Irgendwann waren beide Wohnungen so voll, dass sie ein größeres Haus suchten. Da erfuhren sie von einer alten Villa in Portiçi, direkt am Golf von Capri zu Füßen des Vesuv. Mit Hilfe großzügiger Spender aus den USA konnten sie das Anwesen kaufen und machten daraus ein Waisenhaus. Da sie jedoch evangelische Methodisten waren, weigerte sich die katholische Regierung von Anfang an, dies Kinderheimprojekt finanziell zu unterstützen. Daher waren sie auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Über die Jahre geriet die Kinderheimbetreuung immer wieder in finanzielle Schieflage, aber die beiden Brüder vertrauten auf Gott, dass Er es ihnen nie an Nahrung für die Kinder mangeln ließe. Vater Santi sagte einmal: „Wann immer ich ein leidendes Kind sehe, frage ich nicht, woher es kommt oder wohin es geht, sondern ich werde dieses Kind.“

Meine Mutter war von diesem Vortrag zutiefst berührt und entschied sich an diesem Abend, all ihre Kraft und ihre Möglichkeiten zu verwenden, um dieses Waisenhaus zu unterstützen. Sie kaufte sich ein Buch über die Entstehungsgeschichte des Hauses Casa Materna (https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/familie-santi-waisenhaus-casa/) und wurde Mitglied im Förderverein. Dann informierte sie ihre Freundinnen und Bekannte über das Projekt und motivierte sie, die Arbeit ebenso zu unterstützen. An einem Tag ging meine Mutter ganz spontan in eine Bank und sagte, dass sie gerne mal mit dem Direktor sprechen wolle. Der Filialleiter lud sie in sein Büro, und sie erzählte ihm in ihrer lebhaften Art von dem Leid der Kinder und bat um eine Spende. Der Filialleiter lächelte sie an und füllte dann tatsächlich einen Scheck über 1.000, – DM aus. Ermutigt von diesem Coup ging meine Mutter als nächste nach Karstadt und bat, mit dem Geschäftsführer zu sprechen. Man brachte sie in sein Büro, und schon wieder erklärte sie mit Händen und Füßen, dass man doch diesen armen Kindern helfen müsse. Daraufhin erhielt meine Mutter einen Gutschein i.H.v. 2.000, – DM, mit welchem sie Waren für das Kinderheim geschenkt bekam.

Voller Freude fuhr meine Mutter nach Haus und war selbst darüber verblüfft, wie einfach es war, Spenden für einen guten Zweck zu sammeln. Zum ersten Mal spürte meine Mutter, dass sie mit ihrer herzlichen und einnehmenden Art etwas bewirken konnte. All die Jahre hatte sie sich von ihren Eltern einreden lassen, dass sie zu nichts tauge, und wurde auch von meinem Vater immer nur als dumme Hausfrau behandelt. Aber jetzt erkannte sie, dass in ihr viel Potential steckte, dass sie für andere einsetzen konnte. Ein paar Tage später war meine Mutter in der Küche am Abwaschen als sie im Radio eine Sendung hörte, bei welcher die Hörer anrufen und ihre Meinung sagen konnten. Meine Mutter griff zum Hörer und rief in der Sendung von Radio Bremen an. Live erzählte sie nun tränengerührt von ihrem Engagement für Casa Materna, und dass die Kinder dort kaum etwas zum Anziehen hätten. Der Moderator bot den Zuhörern an, im Studio anzurufen, wenn sie meiner Mutter eine Spende mit Kinderkleidung zusenden wollten. In den Tagen danach kamen am laufenden Band Pakete mit Kinderkleidung an, so dass unser Keller bis an die Decke gefüllt war. Meine Mutter war nun völlig außer Rand und Band.

Aber wie sollte meine Mutter all diese Pakete nach Italien bekommen? Sie hatte wieder eine Idee und rief bei der Brauerei Becks an, ob man ihr einen LKW und einen Fahrer spendieren würde, der all die Pakete und die Waren von Karstadt nach Neapel bringt. Und prompt bekam sie wieder eine Zusage. Sie verabredete sich nun mit Mitgliedern des Vereins und fuhr mit einem italienisch sprechenden Ehepaar und dem LKW nach Italien, um die Spendenpakete abzuliefern. Als sie wieder zurück war, hatte sie jede Menge zu erzählen und auch ganz viele Fotos mit, so dass sie von nun an Dia-Vorträge halten konnte über das Kinderheim. Jetzt wusste meine Mutter endgültig, dass sie alles erreichen konnte, wenn sie es nur versuchen würde.


Hat Gott überhaupt Interesse an uns Menschen?

An einem Tag lasen wir mit unserer Klassenlehrerin Frau Reby im Deutschunterricht einen Text über Edward Teller (1908-2003), dem Erfinder der Wasserstoffbombe. Das Ende des Textes lautete: „Als der Wissenschaftler fertig war, legte er die Entwürfe auf die Fensterbank, zog seinen Kittel aus und verließ den Raum. Die Sonne schien durch die Scheiben auf die Fensterbank und auch auf die Entwurfspapiere.“ Frau Reby fragte nun in die Runde: „Ist dieser Schluss nicht seltsam? Was glaubt ihr, was der Autor hier sagen wollte?“ Keiner meldete sich. Nach einer Weile meldete ich mich. Frau Reby gab mir ein Zeichen. „Also, ich glaube, dass die Sonne für Gott steht“ sagte ich. Auf einmal protestierte die ganze Klasse. „Wie kommst Du denn darauf!?“ fragte einer. „So ein Quatsch!“ empörte sich eine andere. „Warum bringst Du denn jetzt Gott ins Spiel? Den gibt es doch sowieso nicht!“ sagte ein Dritter. Frau Reby bat um Ruhe und erteilte mir das Wort, damit ich es näher begründen solle. „Weiß ich auch nicht. Für mich stand die Sonne immer schon für Gott. Er blickt auf die Erde und nimmt Kenntnis von allem, was wir so tun.“ – „Aber willst Du damit etwa sagen, dass Gott die Wasserstoffbombe gut findet?“ fragte einer. „Nein. Aber Er hat alles unter Kontrolle. Ich glaube, das wollte der Autor damit sagen.“ – „Da stimme ich Simon zu!“ sagte ein Mädchen. Es war Kerstin Theisen, meine „Freundin“. Ich blickte sie strahlend an. „Ich glaube auch, dass es Gott ist, denn Er hält alles in Seiner Hand“ sagte Kerstin.

Inzwischen war die Zeit gekommen, dass Marcus und ich konfirmiert werden sollten. Zuvor hatten wir mehrere Wochen lang bei Pastor Schüssler Konfirmationsunterricht bekommen, wo wir das Vaterunser und das Evangelische Glaubensbekenntnis auswendig lernen sollten. Konfirmation heißt ja übersetzt „Bestätigung“, d.h. der Pastor sollte uns prüfen und bestätigen, dass wir seit unserer Taufe inzwischen echte Christen geworden waren. Aber die meisten aus meiner Klasse, die z.T. am Konfirmandenunterricht teilgenommen hatten, glaubten ja noch nicht einmal an Gott, sondern waren nur an den 1000, – DM von ihren Eltern interessiert, die sie zur Konfirmation bekommen sollten. Also war diese ganze Veranstaltung doch eine völlige Heuchelei, wie mir schon damals bewusst wurde. Man sollte einfach nur etwas auswendig lernen, was man gar nicht verstand, und schon wurde man für einen Christen gehalten. Was für eine Lüge! Aber alle machten mit.

Ich selbst hatte eigentlich auch überhaupt keine Beziehung zur Bibel. Sie war für mich nur ein dicker Schinken mit über 1000 Seiten. ‚Wer käme schon dazu, FREIWILLIG so ein dickes, altes Buch zu lesen?‘ dachte ich. Aber zu Gott hatte ich auch keine Beziehung mehr, denn meine Mutter hatte aufgehört, mit uns abends zu beten. Einmal, als ich abends schon im Bett lag und so tat, als ob ich schlief, ging meine Mutter mit Marcus nach oben, sagte ihm Gute Nacht und fügte hinzu: „Beten kannst Du ja alleine“. „Ja, mach ich“ sagte Marcus. ‚Das macht der ja doch nicht‘ dachte ich, ‚aber wollen wir mal schauen…‘ Auf einmal ging Marcus auf die Knie und betete tatsächlich. Da war ich peinlich berührt. Das hatte ich Marcus gar nicht zugetraut, dass er freiwillig betet, obwohl doch niemand im Raum ist, der ihn kontrolliert! Demnach musste Marcus ja wirklich davon ausgehen, dass Gott sein Gebet hört. Für mich hingegen war Gott schon längst in weite Ferne gerückt. Natürlich gab es Ihn, aber mein Eindruck war, dass Er Wichtigeres zu tun hatte, als sich für unsere nichtigen Belange zu interessieren. Bei der WM ‘82 hatte ich bei jedem Spiel immer gebetet, dass Deutschland gewinnen möge, aber am Ende gewann dann doch Italien. Vielleicht hatten die Italiener einfach mehr gebetet, dass ihre Mannschaft gewinnen möge, so dass Gott ihnen den Vorzug geben musste. Ich betete auch jedes Mal, wenn ich mir eine neue Schallplatte gekauft hatte, dass die Musik mir doch gefallen möge. Aber häufig waren dann doch nur zwei Stücke drauf, die mir gefielen, und da wurde mir klar, dass Gott sich nicht für solche Banalitäten interessiert. Er musste sich doch ständig um viel wichtigere Angelegenheiten kümmern, dass ich Ihn mit meinen lächerlichen Bitten nur auf die Nerven gehen würde. Also ließ ich das Beten lieber.

Bei den Pfadfindern mussten wir auch beten, und das wurde sogar kontrolliert. Wenn wir beim Beten etwas Unsinniges sagten, hat uns der Gruppenleiter Jens anschließend gerügt. Mittlerweile waren Marcus und ich fast 14 und sollten beim nächsten großen Zeltlager zum sog. „Jungpfadfinder“ vereidigt werden. Bei den Pfadfindern gibt es nämlich traditionell bestimmte Grade (ähnlich wie bei den Freimaurern): Man fängt an als „Sippling“, dann wird man „Wölfling“, dann „Jungpfadfinder“, dann „Späher“ und dann „Rover“. Zum Aufsteigen in einen höheren Grad muss man eine Prüfung ablegen und bei der Vereidigung einen auswendig gelernten Spruch aufsagen. Um den Grad des Jungpfadfinders zu erreichen, sollten wir immer zu zweit eine eigene Andacht halten und ein Gebet sprechen. Beides wurde streng geprüft vor einem Ausschuss, der dann über die Anerkennung entschied. Der Junge, mit dem ich die Andacht halten sollte, hatte aber von Tuten und Blasen keine Ahnung, deshalb bot ich ihm an, dass ich die Andacht alleine vortrage und er dann das Gebet spreche.

Ich wählte meine Lieblingsgeschichte, nämlich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Das war aber auch die einzige Geschichte, zu der ich überhaupt etwas sagen konnte, nämlich dass wir nicht einfach an Menschen in Not vorbeigehen sollten, sondern uns um sie kümmern müssen. Dies trug ich dann mit vielen Worten vor und erklärte zum Schluss, dass ja auch Jesus gekommen sei, um Gutes zu tun. Nun war mein Part beendet und mein Kollege war an der Reihe. Er betete: „Gott, wir danken Dir für Deine Gaben. Amen.“ Ich blickte zu ihm rüber und dachte: ‚Na, das war aber extrem kurz. Und dafür hat er eine ganze Woche gebraucht, um die paar Worte zu sprechen! Das gibt garantiert Ärger!‘ Und so war es dann auch. Ich hatte die Prüfung bestanden, aber mein Kompagnon wurde beiseite genommen und für sein mageres Gebet getadelt. Er durfte dann auch nicht an der Zeremonie teilnehmen, die wir an jenem Abend im Wald beim Lagerfeuer machten. Wir sollten alle mit der linken Hand eine lange Fahnenstange anfassen und die rechte Hand zum Schwur erheben. Und dann bekamen wir unser neues Abzeichen ans Revers geheftet.

Doch schon bald darauf gab es abends auf dem Zimmer Streit. Torsten Osmers, oder ‚Mini-Ossi‘, wie alle ihn nannten, hatte mich vor allen anderen beleidigt und sich über mich lustig gemacht. Ich war aus dem Zimmer gegangen, während alle über mich lachten. Doch dann ging ich wieder zurück und schlug ihm unversehens ins Gesicht. Sofort sprang er vom Hochbett runter, um mich zu schlagen. Eine heftige Prügelei brach aus, die erst dadurch endete, dass uns zwei ältere Gruppenleiter auseinanderbrachten. Seine Nase blutete heftig und er schaute mich wutschnaubend an. Wir sollten uns gegenseitig entschuldigen, aber waren nicht dazu bereit. Daraufhin bekamen wir beide eine Disziplinarstrafe und man drohte uns mit dem Ausschluss aus der Pfadfinderei, wenn sich das noch einmal wiederhole. Aber ich hatte ohnehin genug und wollte nicht mehr zu den Pfadfindern gehen.


Auf der Suche nach einer eigenen Identität

Im Mai fuhren wir mit unseren Lehrern Frau Reby und Herrn Müller auf Klassenfahrt. Mein Freund Ulf stachelte mich an, den beiden einen Streich nach dem anderen zu spielen, damit es eine lustige Fahrt werde. Aber mir fiel es schwer, da ich ja Frau Reby mochte. Deshalb beschränkte ich mich auf Herrn Müller, dem ich z.B. Zahnpasta unter die Klinke schmierte und ihn dann rief: „WERNER…! WEEERNER!!!“ Die Jungs aus dem Zimmer lachten, weil ich unseren Englischlehrer einfach beim Vornamen rief. Dies spornte mich weiter an: „WERNEEEER!“ Da betrat er unvermittelt den Raum und sagte lächelnd: „Was ist denn, Simon?“ Er hatte mich durchschaut und war nicht in die Falle getappt.

Für meine Mitschüler war ich schon lange der Klassenkasper, aber mir fiel allmählich auf, dass ich ihr Sklave war. Alle erwarteten von mir, dass ich Blödsinn machte, deshalb musste ich immer liefern. Mein Freund Ulf gab mir immer die Ideen, aber sie auszuführen traute er sich selbst nicht. Mitten in der Nacht, als die meisten auf dem Zimmer schon schliefen, hörte ich eine ganze Weile ein leises Geräusch und ahnte schon, was es war. Auf einmal sagte Ulf ganz laut: „Ey, Yellow, sag mal, wichst Du etwa?“ ‚Yellow‘ sagten wir zu Jürgen Schrader, den unbeliebtesten Schüler in der Klasse. Seinen Namen hatte er, seit ihm mal ein anderer Schüler vor allen anderen ins Gesicht schlug und auf einmal ein langer gelber Schnotten aus seiner Nase hing. Eigentlich konnte Jürgen einem nur leidtun, weil er ständig von allen gemobbt wurde. Aber es gab einen merkwürdigen Herdentrieb, dass alle einen Sündenbock brauchten, um von sich selbst ablenken zu können. Denn nichts war für uns alle schlimmer, als bei anderen unbeliebt zu sein. Deshalb musste Jürgen herhalten, damit alle ihn beleidigen durften. An einem Tag nach der Schule fuhren wir alle mit dem Fahrrad hinter Jürgen her und verspotteten ihn. Dabei hatte ich zum ersten Mal ein ungutes Gefühl im Bauch, dass dies grobes Unrecht war, was wir taten.

An einem Tag war ich bei Ulf zuhause und wir tauschten Briefmarken. Da sagte Ulf zu mir, dass es eine bestimmte postfrische 70-Pf.-Marke gäbe von 1978, die ich besaß und die er gerne hätte. Sie kostete laut meinem Michel-Katalog 3,50 DM und Ulf bot mir das Doppelte im Wert anderer Briefmarken an, wenn ich ihm diese gäbe. Ich merkte, dass an diesem Tauschangebot etwas faul sein musste, aber ich wusste nicht was. Deshalb fragte ich Ulf direkt auf den Kopf zu: „Sei ehrlich, Ulf, da ist doch irgendwo ein Haken an der Sache. Du willst mich doch reinlegen, hab‘ ich recht? Irgendwas verschweigst Du mir.“ Er lächelte und sagte: „Kann sein. Aber Du wirst es nie erfahren, wenn wir den Deal nicht machen.“ Nun platzte ich fast vor Neugier: „Ich mach Dir einen Vorschlag, Ulf. Wir tauschen, aber nur unter der Bedingung, dass Du mir danach verrätst, wo der Haken an der Sache war.“ – „Einverstanden!“ sagte Ulf. Dann gab ich ihm meine Pferdemarke‘ und er gab mir ein paar wertlose Briefmarkensätze mit Gustav-Heinemann-Motiv im Wert von 7,- DM. Dann gaben wir uns die Hand zur Besiegelung. „Und?“ fragte ich, „was war es?“ Ulf sagte lässig: „Du hast einen alten Michel-Katalog. Im neusten ist diese Pferdemarke schon 21,- DM wert und wird immer weiter steigen, weil sie nur eine geringe Auflage hat. Tja, Alter, Du hättest Dich richtig informieren müssen. Wissen ist Macht.“ Ich schaute ihn schweigend an und fragte mich, was für ein Freund dieser Ulf eigentlich war.

Einige Zeit später warteten wir vor dem Klassenraum auf unseren Lehrer. Ich erzählte Ulf von einem Bud-Spencer-Film, den ich gesehen hatte, aber er hörte nur mit einem halben Ohr hin. Auf einmal schaute er mich grinsend an und sagte: „Ey, sag mal, redest Du etwa mit mir?“ Ich sagte: „Komm, Ulf, was soll das! Hör auf, mich zu verarschen.“ Ulf wandte sich an die umherstehenden Schüler: „Ey, hört mal alle her: Simon führt hier die ganze Zeit Selbstgespräche und dachte, ich würde ihm zuhören! Dabei wusste ich gar nicht, dass er zu mir redet!“ Alle lachten und ich sagte nur: „Was soll das, Ulf! Du verarschst mich doch nur!“ Mir wurde plötzlich bewusst, dass Ulf nach all den Jahren unserer Freundschaft doch ein ziemlich mieser Egoist war, der noch nicht mal zu seinem besten Freund loyal sein konnte. Bisher hatte er sich nur andere als Opfer gewählt, aber jetzt war ich es plötzlich. Da entschied ich mich, mit Ulf zu brechen und mir einen neuen Freund zu suchen.

Die meisten Schüler in der Klasse waren spießige und angepasste Streber, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Mich faszinierten die Außenseiter, die ‚schrägen Vögel‘, wie man sagt. Damals zu Anfang der Achtziger gab es zwei Jugendbewegungen, die jeweils einen ganz entgegengesetzten Lebensstil führten, und zwar die „Popper“ und die „Punker“. Wer also der breiten Masse den Rücken kehren wollte, musste sich entscheiden, ob er entweder ein Popper oder ein Punker sein wollte. Die Popper pflegten den sog. New-WaveStile, d.h. sie trugen übertrieben bunte Kleidung, pflegten ihr Äußeres und hatten eine lange Haarmähne, die sie vom Scheitel ab ins halbe Gesicht fallen ließen. Die Punker hingegen trugen einen Irokesen-Haarschnitt und Lederjacken mit Nieten. Sie hörten Punkmusik, tranken Bier und waren der Meinung, dass Arbeit sinnlos sei. Ihr Motto war: „No future!“.

Da ich mich mit Letzteren nicht so recht anfreunden konnte, versuchte ich es als „Popper“, zumal es ja auch gut zu meinem Nachnamen passte. Auch mochte ich die verrückten Lieder der Neuen Deutsche Welle (z.B.: „Tina, ist das nicht prima, was für ein Klima! Haben wir hier schlechtes Klima, fahren wir sofort nach Lima“). Kurz darauf betrat ich die Klasse mit völlig hipper Kleidung: meine Schuhe waren hellblau, meine Weste knallbunt, ich trug eine glänzende Lederhose und auf dem Kopf eine jüdische Kippa, die meine Mutter mir gestrickt hatte und die damals als Papstmütze in Mode war. Doch statt auf Begeisterung stieß mein neues Outfit eher auf Befremden. Keine Ahnung, was sie über mich dachten, aber ich kam mir auf einmal total lächerlich vor. Als in der Pause dann auch noch irgendein Schüler aus einer höheren Klasse mir meine Mütze vom Kopf nahm und mit seinen Kumpels damit Fangen spielte, da war mir endgültig klar, dass ich diese Klamotten nie wieder tragen würde.

Trotzdem musste ich aber mein Aussehen irgendwie verbessern. Schlimm genug das ich so ein langer Lulatsch war, der von vielen als „Leuchtturm“ verspottet wurde wegen meiner roten Haare. Sogar am Penis wuchsen mir jetzt rötlich-gelbe Haare. Aber immerhin hatte ich jetzt dicke Muskeln bekommen, so dass manche mich liebevoll Popeye nannten (jener Matrose, der durch Spinat Superkräfte bekam). Nur, dass ich so hellhäutig war und dass meine Zähne nicht schneeweiß waren, störte mich enorm! Doch je mehr ich sie auch putzte, blieben sie trotzdem unverändert. Ich tat mir abends sogar Salz auf die Zähne, weil ich mal gehört hatte, dass sie dadurch weißer würden, aber es funktionierte nicht. Auch versuchte ich, mich im Sommer zu bräunen, aber bekam dadurch lediglich einen Sonnenbrand. Und neuerdings wuchsen mir auf Stirn und Kinn auch noch Pickel – wie schrecklich! So wie ich aussah, würde sich nie ein Mädchen in mich verlieben! Wie sehr sehnte ich mich danach, endlich erwachsen zu sein! Dann würde ich mir einen richtigen Bart wachsen lassen, der mein doofes Aussehen einfach verdecken würde. Aber bis dahin musste ich irgendetwas anderes finden, das mich für andere attraktiver macht.


Juli – Dezember 1982

Der Malwettbewerb

Kurz vor den Sommerferien hatte unsere Kunstlehrerin die Aufgabe erteilt, dass wir ein Bild malen sollten, auf welchem wir mit anderen Sport betreiben. Sie erklärte uns, dass die Raiffeisen Bank einen Malwettbewerb ausgeschrieben hatte, bei dem das beste Bild einen Preis gewinnen würde. Das machte mich hellhörig, denn ich hatte ein Jahr zuvor schon einmal einen Malwettbewerb von der SPD gewonnen zum Thema „Freundschaft mit Ausländern“, wo zur Belohnung mein Bild als Wahlplakat überall in der Stadt hing. Jetzt konnte ich endlich allen beweisen, dass ich der Beste war, und gab mir allergrößte Mühe. Ich malte mit Tusche und Filzstift eine Stadtwiese, auf der ich mit meinen Freunden Fußball spielte. Um den Schwierigkeitsgrad noch zu erhöhen, malte ich das Bild perspektivisch aus etwa 5 m Höhe mit vielen kleinen Details (parkende Autos, Laternen, Straßenschilder, Wahlplakate, Graffiti, ein Rentnerehepaar, das Enten am Teich fütterte, etc.). Am Ende sollten wir auf der Rückseite der Bilder unsere Namen mit Anschrift hinterlassen und gaben sie der Lehrerin.

Ein paar Wochen später rief ein Mann von der Raiffeisen-Bank bei uns zuhause an und kam zu Besuch. Ich war schon ganz aufgeregt. Dann überbrachte er mir die gute Nachricht, dass ich den ersten Preis auf Landesebene gewonnen hätte, und zwar einen Wertgutschein von 500,- DM, mit dem ich mir eine vollständige Campingausrüstung kaufen dürfe. Ich fuhr daraufhin mit ihm zum Hellweg-Center und konnte mir von dem 500,-DM-Budget nach Herzenslust eine Campingausstattung zusammenstellen, was immer ich wollte. Und zu meiner Überraschung teilte er mir noch mit, dass mein Bild als nächstes auch noch mal auf Bundesebene bewertet werden würde, so dass ich im Falle eines weiteren Sieges eine 9-tägige Reise ins Dachsteingebirge gewinnen könnte im Wert von 2.000,- DM.

Und genau das geschah dann auch tatsächlich wenige Tage später. Herr Brüning rief erneut an, um mitzuteilen, dass ich den 2. Platz auf Bundesebene gewonnen hatte und im August für 9 Tage nach Österreich fahren dürfe, zusammen mit den Gewinnern aus den anderen Bundesländern. Dort durften wir eine Bergsteigerausbildung bekommen von zwei damals bekannten Promis, nämlich dem Ski-Olympiaweltmeister Toni Seiler und dem Abenteurer Heinrich Harrer, der 1945 Tibet entdeckt hatte. Ich war stolz wie Oskar, aber auch meine Mutter freute sich sehr, dass ihr Simi jetzt sogar schon ein wenig berühmt war. Mein Vater sagte nur: „Diese Gabe hat er von seinem Vadder geerbt!“ Da nahm ich mir vor, dass ich von nun an bei jedem Malwettbewerb mitmachen und noch viele Preise gewinnen wollte!

Die Reise ins Dachsteingebirge

Zunächst fuhr ich in Begleitung meiner Mutter im Zug nach München (die Fahrtkosten für uns beide hat die Bank bezahlt). Nach einer Nacht im Hotel wurde ich am nächsten Morgen abgeholt und zum Reisebus gebracht. Die etwa 20 Jugendlichen sprachen mehrheitlich bayerisch, was mich etwas wunderte. Zunächst fuhr der Bus über die Grenze nach Österreich und kam dann in Ramsau an, einem beliebten Ski-Ort in der Steiermark. Von dort fuhren wir im Kleinbus hinauf in eine Berghütte, von wo aus uns in den nächsten Tagen ein volles Programm erwartete.

An den meisten Tagen machten wir Bergwanderungen, die wir alle als ziemlich anstrengend empfanden. Oben auf den Bergen gab es ein Plateau von klüftigem Gestein, wo man beim Rauf- und Runtersteigen aufpassen musste, um nicht abzurutschen. Als wir zu einem steilen Abhang kamen, informierten uns die Betreuer, dass sie jetzt jeden von uns abseilen würden und wir nichts weiter tun müssten, als ihre Anweisungen zu befolgen. Sie erklärten uns, dass wir uns keine Sorgen machen bräuchten, da uns mit dem Sicherungsgeschirr an unserer Hüfte nichts passieren könne. Allerdings müssten wir uns mit dem Rücken ganz nach hinten legen, damit nur unsere Füße die Wand berühren. Würden wir jedoch versuchen, uns mit den Händen am Abhang festzuhalten, würden wir uns nur unnötig am Knie verletzen. Diesen Rat zu befolgen, war aber gar nicht so einfach, denn ganz automatisch will man sich auf das Seil nicht so leicht verlassen. Daher mussten die Betreuer uns immer wieder zurufen, uns wieder nach hinten zu lehnen. Jahre später wurde ich daran erinnert, dass es im Glauben an Gott ja ebenso darum ging, sich einfach fallen zu lassen, um nicht unnötige Verletzungen zu erleiden.

Am Abend hielt uns der Bergsteiger Heinrich Harrer einen Vortrag über sein abenteuerliches Leben und seine vielen Expeditionen in die entlegensten Orte der Erde. Er wurde im 2.Weltkrieg von den Briten in Indien verhaftet, weil er der SS angehörte und flüchtete zusammen mit einem Freund über den Himalaya nach China, das von den Japanern besetzt war. 1944 gelangten sie nach Lhasa, der „verbotenen Stadt“ in Tibet, wo zuvor nur wenige Europäer hingelangten. Dort wurde er ein Lehrer des damals 13-jährigen Dalai Lama, dem Gottkönig der Tibeter. Später half er ihm bei seiner Flucht nach Indien, da die Chinesen ihn töten wollten. Harrer schrieb später ein Buch mit dem Titel „Sieben Jahre in Tibet“ und schenkte uns allen an jenem Abend ein Exemplar, das er eigenhändig signierte mit tibetischen Schriftzeichen. Ich war schwer beeindruckt von diesen Abenteuergeschichten, die mich an die Tim und Struppi-Comics erinnerten, die ich damals immer gerne las.

In der Nacht schliefen wir in der Berghütte alle auf breiten Betten, in welchen die Matratzen alle nebeneinander lagen. Nach einer letzten Kissenschlacht schliefen wir alle sofort ein. Doch als ich mitten in der Nacht aufwachte, hatte sich ein Junge an mich geschmiegt, den ich wieder wegstieß. In der nächsten Nacht waren es gleich zwei Jungen, so dass ich mich fragte, ob die Süddeutschen vielleicht alle schwul sind. Am anderen Tag fuhren wir mit dem Bus nach Bad Aussee und unternahmen von dort eine Wanderung zum Toplitzsee. Der See ist umgeben von steilen Abhängen, die z.T. bewaldet sind und ein sehr schönes Panorama bilden. In diesem See – so erzählte man uns – sollen die Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg ihr geraubtes Gold und ihre Kunstschätze versenkt haben. Da der See jedoch über 100 m tief ist und am Grund voller fauliger Baumstämme ist, ist es Tauchern bis heute nicht gelungen, das Nazigold zu finden. Ich dachte nur: Wieder so eine spannende Abenteuergeschichte!

Praktisch jeden Tag unternahmen wir eine Klettertour von etwa 2 bis 3 km, so dass wir nach einer Woche schon richtige Blasen an den Füßen hatten. Schon gab es die ersten, die sich beschwerten, dass sie keine Lust mehr hätten, mitzukommen: „Ich kann und will nicht mehr auf die Berge steigen! Ihr könnt uns doch nicht dazu zwingen! Wir haben die Reise doch nicht deshalb gewonnen, damit wir hier gequält werden!“ Doch es half nichts, denn die Betreuer wollten ihr Programm durchziehen. Und so breitete sich allmählich ein Murren aus unter den Teilnehmern, zumal für viele von ihnen die Berge nichts Besonderes waren. Für mich hingegen war alles faszinierend, nicht nur die schönen Gletscher, sondern auch die komische Redeweise der Jugendlichen. Es dauerte nicht lange, da konnte ich auch bayerisch reden, was alle sehr zum Lachen brachte. Ich munterte sie durch Witze auf, und schon bald war ich für sie der lustige Clown. Abends in der Berghütte machten wir immer Gesellschaftsspiele, wo ich durch meine Ideen immer wieder alle zum Lachen bringen konnte.

In der Gruppe gab es ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte. Sie hieß Franziska und war neben mir die einzige aus Norddeutschland. Da ich nicht wusste, wie ich es ihr sagen konnte, verriet ich es einigen der Teilnehmer, und schon bald darauf wusste es auch Franziska. Zunächst alberten wir nur rum und neckten uns. Aber am letzten Abend schlich ich mich mit einem anderen Jungen zu ihr ins Mädchenzimmer. Aus Übermut und Spaß streichelte ich ihr den Rücken, und sie ließ es zu. Wir hatten wohl etwas zu laut gelacht, so dass sich auf einmal einer der Betreuer dem Zimmer näherte. Wir rannten schnell auf den Balkon, damit er uns nicht sieht; doch während ich mich von der Brüstung runterhangelte, blieb der andere Junge einfach auf dem Balkon. Der Betreuer kam auf ihn zu und gab ihm wortlos eine schallende Ohrfeige. Ich dachte nur: ‚Nanu, was sind das denn für rüde Methoden! Schließlich haben wir doch die Reise gewonnen…!

Als ich wieder zurück in Deutschland war, lud mich Radio Bremen zu sich ins Studio, um mich in einer Kindersendung wegen der Reise zu interviewen. Unter anderem fragte mich die Moderatorin: „Wie alt war denn der Toni Seiler?“ Ich sagte: „Schon ziemlich alt.“ – „Und was schätzt Du so?“ – „Etwa 40“ sagte ich. Da musste sie lachen und sagte: „Jetzt werden sich aber alle 40-Jährigen an die Nase fassen, dass sie doch schon recht ‚alt‘ sind!“. Einen Monat später fuhr ich mit dem Bankmitarbeiter Herrn Brüning nach Bonn, wo es eine Gala-Veranstaltung mit Siegerehrung gab mit Thomas Gottschalk und vielen Gästen der Raiffeisenbank. Nacheinander wurden die Sieger auf die Bühne gerufen und von dem Moderator befragt, wobei deren Bilder jeweils im Hintergrund auf die Leinwand projiziert wurden. Als ich an der Reihe war, konnte ich auf die Fragen von Thomas Gottschalk kaum antworten, weil ich so viel Lampenfieber hatte. Zum Schluss bekam ich auch noch ein Autogramm von ihm.

Vorheriger Beitrag
– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 2
Nächster Beitrag
– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 4

Inhaltsverzeichnis

Etwas nicht gefunden?

Neuste Beiträge

Gastbeiträge

„Der ist kein Narr, der aufgibt, was er nicht behalten kann, damit er gewinnt, was er nicht verlieren kann.“

(Jim Elliott)