„Als ich in Seinem Licht durch das Dunkel wandelte“ Teil 30
Januar bis März 1994
Die Geistertaufe
Anfang Januar erlitt mein Zwillingsbruder Marcus eine schwere Psychose, die in mehreren Selbstmordversuchen endete. Auslöser dafür war seine Arbeit als Erzieher in einem Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche die ihm sehr zu schaffen machte. Eine Diakonissenschwester aus Syke empfahl dem Marcus, er solle sich mal einer bestimmten christlich-charismatischen Wohngemeinschaft in Bassum anschließen, wo er auf jeden Fall Hilfe bekommen könnte. Von diesen Gläubigen dort in Bassum war meine Mutter sehr angetan, und sie berichtete mir am Telefon, dass dies sehr treue und konsequente Christen seien. Es sollte sich später jedoch herausstellen, dass diese meinem Bruder fast zum Verhängnis wurden. Erst viel später erfuhr ich von Marcus die erschütternde Geschichte, was wirklich damals geschah. Im Folgenden gebe ich diese Geschichte so weiter, wie Marcus sie mir erzählte:
„An meinem Praktikumsplatz in einem Jugendheim in Großburgwedel bei Hannover wurde ich total geschlaucht. Das hatte zwei Gründe: auf der einen Seite sah ich mich durch die pubertären Jugendlichen immer wieder an meine eigene Kindheit erinnert, wie ich von meinem Vater und meinen Klassenkameraden als Versager und Taugenichts abgestempelt wurde; zudem kam, dass diese Gören so frech waren, dass sie mir einmal sagten: „Was willst du uns eigentlich erzählen?! Du hast ja noch nicht einmal mit einem Mädchen geschlafen!“ Auf der anderen Seite gab es dort einen jungen Heimleiter, der mit diesen Burschen nicht nur fertig wurde, sondern sogar von allen bewundert wurde wegen seinem Motorrad und seiner coolen, lässigen und selbstsicheren Art. Ich erfuhr auch, dass dieser Heimleiter viele okkulte Dinge praktizierte, was mich noch mehr verunsicherte.
Nachdem ich in eine Wohngemeinschaft mit den Bassumer Geschwistern gezogen war, meinte ich, nun endlich geistlichen Beistand und Hilfe in meiner verzweifelten Situation zu bekommen. Jedoch stellte sich bald heraus, dass diese Brüder sehr charismatisch ausgerichtet waren. Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthalts dort wurde ich nach der ‚Geistestaufe‘ gefragt, ob ich diese schon empfangen habe. Als ich dieses verneinte, boten mir die Geschwister nach einer kurzen Unterredung an, mir die Hände aufzulegen und für mich zu beten, damit auch ich in den Genuss dieser sogenannten ‚zweiten Gnade‘ komme. Ich dachte damals: Vielleicht ist da doch etwas dran an der – von den Pfingstlern so stark propagierten – Geistestaufe; vielleicht ist es gerade das, was mir die ganze Zeit noch gefehlt hat! Und so willigte ich ein. Doch es geschah zunächst gar nichts, obwohl ich ganz erwartungsvoll, ja, mich fast sogar schon neugierig dem öffnete, was da kommen sollte und sogar ihre Worte nachbetete.
Am darauffolgenden Sonntag ging ich dann sogar im Gottesdienst zusammen mit einigen anderen Kandidaten ‚nach vorne‘, um ‚durch den Heiligen Geist erschlagen‘ zu werden, wie sie es nannten. Als schon ein paar Freiwillige vor mir in der Schlange nach einer Beschwörung des Predigers Dieter Rossmann nach hinten gefallen waren, nahm ich mir vor, ganz bewusst diesen überirdischen Einfluss nicht zu erliegen. Doch als die Reihe dann an mich ging, merkte ich während des Gebets eine Schwäche in meinen Beinen. Ich fing an zu wanken, und mir war, als ob der Prediger mir auch noch einen kleinen Schubs nach hinten gab. Mir wurde schwindelig und dennoch versuchte ich mit aller Kraft, dem fremden Einfluss zu widerstehen, so dass ich zwar nicht nach hinten fiel, jedoch – soweit ich mich erinnern kann – in mich zusammensackte.
Von nun an suggerierten mir die Geschwister, ich hätte jetzt endlich den Geist empfangen. Beflügelt von diesem Gedanken, nahm ich mir vor, meinen Dienst bei den schwererziehbaren Kindern zu quittieren, zu was mir auch die Bassumer Brüder rieten. So fuhr ich ins Büro des Heims, um dem Heimleiter meinen Entschluss mitzuteilen. Bevor ich jedoch eintrat, kamen mir immer wieder Zweifel. Doch als ich den Türgriff in der Hand hielt, war mir, als ob eine innere Stimme zu mir sagte: ‚Marcus, sag Gott ab und vertraue auf dich!‘ Erst als ich nach meiner Kündigung das Büro wieder verließ kam mir der Gedanke, dass ich ja jetzt auf die Stimme des Teufels gehört und nun einen verhängnisvollen Fehler gemacht habe. Ich hatte diesen Gedanken weiter gesponnen und dachte – im Sinne der Prädestination – ich sei nun aus der Spur Gottes ausgebrochen, ja sei sogar zum Antichristen geworden. Ich meinte, ich sei jetzt völlig ohne Gott – abgefallen wie Kain, der auch den Plan Gottes für sein Leben durcheinandergebracht hatte und dass ich nun einfach nicht mehr zum Leben dazugehöre, da ich dieses ein für allemal verwirkt hätte. Ich dachte auch an Judas Iskariot und zum ersten Mal stiegen Selbstmordgedanken in mir auf.
Am nächsten Tag erzählte mir Dieter Rossmann, der Prediger aus Bassum, er hätte in der Nacht von mir geträumt, indem er meinen Kopf sah, der im Feuer brannte, anspielend auf das Feuer des Heiligen Geistes. Nach dem Frühstück bot man mir an, bei den Tapezierarbeiten im Haus zu helfen. Während dann alle eifrig am Tapezieren waren und christliche Musik dudelte, lief ich wie Falschgeld auf und ab mit der Überlegung, ob ich nun vom Glauben abgefallen sei oder nicht. Die Brüder schauten mich alle etwas betreten an, und ich dachte, sie würden mich jetzt wie ein Teufelskind behandeln. Einer von ihnen, der Carsten, der auch mein Zimmernachbar war gab mir daraufhin ein Buch zum Lesen in die Hand, weil er mich auf andere Gedanken bringen wollte. In dem Buchtitel, an den ich mich nicht mehr genau erinnern kann, kam das Wort ‚Fluch‘ vor, und sogleich assoziierte ich diesen Zufall mit meiner gegenwärtigen Situation. Eine innere Stimme sagte zu mir: ‚Du stehst unter dem Fluch!‘ Während ich noch grübelte fragte mich Carsten, was denn eigentlich mit mir los sei, warum ich so teilnahmslos dasitze. Seine Frage rauschte jedoch an mir vorbei, und ich hörte in diesem Moment die innere Stimme zu mir sagen: ‚Du hast dich von Gott losgesagt!‘ Ich schaute erschrocken auf und sah Carsten an, ohne etwas zu sagen. Plötzlich dachte ich, ich hätte die Sünde gegen den Heiligen Geist begangen. Ich versuchte dann, mich einigermaßen normal zu benehmen und wollte mir nichts anmerken lassen, damit die Brüder keinen Verdacht schöpften. In mir tobte jedoch ein Sturm der Verzweiflung, und ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren.
Am Nachmittag fuhr ich mit Carsten in die Gemeinde. Ich fuhr wie ein Irrer, sodass Carsten schon Angst hatte, ich würde einen Unfall machen. Ich dachte bei mir: ‚Carsten sieht alles, weil der Geist ihm alles offenbart!‘ und ich schämte mich vor ihm. Carsten beobachtete mich eine Weile und sagte dann mit einem Mal: ‚Marcus, Du kuckst, als hättest du dem Teufel ins Gesicht geschaut!‘ Ich war wieder erschrocken, denn alles ergab ein abgerundetes Bild. Ich dachte nur: ‚Nun siehst du sogar schon aus wie der Teufel!‘ Als wir ankamen, schaute ich in den Spiegel und erschrak heftig, denn ich sah plötzlich meine Augen völlig schwarz, d.h. ich hatte keine Augenfarbe mehr! ‚Das war es also!‘ dachte ich: ‚Du hast die Augen des Teufels bekommen!‘ Jetzt war ich also ein vollendetes Satanskind! Dann fiel mir noch etwas auf, das ich für sehr bedeutsam hielt: Während man mich noch in den ersten Tagen zur Begrüßung umarmte und mir z.T. auch einen Kuss gab, war es an diesem Nachmittag anders. Die Geschwister kamen nacheinander herein und reicht den mir im Flur einfach nur die Hand. Mir war natürlich auch gleich klar, warum: ich hatte ja einen finsteren Blick! Alle mussten ja sofort durch den Geist erkennen, dass ich vom Teufel war. Jetzt gingen sie also folgerichtig auf Distanz zu mir. Bevor die Versammlung anfing war noch etwas Zeit und die Brüder luden mich zu einem christlichen Brettspiel ein. Die vorgetragenen Spielregeln rauschten nur so an mir vorbei und alle merkten irgendwie, dass ich gar nicht richtig bei der Sache war. Als sie plötzlich zu mir sagten: ‚Marcus, du musst jetzt eine Karte ziehen!‘ wachte ich erst wieder aus meiner Apathie auf. Ich fragte mich sofort, was das jetzt wieder zu bedeuten habe. Sollte sich an dieser Karte etwa mein Schicksal entscheiden? Ich drehte die Karte um, und mir war, als ob wieder eine Stimme zu mir redete: ‚Dein Glaube ist tot!‘
In der darauffolgenden Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum: Mir war, als sähe ich ein blutendes Herz und beobachtete, wie das Blut herauslief. Ich schrie laut auf und bemerkte, dass ich nur geträumt hatte. Ich muss dazu sagen, dass ich in den Nächten zuvor schon den Eindruck hatte, als ob der Teufel mir jede Nacht etwas raubt: Zunächst die Liebesfähigkeit, dann die Freude und am Ende auch noch die Bußfertigkeit. Während ich mich langsam anzog, überlegte ich mir, dass ja nun ohnehin alles aus sei und es an der Zeit war, die Konsequenzen zu ziehen. Ich beschloss, die Ältesten der Gemeinde anzurufen und ihnen Vorwürfe zu machen und danach Selbstmord zu begehen. Als sie jedoch kamen und ich sie empfing, redete ich kaum etwas. Sie umarmten mich herzlich, und es stieg wieder dieses wunderbare Kribbelgefühl in mir auf, das ich auch sonst schon verspürte, wenn sie mich berührten. Sie redeten mit mir, und mir ging es wieder wohl. In mir stieg endlich wieder Hoffnung auf, es würde alles wieder gut werden.
Die Bibelstunde am Abend war für mich langweilig, und ich bedauerte, dass die Brüder mir nicht irgendeinen Trost in meiner Situation gaben. Ich ging allein zum Auto zurück, setzte mich rein und schlug nach einigem Grübeln aufs Lenkrad, wobei ich laut rief: ‚ICH WILL NICHT ZUM TEUFEL!‘ Ich fuhr wie ein Verrückter über die Dörfer nach Hause. Dort stellte ich fest, dass das Haus leer war (Carsten und die anderen waren noch nicht gekommen). Für mich stand jedoch wieder fest: Sie kommen auch nicht mehr, denn es steht ja geschrieben: ‚Was hat das Licht Gemeinschaft mit der Finsternis?‘ Bevor ich ins Haus trat, ging ich noch mal in den Garten und schrie laut in die Nacht: ‚N E I N, N E I N !!!‘ Ich führte Selbstgespräche und sagte mir immer wieder: ‚Du bist ein Kind des Teufels!‘ Als ich die Treppe hochging auf mein Zimmer, klingelte das Telefon. Ich ging ran und sprach unvermittelt in den Hörer: ‚Ich bin ein Kind des Teufels! Es ist vorbei, ich geh verloren!‘ Der Bruder am anderen Ende der Leitung reagierte sofort und versuchte mich mit vielen Argumenten zu trösten. Ich redete nun ganz nüchtern mit ihm und stellte ihm zynische Fragen. Der Bruder wurde laut und brüllte mich an, indem er mir Bibelworte entgegnete wie z.B.: ‚Der Geist zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.‘ Ich erwiderte ihm mit bitterer Ironie: ‚Der Geist des Teufels zeugt mit meinem Geist, dass ich ein Kind des Teufels bin.‘ Nach dem Telefongespräch ging ich auf Toilette. Beim Urinieren merkte ich, dass mein Urin nicht gelb, sondern weiß, durchsichtig war. Sofort dachte ich: ‚Das ist meine Seele. Meine Seele läuft aus!‘
Zum Spielball des Teufels
Bei den Renovierungsarbeiten am nächsten Tag konnte ich mich wieder auf nichts konzentrieren. Ich lief zum Carsten und flehte ihn an: ‚Ich hab den Heiligen Geist nicht!‘ Carsten antwortete mir: ‚Marcus, reiß dich endlich zusammen, sonst brichst du nicht durch!‘ Während ich noch ängstlich vor mich hin wimmerte, trat plötzlich Carsten zu mir legte mir entschlossen die Hände auf und sagte mit lauter Stimme: ‚Empfange den Heiligen Geist!‘ In diesem Moment durchströmte ein angenehmes Kribbeln meinen ganzen Körper, alle Glieder nacheinander, außer den Kopf. Mir war, als sei ich nun vom Heiligen Geist erfüllt und gereinigt, und ein seliges Glücksgefühl stieg in mir auf. Sofort beschloss ich, wieder zu evangelisieren. Ich wollte sogleich in Großburgwedel anrufen, um mein Praktikum im Heim wieder fortzusetzen, doch während ich mit der Heimleitung telefonierte, verlor ich wieder das Gefühl, und mir kam das Bibelwort in den Sinn: ‚Wer sich umschaut und zurückblickt…‘ Als ich den Hörer wieder auflegte, war ich wieder total verzweifelt und dachte: Wie gewonnen, so zerronnen! Jetzt war der Heilige Geist also wieder von mir gewichen.
Am Abend war Gebetsstunde. Die Geschwister beteten, aber keiner betete für mich. Als ich später wieder im Auto saß, flehte ich zu Gott: ‚HErr, gib mir doch nochmal eine Chance! Lass mich doch wieder ins Leben zurückkehren!‘ Ich rang innerlich um den Heiligen Geist und wartete wieder auf dieses Gefühl, dieses Kribbelgefühl, das ich jedes Mal spürte und mir Sicherheit gab. Und plötzlich war es wieder da! Als ich wieder im Haus war, rief Mutter an. Ich sagte ihr hocherfreut, dass ich erst jetzt wirklich wiedergeboren sei. Sie jedoch war sich nicht sicher, ob dies ein Grund zur Freude oder der Besorgnis sein sollte. Carsten jedoch war entsetzt über meine ständigen Gemütsschwankungen. Obwohl er sehr bibelfest und selbstbewusst war, sah er sich doch mit meiner Lage überfordert und sagte mir nur: ‚Oh Marcus! im Krankenhaus würde man dich sofort mit Psychopharmaka vollhauen.‘
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder völlig leer. Heute war der Tag, an dem die vier Ältesten mit mir sprechen wollten über meine Zukunft. Als wir beisammensaßen, weissagten sie jeder einzelne, indem jeder eine mystisch-orakelhafte Vision über mich hatte. Auch die anschließenden Erklärungen und Bibelverse konnte ich alle direkt auf meine Situation übertragen. Sie ermutigten mich, ich solle meine Situation noch einmal in Großburgwedel klären, um des Zeugnisses willen und sollte auch meinen Wohnsitz dort abmelden. So fuhr ich wieder zur Heimleitung nach Großburgwedel. Als ich jedoch ankam, war mir wieder jeder Mut entwichen und ich redete nur noch unverständliche und wirre Sätze zu ihnen. Das Heimpersonal war über meinen Zustand entsetzt, weil sie sahen, dass ich extrem suizidgefährdet war. Sie redeten auf mich ein und stellten mir einige Fragen. Ich sagte aber kein einziges Wort, sondern schaute sie nur starr an. Alle Farbe war aus meinem Gesicht gewichen und ich dachte nur bei mir: Wenn die wüssten was wirklich mit mir los ist! Aber wie sollte ich ihnen das erklären? Sie waren ja nicht gläubig und würden es ja deshalb überhaupt nicht verstehen. Ich hatte nur noch den Wunsch, Selbstmord zu begehen. Am Ende sagte ich ihnen nur noch leise: ‚Ich hab´ Jesus verleugnet.‘ Sie gingen darauf jedoch nicht ein, sondern ermahnten mich nur, ich solle am besten nicht mehr mit dem Auto fahren. Zum Schluss fragten sie mich nur noch hilflos: ‚Herr Poppe, können wir sie jetzt alleine lassen?‘
Weil sie mich baten, ich solle meine Kleidung und andere Sachen mal endlich mitnehmen, die ich noch in meinem Zimmer hatte, gehorchte ich wie mechanisch und lud die Kisten ins Auto. Ich wollte nur noch nach Bassum zurück, deshalb ließ ich in der Eile noch viele Sachen zurück u.a. meine Brille. Es war schon spät abends, als ich in Bassum ankam. Ich klingelte, aber Carsten machte mir die Tür nicht auf. Es war -10 ˚C, und weil ich mich nicht warm angezogen hatte, setzte ich mich ins Auto, um dort zu warten. Dann endlich ließ mich Carsten rein, und ich schlief die Nacht bei ihm. Am Samstag bekamen wir Besuch aus Braunschweig, auch charismatische Geschwister, jedoch kamen sie mir noch viel geistlicher vor als die Bassumer. In den Gesprächen am Vormittag hielt ich mich völlig zurück, damit sie nicht merkten, was mit mir los war. Doch beim Waldspaziergang sprach mich einer von ihnen mit ‚Bruder Marcus‘ an, um mich in ein Gespräch zu ziehen. Ich reagierte jedoch prompt und fragte: ‚Wieso Bruder?‘ Darauf fragte mich dieser verwundert: ‚Warum denn nicht? oder bist du etwa kein Bruder?‘ Ich versuchte mich dann jedoch normal zu stellen, nicht nur weil ich sie nicht beunruhigen wollte, sondern weil es mir gut tat, dass sie mich als ihresgleichen betrachteten. Ich suchte sehr stark Anlehnung an sie.
Am Nachmittag merkte ich, wie die Stimmung wieder umschlug. Während alle am Vormittag noch so geisterfüllt schienen, kam mir nun alles ungeistlich und weltlich vor. Während wir Tischtennis spielten, fühlte ich mich wieder ausgestoßen und verachtet von allen. Sie behandelten mich wie einen Ungläubigen und schauten auf mich herab. Trotz aller Zuwendung war dies doch immer der vorherrschende Grundton. Man gab mir von Anfang an den Eindruck: ‚Dir fehlt noch was! Du gehörst noch nicht ganz zu uns!‘ Trotz all ihrer herzlichen und brüderlichen Worte bestand doch immer diese Unsicherheit in mir, die durch manche unvorhergesehene Sätze von ihnen in mir hervorgerufen wurde. Sie haben mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Auch in der darauffolgenden Woche wurde ich vom Teufel wie ein Spielball hin und her geworfen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Immer wieder keimte in mir neue Hoffnung auf. Gewisse Bibelworte waren für mich ein kleines Licht am Horizont, z.B. Psalm 32:8 ‚Ich will dich mit meinen Augen leiten.‘ Doch immer wieder wurde das Licht erlöscht, wenn ich meinte, ich hätte eine letzte Gnadenfrist tatenlos verstreichen lassen, das ‚Heute‘ in Hebr.3:7+15 ‚Heute wenn ihr Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!‘ Mir schien es, als könnte ich nur durch ein schonungsloses Bekenntnis all meiner Sünden wieder innerlich frei werden. Aber immer wenn ich mich schon auf dem Weg machte, kniff ich im letzten Moment, weil mich der Mut verließ.
Am Freitagmorgen lag ich den ganzen Vormittag im Bett und starrte die Decke an. In mir war alles wie tot. Schließlich stand ich auf, um mit dem Einrichtungsleiter zu sprechen. Nachdem ich längere Zeit zögernd vor seiner Tür gestanden hatte, trat ich ein, war aber sogleich wie erstarrt von seinem Blick, der mich zu durchschauen schien. Mir war, als wenn ich mir nun mein Todesurteil anhören müsse. Da ich annahm, dass er schon alles weiß über mich, reagierte ich auch nicht auf seine Fragen. Ja, ich sprach kein einziges Wort, da ich mein Schicksal ja ohnehin nicht mehr abwenden konnte. Er fragte mich am Ende noch, ob er mit mir beten könne aber ich hatte nur wenig Interesse. Am Sonntag stand ich schon sehr früh am Morgen auf. Ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir, konnte kaum schlafen. Viele Bibelworte gingen mir durch den Kopf und verunsicherten mich. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, indem ich sie vor mir her redete. Durch dieses fortlaufende Faseln von wilden und zusammenhangslosen, geistlichen Sätzen wurde schließlich auch Carsten beunruhigt und er gab mir eindringlich zu bedenken: ‚Marcus, das Denken eines Fluches ist nicht so schlimm, aber wenn du ihn aussprichst, dann ist es zu spät! Dann erfüllt es sich auch‘. Ich schaute Carsten hilflos und flehentlich an und erklärte ihm zum x-ten Mal meine Not: ‚Ich habe mich von Jesus losgesagt‘. Er stand schlagartig auf, streckte seinen Finger auf mich und rief mit ernster Stimme: ‚Jetzt hast du‘s gesagt!‘ Mit diesem Satz ließ er mich allein und ging wortlos weg. Ich blieb ganz ruhig und tat so, als ob nichts wäre.
Marcus Selbstmordversuch
Wir gingen zum Frühstück in den Gemeinschaftsraum, wo schon die anderen alle saßen. Während der 20 Minuten am Tisch war mir, als würden alle über mich herziehen in lästerlicher Weise, ja, zu Gericht sitzen über mich. Ich wusste: an diesem Sonntag würde es passieren! Heute ist mein Todestag! Alles, was sie am Tisch unter sich redeten, traf auf mich zu, als ob sie meine Kindheit und alles über mich kannten. Einer von ihnen, der mich scheinbar ins Gespräch ziehen wollte, fragte mich wegen der christlichen Musik, die im Hintergrund spielte: ‚Kannst du Englisch? Verstehst du das?‘ Ich verstand es natürlich nicht, aber ich glaubte sofort, dass sie das Stück nur wegen mir spielten, um mir das nahende Gericht anzukündigen. Ich stand vom Tisch auf und bedeutete ihnen, dass ich schon vorweg zur Gemeinde fahren wollte. Als ich hinausging, war mir, als könnte ich telepathisch ihre Gedanken lesen: ‚Unmöglich! stell dir das vor: der geht jetzt noch zum Gottesdienst!‘
Im Versammlungsraum erschrak ich, als ich meine Mutter sah. Ich erinnerte mich: sie wollte ja heute zum Gottesdienst kommen! Ich redete kaum etwas mit ihr, weil ich nicht wollte, dass sie etwas bemerkt. Das Predigtthema lautete: ‚Segen oder Fluch‘ – wie konnte es auch anders sein! Ich wusste, der Teufel wartet auf mich; heute wird er mich holen. Da ich am Fenster saß, bemerkte ich, dass die Heizkörper kochend heiß wurden. Während der Predigt vernahm man im Raum ein leises Zischen, das immer lauter wurde, bis es plötzlich knallte und eine Art klopfendes Geräusch folgte. Man sagte, die Heizung sei nicht ganz in Ordnung, aber mir war klar: der Teufel klopft schon an die Türen und unter mir brodelt die Hölle! Meine Mutter saß neben mir und bemerkte, wie ich unruhig wurde. Sie wollte meine Hand halten, aber ich stand auf, als wollte ich gehen. Meine Mutter fing plötzlich an zu weinen, als ahnte sie, was los war. So ging ich nicht hinaus, sondern nach vorne. Auch meine Mutter stand auf und ging schluchzend nach vorne, während die Gemeinde gerade ein evangelistisches Lied sang: ‚Höre Deutschland, deine Zeit ist jetzt gekommen! Frischen Segen gießt der HErr aus über dir. Hörst du heute Seine Stimme, Bassum, dann erhebe dich! Strahle in die ganze Welt dein Licht!‘ Es war scheinbar von der Bassumer Gemeinde selbst komponiert.
Der Prediger Dieter Rossmann sprach ein beschwörendes Gebet für mich und wurde mit einem Mal so laut, als wollte er mir Dämonen austreiben. Ich spürte, draußen wartet die Hölle! Ich drückte kräftig die Hand meiner Mutter und umarmte sie nach dem Gottesdienst, als wollte ich mich an sie klammern. Beim anschließenden, gemeinsamen Mittagessen sagte mir meine Mutter ahnungslos: ‚Marcus, die Suppe ist ganz schön heiß, nicht wahr?‘ Ja, es wurde mir immer heißer, und das Essen war für mich nichts anderes als die letzte Henkersmahlzeit. Ich hoffte immer noch, die Geschwister könnten mir noch irgendwie helfen, aber all ihre Worte erschienen mir wie verschlüsselte geistliche Wahrheiten. Eine innere Stimme schien mir zu sagen: ‚Marcus, je länger du die Lichtgemeinschaft hast mit diesen Christen, desto ärger wird es mit dir werden, denn der Teufel, dein neuer Herr, wird sauer, wenn du nicht bald von den lebenden scheidest!‘ Ich stellte mir vor, dass es verschiedene Stockwerke in der Hölle gibt und dass ich immer tiefer fallen würde, wenn ich die Sache nicht bald hinter mich bringen würde. Aus meinen Gedanken wurde ich jäh aufgeschreckt, als mich einer gegenüber am Tisch ansprach: ‚Marcus, guck mal!‘ Er zeigte auf sein T-shirt, auf dem geschrieben stand: ‚Jeder Tag ohne Jesus ist die Hölle‘… Ich stand abrupt auf. Carsten rief: ‚Marcus, bleib hier!‘ Ich sagte nur: ‚Du kannst mir nicht mehr helfen.‘ Carsten erwiderte genervt: ‚Dann ist dir auch nich mehr zu helfen!‘ Meine Mutter fragte besorgt: ‚Wo willst du denn hin?‘ – ‚Ich geh nach Großburgwedel‘ kam es gedankenlos aus mir heraus. ‚Das stimmt doch gar nicht!‘ konterte Carsten sofort, der mich ja schon etwas besser kannte. Ich ging wortlos hinaus. Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass ich mein Leben beenden wollte.
Draußen wehte ein eiskalter Wind. Ich stieg wie mechanisch in meinen Wagen. Ein mir nicht bekannter Christ rannte mir hinterher und fragte, ob ich ihn mitnehmen könne. Sollte er mich nun bewachen oder war er mir von Gott zum Schutz gesandt? Im Wagen konnte ich nicht locker mit ihm reden, denn mir schien das Auto voller Dämonen. Er wies mir den Weg, aber ich fuhr immer entgegengesetzt. Er sagte: ‚Fahr rechts!‘ und ich fuhr links, weil ich dadurch meinte, den Teufel zu überlisten. Zunächst war ihm mein Verhalten völlig unverständlich, doch dann spielte er das Spiel mit und wies mich jeweils in die andere Richtung, damit ich in die Richtige fuhr. Schließlich setzte ich ihn bei seiner Wohnung ab und fuhr alleine weiter. Ich fuhr ziellos die Landstraßen entlang, vorbei an toten, sandigen Feldern und gespenstisch wirkenden Bäumen. Welch eine Rolle spielte es auch schon, in welche Richtung ich fahren sollte? Ich überlegte mir nur, wie ich nun mein Leben beenden sollte. Ich fuhr die Autobahnauffahrt hinauf in Richtung Hannover. Ich fuhr langsam, ca. 60 km/h, und war innerlich ganz ruhig. Sollte ich durch einen Autounfall sterben? Einfach eben mit hoher Geschwindigkeit gegen die Leitplanke? Dann würde keiner merken, dass es ein Selbstmord war. Ich fuhr in Hannover rein und wieder auf die Autobahn rauf in Richtung Bremen. Sollte ich nach Hause fahren? Aber nein! denn da der Teufel ja nun der Herr über mein Leben geworden ist, konnte ich doch unmöglich meiner Familie noch einmal unter die Augen treten. Ich machte mein Radio an. Aber egal welchen Sender ich rein machte, ständig kamen christliche Lieder und Reportagen über mich und meine Kindheit. Dieser Spuk war mir unheimlich, denn ich war doch ganz klar im Kopf und hatte mir dies nicht eingebildet. Es war, als wenn die ganze Welt plötzlich gläubig geworden wäre und wie im tausendjährigen Friedensreich aus Offenbarung Kap. 20 nur noch der HErr und die Seinen regieren. Die Sonne ging feuerrot am Horizont unter, als wären es die lodernden Flammen der Hölle, die mich erwarteten. Mir war klar: ich gehöre nicht mehr zu dieser Welt!
Kurz vor Bassum bemerkte ich erst, dass ich nach Bassum gefahren war. Von Ferne sah ich mehrere Polizeiautos an einer Kreuzung stehen. Vielleicht suchen sie mich schon, dachte ich, und fuhr wieder zurück. Manchmal fuhr ich ganz schnell, fuhr sogar einmal richtig aus der Kurve raus, versuchte aber immer noch im letzten Moment, den Wagen zu kontrollieren. Ich fuhr auf einen Feldweg runter und dann einfach auf ein brachliegendes Feld am Rande des Waldes. Vor mir sah ich in einer Senkung eine große Fläche die einem See glich. Es war aber nur eine große überschwemmte Wiese, die zugefroren war. Ich konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, und so fuhr ich auf die Fläche rauf. Der Wagen krachte in das Eis ein. Ich konnte rückwärts nicht mehr rausfahren und fragte mich daher, was ich jetzt machen solle: im Wagen bleiben und erfrieren? Im Handschuhfach entdeckte ich eine Bibel, die mir scheinbar jemand hineingelegt hatte. Ich schlug die Stelle nach in Matthäus, wo Petrus den HErrn verleugnet hatte und dann bitterlich weinte. Dann las ich vom Selbstmord des Judas Iskariot. Doch wollte ich nicht, dass es später bei mir wie ein Selbstmord aussehe, sondern wie ein Unfall. Denn welch einen schlechten Eindruck würde das für die Welt machen, wenn sich ein Kind Gottes umbringt! Wie würde Jesus dastehen! Aber was sollte ich nun tun? War es nicht das einfachste, ich würde mich einfach erhängen?
Ich nahm das Abschleppseil vom Rücksitz und überlegte mir, was ich in den Abschiedsbrief schreiben sollte. Ich schlug die Bibel auf und las noch einmal den Abschnitt, wo es vom Petrus heißt, dass er bitterlich weinte, nachdem er den HErrn verleugnet hatte. Petrus wurde später vom HErrn wieder begnadigt. Konnte dies etwa für mich noch ein Hoffnungsschimmer sein? Nein, sagte ich mir, denn meine Sünden sind ja viel schlimmer gewesen. Ich hatte ja schließlich den Heiligen Geist gelästert, eine Sünde, von der es heißt, dass sie nimmermehr vergeben wird, weder in diesem noch im nächsten Zeitalter (Mt.12:31-32). Ich strich die ganze Seite in der Bibel quer durch und schrieb auf die Seite zur Erklärung für meine Hinterbliebenen: ‚Ich kann nicht glauben, dass das für mich gilt‘. Das sollte doch genügen als Abschiedserklärung, sagte ich mir und stieg mit dem Seil in der Hand aus dem Wagen aus. Dabei stapfte ich mit den Füßen tief in die Eispfütze, so dass mir das Wasser bis zu den Knien reichte. Es waren an diesem Abend ungefähr -15 ˚C unter dem Gefrierpunkt, und mir fiel auf, dass ich mit einer Sommerjacke und meinen einfachen Halbschuhen nur sehr leicht bekleidet war. Aber was macht das jetzt schon noch aus, wo ich ja sowieso von dieser Erde scheiden sollte? Ich lief auf den Wald zu und sah, dass dieser von einem hohen Maschendrahtzaun eingegrenzt war. Ich schaute zum Himmel auf, die Nacht war sternenklar, und plötzlich sah ich sogar eine Sternschnuppe am Himmel. Ich nahm dies als ein gutes Zeichen, als wollte Gott mir sagen: ‚Fürchte dich nicht, ich bin ja mit dir!‘ Ich lief fröhlich zu den Bäumen, stieg auf den Zaun hinauf und befestigte das Seil an einen der überragenden, dicken Äste. Dann fertigte ich mir eine Schlinge an und legte sie mir um den Hals. Ein eisiger Wind wehte mich an. Es war eine unheimliche Atmosphäre. Nun war der Moment gekommen, zu springen. Ich dachte noch einmal an meine Familie. Würden sie den Satz auch richtig verstehen, den ich in die aufgeschlagene Bibel hineingeschrieben hatte? War es denn wirklich so, dass ich nicht mehr an die Vergebung Gottes glauben konnte? Oder war dies nicht vielmehr eine Lüge Satans? Wenn ich einmal dann vor Gott stehe, dann könnte der Teufel diesen Satz ‚Ich kann nicht glauben‘ ja gegen mich verwenden im Gericht. Ja, ich glaube ja nun, dass Gott mir im Grunde doch noch einmal vergeben würde und ich bei ihm sein würde, wenn ich jetzt von dieser Welt gehe. Das muss ich doch meiner Familie noch schreiben, damit sie nicht traurig sind und verzweifeln, sondern wissen, dass ich im Glauben gestorben bin.
Ich nahm den Kopf also nochmal aus der Schlinge, sprang vom Zaun herunter und lief zum Auto. Ich strich den vorigen Text durch und schrieb daneben mit dicken Buchstaben: ‚Lüge Satans!‘. Dann überlegte ich noch einmal: Würden sie das jetzt richtig verstehen? Vielleicht denken sie, ich würde mich auf den Bibeltext beziehen? Oh nein, das musste ich deutlicher erklären! Sollte ich es nun wieder durchstreichen? Nein, lieber nicht, sonst denken sie noch, ich wäre verrückt gewesen. So schrieb ich in mein Tagebuch: ‚Hallo Mutter‘. Ich überlegte, was könnte ich nun schreiben? Ich unternahm mehrere Versuche, aber ich musste immer wieder die Seiten rausreißen und ein neues Blatt anfangen, denn mir war dieser letzte Brief sehr wichtig. Es war schon lange nach Mitternacht und die eisige Kälte bewirkte, dass ich mich nicht auf einen richtigen Text konzentrieren konnte. Auch meine Finger waren schon so klamm gefroren, dass ich den Kugelschreiber kaum mehr bewegen konnte. Plötzlich kam mir der erschreckende Gedanke, dass ich keine weggeworfenen Zettel hinterlassen dürfe, damit sie nicht sagen könnten, ich wäre durchgedreht. Ich suchte die Zettel draußen, aber sie waren nirgends zu finden. War es nun der Wind oder die Dämonen? Nun war mir alles egal und ich lief wieder zu den Bäumen zurück. Doch nun konnte ich den Baum nicht wiederfinden, wo ich das Seil angebunden hatte. So sehr ich auch suchte – nun hatte der Teufel mir also nicht nur den Baum, sondern auch das Seil weggenommen, das ich doch brauchte! Aber ich hatte ja noch meinen Gürtel! Der war dünn und lang – genau richtig! Ich nahm ihn mir aus der Hose und kletterte wieder auf den Zaun, befestigte ihn am Baum, legte mir die Schlinge um den Hals und war sprungbereit.
Einweisung in die geschlossene Psychiatrie
Ich weiß nicht wie viele Stunden ich nun auf dem Zaun hockte mit der Gürtelschlinge um den Hals. Mir schien es, als wäre die Zeit wie im Flug vergangen. Ich konnte mich einfach nicht entschließen zu springen, weil ich nicht sicher war, ob es richtig sei oder falsch. Mein Kopf war völlig leer und ich hoffte, dass ich in der Kälte erfrieren und bewusstlos vom Zaun fallen würde. Dann hätte die Frage sich von alleine erübrigt. Ich fragte mich, ob ich überhaupt noch anders vom Zaun runterkommen würde, denn die Beine waren ja schon völlig steif gefroren und eingeschlafen, und meine Hände und Füße spürte ich schon gar nicht mehr vor Kälte. Sie waren sicherlich schon abgestorben. So hockte ich stundenlang, ohne eine einzige Bewegung zu tun auf diesem Stacheldrahtzaun. Immer wieder murmelte ich vor mir hin: ‚HErr ich komme jetzt‘ und wusste, wenn ich jetzt springe, würden mich die Engel sofort auffangen.
Die Morgendämmerung brach etwas an. Ich hatte meinen Kopf wieder aus der Schlinge genommen und war vom Zaun runtergesprungen. Ich ging humpelnd auf die Landstraße zu und klingelte bei einem Haus. Es war ungefähr 08:00 Uhr morgens. Von dem Haus aus rief ich Dieter Rossmann an, damit er mich abhole. Er fuhr mich nach Hause, wo ich erst einmal ein warmes Bad nahm. Meine Fußzehen und Fingerspitzen waren schwarz angelaufen und an den Füßen hatte ich große Frostbeulen. Dieter fuhr mich dann ins nächste Krankenhaus, wo ich ein Einzelzimmer auf der chirurgischen Station bekam. Mir schien es, als wenn alles wie ein Film an mir vorbeilief und ich alles nur von außen als Beobachter wahrnahm. Am Nachmittag kam mich Dieter besuchen. Er redete mir aufmunternd zu, aber ich sagte kaum ein Wort. Alles rauschte nur so an mir vorbei. Dieter meinte nun, er müsse nun den Satan aus mir austreiben und führte einen heftigen Gebetskampf, wobei er den Teufel direkt herausforderte mit den Worten: ‚Weiche Satan! und taste ihn nicht mehr an! Ich stellte mich schützend zwischen dir und Marcus!‘ – als ob er es mit dem Teufel aufnehmen wolle. Als Dieter wieder gegangen war, las ich in der Bibel die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus im Johannesevangelium Kapitel 11. Mir war, als wenn sich mir in jedem einzelnen Vers meine eigene Situation widerspiegelte. War ich vielleicht doch schon tot? Ist dies hier vielleicht gar kein Krankenhaus, sondern die Gruft, in die man meinen Leichnam hineingelegt hatte? Dann gab es also doch noch Hoffnung! Ich brauchte jetzt nur noch auf Jesus warten, dass Er mich nach 4 Tagen wieder auferweckt aus den Toten. Die Krankenschwester brachte mir das Abendessen, aber ich verweigerte es – schließlich kann ein Toter ja nicht essen. Ich fing an, Palmen zu beten. In der Stille des Zimmers hörte ich von Zeit zu Zeit das Blubbern der Infusionsflasche. Ich meinte nun, es wäre das stille Reden des Heiligen Geistes, der pausenlos für mich betet in der Geheimsprache einer transzendentalen Welt. Immer wieder fragte ich mich, ob meine Gebete überhaupt Gott wohlgefällig sind. Ich sagte mir, wenn sie das wären, bräuchte der Heilige Geist sie doch nicht andauernd korrigieren und zurechtrücken. Vielleicht hatte ich ja durch meine Gebete die Fürstentümer und Königreiche der Himmelswelt beleidigt? So betete ich die ganze Nacht hindurch, zumal ich auch nicht schlafen konnte. Mein Zeitgefühl war verschwunden. Immer wieder las ich den Text in Johannes 11 und musste an einem bestimmten Punkt aufhören, wo gerade der ‚aktuelle Stand‘ war.
Als der Morgen anbrach fuhr ich erschrocken auf. Ich musste kurz eingenickt sein und wurde durch das erneute Blubbern der Infusionsflasche geweckt. Nun wollte ich es aber wissen und fragte die ungewöhnliche Stimme im Raum: ‚Bist du der Heilige Geist? Ich lauschte eine Weile und vernahm wieder dieses tropfende Geräusch, ohne dass mir einsichtig war, woher es kam. Ich fragte noch einmal: ‚Bist du ein Dämon?‘ – ‚Grrrr…‘ kam es gleich darauf blubbernd aus der Infusionsflasche. Was mochte die Stimme mit mir sagen wollen? Plötzlich hatte ich panische Angst, dass ich durch meine Gebete nicht Gott, sondern den Teufel geehrt hätte. Es war immer wieder das gleiche Strickmuster in meinen Gedanken. Hatte ich mich nun wieder unbewusst von Gott losgesagt? Hatte ich die Segensgebete von Dieter wieder vergeudet? Diese zweifelnden Überlegungen nagten fortwährend an meiner Seele. Meine Gedanken rotierten immer wieder in ein und demselben Kreis, und ich kam aus diesem Kreis nicht heraus. Meine Mutter kam mich besuchen. Sie hatte von meiner Einweisung ins Krankenhaus erfahren und sich unverzüglich auf den Weg gemacht. Sie hatte mir christliche Musikkassetten mitgebracht, aber die Lieder machten mich völlig fertig. Es schien mir, als seien sie vom Teufel komponiert und enthielten Todesbotschaften. Der Besuch meiner Mutter verwirrte mich. Der Geschichte in Johannes 11 entsprechend, erwartete ich ja nun keine Frau, sondern Jesus, damit Er mich von den Toten erwecke. Die Pfingstler hatten mich gelehrt, die biblischen Textpassagen zusammenhangslos auf meine persönliche Lage zu interpretieren. Diese Art orakelhafte Visionen und Auslegungen hielten mich ständig in einer Erwartungshaltung. So redete ich mir ein, dass auch der Besuch meiner Mutter etwas mit der Geschichte in Johannes Kapitel 11 zu tun haben müsste. War sie vielleicht die Maria, die zum Grab kam, um den Toten zu beweinen? Plötzlich kam mir die Erleuchtung: Natürlich! meine Mutter heißt ja auch mit vollständigem Vornamen Marie Luise Renate. Sie war also Maria.
Später kam mich Dieter Rossmann wieder besuchen. War er vielleicht in Wirklichkeit Jesus? Ich fragte ihn unvermittelt: ‚Bist du Jesus?‘ Er verneinte es, aber mir war klar: Er ist es und wollte sich nur noch nicht durch eine so plumpe Frage zu erkennen geben. Jetzt war endlich der Moment gekommen, wo er mich aus dem Grab herausrufen würde. Zu meiner Verwunderung ging Dieter jedoch schon bald wieder unverrichteter Dinge fort, und ich grübelte darüber, was dies wohl zu bedeuten hätte. Dann traten drei Männer in Anzügen in mein Zimmer. Der eine stellte sich als Richter vom Vormundschaftsgericht vor. ‚Richter?‘ dachte ich. War dies etwa schon das Jüngste Gericht? Sollte nun über meinen Verbleib in der Ewigkeit entschieden werden? Ich schwieg auf die Fragen des Richters, denn: wer könnte Gott schon etwas erwidern? Nachdem die drei Herren wieder gegangen waren, traten zwei andere Männer in weißer Kleidung herein und forderten mich auf, mit ihnen mitzugehen. Waren dies vielleicht die Engel? Sie brachten mich heraus und hießen mich, in einen Krankenwagen einzusteigen. Da konnte ich nicht mehr an mich halten, sondern musste ihnen die bohrende Frage stellen, die mich schon die ganze Zeit quälte: ‚Bringt ihr mich nun in den Himmel oder in die Hölle?‘ Der eine von ihnen lächelte mir zu und sagte: ‚Nein, vorerst bringen wir Sie in die geschlossene Psychiatrie vom Zentralkrankenhaus Bremen Ost.‘
Die Korridore, die zur Station 71 führten, waren mir wohlvertraut. Hier hatte mein Vater als Krankenpfleger der Sozialpsychiatrie jahrelang gearbeitet. Ich erinnerte mich, wie ich ihn hier oft besuchen kam, und mir wurde plötzlich klar, dass dies kein Traum, sondern Wirklichkeit war: ich war in der Irrenanstalt gelandet! Welch ein schrecklicher Irrtum! ein Missverständnis! Ich war doch schließlich nicht verrückt, sondern nur etwas verwirrt! Ich wünschte mir es wäre alles nur ein böser Traum gewesen, aus dem ich nun endlich erwachen würde. Aber die Härte der Wirklichkeit war schlimmer als jeder Albtraum. Wie könnte ich den Leuten hier meine Situation erklären? Sie würden mich ja wirklich für verrückt halten, und was würde nun meine Familie von mir denken und meine Freunde und Glaubensgeschwister? Welch eine Schande habe ich nun auf den Namen Christi gebracht! Nun war es endgültig aus und vorbei mit Gottes Geduld. Ich hatte die letzte Gelegenheit vertan. Nun würde endgültig das Gericht Gottes über mich hereinbrechen. Ich wusste, ich konnte dem Gericht nur noch entfliehen, indem ich freiwillig in den Tod gehe, damit der Wahnsinn endlich ein Ende nimmt. So schlich ich mich nach dem Abendessen heimlich aus dem Zimmer, huschte über den Flur und ging in die Küche, wo ich mir ein langes Brotmesser aus der Schublade holte. Ungesehen von den Aufsehern, eilte ich in mein Zimmer zurück und schloss die Tür. Dann schnitt ich mich mit dem Messer mehrmals in die Pulsadern und in die Halsschlagader.“
Wie ich später erfuhr hatte sich Marcus keine ernsthaften Verletzungen zufügen können. Er wurde von einer Krankenschwester in seinem blutverschmierten Bett gefunden. Seine Wunden wurden verbunden und man gab ihm stark wirkende Psychopharmaka, damit er sich nicht noch einmal Schaden zufügen konnte. Als ich ihn am nächsten Tag zusammen mit meiner Frau besuchte, war ich zutiefst entsetzt und erschüttert von seinem Anblick. Er war völlig weggetreten und teilnahmslos. Auch war ich sehr enttäuscht über die erbärmlichen Verhältnisse dort auf der psychiatrischen Station, da es den Anschein hatte, dass den Kranken dort nicht geholfen wurde, sondern sie lediglich verwahrt werden sollten. Ich war den Tränen nahe, als ich meinen Bruder umarmte, der nur noch ein Wrack war, ein Häuflein Elend. Der Wirkstoff Haldol, eine chemische Keule, hatte in unfähig gemacht einen klaren Gedanken zu fassen. Seine stotternden Sätze waren wirr und zusammenhangslos. Ich war erschrocken und traurig darüber, dass ich ihm nicht helfen konnte. Uns blieb nur übrig, für ihn zu beten, dass Gott ihm doch gnädig sei und er von seiner geistigen Umnachtung wieder frei würde. Nach drei Tagen geschah dann endlich das Wunder: eine alte Schwester hatte Marcus im Krankenhaus besucht und mit ihm zusammen gebetet. „Danach“ so sagt Marcus heute „war der Spuk endlich vorbei.“ Marcus wurde wieder völlig gesund und konnte zwei Wochen später aus der Psychiatrie entlassen werden. Auch seine Fußzehen heilten wieder völlig und brauchten nicht amputiert werden.
Raquel sucht einen Ehemann
Im Februar ´94 kam Ruths beste Freundin Raquel (31) aus Peru nach Deutschland. Nun mussten wir uns in unserer 16-m²-Wohnung noch weiter einschränken. Da die Matratze für Raquel die verbliebenen 4 m² Bewegungsfreiheit nun zur Hälfte in Anspruch nahm, legten wir die Matratze erst abends auf den Boden, direkt neben unserem Ehebett. Die eheliche Intimität war natürlich nun nicht mehr so einfach, aber Ruth und Raquel waren überglücklich, dass sie nun wieder vereint waren. Jeden Tag hatten sie sich von nun an immer viel zu erzählen, und damit das so bleiben konnte, mussten wir schnell einen möglichen Heiratskandidaten für Raquel finden. Als erstes fiel mir mein Freund Manfred ein. Wir luden ihn ein und hatten einen fröhlichen Nachmittag miteinander. Manfred konnte zwar ein wenig Spanisch, aber der Funke sprang nicht über. Dann besuchten wir zusammen Marcus in der Psychiatrie. Aber er war noch immer in einem solch elendigen Zustand, dass Raquel ihn sich nicht als Ehemann vorstellen konnte. Trotzdem hatte sie großes Mitleid mit ihm und schnitt ihm die Fingernägel.
Nun überlegte ich, wer sonst noch in Frage käme. Da fiel mir der Joachim Pehlke (29) ein, der früher mal mit seiner Familie zu Böhnkes in die Gemeinde kam. Aber wie sollte ich nach 8 Jahren, die ich keinen Kontakt mit ihm hatte, mich jetzt an ihn wenden? Ich brauchte irgendeinen Anlass bzw. einen Vorwand. Da kam mir der Gedanke, dass ich ja den Joachim anlässlich meiner Tätigkeit als Versicherungsvermittler kontaktieren könnte. So kam es, dass ich einfach mal bei Pehlkes vorbeikam. Tatsächlich gelang es mir, die alte Freundschaft zwischen uns wieder zu beleben. Wir verabredeten uns nun in den nächsten Monaten mehrere Male und nahmen Joachim mit auf gemeinsamen Ausflügen. An einem dieser Fahrten ans Meer, konnten wir plötzlich sehen, wie Raquel beim Spazierengehen sich zwei Stunden lang mit Joachim unterhielt, wobei sie Hände und Füße zur Verständigung benutzte. An jenem Nachmittag hatten wir das Gefühl, dass der Funke übersprang, und so war es auch. Am Ende des Jahres hatte Joachim der Raquel einen Heiratsantrag gemacht und flog mit ihr zurück nach Peru, um sie dort in Lima zu heiraten.
Nach wie vor gingen wir gemeinsam regelmäßig nach Blumenthal, um die Geschwister Böhnkes zu besuchen. Doch an einem Tag schrieb mir Bruder Edgard, dass es kein gutes Zeugnis sei, dass ich mit zwei Frauen in einer so kleinen Wohnung zusammenleben würde. Um ihm kein Anstoß zu sein, suchte ich nach einer größeren Wohnung und fand durch Gottes Gnade eine Maisonette-Wohnung in der Neustadt, wo Raquel von nun an auf dem Dachboden wohnen konnte, während Ruth und ich eine Etage darunter unsere Privatsphäre hatten. Der Vormieter war so freundlich zu uns, dass er uns auch noch einen großen Teil seiner Möbel kostenlos überließ, so dass wir es auf einmal viel besser hatten. Endlich konnten wir auch mal Freunde einladen und in einem richtigen Wohnzimmer zusammensitzen.
Nachdem Marcus aus der Psychiatrie entlassen wurde, wohnte er wieder im Elternhaus und versuchte, sich als selbstständiger Gebäudereiniger finanziell über Wasser zu halten. Zugleich nahm er aber auch eine freiberufliche Tätigkeit bei der Telekom an, indem er Telefonkartenverträge vermittelte. Dabei stellte sich heraus, dass Marcus äußerst erfolgreich war, denn er bekam mehr Kunden als jeder andere. In seiner Freizeit ging Marcus in die Fußgängerzone und praktizierte eine ungewöhnliche Art der Mission. Denn er hatte mal ein paar Zaubertricks gelernt, die er nun auf der Straße vorführte, um die Leute anzulocken. Durch geschickte Rhetorik gelang es ihm, von den Zaubertricks überzuleiten auf das Evangelium. Als ich ihm einmal dabei zuschaute, war ich völlig überrascht, was für ein Talent Marcus hatte.