„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Such, wer da will, ein ander Ziel“  Teil 6


April bis Juni 2017

Anderes fiel auf das Steinichte

Seit über einem Jahr arbeitete Bruder Matthias (29) nun schon als angestellter Malermeister in meiner Firma und ging regelmäßig zu uns in den Hauskreis. Wir verstanden uns so gut, dass wir gemeinsam beschlossen, dass er mein Nachfolger werden sollte, wenn Ruth und ich irgendwann in den nächsten Jahren nach Peru auswandern würden. Matthias hatte eine schlimme Vergangenheit. Da er von seinen Eltern kaum Liebe empfing, verfiel er den Drogen, die er so exzessiv konsumierte, dass sie ihn bis zum Rand des Todes brachten. Zuletzt schickte er einen Abschiedsbrief an seine Mutter mit Geld für seine Beerdigung, weil er sich das Leben nehmen wollte. Aber in der tiefsten Tiefe angekommen, erkannte er auf einmal den HErrn Jesus als seinen Retter und erlebte die Wiedergeburt. Bald darauf lernte er seine Frau kennen und heiratete. Dann machte er eine Ausbildung zum Maler und Lackierer und gleich im Anschluss die Meisterschule, die er im Dezember 2015 als einer von ganz wenigen seines Lehrgangs bestand. Er war so ehrgeizig, wie ich noch kaum einen anderen kennenlernte. Er wollte alles nachholen, was er bis dahin versäumt hatte. Nur von der Zigarette kam er einfach noch nicht los. Er sagte: „Ich rauche seit 20 Jahren und habe schon viele Male versucht, aufzuhören, aber hab es inzwischen ganz aufgegeben.“ Doch dann kippte er plötzlich auf der Arbeit zusammen und wurde bewusstlos ins Krankenhaus gebracht. Man stellte bei ihm eine seltene Erbkrankheit fest, das sog. Marfan-Syndrom, was aber nichts mit seinem Zigarettenkonsum zu tun hatte. Trotzdem hatte Matthias solche Angst zu sterben, dass er sofort mit dem Rauchen aufhörte, zumal er ein 1-jähriges Kind hatte.

Matthias hatte auch in der Bibelstunde immer gute Ansichten und war begierig dazuzulernen. Ich erklärte ihm, wie ich Angebote und Rechnungen mit Excel schreibe und gab ihm Hausaufgaben, damit er in Zukunft selbst Angebote schreiben könne. Ich empfahl ihm, auch selbst ein Gewerbe anzumelden, damit er meine Aufträge dann auf eigene Rechnung abarbeiten könne, aber er fühlte sich noch nicht bereit dazu. Stattdessen hatte er große Pläne, wie er unsere Firma qualitativ aufpäppeln wollte durch Investitionen, modernere Ausstattung und Professionalisierung. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass er schon ein halbes Jahr später ohne Vorwarnung für immer verschwindet, seine eigene Firma aufbaut, seine Frau verlässt und kurz darauf auch vom Glauben abfällt, weil ihm irdischer Ruhm, Geld und Macht wichtiger geworden war als alles (dazu später mehr). Der HErr spricht ja von jenen, die das Wort zunächst mit Freude aufnehmen, aber „keine Wurzel in sich haben“ und sich dann bei Prüfungen und Drangsalen am Wort ärgern (Mk.4:16-17).

Aber Matthias war nicht der einzige, der mich später schwer enttäuschen sollte. Ein Jahr zuvor hatte sich ja mein Lehrling Simeon (20) bekehrt, der aus einer russlanddeutschen Großfamilie kam. Leider zerbrach diese zehn Jahre zuvor, weil der Vater immer mehr dem Alkohol verfallen war. Ohne Halt und Orientierung kamen die Söhne teilweise auf die schiefe Bahn, nahmen Alkohol und Cannabis, schlugen sich in Discotheken und erhielten Bewährungsstrafen. Ihre gläubige Mutter Lydia war völlig überfordert mit der Erziehung, zumal sie die meiste Zeit für den Lebensunterhalt arbeiten musste als Bäckereiverkäuferin. Aus lauter Verzweiflung kam sie nun zu unserem Hauskreis und klagte über ihre Not. Simeon hatte im Vorjahr schon kurz nach seiner Bekehrung mit massiven, psychischen Problemen zu kämpfen, so dass er häufig nicht zur Arbeit kam oder aber mitten während der Arbeitszeit einfach mit dem Wagen zur Nordsee fuhr, um mit Gott allein zu sein. Simeon war 2016 im dritten Lehrjahr und an sich ein sehr guter Arbeiter, aber in der Berufsschule waren seine Noten so schlecht, dass er absolut keine Chance hatte, die Gesellenprüfung zu bestehen. Ich gab ihm und den anderen Lehrlingen Nachhilfeunterricht in Mathe. Aber bei Simeon ging alles in ein Ohr rein und ins andere wieder hinaus. Er war unfähig, irgendetwas aufzunehmen. Ich bot ihm an, dass wir die Lehre einfach verlängern könnten um ein Jahr, aber er hatte so viel Scham und Minderwertigkeitskomplexe, dass er im Sommer 2016 einfach verschwand. Keiner wusste, wo er war. Auch über Handy war er nicht mehr erreichbar.

Doch dann tauchte er im Frühjahr 2017 plötzlich wieder auf. Er erzählte, dass er auf einem Autobahnrasthof zufällig die Bekanntschaft mit einer Psychologin machte, die ihn mit einer Flasche Alkohol in der Hand in all seinem Elend sah, ihn ansprach und ihn dann wie der barmherzige Samariter zu sich nach Haus nahm, um ihn seelisch aufzupäppeln. Sie war zwar nicht gläubig, aber hatte ein tiefes Mitleid mit Simeon. Nach vielen Telefonaten mit ihr, meldete ich Simeon wieder bei der Handwerkskammer und der Berufsschule an, um nochmal vom zweiten Lehrjahr an zu beginnen, damit er nicht so gestresst sei. Simeon erzählte mir, dass er eine große Wut auf seine Eltern habe, weil sie ihn damals einfach auf einer Sonderschule entsorgt hätten, anstatt ihn geistig und seelisch zu fördern. Da es dort keinen Unterricht gab, sondern mit den Kindern nur gespielt wurde, habe er überhaupt keine Bildung erfahren. Zudem „leide“ er unter seiner außergewöhnlichen Schönheit und seinem athletischen Körper, weil ihn seine Familie und Freunde nur darauf reduziert hätten. Er wolle aber nicht nur wegen seines guten Aussehens geliebt und bewundert werden, sondern auch weil er innere Werte habe. Stattdessen schäme er sich jedes Mal, wenn er etwas zu Erwachsenen sage, weil er dachte, dass sie ihn alle für dumm hielten. Sogar die Eltern seiner Freundin lehnten ihn ab, weil er unter dem Niveau ihrer Tochter sei. Deshalb wollte er gerne auf seine Schönheit verzichten und lieber seine Bildungsdefizite nachholen.

Mit Gottes Hilfe hatte Simeon es inzwischen geschafft, keinen Alkohol und Zigaretten mehr anzurühren. Ich erklärte ihm, dass er dringend geistliche Begleitung brauche, damit er nicht wieder rückfällig werde und empfahl ihm, sich einen Seelsorger aus der russlanddeutschen Pfingstgemeinde in Mahndorf zu suchen, wo er als Kind mit seiner Familie hinging. Simeon aber scheute sich davor, denn er fürchtete, alle würden auf ihn herabsehen wegen seiner Eltern. Dann schlug ich ihm vor, doch mal den gläubigen Psychotherapeuten Ludorf in Schwanewede aufzusuchen, der auch mir damals geholfen hatte. Wichtig sei ja vor allem, dass er keinen Umgang mehr pflegen sollte mit Gesetzlosen, die ihn wieder zum Alkohol verführten. Zuletzt bot ich ihm an, dass er mich auf meiner Deutschland-Rundreise in den Osterferien begleiten könne, was er sofort dankbar annahm. Seit nämlich unsere Tochter Rebekka im Jahr zuvor zum Studieren nach Hannover zog, war es für meine Frau umso wichtiger, möglichst jeden Vormittag in ihrem Beruf als Tierärztin zu arbeiten, um sich nicht einsam zu fühlen. Da ihr Chef sie nur als Geringfügig Beschäftigte bezahlte, erlaubte er ihr, jedes Mal, wenn er verreiste, ihn als Ärztin zu vertreten, und gab ihr dann für diesen Zeitraum die kompletten Einnahmen als Ausgleich. Und da Ruth mir nur in solchen Wochen erlaubte, eine Besuchsreise durch Deutschland zu machen, nutzte ich möglichst jedes Mal, wenn Ruth mal wieder ihren Chef vertreten sollte, um dann meine Geschwister zu besuchen. Und diese Gelegenheit ergab sich nun in den Osterferien.


Allerlei kostbare Edelsteine

Am Samstagmorgen den 08.04.17 fuhren Simeon und ich zunächst zu einem Bruder namens Hikmet Khan (23) aus Fallingbostel, den ich durch Facebook kennengelernt hatte. Als er uns die Tür öffnete, dachte ich im ersten Moment, König Nebukadnezar würde vor uns stehen: dunkle Augen, schwarzer Vollbart und eine Kette mit einem großen, silbernen Kreuz auf seiner Brust. Hikmet war ein kurdischer Ex-Jezide und berichtete uns, auf welch dramatische Weise er vier Jahre zuvor zum Glauben an den HErrn Jesus kam. Sein Bruder hatte versucht, ihn mit einem Messer zu erstechen, und er zeigte uns die Narbe auf seiner Brust. Er bestätigte, dass die Jeziden auch an den Teufel glauben. Dieser habe aber das Feuer der Hölle mit seinen Tränen ausgelöscht und bei Gott Vergebung erlangt. Satan sei nun ein Vermittler-Engel, dargestellt durch einen blauen Pfau, zu dem die Jeziden beten. Der HErr habe Ihn aber wie durch ein Wunder von diesem Irrglauben befreit und er diene jetzt dem HErrn Jesus in einer kurdischen Gemeinde in Soltau. Nachdem wir noch zusammen gebetet hatten, fuhren wir weiter nach Arenborn bei Kassel, um Bruder Christian (41) zu besuchen.

Christian war ein adoptierter Mulatte und in einer Adventistenfamilie aufgewachsen. Als selbstständiger Baudesigner kaufte er verfallene Häuser, renovierte sie und verkaufte sie weiter. Er hatte so viel Fantasie und Kreativität, dass ich schmunzeln musste über seine verrückten Ideen. So hatte er eines seiner Zimmer zu einer Art Kinoraum hergerichtet, wo er sich im Liegestuhl bei hoch eingestellter Heizungswärme Filme von Urlaubsländern auf großer Leinwand anschaute und sich beim Wind eines Ventilators vorstellte, er würde gerade am Strand liegen. Wir sprachen lange über den bevorstehenden 23.09.2017, an welchem sich durch die extrem seltene Sternenkonstellation aus Offb.12:1-2 ein Ereignis ankündigen könnte, das möglicherweise dem Beginn der absoluten Endzeit entsprach. Zum Mittagessen servierte er uns Kartoffelsalat von Aldi – nichts weiter. Nachdem er gedankt und unsere Teller gefüllt hatte, wünschte er uns einen guten Appetit. Und als ob er unsere Gedanken lesen konnte, holte er noch schnell eine Flasche Maggi und sagte: „Mit Maggi schmeckt der Kartoffelsalat richtig lecker. Esse ich fast jeden Tag so.“   Er war wirklich reinen Herzens.

Nach dem Mittagessen fuhren wir dann weiter nach Ludwigsstadt (Nord-Bayern), zu den Geschwistern Bernd und Brigitte Fischer, meinen geistlichen „Eltern“, wo wir über drei Tage blieben. Bernd (78) ist ein wahrer Schriftgelehrter, der schon seit über 50 Jahren den biblischen Grundtext studiert und viele Artikel zu biblischen Themen verfasste hatte; u.a. hat er auch eine grundtextnahe Übersetzung des Neuen Testaments (www.gtü-bibel.de) herausgegeben. Bei schönen Waldspaziergängen in traumhafter Berglandschaft beantwortete er unsere Fragen aus der Bibel. Der junge Simeon hatte wohl zuvor noch nie so viel auf einmal aus der Bibel gelernt. Bis spät in die Nacht hinein sprachen wir z.B. über die schattenhafte Bedeutung des Gesetzes oder die prophetische Bedeutung der Lebensgeschichte Josephs mit ihren Parallelen zum Leben Jesu. Ich machte mir jede Menge Notizen und wollte das Gelernte für meine Hahnenschreiseite verwenden.

Am Dienstagvormittag fuhren wir dann nach Nürnberg zu einer Schwester namens Susanne, die ich ebenso durch Facebook kennengelernt hatte. Da wir sehr verspätet ankamen, blieb uns kaum noch Zeit für biblische Gespräche. Wir aßen gegen 15:30 Uhr mit Ihr und ihrem Mann Siegfried ein aufgewärmtes Mittagessen und fuhren dann in die Nürnberger Innenstadt, um das Evangelium zu predigen. Sofort machte sich der Feind auf in Form eines Landstreichers, der uns mit seiner lauten Musik hinterherging um mich zu übertönen, aber der HErr schickte uns einen Engel in Form einer Schwester, die Ihn im Namen des HErrn davonjagte.

Nach einigen guten Gesprächen fuhren wir am Abend nach München zu den Eheleuten Jonathan und Carolyn, einer weiteren FB-Bekanntschaft. Jonathan (27) und seine Frau haben sich vor ein paar Jahren nach langer Suche den Old German Brethren angeschlossen, einer Art Mennonitenkolonie in den USA von vormals deutschen Auswanderern, weil diese zu den wenigen bibeltreuen Christen gehörten, die noch die Fußwaschung praktizieren. Der Schwester Carolyn sah man in ihrer typischen Mennonitentracht und ihrem Käppchen nicht an, dass sie vor fünf Jahren noch eine Punkerin war mit Piercings und Tatoos. Auch dem Jonathan (von Beruf Zahntechniker), hätte ich nicht zugetraut, dass er vor seiner Bekehrung aktives Mitglied einer Neonazi-Kameradschaft war und jede Menge Drogen nahm. Trotz seines jungen Alters besaß er inzwischen eine außerordentliche Kenntnis der Kirchengeschichte und der heutigen christlichen Szene. Seine Liebe zu den Kirchenvätern wurde durch die Bücher des amerikanischen Historikers David Bercot geweckt, der sich nach einem Studium der anglikanischen Theologie den Täufern anschloss und für eine Reform der Kirchen eintrat. Während des Gesprächs stand Jonathan plötzlich auf, öffnete die Terrassentür und zündete sich eine Zigarette an. Ich war irritiert: „Du bist ein strenger Christ und rauchst noch?“ – „Ja, leider. Es ist eine Altlast. Aber der HErr hat uns schon von vielen anderen Lastern frei gemacht und wird es auch noch von dieser tun.“ Am Abend luden sie uns zu einem „Liebesmahl“ aus Spaghetti ein mit anschließendem Abendmahl und einer vorangehenden Fußwaschung. Dies war für uns wirklich ein ganz besonderes Erlebnis mit dem HErrn, das eine starke emotionale Wirkung auf alle hatte. Wir fühlten uns einfach völlig eins im HErrn.

Am nächsten Tag fuhren wir mit Jonathan in die Münchener Innenstadt, wo ich das Evangelium predigte und wir Schriften verteilten. Später fuhren wir weiter nach Augsburg, wo uns schon Bruder Nadim (21) erwartete, ein ehemaliger Muslim, der sich vor zwei Jahren bekehrt hatte. Er arbeitete im Hotel seiner muslimischen Eltern, denen er noch nichts von seiner Bekehrung verraten hatte, da er fürchtete, dass sie ihn verstoßen könnten. Mit ihm und Bruder Harald (59), den wir abgeholt hatten, sind wir dann am Abend wieder ins Zentrum von Augsburg gefahren. Ich fühlte mich sehr mutlos und flehte Gott um Beistand an. Auf einem großen Platz wo ich schon einmal predigte, saßen etwa 100 Punker in kleinen Gruppen, alle schwarz gekleidet und verwahrlost, als wären sie gerade einem Grab entstiegen. Ich stellte mich mitten auf dem Platz und begann zu predigen, aber meine Stimme war zu leise, um gehört zu werden. Es war irgendwie auch gar keine Kraft da, so schien es mir. Aber dann kamen auf einmal mehrere Jugendliche auf mich zu und sprachen mich an, auch zwei Muslime, die ich dann an Nadim weiterverwies, der sich dann noch lange mit ihnen unterhielt. Ein gewisser Jannik (22), der gerade aus der Psychiatrie entlassen war, erzählte mir, dass er sich umbringen wolle, weil er noch nie Liebe erfahren hatte in seinem Leben. Obwohl er meinen tröstenden Worten ständig widersprach, ging er trotzdem nicht weg, so als ob zwei Geister gerade in ihm die Vorherrschaft erringen wollten. Im Anschluss sprach ich dann noch lange mit einer Punkerin namens Miriam, die mir erzählte, dass sie eigentlich katholisch gläubig sei und auch öfter mal in der Bibel lese. Wenn sie Fragen habe, wende sie sich immer an ihren verständnisvollen Priester, mit dem sie befreundet sei. Egal was ich ihr auch erklärte, immer sagte sie: „Hab ich doch!, „Tu ich doch!“ Am Ende wusste ich mir nicht anders zu helfen, als sie an die biblische Kleiderordnung in 1.Petrus 3 zu erinnern und dass es für eine Glaubensschwester unschicklich sei, so halbnackt auf der Straße rumzulaufen. Da erschrak sie und versprach mir, dies zu prüfen.


„Deine Frau trägt ja noch Ohrringe!“

Am nächsten Morgen fuhren wir weiter nach Stuttgart. Da fiel mir plötzlich mit Schrecken ein, dass wir noch gar keine Übernachtungsmöglichkeit für den Raum Stuttgart hatten. Ich hatte die Reise nicht bis ins Detail geplant und erinnerte mich, dass mein Freund und Bruder Friedemann (57), den ich ja schon seit über 25 Jahren kannte und der inzwischen mit einer Schwester Doris verheiratet war, mir zuvor am Telefon ausdrücklich gesagt hatte, dass er mir nur einen Schlafplatz anbieten könne, wenn ich allein käme, da seine Wohnung zu klein sei für einen zweiten Gast. Ich bekannte dem Simeon meine Sorge und wir beteten dafür, dass der HErr doch eine Lösung schenken möge. „Zur Not könnten wir ja auch im Wald übernachten,“ sagte ich, „das hab´ ich auch schon gemacht, ist gar nich´ so schlimm.“ Simeon sagte nichts. Als wir in der Stuttgarter Innenstadt ankamen, predigte ich, während Simeon Traktate verteilte. Später gingen wir in den Park, um gezielt Leute anzusprechen, die nicht auf ihr Handy starrten. Wir hatten ein langes Gespräch mit einer katholischen Studentin, die zwar gut fand, was wir glauben, sich aber selber nicht dafür entscheiden konnte.

Am Nachmittag fuhren wir nach Weil der Stadt zu Bruder Friedemann, der uns herzlich willkommen hieß. Wir hatten eine schöne Gemeinschaft miteinander, aßen Abendbrot und lasen gemeinsam in der Bibel. Noch immer wusste ich nicht, wo wir in dieser Nacht schlafen könnten, dachte aber: „Der HErr wird sich ersehen…“ (1.Mo.22:8). Als es etwa 22:00 Uhr war, beteten wir noch einmal zum Abschied und zogen unsere Schuhe an. Da fragte Friedemann beiläufig: „Habt Ihr denn jetzt irgendwo bei Geschwistern eine Unterbringung gefunden?“ – „Nee, leider nicht, haben alle abgesagt“ antwortete ich. „Und habt ihr dann ein Hotel gebucht?“ – „Ehrlich gesagt nicht. Ich hatte bis zuletzt gehofft, dass der HErr uns noch eine Tür auftut.“ – „Und wo wollt ihr jetzt übernachten?“ – „Müssen wir mal gucken. Sonst übernachten wir halt im Wald.“ Ich spürte, wie dem Friedemann auf einmal das schlechte Gewissen plagte. Er zog sich für einen Moment mit seiner Frau zurück und kam dann wieder zu uns ins Treppenhaus: „Simon, das muss nun wirklich nicht sein. Ich hab´ gerade mit der Doris gesprochen, und wir würden euch dann doch lieber eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten.“ – „Aber sagtest du nicht, dass ihr keinen Platz habt?“ – „Ja, das stimmt. Nicht hier in der Wohnung. Aber meine Frau hat ja hier im Ort noch ein ganzes Haus, das leer steht, und da gibt es im Keller ein Gästezimmer mit eigenem WC. Da steht zwar nur ein Bett, aber wir legen einfach noch eine Matratze dazu, dann geht es schon. Ist ja nur für eine Nacht.“ Wir waren hoch erfreut und dankten Friedemann. Als wir dann rübergegangen waren und das Zimmer betraten, sagte Simeon: „Ist doch wunderbar! Besser geht’s doch gar nicht!

Am nächsten Morgen machten wir nach dem Frühstück einen Spaziergang im Park. Auf einmal erklärte Friedemann, dass er mal persönlich mit mir reden wolle auf der Parkbank, ohne dass Simeon dabei wäre. „Kein Problem“, sagte dieser, „Ich mach in der Zwischenzeit etwas Jogging.“ Als er weg war, sagte Friedemann im verschwörerischen Ton: „Simon, ich muss dich leider ermahnen, weil wir etwas entdeckt haben, was uns ziemlich schockiert hat.“ Ich war ziemlich in Verlegenheit geraten und fragte mich, was jetzt kommt: „Und das wäre?“ Friedemann fuhr fort: „Als du uns letztens mit deiner Frau Ruth besucht hast, haben wir gesehen, dass Ruth noch Ohrringe trägt. Sie hatte zwar keine angelegt, aber wir sahen Löcher in ihren Ohren!“ – „Ja, das stimmt, sie trägt häufig Ohrringe“ sagte ich. „Und das lässt du einfach zu?!?“ fragte Friedemann entsetzt. „Warum sollte ich nicht?“ fragte ich zurück. „Ach, Simon, das muss ich dir doch nun wirklich nicht erklären, denn du kennst die Bibel weit besser als ich. Es steht doch klar geschrieben in 1.Petr.3:3, dass gläubige Frauen keinen Schmuck tragen dürfen.“ – „Ehrlich gesagt, lese ich das nicht dort, sondern Petrus schreibt lediglich, dass sich eine Frau nicht um ihr Äußeres sorgen sollte, sondern um ihr inneres Wesen.“ – „Oh nein, Simon, dann bin ich aber wirklich enttäuscht von dir, dass du jetzt so lau geworden bist und das nicht mehr erkennst! Nur Huren tragen Ohrringe nach der Bibel. Früher hattest du noch eine klare Sicht diesbezüglich. Wie schade!“ – „Nein, Friedemann, genau anders herum: Früher hatte ich nur eine oberflächliche und pharisäerische Haltung zum Thema Schmuck. Aber inzwischen weiß ich, dass sogar Gott selbst Seiner Braut Ohrringe angelegt hat, und zwar in Hesekiel 16:12. Also können Ohrringe nicht pauschal verboten sein.“ Friedemann war aufgestanden und trotz seiner Aufregung schwieg er.

Wir gingen eine Weile still nebeneinander spazieren. Dann sagte ich: „Meine Frau hatte die Ohrringe abgenommen, um niemandem ein Anstoß zu sein. Aber eigentlich solltest du sie wegen solch einer geringen Sache nicht richten, denn sie kommt nun mal aus einem anderen Kulturkreis, wo das Tragen von Ohrringen als völlig harmlos angesehen wird.“ – „Es ist doch nicht entscheidend, ob Menschen es als harmlos empfinden! Schmuck ist doch ein Zeichen von Eitelkeit. Man will noch Menschen gefallen. Verstehst du das nicht?“ – „Paulus spricht aber auch von den Schwachen, deren Schwachheiten wir ertragen sollen. Und wenn wir so streng mit anderen Gläubigen ins Gericht gehen, dann wird der HErr auch genauso streng mit uns sein. Du magst vielleicht konsequenter sein als ich, was die Absonderung von der Welt betrifft; aber was das Gebot der Gastfreundschaft angeht, warst du zunächst sehr unwillig und wolltest uns nicht aufnehmen, obwohl wir mit dem Evangelium unterwegs waren, und die Schrift uns dies gebietet in 3.Joh.8.“ – „Die Bibel warnt uns aber vor Brüdern, die unordentlich wandeln, und wenn ihr im Wald übernachten wollt, weil ihr euch nicht rechtzeitig um eine Übernachtung gekümmert habt, dann ist das ein unordentlicher Wandel!“ – „Ach was! Jakob hat auch öfters unter freiem Himmel übernachtet, ebenso David und der HErr Jesus. Nach der Bibel ist die Gastfreundschaft aber viel wichtiger als der Verzicht auf Ohrringe.“ Friedemann schwieg wieder. Dann kam Simeon zu uns, aber wir ließen uns nichts anmerken, dass wir gestritten hatten.

Nachdem wir uns wieder vertragen hatten, schlug ich vor, gemeinsam den Bruder Helmut (61) zu besuchen, der im Nachbarort Markgrönningen wohnte und den ich noch aus der alten Versammlung in Sachsenheim kannte. So rief ich Helmut an, und wir verabredeten uns in einer kleinen Lagerhalle, die er angemietet hatte. Da Helmut sehr viel missionierte, waren die Regale im Lager voll mit Traktate-Kartons. Wir unterhielten uns eine Weile über Facebook, wo Helmut ebenso aktiv war. Er erzählte mir, dass er dort ständig Anfragen bekäme von jungen Mädchen, die ihn zum Sex einluden. „Keine Ahnung, woher sie wissen, dass ich noch ledig bin. Aber diese Mädchen tun mir sehr leid, weil sie eine große Sehnsucht nach Liebe haben. Deshalb habe ich schon vielen von ihnen geschrieben und sie auf den Heiland hingewiesen. Ich habe sie auch gefragt, ob ich ihnen irgendwie helfen kann.“ – „Aber Helmut,“ sagte ich, „diese Bilder sind doch nur Betrug. Dahinter stecken kriminelle Organisationen, die nur an dein Geld wollen.“ – „Das glaub ich nicht. Sie haben mir sogar schon geantwortet und sich bedankt für meine Freundlichkeit.“ Simeon lächelte mich an und zwinkerte mit den Augen. Da beließen wir es dabei und freuten uns über Helmuts Arglosigkeit.

Am nächsten Morgen machten wir dann einem Kurzbesuch bei dem charismatischen Bruder Alfred Schmitz (73) aus Leonberg. Dieser erzählte uns, dass er den bekannten Prediger Rudolf Ebertshäuser schon kannte, als dieser noch ein Jugendlicher war. Dann fuhren wir weiter zu Bruder Ralf Daubermann nach Ludwigshafen, mit dem ich mich ebenfalls schon vor 27 Jahren angefreundet hatte und bei dem wir drei Stunden einen spannenden Austausch über aktuelle Ereignisse hatten.

Am Abend kamen wir dann zur Familie von Kurt Hoster nach Mönchengladbach, die ich 1991 auf einer Radtour durch Deutschland kennengelernt hatte und seither nie wiedersah. Wir durften bei der lieben Schwester Elke Hoster, der Hausmutter, übernachten. Ihr Mann Kurt war letztes Jahr vom HErrn heimgerufen worden. Seine Kinder, die damals alle noch Jugendliche waren, sind inzwischen alle erwachsen und haben Familien mit vielen Kindern. Eine besondere Freude war es für mich, beim Abendessen Daniel Hoster (48) und Kurts Schwiegersohn Daniel Ahner (50) wiederzusehen (mit Letzterem hatte ich in meiner Jugendzeit über Jahre eine Brieffreundschaft). Daniel Hoster, der inzwischen ein reicher Banker geworden war, predigte am nächsten Morgen im Gottesdienst ihrer Gemeinde. Doch dann wurde ich etwas stutzig, als er sagte: „Vor kurzem habe ich mir einen langersehnten Wunsch erfüllt und mir einen sehr teuren Sportwagen gekauft. Als ich einstieg und damit losfuhr, war ich so glücklich, dass mir der Gedanke kam, wie sehr der HErr sich jetzt ebenso mit mir freut, dass Er mir damit so eine Freude machen konnte!“  In dem Moment dachte ich, wie sehr sich der HErr gefreut hätte, wenn er das viele Geld nicht für solch einen sinnlosen Luxus, sondern lieber für die Armen in der Dritten Welt ausgegeben hätte. Nach dem Gottesdienst sind wir dann wieder heimgefahren nach Bremen. Für Simeon Berndt und mich war dies eine sehr gesegnete, aber auch anstrengende Reise. Oftmals standen wir vor Problemen und Gefahren, bei denen wir zunächst keinen Ausweg sahen, aber der HErr uns dann doch wunderbar hinaus half. Simeon hatte durch all dieses gelernt, dass es sich wirklich lohnt, mit dem HErrn Jesus zu leben und Seine Gebote zu befolgen. Allein darauf wollte er sich jetzt konzentrieren.


Vier Meter in die Tiefe

Anfang Mai sollte ich im Hinterhof eines Hauses eine Fassade streichen. Da sie nur sechs Meter hoch war, verzichtete ich auf ein Gerüst, sondern machte den Auftrag ausnahmsweise von der Leiter, was normalerweise kein Problem darstellt. Wie üblich legte ich die Schiebeleiter an und begann, die Fenster abzukleben. Doch auf einmal rutschte mir die Leiter weg, da der nasse Bangkiraiholzboden unter dem Abdeckvlies durch den Regen in der Nacht noch glitschig war. Ich versuchte mich noch irgendwo festzuhalten, griff jedoch ins Leere. In dem Bruchteil einer Sekunde dachte ich nur: „Hoffentlich falle ich wenigstens noch irgendwie günstig“. Ich fiel aus etwa vier Meter Höhe nahezu gerade auf den Rücken. In den ersten Sekunden konnte ich nicht mehr atmen. Ich drehte mich unter starken Schmerzen auf die Seite, um wieder Luft zu holen. Da sah ich, wie die Kundin aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse lief und mit ihrem Handy den Notruf alarmierte. In diesem Moment dachte ich, dass das doch nicht nötig tat, da es mir doch wieder gut ging und ich weiterarbeiten wollte. Ungewöhnlich schnell war der Krankenwagen da. Die Notärztin prüfte zunächst, ob ich meine Beine noch spürte und gab mir erstmal eine Fentanyl-Spritze. Im Nu war ich dann auch schon im nahegelegenen Krankenhaus, wo man mir meine Malerhose aufschnitt und mich auf ein Krankenbett hob. Erst jetzt spürte ich sehr starke Schmerzen in meinem Rücken. Beim Röntgen stellte man fest, dass ich mir sieben Rippen und drei Wirbel gebrochen hatte. Ein Pfleger rief meine Frau an und berichtete ihr mit beruhigender Stimme, dass ich einen Unfall hatte. Sofort machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus.

Nachdem Ruth auch kurz meinen Bruder Marcus informiert hatte, rechnete dieser mit dem Schlimmsten. In Panik und völlig aufgelöst rief er sofort meinen Bruder Patrick an und sagte mit weinerlicher Stimme: „Simon ist von der Leiter gefallen! Eine Katastrophe! Wahrscheinlich ist er jetzt querschnittgelähmt und wird für immer an den Rollstuhl gebunden sein. Es ist einfach nur schrecklich! Wir müssen alle für ihn beten! Du musst dich sofort auf den Weg nach Bremen machen!“ Vor seinem geistigen Auge sah er schon, wie die Chirurgen gerade um mein Überleben kämpften und wie er mich künftig im Rollstuhl durch den Park schieben musste. Umso mehr freuten sich schließlich alle, als sie erfuhren, dass ich gar keine OP benötigte, weil die Rippen zwar durchgebrochen aber nicht versetzt waren, so dass alle wieder problemlos zusammenwachsen würden von ganz allein. Dem HErrn sei Dank! Es war alles doch nicht so schlimm. Dennoch war die erste Nacht auf der Intensivstation sehr unangenehm, da ich es gewohnt war, im Schlaf auf der Seite zu liegen, es aber vor Schmerz nicht konnte. Am nächsten Tag wollte ich mich nachmittags mal duschen, konnte mich aber kaum aus dem Bett bewegen. Schließlich wurde der Wunsch so dringlich, dass ich mich überwand und mit aller Kraft aus dem Bett hob, um in die Dusche hineinzugehen. Irgendwie hatte ich es am Ende hinbekommen.

Am nächsten Tag konnte ich schon ohne Mühe aus dem Bett aufstehen und mit Hilfe einer Physiotherapeutin den Flur auf- und abgehen. Und da ich jeden Tag Besuch bekam, wurde mir die Woche im Krankenhaus auch nicht langweilig. Besonders habe ich mich über den Besuch von Ismael gefreut, meinem kurdischen Freund, der immer als Subunternehmer für mich arbeitete. Ich fragte ihn, ob er immer noch an seine Zarathustra-Religion glauben würde, die er vor etwa fünf Jahren annahm, nachdem er den Islam aufgegeben hatte. Ismael antwortete lächelnd: „Nein, Simon, ich habe den Glauben an Ahura-Mazda inzwischen wieder aufgegeben, weil es auch kaum Anhänger dieser Religion gibt hier in Bremen. Deshalb bin ich jetzt mit meiner Frau auf der Suche nach einer neuen Religion.“ – „Das ist ja wunderbar!“ sagte ich, „Dann lade ich dich herzlich ein, Jesus Christus kennenzulernen, an den ich jetzt seit drei Jahren wieder glaube. Was hältst du davon, wenn wir Euch nächste Woche mal besuchen kommen? Dann könnte ich dir in aller Ruhe mal den christlichen Glauben erklären.“ – „Ja, das wäre sehr schön, Simon, wir laden euch gerne zum Essen ein.“

Nachdem ich eine Woche später wieder entlassen wurde, besuchte ich Ismael und seine Familie in Delmenhorst. Als ich Ismael 2010 kennenlernte, lebte er noch in sehr bescheidenen Verhältnissen. Aber inzwischen hatte er ein großes Bauunternehmen gegründet mithilfe der zahlreichen Flüchtlinge aus dem Irak, so dass er sich am Stadtrand von Delmenhorst ein sehr großes Haus leisten konnte. Ohne Frage: Ismael hatte mich wirtschaftlich inzwischen überholt, aber ich gönnte es ihm von Herzen. Er war ein Jahr jünger als ich sah aber älter aus und hatte stets das Benehmen eines Gentleman. Wenn er mich in meiner Werkstatt begrüßte, verbeugte er sich sogar und machte mir immer Komplimente, was ich überhaupt nicht gewohnt war. Wenn er uns zuhause besuchte, brachte er sogar Blumen und Geschenke mit. Ständig behauptete er, ich sei ein guter Mensch und wolle deshalb gern mein Freund sein. Da er mittlerweile viel erfolgreicher war als ich, konnte ich davon ausgehen, dass er dies aufrichtig meinte. Ismael und seine Frau hatten uns ein üppiges Abendessen bereitet und behandelten uns wie Ehrengäste. Nach dem Essen begann ich, Ismael den christlichen Glauben zu erklären, aber leider unterbrach er mich ständig und hielt mir lange Vorträge, um mir zu zeigen, was er schon alles wusste. Für ihn war Jesus Christus zwar göttlicher Natur, aber er verstand nicht, dass er ohne die Annahme des HErrn und Seines Opfertodes am Kreuz verloren sei, zumal er sich nicht als verdorbenen Sünder sah. Wir versuchten ihm, verständlich zu machen, dass es im christlichen Glauben nicht um eine besondere Erkenntnis gehe, sondern um die Erfahrung eines völlig veränderten Lebens, das durch eine Neugeburt erst möglich werde. Ismael verstand das Christsein eher als ein Tun von guten Werken, durch die man Gott wohlgefallen müsse. Ihm schwebte dabei auch etwas ganz Konkretes vor, und zwar wollte er einen großen Baukonzern im Kurdengebiet der Türkei gründen, um seinen kurdischen Landsleuten auf diese Weise Arbeit zu geben. Gott habe ihn so reich beschenkt, dass er den Rest seines Lebens im Dienst für andere leben wolle. Erdogan habe nämlich Fördergelder versprochen für ausländische Investoren, die in der Türkei Arbeitsplätze schaffen. Da ich als Deutscher mehr Respekt bekäme als er, wolle er mich als Partner für dieses Projekt gewinnen, um die Verhandlungen mit den türkischen Behörden zu führen. Für mich war dies jedoch reiner Größenwahn und ich lehnte dankend ab. Da er so viel redete und immer wieder abschweifte, gelang es mir kaum, das Gespräch wieder auf die Heilsbotschaft zu lenken. Nach zwei Stunden gab ich schließlich auf und dachte: „In ein volles Glas kann man nichts mehr einfüllen. Wer nicht will, der hat schon.“

Obwohl ich eigentlich mindestens einen Monat nicht mehr arbeiten sollte, ging es mir schon zwei Wochen nach meinem Sturz so gut, dass ich wieder voll arbeiten konnte. Da mich viele meiner Mitarbeiter verlassen hatten und mir nur noch sechs blieben, musste ich nun jeden Tag mitarbeiten, um die vielen Aufträge abzuarbeiten. Auf dem Arbeitsmarkt bekam man zwar kaum noch deutsche Arbeitsbewerber, dafür aber umso mehr Syrer, Afghanen, Iraner und Afrikaner, bedingt durch die Flüchtlingskrise. Ein Marokkaner gab sich als unbegleiteter Minderjähriger aus namens Said Bakali mit gefälschten Papieren, um in Deutschland bleiben zu können. Er sprach zwar kein Wort Deutsch, dafür aber Spanisch, so dass wir uns verständigen konnten. Nachdem ich ihm versprochen hatte, ihn als Lehrling zu nehmen, bekannte er mir, dass er eigentlich Mohammed Zayri heiße und schon 25 Jahre sei. Dies änderte jedoch nichts an meinem Angebot. Um nicht abgeschoben zu werden, gelang es ihm, eine junge Deutsche kennenzulernen, die er bald darauf heiratete. Die Ehe hielt jedoch nur ein Jahr, und auch seine Ausbildung brach er bereits nach zwei Jahren wieder ab.

Er kam, um die Gefangenen zu befreien

Über Pfingsten ergab sich erneut eine Gelegenheit zu einer kurzen Besuchsreise. Anlass war diesmal der Besuch eines adventistischen Predigers, den ich über Facebook kennengelernt hatte. Christopher Kramp war zwar erst Anfang 30, aber ausgesprochen begabt. Er leitete einen adventistischen Fernsehkanal in Stuttgart namens Joel Media TV, in welchem er sehr spannende Vorträge über die Katholische Kirche und die Charismatik machte. Da es mir schon lange ein Anliegen war, mit Gläubigen aus allen Gruppierungen in Kontakt zu treten, lud ich Bruder Christopher einfach zu uns nach Ludwigsstadt ein, um dort am Sonntag für uns zu predigen und gemeinsam den Tag zu verbringen. Ich war sehr erfreut, als ich erfuhr, dass er die Einladung annahm. Christopher hatte zwei Jahre zuvor einen sehr spannenden Vortrag gehalten, wie Papst Francisco eine Ansprache hielt per Videoübertragung auf einem Kongress in den USA, wo alle charismatischen Führer des Landes eingeladen waren. Der Papst erklärte den versammelten Pastoren, dass er ihr „verstoßener Bruder Joseph“ sei (analog zum biblischen Joseph) und dass er die Aufgabe habe, die zerstrittene Kirche Jesu zu vereinen. Er wolle nun in aller Demut seinen Brüdern die Hand zur Versöhnung reichen. Mit den Lutheranern habe die Römische Kirche sich bereits 1999 versöhnt, und jetzt seien die Evangelikalen und Charismatiker an der Reihe. Er lud alle Kirchenführer der Welt ein, in den Vatikan zu kommen und die bereits von Juristen aufgesetzten Vereinigungsverträge zu unterschreiben. Die charismatischen Führer gerieten außer Sich vor Freude und hatten sich seitdem im Vatikan die Klinke in die Hand gegeben. Christopher sah hierin die Prophezeiung von E.G. White bestätigt, dass der Papst der Antichrist sei und demnächst ein Sonntagsgesetz erlassen würde, d.h. ein Sonntagsottesdienstbesuchszwang.

Als Christopher am Sonntagvormittag in Ludwigsstadt ankam, war er wahrscheinlich überrascht, dass unsere kleine Hausgemeinde nur aus 5 Geschwistern bestand. Wir fühlten uns geehrt, dass er ganz aus Stuttgart mit dem Auto angereist kam und luden ihn ein, dass er am Wort dienen solle. Er brachte uns eine sehr erbauliche Wortbetrachtung und wir lobten gemeinsam unseren HErrn. Als wir nach dem Mittag dann noch etwa zwei Stunden spazieren gingen und uns über Gottes Wort austauschten, sagte Bernd, dass die Adventisten an und für sich sehr wertvoll seinen im endzeitlichen Kampf gegen die zunehmende Gesetzlosigkeit. Christopher erzählte, dass es auch im Adventistischen Weltbund Bestrebungen gäbe, die Frauenordination einzuführen und dass er für diesen Fall bereits angekündigt hatte, dass die deutschen Adventisten da nicht mitmachen würden. Dann kamen wir auf die Prophetin Ellen G. White zu sprechen, und dass sie ja im Grunde auch gelehrt hätte, es jedoch als Weissagung ausgegeben habe. Bernd betonte, dass man nach 1.Kor.14:29 einem Propheten nur dann glauben dürfe, wenn die Gemeinde die Botschaft anhand von Gottes Wort geprüft habe. Dass die Adventisten jedoch aus den „2.300 Abenden und Morgen“ aus Dan.8:14 einfach willkürlich 2.300 Jahre gemacht hätten, um die Wiederkunft Christi fälschlich auf das Jahr 1844 zu datieren, sei völlig haltlos. Der Umstand, dass der HErr nicht wiederkam, hätte die Adventisten zum Umdenken veranlassen sollen. Stattdessen beharrten sie auf ihrer falschen Auslegung und erklärten, dass Christus 1844 in das Allerheiligste im Himmel eingetreten sei, was aber auch nicht stimmen kann, da Er dies notwendigerweise schon gleich nach Seiner Auferstehung tat (andernfalls hätte es bis zum Jahr 1844 noch gar keine Vergebung gegeben).

Als Bruder Christopher sich am späten Nachmittag wieder auf die 4 Stunden langen Heimfahrt gemacht hatte, sprachen wir noch eine Weile über die Prophetie von Daniel 8. Bernd deutete die zwei Hörner des Widders neuzeitlich als das Auftreten des Islam im Nahen Osten, der sich ja in Sunniten und Schiiten aufspaltete. Eine Erklärung für die Bedeutung der 2.300 Tage aus Vers 14 hatte er jedoch nicht, weshalb ich folgende Deutung vorschlug: Nach der Entweihung und Zerstörung des 3. Tempels in Jerusalem würde es 2.300 Tage dauern, bis ein 4.Tempel, nämlich der aus Hesekiel 40-43, aufgebaut werden würde. Da die Schreckensherrschaft des Antichristen nach 42 Monaten mit der Wiederkunft des HErrn beendet sei, werde es noch weitere 1040 Tage dauern, also knapp 3 Jahre, bis die Erde im 1000-jährigen Reich wieder so weit hergerichtet ist, dass man auch diesen riesigen Tempel fertigstellen und einweihen könne. Bernd fand diese Auslegung sehr plausibel und nah am Text, weshalb er ihr zustimmte.

Am nächsten Tag kam uns Bruder Johannes (47) aus Nürnberg besuchen. Johannes kam aus gläubigem Elternhaus, war aber als Jugendlicher dämonisch belastet. Durch viel Gebet wurde er jedoch von Gott befreit. Seither hatte er sich viel mit dem Thema finstere Mächte bzw. Verschwörungen beschäftigt. Daher wusste er, dass der Feind sogar böse Arbeiter in die Gemeinden einschmuggelt, um sie von innen zu verderben, wie es Paulus in 2.Tim.3:6 schrieb: „…die sich in die (Gemeinde)-Häuser schleichen“. Er berichtete uns von einem ehemaligen Jesuiten namens Alfredo Romero Rivera, der vom Vatikan beauftragt wurde, die evangelikalen Gemeinden in Lateinamerika zu unterwandern und durch Intrigen und Sabotagen zu zerstören. Als dieser jedoch herausfand, dass der Vatikan in den Händen der Freimaurer sei, verließ er die Römische Kirche und wurde zum Verräter. Daraufhin habe man mehrere Mordanschläge an ihm verübt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann erzählte er uns von einer Ärztin namens Rebekka Brown, durch welche sich viele Satanisten zum HErrn Jesus bekehrt hätten. Besonders eine Satanistin namens Elaine habe sehr viele Details über den Satanismus berichtet, u.a. bestätigte auch sie, dass die Satanisten Saboteure in die Reihen der christlichen Gemeinden entsenden, um diese von innen heraus zu zerstören. Sie habe über Erlebnisse drei Bücher geschrieben; das erste hatte den Titel „Er kam, um die Gefangenen zu befreien“. Da die deutsche Ausgabe inzwischen schon längst vergriffen sei, plante Johannes, dieses Buch neu aufzulegen. Er habe bereits mit einer Schwester aus der Schweiz gesprochen, die ihm die Urheberrechte für 500 Euro angeboten hätte. Leider erlaubte ihm seine Frau nicht, einen christlichen Verlag zu gründen, weshalb mich Johannes bat, ob ich nicht das Buch verlegen könnte im Selbstverlag. Da ich es zunächst erstmal selbst lesen wollte, gab mir Schwester Adelheit ein Exemplar leihweise. Als ich abends wieder im Zug nach Bremen zurückfuhr, las ich das Buch die ganze Zeit im Zug und war erschüttert über die Fülle an Informationen über diese schrecklichen Dinge.

Bibelkonferenz

Noch immer versammelten wir uns jede Woche mit unserem Hauskreis, der durch die Teilnahme unseres Bruders Daniel P. eine große Bereicherung erfuhr. Denn Daniel hatte nicht nur ein gutes Bibelwissen, sondern verfügte auch über die Gabe, die biblischen Geschichten sehr gut allegorisch auszulegen. Daniel hatte jedoch Probleme in seiner Ehe, da seine Frau sehr dominant war und ihn durch ihr Verhalten häufig zum Zorn reizte. Zudem litt er unter seiner starken Libido und damit verbundenen Schuldgefühlen gegenüber Gott, da es ihm noch immer nicht gelang, ein Überwinderleben zu führen. Ich ermutigte ihn, dass der HErr voller Mitleid, geduldig und barmherzig sei mit unseren Schwachheiten, da Er ja ebenso versucht wurde wie wir. Er solle doch nur nicht den Kampf aufgeben. Damit auch seine Frau unters Wort käme, verlagerten wir von da an unsere wöchentlichen Bibelstunden in Daniels Wohnung. Dort lernte ich auch junge russlanddeutsche Brüder kennen, die sich in einer kleinen Gemeinde in Achim-Bierden versammelten. Ich folgte ihrer Einladung und entschied mich schließlich, von nun an nur noch dort hinzugehen, da ich in der großen russlanddeutschen Gemeinde in Uphusen noch immer keinen Anschluss gefunden hatte. Das kleine „Gebetshaus“ in Bierden war mit gerade einmal 20 Gläubigen weitaus familiärer, so dass mir Geschwister schnell ans Herz gewachsen waren. Durch meinen Vollbart und mein Engagement auf Facebook erregte ich zwar etwas Anstoß bei den Brüdern, da sie viel konservativer waren, aber insgesamt fühlte ich mich bei ihnen viel wohler und angenommener. Ruth hingegen bevorzugte lieber, wieder in ihre frühere spanischsprechende Gemeinde zu gehen, zu der ich sie in den folgenden drei Jahren regelmäßig samstagnachmittags begleitete.

Über Facebook lernte ich immer mehr Brüder kennen, mit denen ich weitestgehend einer Meinung und eines Geistes war. So z.B. einen Lehrer namens Alexander Basnar aus Wien, der einer Täufergemeinde angehörte, die in Gütergemeinschaft leben wollte nach dem Vorbild der Urgemeinde. Wir telefonierten miteinander über den zerstrittenen Zustand der Evangelikalen heute und die Notwendigkeit einer Belebung. Mir kam die Idee, eine Bibelwoche zu veranstalten, zu der wir all jene Gläubigen aus allen Lagern einladen, die wir kennen, um gemeinsam über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu sprechen , so wie es in Maleachi 3:16 heißt: „Da unterredeten sich miteinander, die den HErrn fürchten, und der HErr merkte auf und hörte; und ein Gedenkbuch ward vor ihm geschrieben für die, welche den HErrn fürchten und welche Seinen Namen achten.“ Bruder Alexander hatte vorgeschlagen, am Anfang erst mal einen runden Stuhlkreis zu bilden, wo jeder sich vorstellen kann und auch seinen Hintergrund nennt. Dann sollten Regeln genannt werden, die für eine gemeinsame Woche unerlässlich sind, also die Art, wie Kritik geäußert wird, eine konstruktive Grundhaltung und Kritikfähigkeit, die in allem Gottes Ehre sucht. Gerade weil ja die teilnehmenden Geschwister zum Teil aus ganz heterogenen Gruppierungen kämen, sei es wichtig, dass man respektvoll und in Liebe miteinander umgehe. Am Beispiel von Apg.15 solle der biblische Umgang untereinander bei lehrmäßigen Unterschieden erlernt werden. Einig waren wir uns darin, dass heute Sola Fide („Glaube allein“) – der Hauptirrtum des Evangelikalismus sei, welcher den Glaubensgehorsam torpediert und weiteren Streit in die Gemeinden trägt: Warum solle man wirklich „allem“ gehorchen, wenn das doch gesetzlich und nicht heilsnotwendig sei? Hier gehe es um einen Heilsweg ohne treue Nachfolge, der mit der scheinbaren Autorität der großen Reformatoren gepredigt werde. So wie nur Paulus den sich auf Jakobus berufenden Judaisierern widersprach, so sind es heute nur wenige, die den Lehrern der Gesetzlosigkeit widersprechen, die sich auf Luther berufen.

Als ich die Idee dann auf Facebook vorstellte, waren sofort viele begeistert und versprachen zu kommen. Insgesamt 43 Geschwister äußerten ihr Interesse. Daraufhin setzte ich mich mit einem christlichen Seminar-Veranstalter in Verbindung, der mir ein Freizeitheim mit Konferenzraum in der Nähe von Osnabrück anbot. Ich schlug einen Zeitraum vom 05.08.-12.08.2017 vor und gestaltete einen Einladungsflyer, in welchem ich die Kosten von 11,50 €/ Nacht (bei Selbstversorgung) nannte. Dann bat ich die Geschwister, mir ihre Teilnahme bis zum 15.06. verbindlich zu bestätigen, um den Veranstaltungsort zu buchen. Aber dann ging´s los, dass auf einmal einer nach dem anderen absagte aus den verschiedensten Gründen: die einen hatten für diesen Zeitraum bereits eine Reise geplant, andere bekämen für diesen Zeitraum noch keinen Urlaub und wieder andere wollten nicht kommen, weil ihnen schlichtweg der Weg zu weit sei. Am Ende gab es nur so wenig Zusagen, dass sich der Aufwand nicht mehr lohnte und ich dem Veranstalter wieder absagen musste. Ich fragte die Geschwister auf Facebook daraufhin, ob wir nicht einen neuen Termin ins Auge fassen sollten fürs nächste Jahr, damit alle genügend Vorlaufzeit zur Planung hätten. Aber leider kam so gut wie keine Resonanz mehr. Die anfängliche Begeisterung war plötzlich wieder verflogen. Dieses Anliegen schien den meisten wohl doch nicht so wichtig, um dafür einen Teil ihrer Zeit zu opfern.

Unterdessen entbrannte auf einmal ein Streit auf Facebook über die Frage, ob es richtig sei, die AfD zu wählen anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl 2017. Bruder Alexander aus Österreich hatte sich mit vielen anderen für einen sofortigen Stopp der Masseneinwanderung von Migranten nach Deutschland und Österreich ausgesprochen, sowie eine Rückführung der Eingewanderten in ihre Heimatländer. Ich hingegen war der Auffassung, dass wir uns als Christen gar nicht in die weltliche Politik einmischen und daher auch gar nicht erst zur Wahl gehen sollten. Die Einwanderung von Muslimen sah ich hingegen sehr positiv, um ihnen das Evangelium predigen zu können, da es in den arabischen Ländern ja sonst kaum möglich sei zu evangelisieren. Bruder Alexander widersprach mir mit vielen anderen österreichischen Brüdern scharf und vermutete, dass ich noch immer eine linke Prägung habe, die mich blind gemacht hätte für die Ordnungen Gottes, der ja bewusst die Menschen von einander schied und die Grenzen der Völker festgesetzt habe laut 5.Mose 32:8. Die linken Paneuropäer hingegen wollten einen Bevölkerungsaustausch herbeiführen und riskierten dabei die Errichtung eines islamistischen Kalifats in Europa, zumal die Muslime ja jetzt schon deutlich mehr Kinder zeugten als die Europäer. Einige Brüder gingen sogar so weit, dass sie mich für einen sozialistischen Wirrkopf hielten, der die linke Propaganda nachplappere und vom Feind benutzt werde, um die Gläubigen zu spalten. In der Hitze der Debatte schrieb mir Alexander auf einmal, dass er sich von mir trennen wolle wegen meiner Uneinsichtigkeit und blockierte mich daraufhin. Dadurch aber verriet er seine eigenen Vorsätze, sich durch eine Bibelkonferenz für mehr Verständigung und Versöhnung unter den andersdenkenden Christen einzusetzen, wenn es ihm schon bei dieser politischen Kontroverse nicht gelang.

 

 

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