„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe.
Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen
und die Waffen des Lichts anziehen.“

(Röm.13:12)

– „Einmal auf dem Schoß Gottes sitzen“ Teil 5 (Juli – Dez. 1996)

Juli – September 1996

Der Besucher aus Kolumbien

Ende Juni war – wie angekündigt – John Jairo (20) aus Kolumbien gekommen, der Sohn meines Freundes Pepe Gomez (45) aus Bogota, um drei Monate bei mir zu wohnen und – gemäß dem Wunsche seines Vaters – von mir geistlich gefördert zu werden, da er im Glauben nachgelassen habe. Was für ein Drama! Denn inzwischen hatte ich ja selber meinen Glauben verloren, und was konnte ich ihm jetzt noch bieten? Ich war also gezwungen, zu heucheln, soweit es mir möglich war; aber würde ich dieses Possenspiel die ganzen drei Monate durchhalten? Ich selber war es ja, durch den sich John Jairo damals mit 16 Jahren bekehrt hatte, als wir am Rande des Urwalds zusammen niederknieten und er sein Leben dem HErrn Jesus übergab! Und er hatte mich ja bei jedem meiner drei Besuche immer als einen äußerst frommen Glaubensbruder erlebt, von dem sein Vater immer in den höchsten Tönen geschwärmt hatte. Was für eine Enttäuschung wäre das nun für seinen Vater, ja geradezu ein Verrat, wenn er jetzt erfahren müsste, dass ich nicht mehr der fromme Simon von damals war, sondern inzwischen ein Abgefallener, der seinen labilen Sohn nun noch weiter von einem heiligen Leben abbringen könnte! Das konnte ich Pepe unmöglich antun; er würde es mir nie verzeihen. Sagte doch der HErr Jesus: „Wer einen dieser Kleinen, die an mich glauben, einen Anstoß zum Abfall gibt, dem ist es besser, dass ein Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen werde“ (Mt.18:5).

Ich musste also erst mal weiter die Rolle des bibeltreuen Bruders spielen, und es gelang mir zunächst auch, viel besser als ich gedacht hätte. Wir beteten immer gemeinsam und gingen zusammen am Samstag in den Spanischbibelkreis, wo sich Jairo aufgrund seiner einnehmenden, sympathischen Art schnell mit sämtlichen Geschwistern anfreundete, besonders mit den weiblichen. Ich meldete ihn bei der Volkshochschule an, um Deutsch zu lernen und machte mit ihm und Joachim Ausflüge ans Meer. Für Jairo war Deutschland wie ein Wunderland; einmal sagte er zu mir: „Simon, gestern bin ich zum ersten Mal um 23.00 Uhr noch auf der Straße mit dem Fahrrad gefahren. In meinem Land wäre das viel zu gefährlich gewesen!“ Ich freute mich, dass er das Leben hier so genießen konnte und wir freundeten uns allmählich an. Nach etwa einer Woche saßen wir abends noch am Küchentisch und erzählten uns ausgelassen gegenseitig Geschichten aus unserem Leben; da beschloss ich spontan, ihm mein Geheimnis zu verraten: „Jairo, es gibt da etwas, was ich Dir bekennen muss, aber mir eigentlich sehr unangenehm ist. Wenn ich es Dir aber dennoch verrate, dann bitte ich Dich, es für Dich zu behalten und es nicht Deinen Eltern zu berichten, denn das wäre für mich sehr bedauerlich.“ – „Kein Problem,“ sagte Jairo, „ich verspreche Dir, dass ich es für mich behalte!“ – „Es ist nämlich so, Jairo, dass mir vor kurzem etwas passiert ist, dass ich selber noch gar nicht richtig fassen kann. Es wird Dich wahrscheinlich sehr wundern, aber ich bin gar nicht mehr derjenige, den Du bisher gekannt hast. Ich habe nämlich vor etwa einem Monat meinen Glauben verloren. D.h. ich glaube zwar noch an Gott, aber nicht mehr an die Bibel als das Wort Gottes. Mir ist es – ehrlich gesagt – sehr peinlich, Dir das zu bekennen, denn Dein Vater hatte Dich ja eigentlich gerade aus diesem Grund hier nach Deutschland gesandt, damit Du durch mich mehr von der Bibel lernen kannst. Aber es hat sich jetzt alles auf einmal geändert, denn ich bin gar kein Christ mehr...“

Ich schaute Jairo dabei an, um seine Reaktion abzuwarten. Er lächelte nur die ganze Zeit, und als ich aufhörte zu reden, sagte er: „Das ist ja wirklich interessant, Simon, denn auch ich hatte die ganze Zeit schon das Bedürfnis, Dir etwas zu berichten, aber habe mich nicht getraut. Jetzt aber, wo Du so ehrlich warst, möchte auch ich Dir ein Geheimnis anvertrauen; aber auch Du musst mir hoch und heilig versprechen, dass Du es unter keinen Umständen meinen Eltern erzählst. Versprochen?“ – Ich sagte es ihm zu, und er fuhr fort: „Es ist nämlich so, dass auch ich nicht der bin, der ich zu sein scheine, denn ich habe in den letzten zwei Jahren ein Doppelleben geführt, von dem meine Eltern nichts wissen. In ihren Augen bin ich nach wie vor der liebe Junge, der sogar im Gottesdienst schon öfter predigen durfte, aber in Wirklichkeit lebe ich sehr unzüchtig, indem ich mich heimlich mit Mädchen treffe und mit ihnen schlafe. Bis jetzt haben meine Eltern noch nichts bemerkt davon, denn ich erzähle ihnen dann immer, dass ich bei einem Freund übernachtet habe. Aber wenn sie es wüssten, würden sie mich rausschmeißen.“ – „Wie konnte das passieren?“ – „Alles begann damit, dass wir eines Tages Besuch bekamen von einem gläubigen Ehepaar, die ihre Tochter mitbrachten. Während sich die Erwachsenen unterhielten, nahm ich sie hinauf in mein Zimmer und wir unterhielten uns. Schon bald hatten wir beide das Verlangen, mit einander zu schlafen, und so passierte es, ohne dass ihre Eltern etwas mitbekamen. Danach trafen wir uns immer öfter, indem ich sie zum Kino einlud und wir dann in ein Stundenhotel gingen. Irgendwann betrog ich sie mit einer anderen, und sie machte mit mir Schluss. Ich merkte, wie leicht es mir fiel, Mädchen nach dem Kino abzuschleppen und konnte gar nicht genug davon kriegen; – bis eines Tages eines dieser Mädchen mir mitteilte, dass sie von mir schwanger geworden war. Ich geriet in Panik und gab ihr all meine Ersparnisse, damit sie den Embryo abtreiben möge, was sie dann auch tat. Das war vor etwa drei Monaten, und seither fühle ich mich wie ein Mörder. Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen, aber es ist nun mal passiert.“

Auch ich konnte mein Erschrecken nicht verhehlen. Wir hatten also beide ein dunkles Geheimnis, das wir mit uns trugen, wobei meine Geschichte ja noch vergleichsweise harmlos war im Vergleich zu seiner. Auch ich versprach ihm, dass ich dies seinen Eltern nicht verraten würde und empfahl ihm, sich fortan solcher Affären lieber zu enthalten, zumal er doch nun gesehen habe, welche Folgen solche mit sich bringen könnten: „Weißt Du, Jairo, ich hatte nie eine andere Frau gehabt als meine eigene. Meine Arbeitskollegen haben sich damals über mich lustig gemacht, weil ich mit 23 Jahren noch immer keinen Sex hatte mit einem Mädchen. Einige hatten sogar schon mit 14 ihre ersten Erfahrungen gemacht! Manchmal habe ich sie sogar insgeheim dafür beneidet.“ – „Simon, ich würde alles darum geben, wenn all dies nie geschehen wäre. Ich wünschte mir im Nachhinein, so wie Du jungfräulich in die Ehe gegangen zu sein, und ehrlich gesagt beneide ich Dich sogar dafür. Du hast heute eine liebe Frau und eine gesunde Tochter; – das wünschte ich mir jetzt auch von Herzen, aber ich kann die Zeit leider nicht mehr zurückdrehen. Obwohl ich erst 20 J. bin, fühle ich mich schon alt und verbraucht, weil ich meine Unschuld verloren habe.“ Das hat mich sehr bewegt, und ich war tatsächlich froh, dass ich eine intakte Ehe haben durfte.

Während ich nun tagsüber auf der Arbeit war, ging Jairo vormittags zum Deutschkurs. Jairo erzählte mir, dass er am liebsten in Deutschland bleiben würde, weil das Leben in jeder Hinsicht hier besser sei. Wenn er erst mal Deutsch gelernt habe, wolle er arbeiten und ein besseres Leben haben als in seiner Heimat, die in Armut und Kriminalität zu versinken drohte. Sogar sein Vater hatte ihm geraten, lieber eine Deutsche zu heiraten als eine Kolumbianerin, denn, so wörtlich: „Hay que mejorar la raza“ („Man muss die Rasse verbessern„). Seine Freunde beim Militär hatten ihm geraten, einfach seinen Pass wegzuwerfen, weil man ihn dann nicht mehr so leicht abschieben könne, wenn man nicht wisse, woher er komme. Doch haben die Kolumbianer einen sehr typischen Akzent, so dass man es bei ihm leicht herausfinden konnte. Jairo überlegte sich deshalb, einer Frau Geld zu geben, um in eine Scheinehe einzuwilligen. Früher hätte ich ihn zur Buße gerufen wegen all solcher frevelhaften Überlegungen, aber jetzt schwieg ich einfach und dachte, er wird schon wissen, was er tut. Tatsächlich war von seiner ersten Liebe zu Gott nicht mehr viel übrig geblieben. Er sagte immer, dass er sich mit 30 J. noch einmal richtig bekehren würde wie sein Vater, aber vorher noch ein wenig die Welt genießen wolle. „Du kannst doch nicht Deine Bekehrung planen! Wenn Du wirklich wieder Christ werden willst, dann würdest Du es schon heute werden!“ Dennoch konnte ich ihn natürlich verstehen. Wenn Jairo mir abends die Geschichten von all den Filmen erzählte, die er schon gesehen hatte, dann hatte ich auch den Eindruck, dass ich viel verpasst hatte. Irgendwann kaufte ich mir dann eine sog. TV-Karte, d.h. eine Hardware, die man im PC installieren konnte, um mit dem PC fernsehen zugucken. Ich dachte: „Jetzt werde ich allmählich alles nachholen!“ Das ist ja das Erbärmliche am Unglauben, dass man glaubt, dass die Welt einem mehr zu bieten habe, das man nicht verpassen dürfe.

Der Streit mit der Nachbarin

An einem Samstagvormittag kam Elena zu uns hoch und erklärte uns, dass sich der Vermieter über uns beschwert habe, weil wir den großen Garten hinterm Haus haben verwildern lassen und auch vorne überall Unkraut gewachsen sei. Ich entgegnete, dass der Garten doch schon von Anfang an verwildert war und wir doch gar keine Verpflichtung hätten, diesen wieder in Stand zu bringen, weil er ja schließlich noch nicht einmal Bestandteil des Mietvertrages sei. Man müsse ja inzwischen schon einen Gärtner bestellen, der in dieses verwilderte Grundstück erst mal einen Grund hineinbekommt, und der hätte bestimmt eine ganze Woche voll zu tun. Elena sah dies jedoch anders und forderte von uns, dass wir uns als Männer auch mal an der Gartenarbeit beteiligen sollten, schließlich habe sie auch schon öfter mal was im Garten gemacht trotz ihrer Bandscheibenvorfälle. Widerwillig gingen wir daraufhin mit ihr in den Garten, nahmen uns jeder einen Spaten und begannen damit, das 50 cm hohe Unkraut durch Umgraben zu beseitigen. Nach einer Stunde kam Elena zu uns und ich fragte sie, was sie eigentlich bisher im Garten gemacht habe, da man absolut nichts davon sehen könne. Da regte sie sich sehr auf und verwies auf die zwei kleinen Beete am Zaun, wo sie angeblich schon an vielen Tagen dran gearbeitet habe. Ich entgegnete, dass das Bisschen man doch in zwei Stunden hätte erledigen können. Darauf rannte sie plötzlich wie wild auf mich zu, weil sie mich würgen wollte, doch dabei stolperte sie über die Schubkarre, die ich gerade vor mir her trug. Sie schrie laut und fluchte mir mit Schimpfwörtern, so dass ich in Deckung ging. Als sie kurz darauf wegging, kam eine Nachbarin und fragte mich, warum sie so sehr geschrien habe. Ich erklärte ihr, dass Elena psychisch krank sei und deshalb sich manchmal nicht kontrollieren könne. Daraufhin rief Elena von Ferne: „Was hast Du da gerade über mich gesagt!??“ Ich antwortete wahrheitsgemäß: „Ich habe ihr erklärt, dass Du leicht gestört bist und Dich deshalb manchmal nicht unter Kontrolle hast.“ Darauf schrie Elena wie eine Wahnsinnige: „ICH BRING DICH UM!!! ICH SCHWÖR DIR: ICH BRING DICH UM!!!“ und rannte auf mich zu. Ich flüchtete mit Jairo schnell ins Haus, wir rannten nach oben und hielten die Tür unserer Wohnung zu. Aber Elena versuchte gar nicht erst, die Tür aufzudrücken, sondern zog sich zurück.

Jairo aber stand unter Schock und beschwor mich, dass wir abends nun immer die Tür abschließen sollten, weil er der Elena zutrauen würde, dass sie mich eines Abends wirklich umbringen könne, so verrückt wie sie sei. Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen, dass Elena das nicht so gemeint habe und er sich keine Sorgen machen brauche. Trotzdem drängte er mich, ich solle mich doch bei Elena entschuldigen, damit wieder Friede sei. Ich versprach es, wollte aber erst mal abwarten, bis sich die Lage wieder beruhigt habe. Jairo nahm sich indes ein Wörterbuch und versuchte nun selber einen versöhnlichen Brief an Elena zu schreiben. Sein erster Satz lautete: „Liebe Elena, du bist eine Wucht…“ – (das kommt dabei raus, wenn man mit dem Wörterbuch übersetzt, ohne die Sprache zu beherrschen). Aber Elena hatte mir schon am nächsten Tag vergeben, als ich sie darum bat.

 

Jairos Verdorbenheit

In den Tagen danach überlegten wir uns, was Jairo nachmittags machen könnte, wenn ich noch auf der Arbeit war. Ich gab eine kostenlose Stellenanzeige für ihn auf, aber es meldeten sich nur Perverse, die ich sofort am Telefon abwimmelte. Doch als ein Mann ein Model suchte, um Werbefotos zu machen, wollte Jairo selbst mit ihm sprechen auf Englisch. Sie verabredeten sich an einem Nachmittag zum Vorstellungsgespräch, und ich dachte mir eigentlich nichts dabei. Doch als der Abend kam, war Jairo immer noch nicht da, so dass ich begann, mir Sorgen um ihn zu machen. Auch um 22.00 Uhr war Jairo immer noch nicht zurück, so dass ich überlegte, ob ich die Polizei rufen sollte. Es war schon kurz nach 3.00 Uhr, als Jairo endlich nach Hause kam. Ich machte Licht an und fragte ihn, warum er erst so spät nach Hause gekommen sei: „Sag mir die Wahrheit, Jairo, war der Mann schwul?“ – „Ja.“ – „Was hat er mit Dir gemacht.“ – „Nichts.“ – „Und woher weißt Du dann, dass er schwul war?“ – „Er hat im Auto seine Hände auf meine Oberschenkel gelegt“. – „Ja, und was hast Du gesagt?“ – „Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht möchte, und er hat es sofort respektiert“. – „Ach so, und warum bist Du nicht sofort ausgestiegen?“ – „Er hat mich zu sich nach Haus eingeladen“ – „Ach, und Du hast gedacht: warum nicht?“ – „Er war sehr freundlich zu mir und hat mir Wein zu trinken angeboten.“ – „Ja, weil er Dich verführen wollte! Und, hat er es geschafft?!“ – „Nein.“ – „Sagst Du mir auch die Wahrheit?“ – „Ja, wir haben uns nur unterhalten.“ – „Es fällt mir schwer, das zu glauben. Er wollte Dich doch verführen!“ – „Ja, er hat es ein paar Mal versucht und hat mir auch Geld angeboten, aber ich habe immer wieder Nein gesagt. Er machte mir immer wieder Komplimente, sogar über meine Zähne.“ – „O Jairo, in was hast Du Dich da bloß hineinbegeben! Ich bin so froh, dass Du wieder da bist. Ich trage schließlich Verantwortung für Dich. Mach das bitte nie wieder!“ – „Keine Sorge, Simon, ich kann schon auf mich alleine aufpassen.“

Je länger Jairo bei mir wohnte, desto mehr lernte ich auch seine dunklen Seiten kennen. Er machte sich einen Spaß daraus, mich durch perverse Witze in Verlegenheit zu bringen, und anstatt ihn zu einem christlicheren Leben zu bewegen, gelang es ihm, mich nach und nach mehr für die Welt zu begeistern. Einmal spielten wir samstagabends Schach und hatten vereinbart, dass jeder nach einem Zug einen Schluck aus einer Flasche Wodka nehmen solle. Als das Spiel sich zum Ende neigte, war die Flasche leer und wir beschlossen, noch ein paar Einkäufe zum Wochenende zu erledigen. Doch als wir im Supermarkt waren, setzte plötzlich massiv die Wirkung des Alkohols ein, so dass ich alles nur noch wie im Rausch wahrnahm und in einer Tour nur gelacht hatte. Ohne nachzudenken, kaufte ich auch einen Tapeziertisch, obwohl wir ja nur mit dem Fahrrad unterwegs waren. So geschah es, dass sich dieser beim Fahren öffnete und Jairo den ausgeklappten Tapeziertisch im Vollrausch einfach mit dem Fahrrad hinter sich her schleifte, sodass die eine Ecke am Ende völlig weggewetzt war. Als ich nach Hause kam, wollte ich mich eigentlich noch duschen, aber war im dunkeln Zimmer auf dem Bett unbekleidet eingeschlafen. Im Halbschlaf merkte ich, dass plötzlich ein Blitzlicht im Dunkeln aufleuchtete, war aber zu benommen, um darauf zu reagieren. Mit diesem Foto hatte Jairo dann Monate später versucht, mich zu erpressen.

Leider blieb dies nicht der einzige böse Scherz, den Jairo sich erlaubte. Eines Tages, als er allein in der Wohnung war und neugierig in meinen Sachen stöberte, entdeckte er ein Foto, das Ruth einmal Jahre zuvor aus Spaß von mir gemacht hatte, als ich gerade nackt aus der Dusche gekommen war. Er nahm es und tat es aus lauter Bosheit in einen der bereits zum Versand verschlossenen Briefe auf meinem Schreibtisch, den er danach wieder zumachte, so dass ich nichts merkte. Wie ich erst Monate später erfuhr, war dieser Brief an Bruder Hans-Udo Hoster adressiert. So etwas ist nicht mehr lustig, sondern bösartig und psychopathisch!

Mein Rauswurf

Allmählich wurde mir klar, dass ich bei den Bibelstunden im Hause von Schwester Brigitta nicht länger heucheln konnte. So geschah es, dass ich eines Abends nach der Stunde mich Brigitta gegenüber offenbarte. Ich bat sie um Entschuldigung, dass ich in den letzten zwei Monaten so getan hatte, als wäre ich immer noch Christ, indem ich am Wort diente, obwohl ich selbst gar nicht mehr daran glaubte. Brigitta reagierte erwartungsgemäß entsetzt und schaute mich voller Misstrauen an. Für sie war ich nun ein Verräter, da ich zu den Feinden übergewechselt war. Ihr war in diesem Moment sofort klar, dass ich nun geistlich gestorben sei und sie wollte auch nicht weiter mit mir reden, sondern verabschiedete sich von mir mit einem kühlen Unterton. Brigittas Reaktion war für mich eine Warnung, dass ich von nun an besser nicht mehr mit der Tür ins Haus fallen sollte, sondern meine Entscheidung viel behutsamer und nachvollziehbarer vermitteln sollte. Ich musste es vor allem so darstellen, als wäre ich nach wie vor Christ, nur dass sich eben meine Haltung zur Bibel geändert habe.

Als die Sommerferien begannen und Jairos Unterricht vorübergehend ausfiel, überlegten wir, was er tagsüber machen könnte. Da ich auf einer größeren Baustelle ganz alleine am Arbeiten war, schlug ich vor, dass Jairo mir doch tagsüber bei der Arbeit helfen könnte, zumal wir dann auch mehr Gemeinschaft haben könnten. So brachte ich ihm bei, wie man Heizkörper lackiert, und immer wenn mal der Meister (Claus) zu Besuch kam, hatte ich Jairo schnell weggeschickt, damit niemand merken sollte, dass er mir half. Doch Anfang August kam Claus auf eine andere Baustelle, wo ich gerade mit meinen Kollegen am Arbeiten war, und kündigte an, dass wir alle am Samstag arbeiten müssen, da es einen Terminauftrag gebe. Da ich jedoch ausgerechnet an diesem Samstag einen wichtigen Termin hatte, rief ich Claus zu, dass ich nicht könne. „Warum nicht?“ fragte Claus. „Ich habe einen wichtigen privaten Termin, den ich schon einmal verschoben hatte.“ – „Wenn Du den schon mal verschieben konntest“, entgegnete Claus, „dann kannst Du ihn auch ein weiteres Mal verschieben!“ Ich entrüstete mich und erwiderte mit Verbitterung: „Dann müssen aber auch alle Meister am Samstag mitarbeiten, sonst wäre das ungerecht!“ Darauf rief Claus mich nach oben und schimpfte mit mir, dass ich nicht so frech vor allen Gesellen zu ihm reden dürfe, weil ich dadurch seine Autorität untergraben würde. Er kündigte mir an, dass er dies auch dem Chef melden müsse. Als ich am darauffolgenden Montag auf den Hof kam, wo alle Gesellen warteten auf ihre Zuteilung, kam der Chef mit seinem Mercedes vorgefahren, stieg aus und rief mich herzu. Er legte ein Papier auf die Motorhaube und bat mich, dieses zu unterschreiben. Zu meiner Überraschung las ich die Überschrift: „Kündigung„! Ich erschrak und mein Herz klopfte. „Warum?!?“ fragte ich bestürzt. „Weil wir offensichtlich unterschiedliche Auffassungen haben, unter welchen Bedingungen z.B. auch mal am Wochenende gearbeitet werden sollte, aber auch andere Dinge, über die ich hier aber jetzt nicht reden will.“

 

Eine Deutschlandreise mit vielen Emotionen

Meine Kündigung erwies sich im Nachherein als gar nicht so nachteilig, denn dadurch hatten John Jairo und ich unverhofft die Chance bekommen, im Sommer eine Besuchsreise bei Freunden in Deutschland zu machen (denn ich hatte noch keinen Urlaubsanspruch, da man diesen erst sechs Monaten nach Beschäftigungsbeginn erhalten kann). Mein Vorschlag war, in den Schwarzwald zu fahren mit Zug und Fahrrad, denn dort wohnten viele Gläubige, die ich noch von früheren Besuchen kannte, u.a. mein Freund Friedrich Botesz (37). So fuhren wir am Freitag im Nachtzug nach Karlsruhe und von dort aus am Samstagmorgen mit dem Fahrrad über Karlsbad nach Straubenhardt-Schwann, wo wir gegen 10.00 Uhr bei Friedrich ankamen. Da Jairo im Zug nicht gut geschlafen hatte, wollte er im Elternhaus von Friedrich sich noch mal für zwei Stunden hinlegen. Aber als wir ankamen, hatte Friedrich gerade einen ganz anderen Plan, denn er wollte mit uns zu einer Baustelle fahren, wo wir ihm beim Tapetenabkratzen behilflich sein sollten. Als ich dem Friedrich das Anliegen von Jairo mitteilte, zeigte dieser kein Verständnis dafür, sondern sagte: „Das ist ganz typisch für die Südländer: Wenn es ums Arbeiten geht, dann drücken sie sich lieber. Aber sie müssen lernen, dass wir hier in Deutschland am Tage arbeiten und uns nicht ausruhen. Schon im Wort Gottes heißt es: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘!“ – Ich war mir nicht sicher, ob ich das dem Jairo übersetzen sollte. Als ich es aber dann doch tat, war Jairo tief verletzt und beleidigt, so dass er mir erwiderte: „Simon, sag dem Friedrich bitte, dass ich jetzt mitkommen werde, um bei der Baustelle zu helfen, aber dass ich jetzt nicht mehr in seinem Haus übernachten möchte, denn ich habe auch meinen Stolz und möchte diesem Rassisten zeigen, dass er sich irrt.“ So fuhren wir mit dem Fahrrad zur Baustelle, und ich versuchte auf Friedrich einzuwirken, dass er sich doch bei Jairo entschuldigen sollte für seine verletzenden Worte. Leider stieß ich bei Friedrich zunächst auf Granit, da er sich auch hier in seinen Vorurteilen bestätigt sah; denn auch das Beleidigtsein sah er als etwas besonders Typisches für die Südländer an, weil sie eben obendrein auch noch sehr stolze Menschen seien, die keine Kritik vertragen könnten.

So war am Vormittag erst mal eine ziemlich unterkühlte Stimmung. Gegen Mittag redete ich dann noch mal mit Friedrich, ob er nicht doch seine hartherzige Haltung gegenüber seinem Gast aufgeben wolle und verwendete alle möglichen Bibelstellen (selbst wenn ich sie für mich nicht mehr ganz so verbindlich ansah), um das schlechte Klima zu verbessern. Schließlich ließ sich Friedrich dann doch erweichen und bat Jairo um Vergebung. Jairo war erleichtert darüber, wollte aber dennoch lieber im Zelt übernachten, zumal er von der schönen Natur fasziniert war. Am Abend war ich also mit Friedrich allein auf seinem Zimmer und ich nutzte die Gelegenheit, ihm von meinem Glaubensabfall zu erzählen: „Friedrich, es gibt da etwas, dass ich Dir bekennen muss, von dem ich annehme, dass es Dich sehr erschrecken wird. Vielleicht wirst Du mir dann auch nicht mehr erlauben, bei Dir zu übernachten.“ – Friedrich antwortete: „Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es etwas gäbe, dass ich Dich nicht mehr aufnehmen würde; da müsstest Du schon Satanist geworden sein!“ Dann erzählte ich es ihm, aber so recht glauben konnte Friedrich es nicht. Ich hatte eher den Eindruck, dass er mich nicht so recht ernst nahm. Sein einziger Kommentar war, dass ich mich doch bitte in Zukunft immer hinsetzen möge auf der Toilette, da das Pinkeln im Stehen immer so spritze bei meiner Körpergröße.

Am nächsten Morgen wollten Jairo und ich quer durch den Schwarzwald zum 50 km entfernten Ort Altensteig-Spielberg radeln, denn dort wohnte die 13-köpfige Familie Burkhardt, die mit dem Bruder Hans-Udo verwandt war. Da wir sonniges Wetter hatten, gab es eine traumhaft schöne Aussicht. Als wir ankamen, setzten wir uns mit dem Hausvater Frieder an einen kleinen Tisch und unterhielten uns eine Weile über die heutige Christenheit. In diesem Moment kam ein bildhübsches Mädchen hinein und sprach kurz mit ihrem Vater. Jairo war völlig gefesselt von ihrer Schönheit und war wie erstarrt. Dann wurden wir zum Essen gerufen, so dass wir auch mal alle anderen, teilweise schon erwachsenen Töchter und Söhne der Familie sehen konnten. Noch immer war Jairo ganz gebannt von diesem etwa 17 Jahre alten Mädchen, und auch in dem anschließenden Gottesdienst drehte sich Jairo immer wieder zu ihr um, da wir ganz vorne saßen und sie ganz hinten. Als ich mich später mit ihrem Bruder Andreas Burkhardt darüber unterhielt, der in etwa mein Alter hatte und auf Lehramt studierte, erklärte er mir, dass seine Schwester wegen ihrer Schönheit eine ganze Menge Verehrer habe, sie aber bisher allen einen Korb gegeben hatte, da sie noch zu jung sei und zudem auch niemandes Beute oder Trophäe sein wollte. Genau das aber war es scheinbar, worum es dem Jairo ging, denn er flehte mich an, dass ich doch ein Foto von ihr machen möge. Ich tat ihm diesen Gefallen, aber just in dem Moment, als ich das Foto nahm, war gerade der Film zu Ende und die Filmrolle spielte wieder an den Anfang zurück. Aus dem Foto war also nichts geworden.

Anschließend besuchten wir einen kolumbianischen Bekannten von Jairo, der mit seiner deutschen Frau in einem Dorf nahe Stuttgart lebte. Aus diesem Anlass bereiteten sie am Abend ein üppiges Festessen und luden dazu noch weitere Kolumbianer ein, so dass es eine Party wurde, die weit in die Nacht andauerte. Während er sich stundenlang mit seinen (ungläubigen) Freunden amüsierte, merkte ich, dass Jairo durch und durch ein Weltmensch war, der sich in Gemeinschaft mit anderen Weltmenschen pudelwohl fühlte. Aber obwohl ich ja inzwischen auch nicht mehr gläubig war, hatte ich nichts mit ihnen gemein. Es war einfach nicht meine Welt, und ich fürchtete, dass dies auch nie meine Welt werden würde. Spät in der Nacht fragte ich Jairo, ob er mit mir mal einen Spaziergang machen würde, weil ich mit ihm sprechen wollte. Wir gingen in der sternenklaren Nacht dieses Spätsommers einen Feldweg hoch, und ich erklärte Jairo, dass ich von ihm doch ziemlich enttäuscht sei, weil er sich wirklich in nichts unterschied von den Weltmenschen der übelsten Sorte. Jairo versuchte verzweifelt, sich zu rechtfertigen, dass er sich doch anpassen müsse, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen etc. Ich erinnerte ihn an Spr. 1Wenn Sünder dich locken, so willige nicht ein…“, und wir sprachen darüber, in wie weit die moralische Weisheit der Bibel auch heute noch verbindlich sein sollte. Dann legten wir uns auf dem Boden, um den Sternenhimmel zu betrachten und philosophierten weiter über Fragen, wie z.B.: Muss Gott unbedingt ein guter Gott sein oder wäre es auch denkbar, dass er ein böser Gott sein könnte etc. Und da war Jairo wieder ganz der Freund, den ich mir gewünscht hatte.

Oktober – Dezember 1996

Mein Geständnis gegenüber Ruth

Inzwischen hatte Bruder Hans-Udo einen Kandidaten für die Nachfolge als Kinderheimleiter gefunden. Wir hatten uns deshalb für Anfang November in Ecuador verabredet, um über den Hausverkauf und all die Details vor Ort zu sprechen. Mein Flug ging aber schon am 09.10.96, so dass ich noch ein wenig bei Ruth und Rebekka in Lima sein konnte. Ein Problem war Jairo, der inzwischen fest entschlossen war, seinen Rückflug für Ende September einfach verfallen zu lassen, um für immer in Deutschland zu bleiben. Da ich ihn immer noch für meinen Freund hielt, überließ ich ihm einfach unsere Wohnung für die nächsten drei Monate und gab ihm die Schlüssel. Statt jedoch nach einer seriösen Arbeit zu suchen, traf er sich noch ein zweites Mal mit jenem Schwulen und kam wieder erst sehr spät in der Nacht nach Haus. Nach meiner Abreise erfuhr ich später von ihm, dass er einen Anruf von der Ausländerbehörde erhielt, weil sie irgendwie mitbekommen hatten, dass er seinen Rückflug nicht angetreten hatte. Sie gaben ihm zwei Wochen Zeit, sein Ticket umbuchen zu lassen und drohten ihm damit, ihn durch die Polizei zur Fahndung ausschreiben zu lassen, sollte er beabsichtigen, in Deutschland unterzutauchen. Da bekam Jairo weiche Knie, ließ sein Ticket umbuchen, packte seine Sachen und flog Ende Oktober zurück nach Kolumbien.

Als ich am 09. Oktober abends in Lima ankam, stand die gesamte Familie meiner Frau am Flughafen. Rebekka war inzwischen schon ein Jahr alt, und ich freute mich sehr, sie wieder zu sehen. Doch als ich sie auf den Arm nahm, fing sie sofort an, zu schreien, denn für sie war ich ja ein fremder Mann. Es würde einige Monate dauern, bis sie sich wieder an mich gewöhnte. Wir nahmen uns ein Sammeltaxi, wo ein Großteil von uns (10 Personen) mit Ach und Krach hineinpasste (manchmal sitzen die Peruaner sogar zu zweit auf dem Beifahrersitz. Nachdem wir meinen Koffer und Handgepäck in Ruths Elternhaus gelassen hatten, gingen wir erst einmal gegenüber der Avenia Mexico in unser Lieblingsrestaurant und bestellten Hähnchen mit Pommes, um meine Ankunft zu feiern. Am darauffolgenden Sonntag waren fast alle Geschwister aus Lima im Gottesdienst versammelt und freuten sich, dass die Familie Poppe-Condori jetzt wieder vollständig zusammen war. Ich hielt wie immer eine Predigt, und keiner ahnte, dass bald schon nichts mehr so sein würde, wie es war.

Spät am Abend lag ich mit Ruth im Bett, und wir unterhielten uns über all das, was in der Zwischenzeit geschehen war. Ruth berichtete, dass sie ihr Studium der Tiermedizin inzwischen erfolgreich beendet habe und demnächst auch ihre Urkunde erhalten würde. Als nächstes sei nun ihre Doktorarbeit dran, wobei sie sehr unter Zeitdruck stehe, denn sie müsse diese innerhalb der nächsten zwei Monate fertigstellen, da das von ihr vorgeschlagene Thema nur bis zum Ende dieses Semesters Gültigkeit habe und sie bei nicht rechtzeitiger Abgabe noch einmal ganz von vorne anfangen müsse. Zudem habe ihr Doktorvater Rojas ihr gegenüber Andeutungen gemacht, dass Ruth sich lieber gleich ein anderes Thema wählen sollte, da er als Direktor des Parasitologischen Instituts von Peru noch nie von einer Kokzidienart namens Caryospora gehört habe, dass es diese auch in Greifvögeln geben solle. Seines Wissens nach habe man diese bisher nur in Schlangen festgestellt und auch nur in Europa. Sollte Ruth also den Nachweis erbringen, dass es diese Parasitenart auch in Greifvögeln Perus gebe, dann wäre das eine kleine Sensation. Würde sie jedoch nur bestätigen, dass es diese Art tatsächlich nicht in Peru gebe, dann hätte ihre Doktorarbeit nur einen geringen Wert. Ruth bat mich darum, dass ich ihr aufgrund der Kürze der Zeit unbedingt bei der Doktorarbeit helfen möge, indem ich die Texte für den Literatur-Teil vom Englischen und Deutschen ins Spanische übersetze. Sie hingegen würde sich hauptsächlich um die Laborbefunde kümmern und ihre Ergebnisse dann mit eigenen Worten beschreiben.

Während ich ihren Erklärungen lauschte, überlegte ich mir die ganze Zeit, wie ich ihr nun verständlich machen könnte, dass ich meinen Glauben verloren habe. Auf keinen Fall wollte ich es weiterhin für mich behalten, denn es war mir wichtig, dass Ruth und ich keine Geheimnisse vor einander hätten. Ich begann also ihr zu erzählen, wie ich in den ersten Monaten gelitten hatte, weil ich den Eindruck hatte, dass Gott nicht mehr zu mir rede. Dann berichtete ich ihr der Reihenfolge nach, was ich alles erlebt hatte und welche Gedanken mir dabei kamen. Schließlich bekannte ich ihr dann ganz offen, dass ich die Bibel nicht mehr als Wort Gottes betrachte, jedoch weiterhin an Gott glaube. Ruth fing an zu weinen und sagte zunächst nichts. Doch dann zog sie ihr Fazit: „Jetzt hast Du Gott verlassen, und als nächstes wirst Du auch mich verlassen!“ Ich beschwichtigte sie sofort und beteuerte ihr, dass sich nie etwas an meiner Liebe zu ihr ändern würde, denn das sei doch etwas ganz anderes. „Das mag ja sein“, entgegnete sie, „aber Du wirst unsere gemeinsame Tochter in den Unglauben ziehen, und das kann ich absolut nicht zulassen, sondern ich muss meine Tochter vor Dir schützen!“ – „Nein, auf keinen Fall, Ruthi!“ antwortete ich, „Im Gegenteil verspreche ich Dir, dass ich Rebekka nie etwas erzählen werde von meinem Unglauben bis sie 18 Jahre alt ist. Wir werden sie beide im Glauben an Gott erziehen und mit ihr regelmäßig vor dem Essen beten und in die Gemeinde gehen. Ich bin auch völlig damit einverstanden, dass wir sie zur Freien Evangelischen Bekenntnisschule in Bremen schicken, wenn sie eingeschult wird. Denn ich lehne das Christentum ja gar nicht ab, sondern wünsche mir selber, dass Rebekka einmal gläubig wird!“ – Ruth schaute mich misstrauisch an: „Ach, und wenn Du den Glauben für so wichtig hältst, warum willst Du dann selber nicht mehr glauben? Da widersprichst Du Dir doch!“- „Nein, ich würde ja selber auch gerne wieder glauben, aber ich kann es einfach nicht mehr. Ich habe nun einmal hinter den Vorhang geschaut, und jetzt bin ich vom Glauben zum Schauen gekommen. Ich weiß nicht, wie ich es Dir erklären soll.“ – „Du brauchst es mir nicht erklären, denn dies kann kein normaler Mensch verstehen. Ich will nur eines, und das ist, dass meine Tochter eines Tages gläubig wird. Und sollte ich irgendwann merken, dass Du sie heimlich beeinflusst, dann werde ich mich von Dir trennen, denn ich trage für unsere Tochter eine Verantwortung vor Gott!“

Vielleicht war es diese klare Ansage von Ruth, die in den Jahren danach bewirkte, dass ich um alles in der Welt bemüht war, mein Versprechen gegenüber Ruth einzuhalten. Es war nicht nur, weil ich sie liebte, sondern ich wollte ihr auch beweisen, dass auch ein Ungläubiger treu sein kann, ja vielleicht noch viel treuer als ein Gläubiger. Sollte Ruth doch irgendwann sich von mir scheiden lassen, aber ich würde mich nie von ihr scheiden lassen, obwohl ich es nach meiner neu gewonnenen Moral theoretisch durfte. Stattdessen wollte ich Ruth die Überlegenheit des aufgeklärten Denkens vor Augen führen, indem ich ihr zeigen wollte, dass Christen die Treue nicht für sich allein gepachtet hätten. „Wollen wir doch mal sehen“, dachte ich bei mir „wer von uns beiden als erstes schwach wird und das Handtuch wirft. Ich werde es auf jeden Fall nicht sein!“

Ruths Doktorarbeit

Schon am nächsten Tag machten wir uns gleich an die Arbeit. Ruth erklärte mir nochmal, worum es bei der Doktorarbeit ging, dass man nämlich zunächst einen Überblick gibt über den bisherigen Erkenntnisstand, indem man sämtliche Forschungsergebnisse zum Thema in Kurzform mit eigenen Worten schildert und die entsprechenden Quellen dafür benennt. Dann käme als nächstes ein Kapitel namens „Material und Methode„, in welchem man schildert, mit welchem Verfahren und welchen Hilfsmitteln man den zu untersuchenden Gegenstand erforschen möchte, um das Ergebnis dann im weiteren Kapitel ausführlich darzustellen. Schließlich kommt noch ein Kapitel, wo die Befunde zur „Diskussion“ gestellt werden, wo es einem erlaubt ist, auch einmal frei eine Vermutung zu äußern, die aber gut begründet sein müsse. Ruth hatte für den Literatur-Teil eine ganze Menge Kopien aus Deutschland mitgebracht, z.T. sogar ganze Doktorarbeiten von anderen kopiert, und ich begann mit dem Übersetzen. Doch obwohl ich bald 10 Stunden am Tag daran arbeitete, kam ich kaum voran, weil mir der Durchblick für das Wesentliche fehlte. Schließlich stieß ich auf die Doktorarbeit eines gewissen Kutzer aus Deutschland, die nahezu so perfekt war, dass ich Ruth den Vorschlag machte, diese doch einfach 1 : 1 ins Spanische zu übersetzen, weil wir dadurch viel Zeit sparen würden, die ja ohnehin knapp war. Denn warum sollte man sich damit abquälen, alles mit eigenen Worten zu formulieren, wenn es doch schon so vollkommen und ausführlich dargelegt wurde wie hier. Zudem beträfe dies ja nur den Literatur-Teil, während die eigentliche Forschungsarbeit ja von Ruth selbst erbracht werde.

Ruth war damit einverstanden, und so übersetzte ich seitenlang die taxonomischen Darstellungen von Kutzer und seine ausführlichen Erklärungen dazu, die am Ende rund 60 % von Ruths Doktorarbeit ausmachten (normal sollten es eigentlich nur 20 % sein). Ruth wiederum korrigierte immer wieder mal grammatikalische Fehler in meiner Übersetzung oder bat darum, zusätzliche Ergänzungen aus anderen Texten einzufügen, sowie von Hand geschriebene Kommentaren von ihr, die ich dann wiederum digital einpflegte. Uns blieb nur noch eine Woche Zeit bis zur Abgabe, weshalb wir am Ende beide bis zu 16 Stunden am Tag daran arbeiteten, ich am Computer und Ruth in der Sichtung des Materials. Ruths Mutter Lucila versorgte uns zwischendurch mit Mahlzeiten und kümmerte sich um Rebekka. Als dann Ruth auch noch tatsächlich die einzelligen Caryospora-Parasiten im Kot von verschiedenen Greifvögeln im Zoo von Lima nachweisen konnte, waren wir sehr froh und erleichtert, denn jetzt hatte Ruth den Doktortitel schon so gut wie in der Tasche. Doch nun musste die Dissertation noch von verschiedenen Fachleuten und ihrem Doktorvater korrekturgelesen werden. Doch konnte eine solche Korrekturlesung viele Wochen und Monate dauern, da sie ja auch noch viel andere Arbeit auf dem Schreibtisch hatten. Wenn aber nicht alles bis Mitte Dezember fertig war, dann war alles umsonst, deshalb gab es jetzt nur noch die Möglichkeit, mit ein wenig Schmiergeld nachzuhelfen. Ruth klopfte also an die Tür von Prof. Dr. Rojas und erklärte ihm: „Herr Dr. Rojas, mir ist bewusst, welch ein Opfer es für Sie darstellt, wenn Sie meiner Doktorarbeit in der Reihenfolge der Begutachtung einen Vorrang einräumen. Deshalb möchte ich Ihnen anbieten, Sie für diesen Mehraufwand zu entschädigen, sofern es für Sie nicht eine Kränkung darstellen sollte.“ – Prof. Dr. Rojas reagierte allerdings keineswegs gekränkt, sondern hatte sogar eine eigens für solche Zwecke angefertigte, inoffizielle „Sondergebühren“-Tabelle, die sich nach der Eile eines Falles bemaß. Scheinbar war Ruth also nicht die erste, die um eine Vorzugsbehandlung ersucht hatte.

Krisensitzung in Ecuador

In der Zwischenzeit musste ich dann jedoch nach Ecuador reisen, wo mich schon Bruder Hans-Udo Hoster erwartete zusammen mit einem neuen, ledigen Kandidaten für die Kinderheimarbeit, namens Roman (ca. 35). Sie waren schon zwei oder drei Tage vor mir angekommen und beim Bruder Jorge Calvache beherbergt. Als ich ins Zimmer kam, war gerade eine ziemliche Krisenstimmung und Hans-Udo klärte mich auf, dass sich mittlerweile ziemlich viele Probleme ergeben hätten. Worum es im Detail ging, weiß ich nicht mehr, aber im Prinzip war es vor allem die Uneinigkeit unter den Geschwistern und die Eigenmächtigkeit in Bezug auf die Verwendung der Spendengelder. So hatte Jorge, der ja ein Elektriker war mit eigener Firma, überall im Haus alle 2 m eine Steckdose anbringen lassen und sich diesen unsinnigen Aufwand von den Spendengeldern bezahlen lassen. Hans-Udo sagte damals: „Als hätte er die neuen Büroräume einer Computerfirma damit ausstatten wollen! Dabei geht es doch hier lediglich um ein Kinderheim.“

Und dass Nelson sämtliche Wände der oberen Etage wegreißen ließ, um – wie er sagte – die Kinder besser im Blick haben zu können, war ja noch einigermaßen sachlich begründet; aber warum er den 3 qm großen Balkon aus Teakholz einfach entfernen ließ ohne mich zu fragen, hatte mich ziemlich geärgert. Er sagte nur: „Aber ich hatte Ihnen das doch geschrieben, dass ich das machen wolle, und Sie hatten keinerlei Einwände.“ – Ich antwortete: „Wenn ich mal nicht reagiere, muss das nicht bedeuten, dass ich damit einverstanden bin, sondern lag in diesem Fall nur daran, dass Sie sich immer so übertrieben akademisch ausdrücken, dass ich nicht immer alles verstehe, was Sie mir in Ihren vielen Briefen schreiben. Hätten Sie mich aber gefragt, dann hätte ich dem nicht zugestimmt, denn vorher sah es viel schöner aus.“ – Hinzu kam, dass Nelson behauptete, er würde von uns noch ziemlich viel Geld kriegen, da er angeblich immer wieder in Vorleistung gegangen sei. Eine prüfbare Übersicht über alle bisher getätigten Leistungen und Ausgaben konnte er uns jedoch nicht vorlegen, zumindest keine nachvollziehbare. Hans-Udos Fazit von der Sitzung: „Das Schiff droht zu sinken und es ist kein Land in Sicht.“

Nach zwei Stunden Besprechung machten wir uns zu Fuß auf dem Weg zum Haus von Bruder Galo Granados, der uns zum Abendessen eingeladen hatte. Ich ging mit Hans-Udo getrennt von den anderen hinterher und wollte die Gelegenheit nutzen, um Hans-Udo zu bekennen, dass ich nicht mehr gläubig sei. Ich erklärte es so ausführlich und behutsam, wie ich konnte, und Hans-Udo hörte nur still zu und sagte nichts. Doch auf einmal blieb er stehen, holte seine Brieftasche hervor und nahm jenes Foto heraus, auf dem ich nackt war und fragte mich, warum ich ihm das geschickt habe. Als ich es sah, erschrak ich und beteuerte, dass ich ihm das wirklich nicht geschickt habe, denn warum sollte ich das tun, und dass es mir kaum erklärlich sei, wie er an dieses Foto gekommen sei. Doch dann fiel mir Jairo ein, und mit welch einer Skrupellosigkeit er sich auch schon andere Scherze erlaubt hatte. Nach vielen weiteren Unschuldsbeteuerungen glaubte mir Hans-Udo schließlich.

Der Umstand, dass ich nun auch noch meinen Glauben verloren hatte, war für Hans-Udo nun das endgültige Signal, dass er mir nicht mehr vertrauen durfte. Aber ich war ja ohnehin nicht mehr Teil dieses Projektes, deshalb ging es ihm nun darum, den neuen Kandidaten Roman als Nachfolger einzuweisen. Wir fuhren also nach Laurel aufs Land, um dem Bruder das Haus zu zeigen. Auf dem Weg, legte mir Hans-Udo einen „Abwicklungsvertrag“ vor, den er tags zuvor mit der Hand geschrieben hatte und wollte diesen mit mir besprechen, damit ich ihn dann am Schluss unterschreibe. Darin ging es nicht nur um den Verkauf des Hauses und Grundstücks zum Selbstkostenpreis, sondern auch darum, dass ich mich im Falle des Scheiterns des Projektes dazu verpflichten solle, dem Verein die gespendeten Gelder wieder zurückzuzahlen. „Aber, Hans-Udo“, sagte ich, „warum willst Du mich denn alleine dafür verantwortlich machen, wenn das Projekt scheitern sollte? denn wir haben doch alle dabei die Verantwortung getragen!“ – „Nein, das tue ich gar nicht, und es geht auch gar nicht darum, wer daran die Schuld tragen würde, sondern es geht einzig und allein darum, dass Du der Nutznießer wärest, denn Dein Haus ist ja dann auf Kosten der Spender zuende gebaut worden. Und da versteht es sich doch von selbst, dass Du die Spender dann auch entschädigen musst. Schließlich haben sie im Vertrauen auf einen Erfolg des Kinderheims ihr Geld gespendet.“ – „Ja, aber wer etwas investiert, der geht auch immer das Risiko ein, dass es am Ende eine Fehlinvestition war. Für ein Scheitern kann man mich aber dann nicht alleine haftbar machen, denn ich habe ja auch nie einen Erfolg versprechen können. Abgesehen davon ist für das Geld ja nicht nur mein Haus renoviert worden, sondern auch die Stiftungsgründung bezahlt worden samt all den Schmiergeldern. Ich selber hätte das Geld ja sonst nie für diesen Zweck ausgegeben.“ – „Simon, mich erschrickt, wie Du Dich hier gerade aus der Affäre ziehen willst! Du warst es doch, der uns um Unterstützung bat, und ich habe nur nach Möglichkeiten gesucht, Deine Idee auch erfolgreich mit Gottes Hilfe umzusetzen. Jetzt aber, wo alles auf der Kippe steht, willst Du Deine Hände in Unschuld waschen und die vielen Spender leer ausgehen lassen. Du weißt, dass ich Dich nie vor einem weltlichen Gericht verklagen würde, aber vor Gott wirst Du auf jeden Fall einmal Rechenschaft ablegen müssen, auch wenn Du das vielleicht inzwischen nicht mehr glaubst.“ – „Hans-Udo, ich finde es schlimm, dass wir jetzt schon so reden, als würde das Projekt ohnehin scheitern. Das wissen wir aber doch noch gar nicht. Und wenn das so käme, dann würde ich auf jeden Fall die Hälfte der Ausgaben in Raten zurückerstatten. Aber alle Kosten aus eigener Tasche zu bezahlen, sehe ich wirklich nicht ein, denn Du hast auch viele Entscheidungen getroffen, ohne mich zu fragen. Lass uns aber doch jetzt nicht um Geld streiten, sondern lieber zusammen dafür kämpfen, dass wir den Karren noch gemeinsam aus dem Dreck ziehen, damit es weiter gehen kann.“ – „Ja, das hoffen wir beide, und wir wollen uns ja auch nicht streiten. Aber Du musst auch verstehen, dass das Ganze ein gewisses Geschmäckle hat, wenn Du Dein Haus von Spendengeldern renovieren lässt und dann am Ende sagst: Tut mir leid, dass die Idee mit dem Kinderheim nicht funktioniert hat, aber trotzdem danke nochmal für das Geld!“ Da hatte er recht, deshalb sagte ich nichts mehr.

Ein Ende mit Schrecken

Hans-Udo und sein Begleiter blieben noch etwa eine Woche in Ecuador und flogen dann wieder zurück nach Deutschland. Später erfuhr ich, dass der Bruder Roman, dieser neue Hoffnungsträger, die Mitarbeit am Ende ablehnte, jedoch nicht deshalb, weil er sich mit der Aufgabe überfordert sah, sondern weil er in einer bestimmten Lehrfrage mit Hans-Udo nicht einer Ansicht war, diese aber für ihn von so großer Bedeutung war, dass er es als unerträglich ansah, diese beim Hans-Udo einfach zu tolerieren. Ich nehme an, dass spätestens an dieser Stelle Hans-Udo endgültig erkannte, dass die Arbeit nicht mehr unter dem Segen Gottes stand und all unsere Mühe vergeblich war. Das Scheitern des Projektes habe ich später oft mit dem Tempelbau Salomons verglichen, denn auch dieser geschah ursprünglich aus reinen Motiven, so dass Gott sich im Anfang noch dazu bekennen wollte und konnte. Als aber immer mehr der Name des HErrn in Gefahr geriet, verlästert zu werden vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt, sah der HErr sich genötigt, zum Schutz Seines Namens sich vom Tempel des HErrn zurückzuziehen.

Ich hatte in jenen Tagen in Guayaquil bei Bruder Abraham Mora (24) gewohnt, der inzwischen verheiratet war und ein kleines Kind hatte. Er arbeitete tagsüber als Lehrer, verdiente aber dadurch so wenig, dass er nachts noch als Taxifahrer arbeiten musste, um sich und seine Familie über Wasser halten zu können. Da er mich in jener Zeit immer kostenlos von einem Ort zum anderen gefahren hatte, gab ich ihm am Ende eine größere Spende als Ausgleich. Er bot mir am letzten Tag an, mich zum Flughafen zu bringen, aber ich wollte mich zuvor noch von Bruder Nelson verabschieden. Er hielt also an in der Straße Rosendo Avilez y la 40. und ich ging zu Nelson hinein in seine bescheidene Behausung. Nelson wollte mich jedoch noch einmal daran erinnern, dass ich ihm noch Geld schulden würde aus der Immobilienvermittlung. Als er mir dann die Forderung nannte, fiel ich fast in Ohnmacht und widersprach ihr aufs Heftigste, weil ich davon ausging, dass er dieses Geld doch längst bekommen hatte. Wir diskutierten dann bald eine halbe Stunde, aber weil ich mit ihm in Frieden auseinandergehen wollte, einigten wir uns schließlich in der Mitte.

Ich wollte dann gerade aufstehen, um mich von ihm zu verabschieden, da machte Nelson das nächste Fass auf und erklärte mir, dass er auch noch eine weitere Provision von mir zu erhalten habe, und zwar für das Haus in Laurel und nannte mir eine Summe von etwa 2.500,- DM. Da konnte ich mich leider nicht mehr beherrschen und schimpfte mit ihm laut, wie er denn auf solch eine Idee käme, zumal er doch schon reichlich Geld für all seine angeblich unzähligen Wege von mir bekommen hätte, samt Verpflegung etc. Daraufhin Nelson: „Ja, Sie haben mir die Unkosten erstattet, aber vergessen Sie bitte nicht, dass wir eine Vereinbarung hatten, dass ich für jedes erfolgreiche Immobiliengeschäft auch noch eine Provision von 10 % des Verkaufspreises erhalten würde. Für Ihr Haus hatten Sie etwa 15.000,- zzgl. der 10.000,-DM an Nebenkosten bezahlt. Entsprechend steht mir für die Vermittlung des Hauses noch eine Provision von 2.500,- DM zu.“ – „Aber Bruder Nelson, die 10 %-Vereinbarung mussten ja nur unsere Kunden zahlen, und wir haben sie dann unter uns zur Hälfte aufgeteilt. Aber selbstverständlich kann dies doch nicht auch für mein Haus in Laurel gelten, denn dieses hatte ich ja schon gekauft, bevor wir überhaupt mit der Immobilienvermittlung begonnen hatten!“ – „Ja, aber ich war es doch, der Ihnen dieses Haus damals vermittelt hatte, also steht mir hierfür auch nachträglich noch eine Vermittlungsgebühr zu“ – „Nein! denn ich hatte Ihnen damals auch all Ihre Unkosten erstattet. Sie sagen ja selber, dass ich Ihnen insgesamt 8.000,- bis 10.000,- DM zusätzlich zum Kaufpreis geschickt habe. Das waren ja sicherlich nicht alles nur Notar- und Katasteramtskosten, sondern auch Ihr Lebensunterhalt für viele Monate!“ – „Aber was ist mit meinem Arbeitsausfall?! Ich bin schließlich selbstständig und konnte in der Zeit, in welcher ich für Sie die ganzen Behördengänge gemacht habe, keine Aufträge annehmen. Man spricht hier von entgangenem Gewinn.“ – „Das hätten wir aber vorher vereinbaren müssen, und ich hätte mich nie darauf eingelassen, sondern mir jemand anderes gesucht, wie z.B. Dr. Galo Granados. Der hätte dies alles sicher ohnehin alles viel kostengünstiger gemacht als Sie!“ Inzwischen hatten Nelson und ich uns schon so hitzig und laut gestritten, dass Abraham von draußen den Streit gehört hatte und ins Haus gekommen war, um zwischen uns zu schlichten. Nelson versuchte nun, Abraham für sich zu vereinnahmen, indem er – anstatt direkt mit mir zu reden – sagte: „Versuch Du doch mal dem Bruder Simon zu erklären, dass…“, „Simon versteht nicht, dass...“ Am Ende stand ich auf und rief: „Sie können sagen, was Sie wollen, aber ich werde Ihnen ohnehin keine Provision bezahlen, das können Sie sich abschminken!“ Nelson ging mir wütend hinterher und beschimpfte mich fortlaufend, während ich zu Abraham ins Auto stieg. Keine Verabschiedung, kein Segenswunsch, kein gemeinsames Gebet zum Schluss, kein gegenseitiges Bedanken für die gemeinsamen Jahre der Freundschaft – schlimmer hätte es nicht kommen können. Erst acht Jahre später besuchte ich Nelson noch mal zusammen mit Ruth kurz vor seinem Tod, und es kam dann doch noch zur Versöhnung.

In den letzten Tagen unseres Aufenthalts in Peru verbrachte ich viel Zeit mit Rebekka, die inzwischen der absolute „Star“ unter den Kindern von Matute geworden war. Besonders zwei Schwestern aus der Nachbarwohnung im Alter von 9 und 11 Jahren wollten unentwegt mit Rebekka spielen. An einem Nachmittag ging ich mit Rebekka im Kinderwagen in der Innenstadt von Lima spazieren. Während ich gerade meinen Gedanken nachhing, hatte sich ein Taschendieb von hinten an mich herangeschlichen und schob blitzschnell seine Hand in meine linke Hosentasche und zog sie wieder heraus. Ohne nachzudenken hatte ich wie aus einem Reflex nach hinten gegriffen und bekam den Dieb zufällig am Arm zu fassen. Und wiederum aus dem gleichen Reflex heraus schlug ich ihm immer wieder mit der Faust auf seinen Rücken, bis er mich anflehte, von ihm abzulassen, was ich auch tat. Erst da bemerkte ich, dass es sich um einen etwa 30 Jahre alten, leicht korpulenten Mann handelte, der auf einmal davonlief. Das Ganze hatte vielleicht nur 7 Sekunden gedauert und ich schob den Kinderwagen weiter, als ich plötzlich einen Schock erlitt. Die Passanten um mich herum hatten alles beobachtet und schauten mich nun an. Ich aber war ganz durcheinander und musste mich erst mal auf eine Bank setzen, um mich zu beruhigen. Was wäre, wenn der Dieb eine Waffe besessen hätte? War es nicht leichtfertig, ihn einfach zu verprügeln? Und wo ist jetzt eigentlich mein Portemonnaie? Zum Glück war es in meiner rechten Hosentasche!

Ruth hatte unterdessen erfahren, dass ihre Doktorarbeit anerkannt und sogar eine besondere Auszeichnung erhielt. Später wurde sie dann auch noch in ein Kompendium aufgenommen, d.h. ein wissenschaftliches Fachbuch zu verschiedenen Parasitenarten in Vögeln und Kriechtieren. Um nun auch offiziell ihren Doktortitel zu erhalten, musste Ruth noch viele Wege machen, u.a. auch ihre Dissertation als Buch drucken lassen, damit es auch den Universitätsbibliotheken zur Verfügung stand. In einer kleinen Feierstunde wurde Ruth dann ihre Urkunde überreicht, die ihr von nun an das Recht gab, als selbstständige Tierärztin in Peru arbeiten zu dürfen. Wenigstens hatte also Ruth bei all ihrem Bemühen am Ende Erfolg, so dass unsere Reise nicht ganz umsonst war, sondern es am Ende doch noch einen Grund zur Freude gab. Um uns von den ganzen Anstrengungen zu erholen, fuhren wir Mitte Dezember auch zum ersten Mal nach Machu Picchu, der sagenumwobenen Inkastadt die tief versteckt im peruanischen Urwald mitten auf einer Bergspitze erbaut wurde und erst 1911 durch Zufall von einem amerikanischen Abenteurer entdeckt wurde. In der nahe gelegenen Stadt Cuzco, der damaligen Hauptstadt der Inkas, sahen wir auch die Ruinen von Sacsayhuamán, einer Festung, erbaut aus tonnenschweren Felsen, die so exakt an einander angepasst wurden, dass nirgendwo mehr ein Blatt Papier dazwischen passt.

 Als wir wieder in Lima ankamen, erfuhren wir aus den Nachrichten, dass eine Gruppe von  Terroristen der MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru)  am 17.12.96 die japanische Botschaft in Lima anlässlich einer Feier überfallen hatten und dabei 483 Geiseln nahmen, darunter Abgeordnete, Minister, Botschafter etc.), um auf diese Weise 400 ihrer gefangenen Mitkämpfer freizupressen, wie es damals auch die RAF im Herbst 1977 tat. Erst vier Monate später am 22. April 1997 gelang es einem Spezialkommando, fast alle Geiseln lebend zu befreien, wobei alle 14 Terroristen umkamen. Ein Jahr später kam heraus, dass die verhafteten Terroristen auf Befehl von Präsident Fujimori standrechtlich erschossen wurden, was schließlich zur Amtsenthebung des Präsidenten führte. Überhaupt wurde nach und nach bekannt, dass Präsident Fujimori im Kampf gegen den Terrorismus keineswegs zimperlich vorging, sondern absolut skrupellos. Als Jahre später durchsickerte, dass er während seiner Amtszeit auch mindestens zwei Massaker an 25 verdächtigen Studenten angeordnet haben soll, sowie sämtliche Politiker bestochen und mit heimlichen Videos zum Schweigen erpresst hatte, wurde er 2007 verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Um die Armut im Gebirge zu beseitigen, ließ er 1998 auch sämtliche Indiofrauen im Gebirge zwangs-sterilisieren.  Für viele Peruaner (inkl. meiner Frau) ist er jedoch trotzdem einer der besten und erfolgreichsten Präsidenten, die Peru in den letzten Jahrzehnten hatte.

Kurz vor unserer Rückkehr nach Deutschland schenkte uns Carmen, die Schwester von Ruths Freundin Raquel, zum Abschied einen jungen Papagei, den sein Besitzer durch die Klospülung töten wollte, weil dieser zu schwach war. Carmen hatte ihn angefleht, ihn doch am Leben zu lassen. „Lolli“ war nur 10 cm lang, aber wir fragten uns, wie wir ihn so kurz vor der Abreise problemlos nach Deutschland mitnehmen könnten. Auf legalem Wege war dies unmöglich. Aber wir wollten ihn unbedingt behalten und so gab Ruth ihm für die Flugreise ein Beruhigungsmittel, damit er nicht im Flugzeug anfange zu Zschiepen. Ich steckte ihn in den Hohlraum meiner Gürteltasche und zog meinen Pullover darüber. Zunächst lief auch alles glatt während des 15-stündigen Fluges. Doch als wir in Amsterdam ankamen, bemerkte ein Zollbeamter meine Gürteltasche und bat mich, auch diese aufs Fließband zu legen, damit deren Inhalt durch den Röntgenscanner kontrolliert werden könne. Das Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich ließ mir nichts anmerken. Als ich durch den Körperscanner hindurch gegangen war, schaute ich auf der anderen Seite auf das Fließband, wo meine Sachen waren. Aber die Gürteltasche war nicht mehr da! Jemand hatte sie vom Band genommen. Jetzt waren wir geliefert, dachte ich. Aber zum Glück war es Ruth selbst, die sie schnell wieder runtergenommen hatte. Sie hatte nämlich den Monitor in der Zwischenzeit beobachtet und sah unseren „Lolli„, wie er sich in der Tasche sogar ein wenig bewegt hatte, aber ausgerechnet in dieser Sekunde war der Kontrolleur kurz abgelenkt und hatte nicht hingeschaut. So konnten wir schließlich unseren Papagei unbemerkt nach Deutschland mitnehmen, wo er uns die nächsten 10 Jahre begleiten sollte. Wir feierten mit meiner Mutter traditionsgemäß Weihnachten und mit unseren Freunden Jochen und Raquel Silvester. Von letzteren erfuhren wir auch, dass jetzt Raquel ebenfalls schwanger geworden war. Und inzwischen hatte auch meine Schwester Anna (30) einen Freund gefunden, der mit seinem runden Kopf, seinen Strubbelhaaren und seinem kurzen Vollbart aussah wie ein Teddybär. Die beiden passten wirklich gut zueinander, weil beide eher introvertiert und menschenscheu sind. 18 Monate später heirateten sie.

 

 

 

Als wir wieder in Lima ankamen, erfuhren wir aus den Nachrichten, dass eine Gruppe von  Terroristen der MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru) am 17.12.96 die japanische Botschaft in Lima anlässlich einer Feier überfallen hatten und dabei 483 Geiseln nahmen, darunter Abgeordnete, Minister, Botschafter etc.), um auf diese Weise 400 ihrer gefangenen Mitkämpfer freizupressen, wie es damals auch die RAF im Herbst 1977 tat. Erst vier Monate später am 22. April 1997 gelang es einem Spezialkommando, fast alle Geiseln lebend zu befreien, wobei alle 14 Terroristen umkamen. Ein Jahr später kam heraus, dass die verhafteten Terroristen auf Befehl von Präsident Fujimori standrechtlich erschossen wurden, was schließlich zur Amtsenthebung des Präsidenten führte. Überhaupt wurde nach und nach bekannt, dass Präsident Fujimori im Kampf gegen den Terrorismus keineswegs zimperlich vorging, sondern absolut skrupellos. Als Jahre später durchsickerte, dass er während seiner Amtszeit auch mindestens zwei Massaker an 25 verdächtigen Studenten angeordnet haben soll, sowie sämtliche Politiker bestochen und mit heimlichen Videos zum Schweigen erpresst hatte, wurde er 2007 verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Um die Armut im Gebirge zu beseitigen, ließ er 1998 auch sämtliche Indiofrauen im Gebirge zwangs-sterilisieren.  Für viele Peruaner (inkl. meiner Frau) ist er jedoch trotzdem einer der besten und erfolgreichsten Präsidenten, die Peru in den letzten Jahrzehnten hatte.

Kurz vor unserer Rückkehr nach Deutschland schenkte uns Carmen, die Schwester von Ruths Freundin Raquel, zum Abschied einen jungen Papagei, den sein Besitzer durch die Klospülung töten wollte, weil dieser zu schwach war.

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