„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 7

„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 7

Januar – Juni 1985

Winterwanderung ohne Gepäck

Bereits Mitte Dezember 1984 hatte mich Manfreds Bruder Florian angesprochen, ob ich Lust hätte, mit ihm mal auf Wanderschaft zu gehen. Er hatte wohl in Mk.6:7-11 gelesen, dass der HErr seine Jünger immer zu zweit aussandte, und zwar ohne Gepäck! um dadurch in völliger Abhängigkeit von Gott zu sein. „Klingt gut“ sagte ich. „Und wo werden wir übernachten?“ – „Das ist es ja gerade: Wir lassen uns völlig von Gott leiten, dass Er uns zeige, wo wir übernachten sollen, und nehmen nur einen Schlafsack mit. Denn genau darin besteht ja gerade der Reiz und die Herausforderung, dass wir jeden Abend neu sehen müssen, wo sich uns ein Quartier bietet.“ – „Und wo soll die Wanderung hingehen?“ fragte ich. „Nach Ostercappeln in der Nähe von Osnabrück, denn dort wohnt meine Tante, wo wir dann ein paar Tage bleiben könnten. Der Ort liegt etwa 100 km von Bremen entfernt. Wenn wir jeden Tag 30 km wandern, müssten wir es nach 3 bis 4 Tagen schaffen, dort zu sein.“ – „Und wann wollen wir losgehen?“ – „ich hatte gedacht, dass wir vielleicht in der Silvesternacht um Punkt Mitternacht losmarschieren. Dann wandern wir quasi ins neue Jahr hinein.“ – „Aber jetzt im Winter haben wir doch jeden Tag unter 0° C – da können wir draußen doch erfrieren!“ – „Nein, Simon, Du musst einfach mehr auf Gott vertrauen!“

Damit meine Mutter sich nicht aufregt, ließ ich sie im Glauben, dass wir die ganze Zeit bei Verwandten von Florian wohnen würden. Als es dann kurz vor Mitternacht war, stand Florian startklar vor der Tür. Er grinste mich an, und erst da fiel mir auf, dass er sich den Kopf kahl geschoren hatte. „Warum hast Du denn jetzt eine Glatze?!“ fragte ich erschrocken. „Ach, das ist nur so eine Idee von Manfred und mir gewesen, damit wir die Mitschüler provozieren können, wenn die Weihnachtsferien vorbei sind. Jeder ist ja immer so sehr auf sein Äußeres bedacht, und deshalb wollen wir den anderen zeigen, dass wir keinen Wert auf Schönheit legen, weil das eitel ist.“ – „Aber hättest Du damit nicht besser noch warten sollen bis nach der Reise?“ – „Nein, denn der andere Vorteil ist ja, dass ich mir jetzt nicht mehr die Haare waschen brauche, die bei mir ja immer so schnell fetten, denn wir werden uns ja nicht duschen können auf der Reise.“

Als wir um Mitternacht losgingen, fing es gerade an, zu schneien. Wir gingen zuerst in die Arberger Marsch und marschierten von dort die Eisenbahnschienen entlang bis nach Kirchweyhe. Das Mondlicht gab uns in der sternenklaren Nacht genug Sicht, zumal es vom Schnee reflektiert wurde. Um 3:00 Uhr nachts erreichten wir Kirchweyhe und waren hundemüde. Am Ortsrand fanden wir ein leeres, unfertiges Haus im Rohbau, wo wir Schutz suchten vor dem kalten Wind. Wir hüllten uns mitsamt unserer Kleidung in unsere Schlafsäcke und schliefen dann auf dem harten Betonboden. Doch schon nach 4 Stunden wurden wir von dem Besitzer des Hauses geweckt, der uns fragte, was wir hier in seinem Neubau zu suchen hätten. Wir entschuldigten uns und gingen weiter. Da am Neujahrstag die Geschäfte geschlossen waren, konnten wir nichts zum Essen kaufen. Aber zum Glück hatte Florian eine Packung Haferflocken mit, die wir trocken aßen.

Gegen Mittag erreichten wir Syke, wo wir eine kleine Pause machten. Florian erzählte mir von seiner Cousine Mechthild, die in meinem Alter sei und die ich in Ostercappeln kennenlernen würde. Florian gab zu: „Vielleicht verliebt ihr Euch ineinander und heiratet später, – dann wären wir sogar miteinander verwandt!“ – „Ach deshalb also wolltest Du, dass ich mitkomme!“ lachte ich. „Sieht sie denn hübsch aus?“ – „Ich denke schon. Aber wenn sie Dir nicht gefällt, kannst Du ja sonst auch nur einfach so mit ihr befreundet sein.“ Wir gingen weiter und erreichten gegen 16:30 Uhr den Ort Bassum. Inzwischen lag überall dicker Schnee auf den Straßen, und es schneite unaufhörlich. Da es langsam dunkel wurde, mussten wir uns einen Ort zur Übernachtung suchen. Ich schlug vor, dass wir doch einfach mal in der Kirche fragen könnten. Da wir ja beide Christen sind, waren wir zuversichtlich, dass man uns dort einen Schlafplatz geben könnte. Ich machte die Tür auf von der Sakristei, als vor mir der Pastor im schwarzen Talar stand. „Macht die Tür schnell wieder zu, denn das wird ja kalt hier! Was wollt ihr beide denn?“ fragte der Pastor. „Wir suchen eine Übernachtung.“ – „Und warum kommt Ihr dann hierher? Ich kann jetzt wirklich nicht, denn in 5 Minuten muss ich den Neujahrsgottesdienst halten. Es gibt aber ein Obdachlosenheim in Klein-Bramstedt, wo ihr kostenlos übernachten könnt.“ – „Und wie weit ist das von hier?“ fragte ich. „Etwa eine halbe Stunde zu Fuß“.

Nach über einer Stunde Umherirren in der Eiseskälte erreichten wir schließlich die Einrichtung, die man ehrlicherweise wohl besser als „Penner-Asyl“ hätte bezeichnen können, wo im Winter die Polizei die Obdachlosen hinbrachte, damit sie nicht erfrieren. Der gelangweilte Hausmeister führte uns in einen Raum, in welchem es streng nach Alkohol roch. „Aber hier schläft doch schon einer im Bett!“ stellte Florian fest. „Ja, aber hinter der Tür ist noch ein weiterer Raum mit einem Sofa, das man ausschieben kann. Da könnt ihr zusammen drauf schlafen.“ Wir hatten keine andere Wahl, wenn wir nicht erfrieren wollten. Der Alkoholiker nebenan schnarchte so laut, dass wir kaum einschlafen konnten, und ich begann allmählich zu bereuen, dass ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte.

Am nächsten Morgen gingen wir weiter und unterhielten uns den ganzen Tag über Gott und die Welt, bis wir am Abend Barnstorf erreichten. Wieder fragten wir in einer Kirche nach – diesmal einer katholischen – und hatten mehr Glück, denn man bot uns ein richtiges Bett an in einer katholischen Wohngemeinschaft, wo wir auch duschen konnten und mit den Leuten zu Abendbrot aßen und am nächsten Tag zusammen frühstückten. Noch immer lagen über 10 Stunden Fußweg vor uns, um nach Ostercappeln zu gelangen, aber wir hatten keine Lust mehr, weiterzumarschieren. Deshalb fuhren wir das letzte Stück per Anhalter und erreichten am Nachmittag den Bauernhof von Florians Tante. Wir blieben dort zwei Tage und fuhren dann wieder mit dem Zug zurück nach Bremen. Mit der Mechthild hatte ich dann tatsächlich noch ein paar Monate einen Briefaustausch, aber mehr nicht.


Unruhige Zeiten

Unsere Schülertheatergruppe hatte im Oktober 1984 ein jähes Ende gefunden, als ein neues Mitglied unserer Truppe, Lars Brinkmann, sich in meine Schwester Diana verliebte. Diana wusste nämlich nicht, dass Lars ein Stalker war, also jemand, der aufgrund verschmähter Liebe und Minderwertigkeitskomplexen eine andere Person ständig erpresst und ihr nachstellt. Dabei hatte die Beziehung zunächst friedlich angefangen, und Diana fühlte sich geschmeichelt, als sie regelmäßig Blumen von Lars bekam, zumal es ihr erster Verehrer überhaupt war. Aber als sie sich dann zu ihrem ersten Date auf dem Bremer Freimarkt trafen, trug der 1,90 m große und korpulente Lars auch noch einen langen Lodenmantel, der ihn noch größer und fülliger erscheinen ließ, so dass Diana sich an seiner Seite schämte. Sie wollte ihn nun wieder loswerden, aber ohne ihn zu verletzen. Also sprach sie erstmal mit meiner Mutter, die dann das ohnehin inzwischen nur noch halbherzig betriebene Theaterprojekt für beendet erklärte.

Auf der Silvesterparty, zu der Lars Diana und viele seiner Freunde geladen hatte, wollte Lars meiner Schwester einen Antrag machen. Doch es kam anders: Diana flirtete mit einem anderen Jungen namens Ralf, um dem Lars zu zeigen, dass sie nicht mehr an ihm interessiert war. Über eine Stunde lang verbrachte sie dann mit Küssen, so dass sie den Beginn des neuen Jahres gar nicht mehr mitbekamen. Lars war am Boden zerstört und teilte Diana mit, dass er sich nun das Leben nehmen würde. Als er dann tatsächlich nicht mehr zur Schule kam, verständigte Diana seine Klassenlehrerin und diese informierte die Polizei, die ihm einen Besuch abstattete. Lars hatte seine Drohung zum Glück nicht wahrgemacht, litt aber so sehr unter Liebeskummer, dass er sich immer auffälliger verhielt und schließlich auch therapeutisch betreut werden musste.

Diana bekam hiervon kaum noch etwas mit, sondern ging mit ihrem neuen Freund nun bei uns ein und aus. Als wir nun regelmäßig deutliche Geräusche im Haus vernahmen, wussten wir, dass Diana inzwischen auch ihre Unschuld verloren hatte. Für uns Brüder und für meine Mutter war dies jedoch alles andere als angenehm, auch wenn wir anfangs noch darüber kicherten. Mir fiel es ohnehin immer schwerer, in meinem Elternhaus meine Stille Zeit zu haben. Mir kam es vor, dass das Haus in der Hermann-Osterloh-Str. 83 voller fremder Geister war, die nicht zuließen, dass ich beten konnte. An einem Tag überwand ich mich und sagte zu meinen Eltern und Geschwistern: „Ihr müsst wissen, dass ich ab jetzt Christ bin und deshalb nach der Bibel leben möchte. Das bedeutet, dass ich von nun an am Tisch vor dem Essen beten möchte. Wenn Ihr Euch auch für Christen haltet, dann solltet Ihr damit eigentlich kein Problem haben.“ Mein kleiner Bruder Patrick protestierte: „Wie redest Du eigentlich mit uns! Du hältst Dich wohl für etwas Besseres.“ – „Nein, ich stelle lediglich fest, dass ein echter Christ normalerweise immer betet und dass ihr im Grunde nie betet.“ Nun schaltete sich Diana ein: „Willst Du damit sagen, dass wir keine echten Christen sind?“ Nun musste ich vorsichtig sein: „Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen, aber jeder sollte von sich selbst wissen, ob er eines Tages bei Gott sein wird oder nicht.“ – „Das wird sich aber erst im Gericht Gottes entscheiden!“ behauptete Diana. „Nein, das stimmt nicht. Die Bibel lehrt, dass sich heute schon entscheiden muss, ob man errettet ist oder nicht!“ Patrick mischte sich erneut ein: „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Hältst Du Dich für etwas Besseres – Ja oder Nein?“ – Ich wandte mich ab: „Darum geht es doch gar nicht…“ – „Stopp! Nicht ausweichen! Sag mir nur: Ja oder Nein!“ – „Natürlich halte ich mich nicht für etwas Besseres, aber Ihr seid leider noch keine Christen, tut mir leid.“ – „Siehst Du, jetzt hat er’s gesagt! Papa, hast Du das gehört?“ – Mein Vater lächelte nur und sagte: „Ich finde, Simon hat recht. Und wenn er vorm Essen beten will, dann sollten wir mit ihm beten.“

Verständlicherweise fühlte ich mich immer unwohler zuhause und fuhr deshalb regelmäßig nach der Schule zu Manfred und Florian, um den Nachmittag mit ihnen zu verbringen. Eines Tages erzählte mir ihre Mutter Almut, dass sie am Vortage im Bus von einem Kontrolleur beim Schwarzfahren erwischt wurde, als sie schon im Begriff war, noch schnell den Bus zu verlassen. Sie beteuerte, dass sie nur versehentlich ihren Fahrschein nicht gestempelt hatte und bot ihm an, dies sofort nachzuholen. Er hielt sie fest und verlangte, dass sie sich ausweisen solle. Sie aber weigerte sich und war der Meinung, dass er gar kein Recht dazu habe. Als er die Polizei verständigen wollte, versuchte Almut, sich loszureißen und schnell zu flüchten. Doch der Mann hielt sie fest, und als die Polizei kam, erstattete er Strafanzeige wegen Schwarzfahren. Sie war außer sich vor Empörung und beteuerte mir immer wieder ihre Unschuld. Ich erzählte ihr meine Meinung und zeigte ehrliche Betroffenheit über das Vorgefallene. Doch in den folgenden Wochen erzählte mir Almut jeden Tag von dieser Geschichte, wobei sie diese mit immer mehr Details ausschmückte, z.B. dass der Kontrolleur ihr beim darauffolgenden Handgemenge sogar an den Haaren gezogen habe. Sie erzählte mir auch, dass die Bremer Straßenbahn AG und die Polizei alle unter einer Decke stünden und sie seither von diesen verfolgt werde. Allmählich hatte ich immer mehr den Eindruck, dass Almut fantasierte, weil ihr der Schock über das Geschehen noch immer in den Knochen steckte. Als sie jedoch immer wieder mit der gleichen Geschichte kam, mischte sich Manfred ein: „Mama, lass den Simon, doch jetzt mal in Ruhe. Was kann er schon dazu sagen. Du hast das schon so oft erzählt, aber das ändert doch nichts.“ Eines Tages, als ich mich in der Küche mit Almut unterhielt, während sie Bratkartoffeln machte, kam auf einmal eine Unruhe über sie, und ohne Vorwarnung begann sie plötzlich, mich zu beschimpfen und behauptete, ich hätte mich über sie lustig gemacht. Sie forderte, dass ich sofort das Haus verlassen solle. Doch dann kamen Manfred und Florian dazu und beruhigten ihre Mutter. Nun war ich mir sicher, dass Almut schizophren war, redete aber kein Wort mit Manfred darüber, weil ich sah, dass es ihm sehr unangenehm war.

Eine Versammlung von Heiligen

Noch immer ging ich am Samstag zu den Adventisten und am Sonntag in die Missionsgemeinde, wurde jedoch von den ständigen Vorwürfen von beiden Seiten immer mehr zermürbt. An einem Abend betete ich: „Himmlischer Vater, ich weiß einfach nicht mehr weiter, wo ich jetzt hingehen soll. Bitte schenke mir doch Klarheit, wo Dein Weg für mich ist. Ich will doch auf Deinen Weg gehen, aber ich finde ihn einfach nicht. Bitte übernimm Du die Führung in meinem Leben! Amen.“

Ende Februar 1985 war die Doulos, ein Missionsschiff, nach Bremen gekommen und dockte im Hafen an. Das Schiff gehörte zusammen mit dem Schiff Logos einem internationalen Missionswerk namens OM (Operation Mobilisition) und sucht immer wieder freiwillige junge Menschen, die sich zu Missionaren ausbilden lassen wollen, um dann überall auf der Welt in Küstenstädten zu evangelisieren. An einem Freitag machte ich mich auf den Weg in den Hafen und verbrachte einen ganzen Tag dort. Das Schiff hatte einen großen Bücherladen und viele Veranstaltungsräume. Ich unterhielt mich mit den Leuten und unterschrieb einen Aufnahmeantrag, denn ich war überzeugt, dass dies die Erhörung meines Gebets war (ich sollte mich irren). Man lud mich für April zu einem einwöchigen Missionsseminar nach Oldenburg ein. Spät am Abend als kaum noch Busse unterwegs waren, fuhr mich ein Christ quer durch Bremen auf verschneiten Straßen nach Hause.

Am Samstag ging ich nach dem Gottesdienst wie üblich ins nahe gelegene Stadtzentrum. Auf einmal sah ich in der Fußgängerzone eine Menschenmenge um einen Mann herum, der von einem Hocker aus zu den jungen Leuten redete. Diese verspotteten ihn fast nach jedem Satz, und da merkte ich, dass es ein Christ war. Er war Mitte 30, trug ärmliche Kleidung und hatte einen ungewöhnlichen Bart. Er tat mir total leid, aber mir schien, dass dieser Bruder überhaupt nicht auf den Spott achtete, sondern unbeirrt, fast wie ein Roboter einen Satz nach dem anderen hervorbrachte. Es war der Straßenprediger Joachim Krauß, den ich ein paar Jahre später auch persönlich kennenlernen sollte. Diesmal aber traute ich mich nicht, ihn anzusprechen, weil ich den Spott der anderen fürchtete, sondern suchte in seinem Umfeld, ob er noch einen Gefährten hatte. Da sah ich einen älteren, dickeren Mann, der aus einer Tasche heraus Schriften an Interessierte gab. Ich bat ihn, ob er mir auch ein paar geben könne. Ich ahnte nicht, dass Gott mich hier zu Edgard Böhnke (59) geführt hatte, jenen Bruder, der schon bald mein geistlicher Vater werden sollte…

Zuhause angekommen begann ich, in den grünen Heften zu lesen und merkte schon bald, dass es sich um sehr tiefgründige Belehrung für Gläubige handelte. Ein Autor wurde nicht genannt, aber in jedem Heft lag hinten ein Zettel, auf dem man weitere Schriften mit anderen Themen kostenlos bestellen konnte. Ich kreuzte alle an und schrieb mir auf einem Umschlag die Adresse ab: „Verbreitung der Heiligen Schrift und biblischer Schriften, Angerburger Str.46, 2800 Bremen“. Zwei Tage später rief Edgard Böhnke bei uns zuhause an und wollte mich sprechen. „Entschuldigen Sie, Sie haben bei uns sehr viele Schriften bestellt, weshalb ich mich für Ihr Interesse bedanken wollte. Darf ich fragen, ob Sie schon ein Kind Gottes sind?“ – „Ja,“ antwortete ich, „ich bin seit sechs Monaten ein überzeugter Christ und lese täglich in der Bibel.“ Nun wurde Edgard stutzig: „Sie haben eine sehr junge Stimme. Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“ – „Ja, ich bin 16.“ – „Ach, dann darf ich doch wohl ‚Du‘ sagen, nicht wahr? Du bist ja dann noch ganz jung!“ Dann lud Edgard mich ein, ihn am 02.03. besuchen zu kommen, weil dann auch ein großer Bibellehrer zu Besuch sei, der ganz aus Sachsenheim gekommen war. Ich sagte, dass ich kommen würde.

Doch so recht traute ich mich nicht, ganz alleine dorthin zu fahren, weshalb ich meinen Freund Florian bat, mitzukommen. Wir trafen uns am Hauptbahnhof und fuhren von dort nach Blumenthal nach Bremen – Nord. Auf dem Weg erzählte mir Florian beiläufig, dass er manche Ansichten der Adventisten nicht mehr teilen könne und sich ihm viele Grundsatzfragen stellten über Gott und die Bibel. „Dann können wir ja mal jene Christen in Blumenthal fragen, was sie dazu sagen“ schlug ich vor. Nach etwa einer Stunde kamen wir an. Eine Frau mit Kopftuch machte uns die Tür auf – es war Hedi Böhnke, die Frau vom Edgard. Sie und ihr Mann hatten ein strahlendes Lächeln, und wir fühlten uns sogleich willkommen. Edgard führte uns in einen Versammlungsraum, in dessen Mitte ein langer Tisch mit Stühlen rundherum war, auf denen wir Platz nehmen sollten. An der Wand hingen überall Bibelverse auf Holz gebrannt, aber ansonsten gab es überhaupt keine Dekoration.

Auf einmal betrat ein älterer, sehr schlanker Mann den Raum, der eine etwas unheimliche Ausstrahlung hatte, da er kaum lächelte. Er hatte markante Gesichtszüge (wie Bertrand Russel, aber mit weniger Haare) und stellte sich uns als Daniel Werner vor. Seine Stimme war sehr ausdrucksstark und melodisch (wie die vom Pfarrer Leppich), aber seine Worte eher förmlich und steril, so dass er fast unnahbar wirkte. Mit anderen Worten: es war ein heiliger Mann Gottes! Aber auf uns Jugendliche wirkte er nicht gerade vertrauenserweckend, sondern eher furchterregend. Edgard hingegen war genau das Gegenteil: Er hatte ein einnehmendes Lächeln und eine sanfte, liebevolle Stimme, so dass er sofort Vertrauen weckte. Als erstes sollte jeder sich vorstellen und sagen, wie er den HErrn Jesus kennengelernt hat. Als Daniel an der Reihe war, erzählte er, dass er sich am 13.12.1945 mit 23 Jahren bekehrt habe, nachdem er gerade aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft gekommen war (er gehörte zu den wenigen Überlebenden der sog „6. Armee“, die in Stalingrad gekämpft hatte). Ursprünglich kam er aber aus einem streng gläubigen Elternhaus in Schlesien. Seine Eltern hatten eine Hausversammlung und verlangten von ihren Söhnen, dass sie viele Teile der Bibel auswendig lernen sollten. Daniel hatte gehofft, durch seine Einberufung zur Wehrmacht dem Einfluss der Eltern zu entkommen, aber als er dann mit dem Schrecken des Krieges konfrontiert wurde, hatte er nur noch den Wunsch, zum himmlischen Vater zurückzukehren.

Im Anschluss hielt Daniel Werner eine Betrachtung über Psalm 119 und verdeutlichte mit großer Leidenschaft immer und immer wieder die Liebe des Psalmisten zum Wort Gottes, die es doch gelte, nachzuahmen. Als wir dann beteten, gingen Edgard und Daniel auf die Knie, so dass wir es ihnen nachmachten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie gar nicht die Hände falteten, sondern merkwürdig nach vorne hielten, als würden sie ein Paket in Empfang nehmen. Dann wurden wir von Frau Böhnke zum Mittagessen gerufen. Auch während des Essens redeten Edgard und Daniel immer wieder abwechselnd auf uns ein, wie wichtig es sei, immer alles am Wort Gottes zu prüfen und sein Leben allein nach dem Willen des HErrn auszurichten. Ich dachte die ganze Zeit nur: Die sind hier alle so heilig, hoffentlich merken sie nicht, dass ich selbst gar nicht so heilig bin… Dann gingen wir wieder zurück in den Versammlungsraum, und nach einem weiteren Gebet lasen wir die Psalmen 62 und 63 nach Vorgabe aus einem Bibellesekalender.

Da wir die ganze Zeit nichts gesagt hatten, bot Daniel uns an, dass wir nun Fragen stellen durften, wenn uns irgendwas auf dem Herzen brenne. Florian fing an: „Ich habe mal folgende Frage: Wenn Gott uns Gläubigen gnädig ist, dann ist Er doch den Ungläubigen gegenüber ungnädig – Kann man das so sagen?“ Ich dachte in diesem Moment: Wow, das ist ja wirklich eine gute Frage. Hätte ich gar nicht gedacht, dass Florian so scharfsinnig und kritisch ist! Daniel gefiel die Frage ganz und gar nicht: „Wir machen als Menschen immer wieder den Fehler, dass wir Gott die Schuld geben wollen für unser eigenes Versagen. Anstatt uns mit unserer eigenen Schuld und Verantwortung vor Gott zu beschäftigen, erdreisten wir uns, Gott auf die Anklagebank zu setzen und von Ihm Rechenschaft zu fordern. Aber das steht uns Menschen einfach nicht zu! Gott ist allen Menschen gnädig gewesen, dass Er ihnen Seinen einzigen Sohn als Retter gegeben hat; aber wenn sie dieses Heil ablehnen, dann sind sie doch selber schuld daran und nicht Gott!“ Im Stillen dachte ich in dem Moment: Aber die meisten Menschen lehnen das Heil doch gar nicht bewusst ab, sondern wissen nur nichts davon, weil man es ihnen nicht erklärt hat…

Dann war ich an der Reihe: „Was meinen Sie: Müssen wir eigentlich heute noch den Sabbat halten oder nicht mehr?“ Daniel erklärte: „Was ICH meine oder nicht meine, tut gar nichts zur Sache. Entscheidend ist nur, was die Heilige Schrift uns dazu lehrt. Schlag doch mal auf im 2. Buch Mose, Kapitel 31, ab Vers 13. Lies mal laut vor bis Vers 17“. Ich fing an: „Du aber, rede zu den Söhnen Israel und sage ihnen: Haltet nur ja meine Sabbate! Denn sie sind ein Zeichen zwischen mir und euch für all eure Generationen, damit…“ – „Warte!“ unterbrach mich Daniel „Wer soll die Sabbate hier halten?“ Ich antwortete: „Israel“ – „Und bist Du ein Israeli?“ – „Nein.“ – „Na also!“ Dann las ich weiter: „…Jeder, der am Tag des Sabbats eine Arbeit verrichtet, muss getötet werden. So sollen denn die Söhne Israel den Sabbat halten, um den Sabbat in all ihren Generationen zu feiern, als ewigen Bund. Er ist ein Zeichen zwischen mir und den Söhnen Israel für ewig. Denn in…“ – „Halt! – Mit WEM hat Gott hier einen Bund gemacht?“ fragte Daniel. „Mit Israel?“ – „Siehst Du!“ Ich war beeindruckt, mit was für einer Leichtigkeit und Souveränität mir der Bruder diese Frage beantwortet hatte, die mir schon so lange unter den Nägeln brannte. Dazu kam diese göttliche Aura, die er ausstrahlte, so als ob er ein Prophet Gottes wäre.

Wir stellten noch ein paar weitere Fragen, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann; aber ich weiß noch gut, dass ich am Ende völlig überwältigt und fasziniert war von der Heiligkeit und Reinheit dieser Gottesmänner, so dass ich innerlich zitterte vor Ergriffenheit. Dennoch machten sie mir keine Angst, weil sie uns so liebevoll behandelten, als wären wir ihre Enkelkinder (was ja altersmäßig auch fast hinkäme). Als sie uns später zum Bahnhof Vegesack brachten, um uns zu verabschieden, ahnte ich, dass ich noch viel von ihnen lernen könnte. Florian war nicht ganz so begeistert wie ich. Noch immer beschäftigte ihn die Frage, warum Gott sich nicht aller Menschen erbarmen könne. Mir schien auch, dass er insgeheim Zweifel hatte, ob die Bibel wirklich Gottes Wort sei. Aber er hielt sich sehr zurück mit direkter Kritik, machte aber scharfsinnige Überlegungen, die mir zu hoch waren.


Jesus gab Sein Leben – auch für MICH !

Für die Osterferien hatte ich mich zu einem Missions-Seminar von OM in Oldenburg angemeldet. Doch zuvor gab es an einem Nachmittag ein Treffen der OM-Mitarbeiter in der Bremer Matthäus-Gemeinde. Dort hielt der Leiter einen Vortrag, wie man den Menschen plausibel das Evangelium erklären könne. Dabei gebrauchte er einen Vergleich, und zwar, dass Gott jedem Menschen von Geburt an ein unsichtbares Gewand gibt, das er bis zum Ende seines Lebens reinhalten soll, um es nach dem Tod dann Gott zurückzugeben. Aber weil wir Menschen immer wieder in Sünde fallen, wird dieses Gewand allmählich immer dreckiger. Doch dann erscheint ihm plötzlich der HErr im Traum und bietet ihm einen Tausch an: Er schenkt ihm Sein absolut sauberes Kleid, das nie von Sünde befleckt wurde und nimmt dem Sünder das schmutzige Kleid ab, um es stellvertretend für ihn am Kreuz zu tragen. Er trug sogar die Schuld von allen Menschen, obwohl Er selbst völlig unschuldig war, und kann dadurch allen Menschen Seine Gerechtigkeit anbieten. Und wenn der begnadigte Sünder dann eines Tages vor Gott erscheint, dann wird Jesus sein Anwalt sein und sagen: „Für diesen habe ich schon bezahlt!“ und dann darf er in den Himmel kommen.

So banal das klingen mag, aber ich hörte diese Erklärung hier zum ersten Mal. Und endlich, zum allerersten Mal verstand ich, was es mit dem Sühnetod Jesu auf sich hat. Der HErr Jesus starb auch für MICH! Weil ich das glaube, bin ich vor Gott gerechtfertigt! Die anderen hier hatten das vielleicht schon tausende Male vorher gehört, aber für mich war das ganz neu. Als der Vortrag zu Ende war, ging ich an den Büchertisch und kaufte mir zwei Bücher über die Evolutionstheorie, damit ich den biblischen Standpunkt auch in der Schule vertreten könnte. Dann traf ich noch Egbert Grützmacher wieder, der mich noch als 13-Jährigen kannte, als ich mit Ulf auf einer Jugendfreizeit Unfug anstellte. Er freute sich, dass ich mich inzwischen auch bekehrt hatte.

Auf dem Missionsseminar zu Ostern nahmen etwa 300 junge Leute im Alter von 15 bis 25 J. teil. Wir wurden in Kleingruppen von etwa 7-10 Brüdern eingeteilt, die zusammen in einem Raum schliefen und jeden Morgen zusammen beteten, sowie eine Bibelandacht hielten. Wir wurden dann erstmal ausgesandt, um überall in der Stadt Einladungen für die tägliche Abendveranstaltung in der großen Halle zu verteilen. Dabei unterhielt ich mich beim Gehen mit meinen Kameraden über den Sabbat. Einer sagte zu mir: „Simon, Du bringst hier immer wieder ein ganz belangloses Thema, das niemanden von uns interessiert. Wir sollen den Menschen von Jesus erzählen, damit sie nicht verloren gehen! – das ist doch weitaus wichtiger als so ein langweiliges Thema wie den Sabbat!“ Diese barsche Zurückweisung ließ mich verstummen. Er hatte ja recht. Seit ich Christ geworden war, hatte ich mich immer nur um meine eigene Beziehung zu Gott gekümmert. Aber jetzt wo ich errettet war, musste ich mich um die anderen kümmern, die noch nicht errettet sind. Keith Green hatte einmal gesagt: „Entweder bist Du ein Missionar oder ein Missionsfeld“ (d.h. ein zu Missionierender).

Am nächsten Tag bekamen wir Unterricht im Evangelisieren. Jede Gruppe sollte am Nachmittag in der Oldenburger Fußgängerzone sich mit einem Whiteboard aufstellen, wobei jeder abwechselnd das Predigen übernimmt und die anderen einen Zuschauerring bilden sollten (um die Passanten anzulocken). Der Redner sollte nun den Leuten eine Geschichte erzählen, die an der Schautafel schon vorgezeichnet war und wie folgt lautet: „Es war einmal ein König, der hatte einen verdorbenen Sohn, der von den Untertanen angeklagt wurde, ein Rumtreiber und Taugenichts zu sein. Der König saß nun über seinen Sohn zu Gericht und verurteilte seinen Sohn zu dreißig Stockhieben, die sofort standrechtlich ausgeführt werden sollten. Dann stand der König von seinem Thron auf, legte seinen königlichen Mantel ab und zog ihn seinem Sohn an. Dann nahm er seine Krone und tat sie auf das Haupt seines Sohnes. Und dann befahl er den Scharfrichtern, dass sie ihn selber abführen und auspeitschen mögen anstelle seines Sohnes.“ Anhand dieser ungewöhnlichen Geschichte sollten wir dann das Evangelium den Leuten erklären, dass der HErr Jesus als Sohn Gottes auf die Erde kam, um am Kreuz die Strafe zu tragen, die wir eigentlich verdient hätten, damit wir freigesprochen werden könnten. Zuletzt sollten wir die Zuschauer einladen, dass sie gerne zu unserer all-abendlichen Evangelisation kommen können.

Ich war in einer Gruppe mit vier anderen, aber die meisten trauten sich nicht, vor den Fußgänger laut zu reden. Da ich jedoch schon durch die Theatergruppe Übung hatte, übernahm ich das Predigen, und tatsächlich blieben die Passanten stehen und hörten mir zu. Nach zwei Stunden wurde es den anderen langweilig, und sie wollten zurück zum Gemeindehaus. Ich wollte aber weitermachen und blieb noch ein oder zwei Stunden länger, wobei ich immer wieder die gleiche Geschichte erzählte und den Zuhörern dann unseren Einladungsflyer gab. Als ich Stunden später zurückkam, fühlte ich mich wie ein Held und wurde tatsächlich auch von einigen älteren Glaubensschwestern bewundert, die mich gesehen hatten. Sie fragten mich, wie alt ich sei und waren sehr überrascht, dass ich erst 16 war, da sie mich eher auf Mitte 20 geschätzt hatten (das lag wohl an meiner Größe von inzwischen 1,85 m und meinem kleinen Bartflaum unter dem Kinn). An jenem Tag war mir klar, dass ich nach der Schule Missionar werden wollte.

Abends bei der Veranstaltung sprach ein amerikanischer Evangelist namens George Verwer, der Gründer von OM, während ein anderer ihn übersetzte. Wir Jugendlichen sollten uns in zwei Gruppen aufteilen: die einen sollten im Anschluss der Veranstaltung mit den Gästen ins Gespräch kommen, um sie zu einer Lebensübergabe an Jesus zu animieren, und die anderen sollten in einem Nebenraum in Gebetskreisen von 4 – 6 Leuten zusammen beten, damit Gott Gnade schenke und sich möglichst viele bekehren. Ich entschied mich für die Gebetsgruppe, da diese deutlich in der Unterzahl war. Doch während wir im Stuhlkreis jeder nacheinander laut beteten, hatte ich den Eindruck, als würden wir gar nicht wirklich mit Gott reden, sondern uns nur gegenseitig vorführen, wie gut wir beten konnten. Scheinbar spielte der Wunsch nach Geltung und Anerkennung noch immer eine viel zu große Rolle in unserem Leben. Dies war mir schon seit längerem aufgefallen. So bekam ich z.B. zweimal im Monat einen „Gebetsbrief“ von einem anderen OM-Mitarbeiter, der auf dem Schiff Logos an den Küsten Afrikas unterwegs war und dessen Berichte nur so strotzten von Eitelkeit. Ich erinnere mich noch, wie er z.B. in einem Brief schrieb, dass die Afrikaner ihn wegen seiner blonden Haare bewunderten und er dann auch noch einen Bibelvers bemühte, um sich mit Paulus zu vergleichen: „Und sie verherrlichten Gott an mir“ (Gal.1:24). Ich dachte: Geht es vielleicht auch mal eine Stufe bescheidener?


Überall nur Dämonen

Nach wie vor ging ich regelmäßig sonntags zur Missionsgemeinde, aber nur noch selten zu den Adventisten. Doch fiel mir auf, dass der leitende Bruder Udo Slopianka irgendwie unheimlich war. Obwohl er in seinen Predigten immer mal wieder einen Scherz machte, übte er auch ständig Kritik an all den oberflächlichen Kirchenchristen, über deren Dummheit er sich immer wieder lustig machte. Beispiel: „Habt ihr auch schon von diesem neuen Kirchenlied gehört: ‚Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer…‘ – Das klingt ja beinahe wie: ‚Herr, deine Liebe ist wie Kraut und Rüben‘ – so ein stumpfsinniger Blödsinn!“ Udo konnte sich manchmal so ereifern, dass er laut rumbrüllte und die Geschwister zur Schnecke machte. Auch wenn keiner darüber sprach, aber es herrschte immer eine starke Angst und Beklommenheit bei allen Anwesenden. Udo schreckte auch nicht davor zurück, einzelne Gläubige vor versammelter Gemeinde anzuschwärzen und an den Pranger zu stellen. Sein ernster Blick wirkte durch seine dunklen Augen noch beängstigender. Hinzu kam, dass er unter einem bestimmten Tick litt (Tourett-Syndrom), indem er während der Predigt sich immer wieder selbst eine kleine Backpfeife gab, so als ob eine Fliege auf seiner Wange war, die er verscheuchen wollte. Udo erklärte mal, dass dies einer seiner Dämonen sei, der ihn ständig ärgern wolle.

Mitte April erschien auf einmal ein ganzseitiger Artikel im WESER KURIER über die Bremer Missionsgemeinde, die als gefährliche Sekte dargestellt wurde. Darin war zu lesen, dass in der Gemeinde Exorzismus praktiziert werde, da nach deren Lehrer jeder Christ trotz Bekehrung noch voll von Dämonen sei, die er erst durch zahlreiche Exorzismen während seines Glaubenslebens loswerde. Dabei wurden selbst harmlose Gebrechen oder Einschränkungen als das Werk von Dämonen diagnostiziert, so dass eine völlige, seelische Abhängigkeit der Gemeindemitglieder von ihrem Boss Udo Slopianka bestünde. Es gäbe auch Gerüchte, dass Slopianka sich an jüngeren Frauen aus der Gemeinde sexuell vergangen habe. Eine dieser psychisch labilen Frauen habe sich vor kurzem das Leben genommen, da sie den Druck in dieser Gemeinde nicht mehr aushielt. Ein eingeleitetes Ermittlungs-Verfahren wurde jedoch aus Mangel an Beweisen wieder eingestellt.

Als meine Mutter diesen Artikel las, war sie außer sich. Sie rief beim Sektenbeauftragten der Bremischen Evangelischen Kirche an, um sich über diese Gemeinde zu informieren. Pastor Helmut Langel sagte ihr, dass die Missionsgemeinde die „schlimmste Sekte“ sei, die sogar ihre Mitglieder zwingen würde, jeglichen Kontakt zu ihren ungläubigen Verwandten abzubrechen. Dadurch seien schon viele Familien entzwei gerissen, so dass er nur warnen könne vor dieser Gemeinschaft. Meine Mutter geriet nun völlig in Panik und verbot mir, noch weiter dorthin zu gehen. Ich sagte, dass das alles doch gar nicht stimmen würde, sondern nur eine böse Verleumdung sei. Aber meine Mutter glaubte mir nicht, sondern bat mich inständig, dort nicht mehr hinzugehen. Ich beteuerte indes immer wieder, dass an diesen Gerüchten nichts dran sei und dass sie ganz beruhigt sein könne. Da schaltete sich auf einmal Diana ein und machte den Vorschlag, dass sie sich gerne mal diese Gemeinde anschauen wolle, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Ich fand die Idee gut, und so verblieben wir dann.

Am darauffolgenden Sonntag ging ich mit Diana zur Missionsgemeinde und setzte mich mit ihr in eine hintere Reihe. Karl-Heinz, der die ersten Anzeichen einer Parkinson-Erkrankung aufwies, ging nach vorne und machte eine einleitende Predigt über 2.Tim.2:20-22, wobei er sich die ganze Zeit am Rednerpult festhielt, damit seine Hände nicht zitterten. Er erklärte, dass das „große Haus“ die Gemeinde sei, aber dass es bei der Absonderung von den „Gefäßen zur Unehre“ nicht um eine äußere sondern um eine innere Absonderung gehe. Als er fertig war und sich setzte, ging Udo Slopianka ans Rednerpult. Da er sehr dick war, schnaubte er zunächst ein wenig und begann dann mit den Worten: „Liebe Geschwister, ich war eben drauf und dran, dem Karl Heinz das Mikrophon auszuschalten und ihn auf seinen Platz zu verweisen, damit er aufhört, so einen SCHROTT ZU REDEN!“ Die letzten Worte hatte er lauf ins Mikrophon gebrüllt, so dass alle erschrocken auf ihn blickten, was jetzt kommen würde. Er fuhr fort: „ICH WERDE ES NICHT LÄNGER DULDEN, DASS IN MEINER GEMEINDE SOLCH EIN SAUERTEIG VERBREITET WIRD, von wegen: ‚Wir müssen uns nur innerlich trennen von lauen Christen…‘ NEIN!!! WIR MÜSSEN DIE FALSCHEN CHRISTEN RAUSSCHMEISSEN AUS DER VERSAMMLUNG! Und ebenso auch alle lauen und ungehorsamen Mitläufer- und Scheinchristen, – selbst wenn der Weser Kurier noch so gegen uns hetzten mag!

Ich dachte nur: Der arme Karl-Heinz, dass er hier so runtergeputzt wird. Doch Udo war noch lange nicht fertig: „ES IST EINFACH NICHT ZU ERTRAGEN, WIE VIELE HEUCHLER HIER UNTER UNS SIND, DIE EINE FROMMES GESICHT MACHEN, ABER HEIMLICH IN UNZUCHT LEBEN!!!“ Nun schaute Udo langsam durch die Reihen mit seiner finsteren Miene und blieb auf einmal mit seinem Blick auf mir ruhen. Wie ein Teufel schaute er mich sekundenlang an und sagte plötzlich lächelnd: „Ja, ja. Da weiß einer hier ganz genau, dass ich von ihm rede!“ Mein Herz blieb fast stehen und ich wagte nicht, Luft zu holen. Er meinte MICH! Aber woher konnte er wissen, dass ich noch heimlich onanierte? Das musste ihm der Geist Gottes irgendwie gezeigt haben! Ich zitterte innerlich und war völlig verstört. Als der Gottesdienst zu Ende war, stand ich wie benommen auf und wollte nur noch gehen. Erst da wurde mir bewusst, dass Diana alles mitbekommen hatte. Sie nahm ihre Jacke und flüsterte mir zu: „Der Kerl ist völlig verrückt, ein Psychopath.“ Ich lief ihr hinterher: „Sag doch sowas nicht“ bettelte ich, aber Diana ließ sich in ihrem Urteil nicht mehr erweichen. Jetzt würde sie es meiner Mutter petzen, und dann war alles aus…

Als ich drei Tage später abends in der Bibelstunde war, kamen einige Brüder zu mir, unter ihnen auch Udo, der sagte: „Hör mal, Simon, Deine Mutter hat bei mir angerufen. Sie hat fürchterlich geschrien am Telefon und ließ mich kaum zu Wort kommen. Sie will nicht mehr, dass Du in unsere Gemeinde kommst, weil sie sich Sorgen um Dich macht. Sie hat uns sogar mit einem Anwalt gedroht. Ich habe ihr nur gesagt, dass Du das selbst entscheiden musst, aber das ließ sie nicht gelten.“ – „Ja, meine Mutter ist immer sehr hysterisch, besonders in letzter Zeit, weil sie viele Probleme hat mit meinem Vater; aber ich rede mal mit ihr.“ – Ein Bruder wandte ein: „Du solltest auf Deine Mutter Rücksicht nehmen und besser eine Weile nicht mehr zu uns kommen, bis sich die Lage entspannt hat. Denn Du bist noch nicht volljährig, weshalb Deine Mutter auch rein rechtlich noch über Dich bestimmen kann. Und wir möchten auch keinen Ärger mit der Justiz, deshalb komm erst Mal nicht mehr. Wir werden für Dich beten, damit Du im Glauben bleibst.“


Meine Mutter war in der Tat in einen Strudel von Problemen geraten, so dass sie nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Zuhause gab es nur noch Schreierei, weil mein Vater ständig die Heizung abstellte oder sich nicht an die Anweisungen meiner Mutter hielt. Zudem kam Streit mit Diana, weil sie immer wieder vergaß, die Tür abzuschließen, wenn sie mit ihrem Freund Ralf intim war, und zugleich Streit mit den Nachbarn wegen unseres Hundes Bobby, weil er immer wieder seine Notdurft in fremden Gärten hinterließ etc. Sogar mit ihrer besten Freundin, der Pastorin Eva Behrens, hatte meine Mutter nun Streit, weil diese sich über meine Mutter lustig gemacht hatte. Bei einem Treffen mit ihrem Pastor-Kollegen Triebel hatte Pastorin Behrens gesagt: „Renate, bist Du wirklich so naiv, dass Du glaubst, Maria sei auf übernatürliche Weise schwanger geworden? Dass sind doch alles nur fromme Erzählungen, die sich Menschen ausgedacht haben, um die Person Jesu dadurch aufzuwerten. Aber es ist doch gar nicht nötig, an solche Märchen glauben zu müssen, nur um an Jesus zu glauben als einen herausragenden Lehrer der Menschheit!“ Meine Mutter hatte darauf geantwortet: „Aber dann lügst Du doch jeden Sonntag, Eva, jedes Mal, wenn Du im Glaubensbekenntnis sagst: ‚Geboren von der Jungfrau Maria‘, wenn Du es in Wirklichkeit doch gar nicht glaubst!“ – Eva antwortete: „Vielleicht glaube ich es nicht im buchstäblichen Sinn so wie Du, aber das heißt nicht, dass ich es gar nicht glaube.“

Das fehlende Brautkleid

Meine Mutter konnte mit einem so merkwürdigen Glauben nichts anfangen und wandte sich tief enttäuscht von der Evangelische Kirche ab. Zur selben Zeit machte meine Mutter auf einer Veranstaltung die Bekanntschaft mit einer katholischen Nonne aus Bayern, die sie stark beeindruckte. Schwester Elisabeth lebte im Kloster Marienburg in der Nähe von Nürnberg, wo meine Mutter von nun an regelmäßig hinfuhr, um „geistig aufzutanken“, wie sie sagte. Aber auch in Bremen lernte sie einen katholischen Priester kennen namens Rufus Keller, der von nun an ihr Seelsorger wurde. Ich war nun mindestens genauso besorgt über die geistliche Entwicklung meiner Mutter wie sie es um die meinige war. Einmal kam sie z.B. von einem katholischen Gottesdienst nach Haus und war ganz begeistert von der Predigt. Sie erzählte mir, dass Rufus Beck die Märchen der Gebrüder Grimm ausgelegt hatte, weil sie voller symbolischer Bedeutung auf die Entwicklung eines Menschen seien. Ich sagte: „Mama, überleg doch mal: Wie kann es angehen, dass der Pfarrer einer Kirche gar nicht mehr das Wort Gottes auslegt, sondern stattdessen irgendeine Märchengeschichte, die sich doch Menschen ausgedacht haben! Wir sollen doch auf die Wahrheit der Bibel achten und nicht auf solche menschlichen Fabeln!

So recht konsequent war ich indes auch noch nicht, was den Verzicht auf menschliche Dichtung betrifft, denn ich hatte mich mit Beginn des neuen Halbjahrs für eine Schülertheatergruppe angemeldet, um mein Hobbie weiter praktizieren zu können (nachdem ja das Theaterprojekt meiner Mutter aufgehört hatte). Die Leiterin der Gruppe wollte, dass wir Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ lernen sollten, damit wir es dann beim großen Schulabschlussfest im Sommer vor der gesamten Lehrer- und Elternschaft vorführen konnten. Da es nur zwei Jungen in der Gruppe gab, nämlich mich und einen anderen, mussten mehrere männliche Rollen mit Mädchen besetzt werden. Die Geschichte hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Zigeunergeschichte, und schon wieder bekam ich die Rolle des Grafen, der allerdings diesmal selber fremdgeht und sich in die viel jüngere Braut des Figaro verliebt. Die Operngesänge brauchten wir nicht selbst machen, sondern wurden durch den Originalgesang aus dem Lautsprecher ersetzt, wobei wir nur so tun sollten, als würden wir sie selber vortragen. Für die Vorführung bekamen wir sogar original geschneiderte Adelskleidung aus der Barockzeit geliehen vom Bremer Goethetheater. Als dann aber endlich der Tag der Vorführung kam, ging so manches schief: unter anderem fiel auf einmal die große Dekosäule um und riss damit zugleich das ganze Kulissentuch mit, das an dieser befestigt war. Überhaupt fragte ich mich am Ende, warum wir so einen riesigen Aufwand betrieben, wenn das Stück am Ende nur ein einziges Mal gespielt wurde.

Unterdessen hatte mich Edgard Böhnke aus Blumenthal noch einmal angerufen und mich erneut eingeladen, ihn und die Geschwister zu besuchen. Und wieder nahm ich den Florian als Begleiter mit in der Hoffnung, dass vielleicht auch er Gefallen fände an diesen Gläubigen, um zukünftig öfter dorthin zu gehen. Wieder verbrachten wir einen ganzen Tag dort und hörten uns von Morgen bis Abend Belehrungen aus der Bibel an. Inzwischen hatte ich das Evangelium richtig gut verstanden und auch die Notwendigkeit, als Christ ein heiliges Leben zu führen. Ich erzählte den alten Brüdern, dass ich mich jetzt von den Adventisten und der Missionsgemeinde getrennt hätte und dass ich später in die Mission gehen wolle. Beiläufig erwähnte ich auch, dass ich im Sommer für ein Jahr in die USA gehen würde auf die High School, und dass ich bei einer Baptistenprediger-Familie zu Gast sei. Bruder Daniel Werner schien von dieser Idee gar nicht begeistert zu sein, sondern mahnte mich mit zwei Bibelzitaten: „Wer mit Weisen Umgang hat, wird weise, aber wer sich zu Toren gesellt, wird verdorben“ (Spr.13:20). Und der andere Satz lautete: „Gott gibt den Aufrichtigen Gelingen, und den Demütigen gibt Er Gnade“ (vergl. Ps.112:4, Spr.3:34). Ich verstand damals, dass Daniel uns beiden damit sagen wollte, dass wir uns immer genau überlegen sollten, mit welchen Christen wir Gemeinschaft anstreben sollten (nämlich mit ihnen). Aber da ich nun ohnehin gerade eine neue Gemeinde suchte, entschied ich mich, in der verbleibenden Zeit von nun an, regelmäßig jedes Wochenende nach Blumenthal zu fahren, um dort dann auch zu übernachten. Florian hingegen wollte nicht mehr mitkommen.

Über Pfingsten hatte dann der Verein Youth for Understanding zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen, das irgendwo auf dem Land stattfand. In verschiedenen Workshops wurden uns Aufgaben gestellt, die wir in der Gruppe üben sollten und deren Erfahrungen wir dann im Anschluss besprechen würden. Unter anderem sollten wir Schamanen bei einem Ritual beobachten und ihre Handlungen deuten. Dabei widersprach ich der Gruppenleiterin, die behauptete, dass die Männer in vorchristlicher Zeit sich den Frauen bereitwillig unterstellten, da sie für die Fruchtbarkeit maßgeblich waren. Als wir dann in der Gruppe die Frage bekamen: „Was würdest Du unbedingt auf einer einsamen Insel mitnehmen? – und begründe es!“ sagte ich natürlich: „Vor allem die Bibel, denn sie für mich die Botschaft Gottes ist, die mir Weisung in allen Lebensbereichen vermittelt“. Erstaunlicherweise widersprach mir niemand, sondern die meisten stimmten mir zu.

Als ich an einem Freitagnachmittag wieder nach Blumenthal fuhr, um dort bei Böhnkes das Wochenende zu verbringen, predigte Bruder Daniel über Matth.20 von dem Gleichnis der Hochzeitsfeier, zu der viele Gäste geladen waren. Als sich aber dann der Gastgeber seine Gäste näher betrachtete, bemerkte er, dass einer unter ihnen war, der keinen Hochzeitsanzug anhatte. Er fragte ihn, wie er hier überhaupt hineingekommen sei und warf ihn kurzerhand raus. Daniel erklärte dieses Gleichnis mit der zukünftigen Hochzeit Jesu im Himmel und betonte, dass es viele falsche Christen geben werde, die ihr ganzes Leben gedacht hatten, dass sie echte seien. „Aber das Entscheidende fehlte ihnen, nämlich die Wiedergeburt und Erneuerung durch den Heiligen Geist. Sie liebten immer noch die Welt und das Vergnügen, anstatt nach dem Willen Gottes zu fragen. Dann aber kommt am Ende die böse Überraschung, wenn der HErr ihnen sagen wird: ‚Ich kenne euch gar nicht!‘ Deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder zu prüfen, ob man wirklich den Geist Gottes hat und von diesem geleitet wird, denn nur dadurch hat man die Gewissheit, dass man wirklich errettet ist. Die Wiedergeburt bekommt man nur, wenn man wirklich aufrichtig Buße tut und sich vor Gott als verlorener Sünder erkannt hat“.

Diese Worte trafen mir ins Herz, denn auch ich liebte ja noch die Vergnügungen der Welt und war noch immer nicht frei von der Sünde. War meine Bekehrung vielleicht gar nicht echt gewesen? Vielleicht hatte auch ich noch gar kein Hochzeitskleid an und machte mir die ganze Zeit etwas vor… Aber wie schrecklich wäre ein solcher Irrtum! Ich musste unbedingt noch einmal richtig Buße tun, damit ich mir meines Heils gewiss sein konnte. Nach der Bibelstunde ging ich deshalb zu Edgard und sagte ihm, dass ich meinen Wochenendbesuch schon vorzeitig abbrechen wolle, da ich noch etwas zu erledigen hätte. Edgard war irritiert, deshalb erklärte ich ihm, dass es mit der Predigt zu tun habe, weil sie mich sehr getroffen hatte. Ich versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, aber dass ich mal eine Nacht allein sein wollte mit Gott. Dann verabschiedete ich mich und ging zum Bus.

Als ich gegen 22:00 Uhr zur Endstation Gröpelingen kam, hatte ich ein ganz starkes Bedürfnis, auf den Knien zu beten. Ich suchte im Dunkeln einen versteckten Ort, wo mich keiner sehen würde, und stieg in eine ausrangierte Straßenbahn, die in einer Halle lagerte. Dort fiel ich auf die Knie und beugte mein Gesicht auf den Boden. Unter Tränen bat ich Gott immer wieder um Vergebung meiner Sünden und flehte Ihn an, dass Er mich doch retten möge und mir Seinen Heiligen Geist gebe, um völlig neu zu werden. Ich bekannte Ihm alle meine Sünden, die mir einfielen und bat Ihn auch um Vergebung aller verborgenen Vergehen. In dieser gebeugten Haltung blieb ich gefühlte zwei Stunden lang, bis mir langsam warm ums Herz wurde und ich Gottes Gegenwart spürte. Ich stand auf und hatte die Zuversicht, dass ich nun wirklich von Gott angenommen war. Später erkannte ich diesen Moment als meine eigentliche Wiedergeburt an, denn meine Bekehrung im Jahr zuvor war ja noch völlig unbewusst und fremdgesteuert. Auch fiel mir auf, dass in dieser Nacht Anfang Juni 1985 fast genau 9 Monate vergangen waren seit meiner ersten Bekehrung, wie bei einer natürlichen Geburt!


Den HErrn vor den Menschen bekennen

Während des Französischunterrichts unterhielten wir uns über unsere Berufswünsche, die jeder Schüler der Reihe nach auf Französisch nennen und begründen sollte. Als ich dran war, sagte ich: „Je veux être missionnaire plus tard“ („Ich möchte später Missionar werden“). Herr Jentzsch reagierte überrascht: „Eh bien, c’est un choix de carrière tres inhabituel!“ (Das ist aber ein ziemlich ungewöhnlicher Berufswunsch“). Dann erklärte ich, dass ich an Jesus Christus glaube, der aus den Toten auferstanden sei und jeden Menschen ein ganz neues, ewiges Leben schenken möchte, wenn man sich für Ihn öffnet. Irgendwie kamen wir nun auf den Musiker John Lennon zu sprechen, der ja behauptet hatte, dass die Beatles berühmter seien als Jesus, und der nun tot sei. Herr Jentzsch erklärte: „Je ne pense pas que John Lennon soit au paradis maintenant.“ Und dann fragte er mich: „Qu’est-ce que tu veux dire, Simon, où est-il maintenant?“ („Was glaubst Du, Simon, wo sich John Lennon jetzt befindet?“). Da sagte ich: „Je ne peux pas dire… weil ich das Wort für ‚Hölle‘ nicht kenne“. Da musste Herr Jentzsch sehr lachen, obwohl es eigentlich alles andere als lustig war.

Kurz vor den Sommerferien kam es dann erneut zu einer unerwarteten Gelegenheit zum Bekennen meines Glaubens. Zunächst hatte ich mich an mehreren Tagen mit einem langhaarigen Heavy-Metal-Anhänger aus meiner Klasse über die satanischen Ursprünge der Rock-Musik unterhalten und ihm auch ein Buch von mir geliehen mit dem Titel: „Wir wollen nur deine Seele“. Als er mir das Buch in der Pause auf dem Schulhof zurückgab, sagte er, dass er das total spannend fände und wollte wissen, was die Bibel über die Zahl 666 sagt. Ich erklärte ihm alles, was ich wusste, während sich nach und nach etwa zehn andere Schüler zu uns setzten, um mitzuhören. Als die Pause beendet war, hatten wir wieder Unterricht bei Herrn Jetzsch, der jedoch mitteilte, dass er aufgrund der kurz bevorstehenden Sommerferien nichts mehr vorbereitet habe und daher anbot, den Unterricht frei zu gestalten. Da meldete sich der Heavy-Metal-Schüler und sagte: „Simon hat uns eben in der Pause von Gott erzählt, und dass die Welt gar nicht aus Zufall entstanden sei, sondern von Gott in 6 Tagen geschaffen sei. Ich fände es gut, wenn Simon mal von seinem Glauben berichten könnte.

Herr Jentsch fand die Idee sofort super und machte ergänzend den Vorschlag, dass wir eine Podiumsdiskussion machen könnten, in welcher ich die Fragen der Schüler gezielt beantworten könne. Ich war damit einverstanden, und der Lehrer fragte, wer beginnen wolle. Als sich nach zehn Sekunden immer noch keiner meldete, bot Herr Jentsch an, dass auch er selbst mir mal eine Frage stellen wolle. Ich sagte: „Nur zu!“ Dann erklärte er: „Von den Schöpfungsgläubigen wird immer wieder behauptet, dass es unmöglich sei, dass aus unbelebter Materie Leben entstehen könne. Diese Behauptung wurde aber 1953 widerlegt, als Stanley Miller experimentell die Bedingungen einer möglichen Ursuppe herstellte und in dieser die ersten organischen Verbindungen aus anorganischen Elementen herstellen konnte. Was sagst Du dazu?“ Auf solch eine komplexe Frage war ich gar nicht vorbereitet und auch von diesem Experiment hatte ich noch nie gehört. „Das muss ich leider passen“ sagte ich, „Ich habe mich zwar in den letzten Wochen recht gut vorbereitet auf das Thema Evolutionstheorie, indem ich ein Buch darüber angefangen habe zu lesen, aber ich bin bis jetzt nur zu Argumenten über Mutation und Selektion gekommen – weiter habe ich nicht gelesen.“ – Ach so,“ erwiderte Herr Jetzsch, „Du liest also die Argumente der Kreationisten und lernst sie auswendig. Dadurch aber bekommst Du keinen wirklichen Einblick in die Thematik, weil Du Dich nur einseitig schlau machst.“ – „Aber das tun Sie doch auch!“ entgegnete ich. „Nein, ich lese durchaus auch die Argumente der Christen. Und jetzt stell ich fest, dass Du schon bei der erstbesten Gegenfrage einknickst. Dann hat das wohl wenig Sinn, fortzufahren.

Ich bin eben kein Wissenschaftler, was aber nicht bedeutet, dass es nicht auch Wissenschaftler gäbe, die die Evolutionstheorie infrage stellen. Aber wenn Sie mir Argumente über die Bibel sagen würden, da kann ich inzwischen ganz gut mitreden, weil das mein Thema ist.“ – „Ja prima,“ sagte Jentzsch, „dann machen wir da doch gleich weiter. Du hast letztens gesagt, dass Lennon in der Hölle sei. Wer geht Deiner Meinung nach alles noch in die Hölle?“ – „Die Bibel sagt, dass alle Menschen nach dem Tod in die Hölle kommen, wenn sie nicht Jesus als ihren Herrn angenommen haben.“ – „Ach so, interessant! Stefan, hast Du das eben gehört? Simon hat gerade gesagt, dass Du eines Tages in der Hölle landen wirst – wusstest Du das?“ – „Nicht nur er, auch Sie!“ – „Ja, ich habe schon verstanden, aber wollte nur mal schauen, ob das auch den anderen klar ist, was Du hier sagst.“ Doch wider Erwarten regte sich keine Empörung bei den Schülern, sondern eher wohl eine gewisse Achtung für mich, dass ich trotz massiver Widerstände meine Überzeugung unbeirrt vertrat. Ich nutzte die Gelegenheit zum Nachlegen: „Die meisten Menschen machen sich ihr ganzes Leben keine Gedanken über die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod geben könnte, aber wenn sie eines Tages erfahren, dass sie maximal nur noch eine Woche zu leben hätten, dann interessieren sie sich plötzlich für den Glauben. Und selbst der hartgesottenste Atheist fängt angesichts des nahen Todes auf einmal an, nach Gott zu fragen. Besser ist aber, wenn man das schon viel eher tut, um dann völlig getrost sein zu können.“ Herr Jentzsch griff diese Anregung auf: „Das ist eine spannende Frage: Was würdest Du tun, wenn Du wüsstest, dass Du nur noch eine Woche zu leben hättest?“ Eine Mitschülerin meldete sich: „Ich würde die ganze Woche jeden Abend nur noch in der Diskothek verbringen!“ Ich dachte nur: Unfassbar! – was für eine Oberflächlichkeit!

Als die Unterrichtsstunde vorbei war, ging ich mit Herrn Jentzsch die Treppe runter, und er fragte mich, welcher Kirche ich angehöre. „Ich bin eigentlich evangelisch, aber ich lehne die Kirche inzwischen ab, weil sie nicht mehr nach der Bibel lebt. Stattdessen gehe ich in eine freie Gemeinde.“ Herr Jentzsch sagte: „Ja, ich bin auch schon vor Jahren aus der Evangelischen Kirche ausgetreten, weil sie aus meiner Sicht zu wenig weltgewandt war.“ Da musste ich schmunzeln: „Dann können Sie jetzt getrost wieder eintreten, denn inzwischen ist sie völlig eins geworden mit der Welt.“ Dann sprach mich ein anderer Mitschüler an und stellte Fragen zu meinem Glauben. Wir unterhielten uns noch lange, und ich konnte ihm noch vieles erklären über den HErrn Jesus, dass Er bald wiederkomme und dass Satan die Menschen verführt durch Fernsehen und Rockmusik. Als wir dann in den Bus gestiegen waren, fragte er mich zuletzt: „Simon, warum lässt Du Dir eigentlich jetzt einen Bart stehen?“ Ich gab zu: „Weil ich am liebsten aussehen möchte wie der HErr Jesus.“ – „Ich finde, Du siehst eher aus wie Erik der Rote“ – „Kenn‘ ich nicht. Aber findest Du, dass mir ein Bart nicht steht?“ – „Ja, Du siehst damit bescheuert aus. Mach den lieber weg.“ Als ich dann zuhause ankam, habe ich mich sofort erst Mal rasiert.

Dann habe ich mich aber auch gefragt, ob ich vielleicht selber auch noch verbotene Musik von früher in meinem Zimmer habe. Neben meinen etwa 50 christlichen Musikkassetten hatte ich auch noch 70 Schallplatten mit weltlicher Popmusik. Darf man aber als Christ noch weltliche Musik hören? Edgard hatte mir mal aus der Bibel einen Vers gezeigt, wo es heißt, dass einem Christen prinzipiell alles erlaubt sei, solange es nützlich ist. Da kam mir die Idee, mal eine Selektion zu machen zwischen nützlicher und unnützlicher Musik: mein Lieblingssänger Chris de Burgh war auf jeden Fall nützlich, denn er hatte in einem Lied das erste und zweite Kommen Jesu auf Erden besungen („A spaceman came travelling“) und in einem anderen Lied das Fernsehen als „Auge des Teufels“ kritisiert („The Devils Eye). Aber auf der gleichen Schallplatte hatte er Gott und den Teufel beim Pokern um die Seelen der Menschen dargestellt („Spanish train“), was ja nicht ganz biblisch ist. Und im Lied „The Leader“ besingt er das baldige Kommen eines Weltherrschers, der von den Druiden vorhergesagt wurde, ohne dass er Jesus auch nur ein einziges Mal erwähnt. Ich seufzte, aber entschied mich am Ende, Chris de Burgh zu begnadigen. Alan Parson Project hatte ein Lied mit dem Titel „Lucifer“ – also gleich weg damit! Tangerine Dream hatte noch nicht einmal Texte, also unnütz. Barclay James Harvest hatte im Lied „Hymn“ den Tod und die Auferstehung Jesu besungen, – also koscher.

Am Ende waren es etwa zwölf Schallplatten, die meiner selbst auferlegten Zensur zum Opfer fielen. Ich zertrümmerte sie mit dem Hammer und warf sie in den Müll. Zudem nahm ich mir vor, die weltliche Musik nur noch selten zu hören, sondern stattdessen möglichst nur noch christliche Musik. Um meiner Familie zu zeigen, dass ich jetzt ein neuer Mensch geworden war, stritt ich mich nicht mehr mit meinen Geschwistern um die Hausarbeit, sondern machte sie freiwillig selber. Wenn ich mit Bobby hinausging, nutzte ich die Zeit und las dabei die grünen Hefte vom Daniel Werner mit christlicher Belehrung. Ich hatte auch angefangen, nach dem so genannten Bibellesekalender in der Bibel zu lesen, d.h. morgens und mittags je ein Kapitel aus dem Alten Testament und abends ein Kapitel aus dem Neuen Testament, so dass man nach genau einem Jahr die Bibel einmal ganz durchgelesen hatte. Davor und danach betete ich immer für meine Familie und Freunde, dass doch auch sie zum Glauben an Christus finden mögen.

Doch sechs Wochen vor meiner einjährigen Reise in die USA bekam ich plötzlich einen Anruf von der Polizei. Man teilte mir mit, dass ich eine Anzeige erhalten habe wegen eines Fahrrad-Diebstahls. Tatsächlich hatte ich ein paar Monate zuvor spät in der Nacht in Arbergen ein Rennrad gefunden, das nicht angeschlossen war. Ich dachte, jemand hätte es gestohlen und dann einfach liegen lassen. Deswegen nahm ich es mit, um es zum Fundamt zu bringen. Denn mein Vater hatte das auch schon öfter gemacht und bekam das jeweilige Fahrrad dann nach einem Jahr immer geschenkt, wenn es bis dahin niemand abgeholt hatte. Doch statt es schließlich zu Fundamt zu bringen, kam mir nach ein paar Wochen die Idee, es zu verkaufen, um für die USA ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen. Prompt meldete sich eine Frau, die meinen Angebotszettel im Supermarkt gelesen hatte, und ich verkaufte ihr das Rad für 50,- DM, das sie ihrem Sohn schenken wollte. Doch der eigentliche Besitzer, ein Junge aus dem Schulzentrum Drebberstr., entdeckte kurz darauf sein Rad auf dem Fahrradplatz und verständigte die Polizei, die den neuen Besitzer ermittelte. Dadurch erfuhren sie, dass seine Mutter das Fahrrad bei mir gekauft hatte.

Fortsetzung folgt.

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